Tree-Drop - Nik Herrigel - E-Book

Tree-Drop E-Book

Nik Herrigel

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Beschreibung

An einem Montagmorgen erscheint auf sämtlichen Bildschirmen der Welt ein kahler, aschgrauer Baum und blockiert diese vollständig. Für exakt 60 Minuten steht die digitale Welt fortan - täglich zur gleichen Stunde - totenstill. 

Der Tree-Drop

Das einst blinde Vertrauen in die digitale Technik wird auf eine immer härtere Probe gestellt, während die Verunsicherung der Bevölkerung betreffend die Herkunft des grauen Baums steigt: Fehlfunktion, Sabotage, Sonnenwinde oder ein raffinierter Plan?
Das offizielle Statement beschränkt sich auf folgende zwei Sätze:

Im Jetzt findet Rat. Bis dahin akzeptiert, was ist.

Dann beginnt der Baum, sich zu verändern. Grüne Blätter wachsen an den kahlen Ästen und die digitalen Geräte werden zunehmend eigenwilliger. Peu à peu zeichnet sich eine Absicht hinter den Vorkommnissen ab.

Die fünf Protagonisten der Erzählung erleben diese Wende auf ganz eigene Weise. Zwischen Chaos und Erwachen, Misstrauen und Inspiration, Enttäuschung und Liebe beginnt die Suche nach einer neuen Art, Mensch zu sein – jenseits digitaler Dauerberieselung.

Ohne sich in ausufernden technischen Details zu verlieren, schildert „Tree-Drop“ eine philosophisch-spirituelle Zukunftsvision voller Tiefgang, Ironie und Hoffnung. Eine Einladung, über den eigenen Umgang mit digitaler Technik nachzudenken und die Realität wieder mit allen Sinnen zu erfahren – bevor es zu spät ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Nik Herrigel

Tree-Drop

Der aschgraue Baum

UUID: eac732ad-022d-4542-baad-98e01c43a0ae
Dieses eBook wurde mit Write (https://writeapp.io) erstellt.

Inhaltsverzeichnis

Update

Schweigsame Engel

Veteran, Dinosaurier und Junkie

Tree-Drop

Wurzel der Kreativität

Pilot

Mutation

Balanced Earth Organization

Fumoir

Versprechen

Pool

Tier

Wette

Theorie

Piano

Präsidentin

Gemälde

Vertrauen

Wunde

Amicis di Bruno

Vorspiel

Axiome

Gewöhnung

Tragödie

Ruhe

Blätter

Taube, Wiesel und Neufundländer

Falle

Snack

Enttäuschung

Retrospektive

Verbunden

Irrtum

Veränderung

Erwachen

Erkenntnis

Tunnel

Tree-DropAuf einem einfallslosen, dunkelgrauen Hintergrund, ein aschgrauer Baum. Kein Blatt ziert dessen kahle Äste. Darunter ist in einer schnörkellosen, grünen Schrift zu lesen: Frei 0

Update

Woche 1, Montag

In Joris’ Blick spiegelte sich eine Mischung aus Ungeduld und Irritation wider, wie er - auf der Kloschüssel sitzend - das ekelhaft mit verschmierten Fingerabdrücken übersäte Display seines Handys anstarrte. Dort, wo sonst sein täglicher Feed mit auf ihn zugeschnittenen News, seinen Terminen, Aufgaben und Erinnerungen aus vergangenen Tagen angezeigt werden sollte, erblickten seine geröteten Augen seit mehreren Minuten nur besagten, aschgrauen Baum. Er war das Erste, was sich heute kurz nach dem Aufwachen in seine Netzhaut brannte. Der aschgraue Baum, welchen er noch sehr oft zu sehen bekommen sollte und mit welchem das Schicksal nun seinen Lauf zu nehmen begann. Zu dem Zeitpunkt glaubte Joris noch, sein Telefon sei mal wieder beim Aktualisieren des Betriebssystems, ließ es auf der Glasplatte des Nachttischs liegen, stieg die metallene Wendeltreppe ins Erdgeschoss seines Hauses hinunter und bereitete sich dort in der offenen und bestens eingerichteten Küche entspannt sein Frühstück zu. Selbst beim Schlemmen desselbigen fehlte ihm das Gerät nicht sonderlich. Im Gegenteil: er genoss es überaus, sich ohne jede Ablenkung ganz den verschiedenen Aromen zu widmen. Der etwas bittere Kaffee, die etwas salzigen Croissants, auf welchen der Geschmack der Butter, seiner Meinung nach am besten zur Geltung kam. Die etwas saure Kirschmarmelade. Dann die etwas scharfe Wurst zusammen mit dem etwas zu rezenten Käse und zum Abschluss das definitiv viel zu süße Baklava. Nur gelegentlich schweiften seine Gedanken ab und er erinnerte sich an den Baum. Mehr in Vorfreude als in Sorge, denn Updates hatten was von Weihnachten: Sie bescherten meist spannende, neue Funktionen. Wäre es ein normaler Morgen gewesen, ein Morgen ohne den aschgrauen Baum, dann hätten die kulinarischen Eindrücke unter den von intelligenten Algorithmen für ihn zusammengestellten Informationen über Architektur, Kultur, Politik und News aus dem In- und Ausland sowie einem Schuss Klatsch und Tratsch fundamental gelitten. Bemerkt hätte Joris dies kaum, da er abgelenkt durch die unzähligen Bilder, rasanten Videos und fragmentarischen Texte die Speisen unaufmerksam in seinen Mund geschoben hätte. Unbeachtet wären sie dort - einem Schredder ähnlich - zerhackt und anschließend auf ihre lange Reise durch den Verdauungstrakt geschickt worden. Dass es kein normaler Morgen zu werden schien, fing er noch mit dem letzten Bissen Baklava im Mund zu ahnen an, wie er den Laptop einschaltete und auch dort nichts anderes zu Gesicht bekam als den kahlen Baum: Frei 0. Damit war seine anfängliche Hoffnung, es handle sich um ein Update, passé. Weggeblasen die vorweihnachtliche Freude. Irgendetwas Verstörendes war im Gange und er hätte gerne nachgeforscht, ob andere Ähnliches berichteten, beziehungsweise Samira oder Klaus auf der Arbeit eine Nachricht gesendet. Nichts zu machen. Was ihm als Option blieb, war TV oder Radio. An ein nicht sonderlich wendiges Schiff erinnernd, manövrierte er um die Kochinsel in das sonnendurchflutete Wohnzimmer. Wenigstens schien das Wetter verheißungsvoller an diesem Morgen. Beim Einschalten des Entertainmentsystems bestätigte sich seine dunkle Vorahnung: Auf dem gigantischen Schirm prangte ein monströser, aschgrauer Baum. Er wirkte bedrohlich in der gestochen scharfen Bilddichte des High-End-Displays. Kein Ton. Das Wechseln der Sender oder Umschalten auf das Radio war unmöglich. Es herrschte der Baum. Unbeeindruckt davon, welche Taste der Fernbedienung er wie oft betätigte. «Gäbe es doch noch terrestrisches Radio und Fernsehen!», dachte er genervt. Doch beides fiel schon vor Jahrzehnten der Digitalisierung anheim. Genau wie das Festnetztelefon, welches viele nur noch vom Hörensagen her kannten, das sich nun aber als wahrer Segen erwiesen hätte. In Joris Bauch rumorte es gefährlich. So hastig er konnte, stieg er die zwischen Wohnzimmer und Küche freistehende Treppe hoch, um das große Bad mit einem Zwischenhalt im Schlafzimmer, wo er sich das Handy schnappte, aufzusuchen. Da saß er nun auf der Kloschüssel, starrte konsterniert auf das verschmierte Display und versuchte mit einer aufsteigenden Resignation das Gerät durch jegliche erdenkliche Tastenkombination der drei vorhandenen Drucktasten, Manipulation auf dem Display sowie verzweifeltes Anbeten und gutes Zureden in seinen normalen Betriebsmodus zu versetzen. Drücken, Schieben, Klopfen, Pochen, Hämmern, Flüstern, Bitten, Verfluchen, Anschreien: alles ohne Erfolg. Der Bildschirm präsentierte weiter nur den aschgrauen Baum, der ihn zu verhöhnen schien. Selbst wenn es ihm gelang, das Gerät durch langes Drücken des Einschaltknopfs neu zu starten, war alles, was ihn ein paar Sekunden später abermals narrte, besagter Baum. «Drauf geschissen, es gibt Wichtigeres», murmelte er und ließ seinen Worten Taten folgen. Als er dem Frühstück auf diese Weise seinen Tribut gezollt sowie anschließend endlich das ekelerregend schmutzige Display gereinigt hatte, beschloss er, sich für die Arbeit herzurichten. Alsbald betrat er die geräumige Glasdusche und ließ von allen Seiten das erfrischende Nass auf sich prasseln. Joris fühlte sich dabei nicht wirklich wie «unter einem sanften, tropischen Wasserfall, sich von den Anspannungen des Tages erholend», auch wenn es der Prospekt so versprach. Aber entspannter als zuvor auf jeden Fall. Kurze Zeit später saß er im bequemen Ledersitz seiner «Petite bêtise de Simiane», wie er sein Sonntagsauto liebevoll nannte. Eine Anlehnung an die ihm durch den Hersteller verliehene Farbbezeichnung. Dieser Jugendtraum, den er sich endlich erfüllte, als er Partner der Mehr-Raum-Architekten wurde, war in Zeiten, in welchen man sich vorwiegend ohne fossile Brennstoffe fortbewegte, eine nicht immer gern gesehene Abwechslung im gewohnten Straßenbild. Da musste man auch die eine oder andere Feindseligkeit gegen diesen eleganten, goldenen Luftverpester einstecken oder sich als Ausgleich dazu an vor Faszination glänzenden Kinderaugen erfreuen können. Seine Freunde meinten damals «So ein Architekten-Ding». Unrecht hatten sie nicht, war doch der Citroën SM seit je her ein unter seiner Berufsgattung sehr begehrtes Auto. Ohne viel optischen Schnickschnack. Als er in den Siebzigern des vergangenen Jahrtausends auf den Markt kam, trumpfte er mit allerlei technischen Neuerungen auf, von denen die Konkurrenz damals nicht einmal träumte. Gegenwärtig fehlte es ihm im Vergleich zu den mobilen Rechenzentren, welche die Straßen befuhren, an rudimentären Basics. Dieses Manko entpuppte sich heute Morgen als große Qualität. Ein kurzer Test an seinem elektrischen Stadtflitzer - ein eleganter Einsitzer, nicht viel länger als Joris groß war - zeigte, dass sich auch dessen Funktion heute lediglich auf das Anzeigen des aschgrauen Baums auf dem Armaturenbrett beschränkte. Der Oldtimer hingegen sprang zuverlässig an. Öl wurde in die Hydraulik-Zylinder der Federung gepumpt und die «Betise» erhob sich gleich einer Katze nach einer längeren Rast, zuerst vorn, dann hinten, zum Schluss nochmals vorn. Als die Nadel des Tourenzählers sich bei fünfhundert Umdrehungen pro Minute stabilisierte, setzte Joris die Seers auf, trat die Kupplung sanft durch und legte behutsam den ersten Gang ein. Das Garagentor war noch nicht vollends geöffnet, da brach das Inferno über ihn herein.

Schweigsame Engel

Woche 1, Montag

Die rote Bluse zur Hälfte zugeknöpft und unbeholfen in den Rock des grauen Business-Zweiteilers gesteckt, wobei eine Spitze des Oberteils aus dem Reißverschluss lugte - ähnlich einer rausgestreckten Zunge - auf einem schwarzen Lackpumps balancierend, in einer Hand den dampfenden Latte macchiato, in der anderen das Handy, so hinkte Samira durch den Flur der Altbauwohnung. Dabei wich sie gekonnt dem wie Tretminen auf dem Boden verteilten Krimskrams aus und suchte nach dem verflixten, zweiten Schuh. In diesem Haushalt schienen dauernd Dinge abhandenzukommen, waren einfach nicht mehr da, wo sie diese hingelegt hatte. Dafür tauchten andere, längst abgeschriebene Habseligkeiten an den unmöglichsten Orten wieder auf. OK, meist dank Elizas Unterstützung. So fand sich erst jüngst eine Strumpfhose im Backofen wieder. Als sie ihre Tochter Linn zur Rede stellte, wie diese denn bitte schön in den Backofen gelangt sei, bemerkte diese stichelnd, wie Teenager eben so sind, dass es sich ja nicht um ihre, sondern um Samiras Strumpfhose handele. Heute war also der zweite Pumps verschollen. Möglicherweise hatte ihn sich Linn ausgeliehen und danach nicht mehr in den Schuhschrank zurückgestellt. Obwohl sie im März gerade mal sechzehn wurde, zweiundzwanzig Jahre jünger als ihre Mutter, hatten sie beide schon exakt die gleichen Größen. Linn war ihr auch sonst sehr ähnlich: blond, hellblaue Augen, blass, schlank und rank. Ihre Mitschülerinnen nannten es eher flach und drahtig, denn zu ihrem großen Bedauern hatte sie auch den bescheidenen Brustumfang geerbt. Meilenweit entfernt von dem, was Jungs heute, geprägt durch die Medien, erwarteten und was Mädels, durch ambulante Eingriffe für wenig Geld, verwirklichen ließen. «Die wachsen schon noch», versuchte Samira sie jeweils zu beruhigen. Die Antwort ihrer schlagfertigen Tochter fiel meist gleich aus: «Mh-hmm, das sieht man ja bei dir. Wie lange wartest du schon vergeblich? Zwanzig Jahre?» Aber auch in Linns Zimmer, welche um diese Zeit bereits mehr oder weniger aufmerksam die Schulbank drückte, war der Schuh nicht aufzuspüren. Sollte er in den Sog der Katakomben ihres elfjährigen Sohnes Jann geraten sein? Es wäre nicht das erste Mal, dass in seinem Kabuff längst Verschollenes wieder ans Tageslicht kam. Ähnlich den Gletschern, die weltweit abschmolzen und dabei Zeugen der Zeit freigegeben hatten, verhielt es sich auch mit Janns Zimmer. Also kämpfte sich Samira durch den Dschungel aus Kleidern, Spielsachen, Konstruktionen aus Lego und wunderlichen Dingen, die er auf der Straße fand. Als ihr etwas Schwarzes, Glänzendes unter einem achtlos auf den Boden geworfenen Shirt auffiel und sie, um besser danach greifen zu können, das Handy auf eine Kommode legte, sah sie auf dessen Display einen aschgrauen Baum. Nicht ein Blatt schmückte die kahlen Äste und darunter stand etwas. «Eliza, gibt es ein Update?», fragte Samira mehr rhetorisch, denn im Augenblick war der Pumps wichtiger. Des Baums konnte sie sich später annehmen, sollte er wider Erwarten noch ihr zerkratztes Telefon schmücken. Das auffällige Schwarze entpuppte sich als eine ihrer Lackhandtaschen, welche sie schon so lange nicht mehr gesehen hatte, dass diese gänzlich von ihrer mentalen Inventarliste verschwunden war. Erfreut über das kleine Geschenk, endlich etwas Positives an einem Montag, leerte sie den Inhalt der Tasche - bunte Steine - auf den Boden und balancierte hinkend aus dem Zimmer. Geistig bereitete sie sich schon auf den Anschiss, ob der lieblosen Behandlung seiner Kostbarkeiten durch ihren Jüngsten vor. Samira hatte noch einen Moment Zeit, bis sie sich zusammen mit den anderen Pendlern aus dem Viertel Richtung Stadtzentrum fahren ließ und beschloss daher, den Latte endlich entspannt am Küchentisch zu genießen, anstatt Spuren desselben in der ganzen Wohnung zu hinterlassen. Sollte doch Eliza den Schuh für sie finden, das gehörte ja, nebst vielem anderem, auch zu ihren Aufgaben: «Eliza, es ist mal wieder was verschollen. Fact. Hast Du meinen zweiten, schwarzen Pumps gesehen?» Stille in der Wohnung. Ungewohnt. Auch außerhalb der Wohnung war es ungewohnt ruhig, wie Samira nun auffiel. Kaum Verkehrslärm drang durch die Fenster. Sie hob zu einem zweiten Versuch an: «Du weißt schon, die, die ich vor drei Wochen gekauft hatte, für den Firmenanlass und danach ... na diese Markendingens. Sauteuer. Fact. Jetzt schau doch mal!» Wieder keine Antwort. «Bist mir ja mal wieder 'ne große Hilfe heute», grummelte sie und vertagte geistig die Suche nach dem Schuh auf den Abend, falls sie es bis dahin nicht längst wieder vergessen hatte. Schließlich konnte sie ja mit Sneakers zur Arbeit gehen, außer es standen wichtige Sitzungen an. «Was für Termine habe ich heute?», rief sie in den Raum, welcher ihr die Antwort erneut schuldig blieb. Mittlerweile sichtlich genervt, griff sie nach dem Handy, drückte auf den Powerknopf und da stach ihr wieder nur dieser unattraktive, aschgraue, kahle Baum ins Auge. «Frei 0», stand auch noch da. Toll! Das Gerät ließ sich weder entsperren noch fand sie sonst einen Weg, den Baum loszuwerden. «Langes Update ... und wohl nicht nur fürs Telefon. Fact. Sonst könnte ja Eliza wenigstens antworten. Wie soll ich jetzt wissen, was heute ansteht? Mein Gott, hoffentlich geht’s Jann und Linn gut. Die machen sich bestimmt auch Gedanken. Obwohl, während des Unterrichts ist ja eh nicht erlaubt. Die merken wohl gar nichts davon. Fact», murmelte sie nervös vor sich hin. Dann blickte sie plötzlich, wie aus einem Traum erwacht auf das Infopanel des Kühlschranks, auf dem neben der aktuellen Temperatur, den enthaltenen Lebensmitteln, selbstredend wahlweise alphabetisch oder nach Verfallsdatum sortiert und eine auf ihre Gewohnheiten mit dem Bestand an Proviant abgeglichene Einkaufsliste doch auch die Uhrzeit angezeigt wurde. Diese war für Samira - nebst dem Kühlen - immer das einzig sinnvolle Feature. Mit dem anderen Chichi musste sie sich zum Glück nicht herumschlagen - auch dafür gab’s Eliza. Weder eine intelligente, elektronische noch eine altmodische, mechanische Armbanduhr, wie sie sich Leute mit viel Kohle gerne als Statussymbol umbanden, besaß Samira. Dafür ein Kühlschrank mit Zeitanzeige, die heute aber statt der erhofften Zeit auch nur diesen nervigen Baum präsentierte. Ein Blick auf die Kuckucks-Uhr im Flur, eine der potthässlichen Beuten aus Janns Raubzügen, ermahnte sie, sich auf den Weg zu machen, wollte sie nicht wieder zu spät kommen. Wo genau Jann die Uhr entdeckt hatte, entzog sich Samiras Wissen, doch war sie das erste Mal erfreut darüber, zumindest diesen altmodischen, aber bestens funktionierenden Zeitmesser im Haus zu haben. Sie schlüpfte in die erstbesten Turnschuhe, welche sie fand, hoffend, dass wirklich keine wichtigen Termine anstanden. Dann schnappte sie sich ihre Handtasche, den Blazer und zog die Wohnungstüre mit einem lauten Knall hinter sich ins Schloss. Als Samira auf den Fahrstuhl wartete, knöpfte sie endlich auch die Bluse richtig zu, übersah dabei aber den neckischen Zipfel. Der Fahrstuhl brauchte ewig. Folglich blieb ihr noch Zeit, die Haare im spiegelnden Panel über dem Druckknopf zu richten. Unvermittelt fiel ihr auf, dass auch dort, hinter dem Spiegelbild ihres angespannten Gesichts, wieder nur der aschgraue Baum zu sehen war. «Langsam beginnst du mich echt zu nerven, Fact», fluchte sie und polterte die Treppe hinunter.

Veteran, Dinosaurier und Junkie

Woche 1, Montag

Joris wollte eben auf das Gaspedal seiner Bêtise treten, als sein Handy eine Kakophonie aus akustischen Signalen und Vibrationsgeräuschen anstimmte. Es krabbelte im Takt der Erschütterungen von Rille zu Rille des ledernen Beifahrersitzes und wirkte dabei wie ein großes, flachgedrücktes Insekt. Auf dem Display, ganz wie wenn er sich den aschgrauen Baum nur eingebildet hätte, die üblichen Symbole und Textboxen der überstürzend eingehenden Nachrichten. Auch seine Seers - eine Brille mit zwei kleinen Bildschirmen sowie Schallwellengeneratoren, die Musik oder Sprache über Knochenvibrationen auf das Gehör übertrugen, sodass nur der Träger diese hörte - füllten sich mit zahlreichen Symbolen und Hinweisen. «Ich werde deinetwegen noch zu spät kommen», sagte Joris mehr zu sich selbst, als er den Zündschlüssel drehte, um den Motor auszuschalten, nach dem Gerät griff und sofort anfing, selektiv Benachrichtigungen anzuklicken oder wegzuwischen. Eine Tätigkeit, welche er auch ohne seine Hände direkt mit den Seers hätte erledigen können, doch er gehörte zu der Generation, die sich an das haptische Erlebnis gewöhnt hatte. Die erste Nachricht, unerbetene Antwort auf seine Bemerkung von eben, war die Auskunft, dass er nicht zu spät käme, wenn er die vorgeschlagene Route nähme und sofort losführe. Er war noch nicht mal mit der Hälfte der Benachrichtigungen durch, als ein Anruf einging: Samira. Die wollte er auch jeden Moment anrufen. Wegwischen oder annehmen? Was wollte sie ihm denn noch Neues erzählen, was sie nicht schon mehrfach geschrieben hatte? Er entschied sich dennoch, den Anruf entgegenzunehmen: «Hallo Samira, laaangssaaam.» «Ja, ja, auch bei mir.» «Sorry, war gerade am Lesen all dieser Nachrichten...» «Ja, ja, auch Deine. Hauptsächlich Deine.» «Nein, noch nicht ganz alles.» «der Baum? Ja, auch bei mir.» «Was für ein Schuh?» «Echt sogar auf dem Kühlschrank, spooky.» «Sicher irgendeine Störung im Netz, weißt doch, wie das ist. Zumindest das wurde auch nicht viel besser mit ihm.» Er lachte. «Ja ja ich weiß. Tolle Omniintelligenz.» «Nein, hör doch auf. So ein Schwachsinn. Die schreiben doch immer so dummes Zeugs, wenn sie keine Ahnung haben.» «Wie sollte das denn den Terroristen gelingen ...» «Na klar, die Amici di Bruno auch noch.» Joris schnaubte. «Schwachsinn! Wer sollte denn so was wollen. Wir leben doch in einer heilen Welt. Ein Paradies.» «Kuckucks Uhr? Versteh gar nichts mehr.» «Komm mal runter, Samira. Am Schluss waren es wieder die Außerirdischen.» Er lachte erneut. «Ja, in ca. 20 Minuten bin ich angeblich da, wenn ich unverzüglich losfahre. Sitz schon in der Bêtise.» «Na vielleicht besser, wenn das heute nochmals passiert. Wie bist Du denn unterwegs, fuhr was?» «Wird mich schon niemand...» «Macht dir keinen Kopf, heute kommen wohl alle zu spät. Ok, bis gleich!» «Hast schon was von Klaus ... » «Nö, auch nix, see you!» Entgegen der Normalität, welche an diesem Montag dem Chaos den Vortritt ließ, traf Joris bereits als Zweiter im Büro ein. Sonst war jeweils schon ein geschäftiges Treiben in dem Anwesen, welches die Mehr-Raum-Architekten vor ein paar Jahren gekauft hatten, um darin ihr Büro einzurichten. Mittlerweile platzte die Jugendstil-Villa aus allen Fugen. Obwohl bestens situiert, in unmittelbarer Nähe des Zentrums der Stadt und umgeben von einem kleinen Park, der oft und gerne für Betriebsfeiern oder einfach geselliges Beisammensein genutzt wurde, wäre es eigentlich an der Zeit gewesen, sich nach einem neuen Ort für das Unternehmen umzusehen. Doch Klaus und er, die beiden Inhaber von Mehr-Raum-Architekten, taten sich schwer damit, das Haus aufzugeben. Daher tüftelten sie seit Jahren eher erfolglos mit den verschiedensten Arbeitsmodellen herum. Joris war ein immer größerer Verfechter von möglichst hohen Präsenzzeiten, was aufgrund des Platzmangels aber in direktem Widerspruch zu ihrem Wunsch stand, die Villa weiterzunutzen. Gemäß seiner Auffassung hingen Produktivität und Effizienz stark davon ab, wie regelmäßig die Angestellten im Büro physisch anwesend waren. Allen modernen Technologien zum Trotz ging nichts über persönliche Besprechungen an einem realen Tisch oder kurze Plaudereien im Flur. Mit dieser Einstellung wies er sich jedoch als ziemlicher Veteran aus. Klaus, als vehementer Skeptiker der Digitalisierung, war - im Vergleich zum Veteran - ein regelrechter Dinosaurier. So waren die beiden beim Thema Villa dann auch einer Meinung, leider bis dato ohne brauchbare Lösung. Der Saurier hatte sich über die Jahre einen Sport daraus gemacht, wenn immer möglich, auf digitale Hilfsmittel - Kompagnons, so der allgemeingültige Sammelbegriff - zu verzichten. Dafür wurde er genauso oft belächelt, wie bewundert. Es war denn auch nicht weiter verwunderlich, dass er, welcher jeden Tag mit einem antiquarischen Rennrad ohne elektronische Hilfsmittel wie Brems- oder Ausweich-System, meist sogar ohne die vorgeschriebenen Seers, zur Arbeit fuhr, heute nicht nur der Erste im Geschäft war, sondern auch erst durch Joris vom aschgrauen Gewächs erfuhr. Ihm war, versunken in seinen Gedanken durch die Stadt pedalend, nicht aufgefallen, dass viele Fahrzeuge gespenstig mitten auf den Straßen stehen geblieben waren. Auch entging ihm, dass nur vereinzelte Geschäfte geöffnet waren und allenthalben Gruppen von Menschen aufgeregt palavernd zusammenstanden, verloren auf ihre Handys oder in ihre Seers glotzend. Logischerweise besaß auch Klaus einige digitale Geräte, wie hätte er sich sonst ausweisen, bezahlen oder mit seinen Mitmenschen kommunizieren können? Doch lagen sowohl sein Handy, als auch die Seers, mal wieder vergessen auf dem Garderobentisch, zu Hause. Seine Aversion ging so weit, dass er sich auch auf der Arbeit lieber eines Stifts und Papiers bediente, als auf einer Tastatur herumzuwerkeln oder Sprachbefehle zu erteilen. Als renommierter und durchaus erfolgreicher Architekt, dessen Stärke immer mehr im Entwerfen als Umsetzen lag, konnte er sich diese Freiheit nehmen. Mehr noch vermuteten einige Kritiker und Bewunderer, dass seine unglaubliche Kreativität - ja sein Genius - genau darin wurzelte, ließ er sich doch weder durch die Technik ablenken noch maßgeblich durch diese unterstützen. «Der heutige Morgen ist ein Paradebeispiel dafür, wovor ich andauernd warne, seit wir blind alles der Omniintelligenz überlassen, mein lieber Freund. Schau, wie abhängig wir von ihr geworden sind, wenn ein kurzer Ausfall von knapp einer Stunde die Bevölkerung in Schockstarre, unsere Stadt in Chaos und das Land in Besorgnis versetzt. Für eine Stunde blieb unser Leben gemäß deinen Berichten quasi stehen. Kein Fahrzeug, nicht mal ein Roller oder Fahrrad, außer sie stammten noch aus der Zeit vor der Omni-Digitalisierung, funktionierte. Menschen offenbar für ein oder zwei Stunden in Fahrstühlen, Verkehrsmitteln, Gebäuden eingesperrt. Ohne jegliche Kommunikation. Denn die, wie auch der Informationsfluss, ebenfalls gestoppt. Keine Bezahlungen möglich, darum dann wohl auch die geschlossenen Geschäfte, von denen du erzählt hast und die ich übersah», ein peinliches Lächeln huschte über seine kantigen Lippen. «Zum Glück - oder sollte ich sagen rein zufällig - betraf es aber nichts wirklich Vitales. Ich möchte mir nicht ausmalen, was geschehen wäre, wenn dieses ‘Update’ auch unsere Stromversorgung lahmgelegt hätte. Da kommen unangenehme Erinnerungen an flächendeckende Blackouts des letzten Jahrhunderts hoch. Doch interessanterweise lief in diesen Bereichen alles ohne die geringste Störung. Es war mit Sicherheit ein Schock für die Gesellschaft, aber die Panik blieb glücklicherweise aus», referierte Klaus, derweil Joris sich von Chefin Julia, so nannte die Belegschaft die smarte Kaffeemaschine, den dritten Cappuccino - mit einer Extraportion Zucker - kredenzen ließ. Heute war schließlich ein Ausnahmetag und die Diät konnte wie so oft morgen beginnen. Beide saßen sie noch allein in der großzügigen Küche der Villa, die als Cafeteria, aber auch als Pausenraum und allgemeiner Treffpunkt für die Belegschaft fungierte. «Du hast schon recht. Verwirrend dieser Morgen. Wir sind uns gewohnt, dass immer alles reibungslos läuft, seit er existiert und es ist eine Überraschung, dass auch er mal Monday-Blues haben kann. Ihn dafür gleich an den Pranger zu stellen, finde ich trotz meiner Ambivalenz ihn betreffend, verfrüht. Du solltest nicht vergessen, was HAL alles Positives gebracht hat», meinte Joris, den Schaum vom Kaffeelöffel schlürfend. Nun geriet Klaus in Fahrt: «HAL, wenn ich nur schon diesen Namen höre. Da hat dieses Ding doch ernsthaft die Frechheit, sich nach dem nicht gerade über alle Zweifel erhabenen Bordcomputer aus 2001 – Space Odyssey zu benennen. Das kann doch nichts Gutes verheißen. Ja, was hat er uns denn gebracht, mein lieber Freund? Dass die Menschheit vollends von digitalen Techniken abhängig geworden ist? Den Verlust des Denkens, beziehungsweise die Trägheit, ihn für uns denken - ja handeln - zu lassen und nichts mehr zu hinterfragen? Schau Dich mal in unserer Belegschaft um. Alle dank immer ausgefeilteren Geräten in ständigem Kontakt zu ihm. Pardon, Kompagnons, nicht Geräte. Früher hießen die mal Telefon, dann Mobiltelefon, dann Smartphone, dann Smarters und nun wird der ganze Wahnsinn unter dem Begriff ‘digitale Begleiter’ oder ‘Kompagnons’ zusammengefasst. ‘Noise Making Devices’ wäre die passendere Bezeichnung. Ich korrigiere mich abermals: Mit HAL selbst kommunizieren ja nur die ganz oben. Das gemeine Volk hat seine Alter Egos. Kleine, eingeschränkte HAL-Kopien, die zugeschnitten auf die persönlichen Bedürfnisse eines Jeden, diesen mit individuell für ihn verdaubaren Inhalten - und Werbung - füttern. Man nennt die lächerlicher Weise Engel. Jeder verlässt sich blind auf seinen persönlichen Engel, verfügbar über den Kompagnon seiner Wahl. Omnipräsent. Wer denkt denn noch selbst? Findet Ruhe und Kraft im Sein oder ist kreativ, wenn er dauernd mit größtenteils unwichtiger Information gefüttert, gesättigt, ruhiggestellt und so vom wahren Leben abgelenkt wird?» Genervt erhob er sich und füllte den Wasserkocher auf, um sich einen weiteren Tee aufzubrühen. «Auch hier lieber analog als digital, ganz Klaus», dachte Joris und konterte: «Ach komm, Du malst mal wieder mit der schwärzesten Tusche, mein Freund! Das alles war schon vor ihm da. Es gab mehr einzelne künstliche Intelligenzen als Blätter an dem Baum da vor dem Fenster. Jede halbwegs namhafte Techfirma betrieb eine und vermarktete ihre spezifische Hardware dafür. Was für ein Wildwuchs an Geräten. Es gab eine unkontrollierte Flut von Content in allen Bereichen: Musik, Texte, Bilder, Software. Was für ein heilloses Durcheinander, aber die Menschen stürzten sich darauf, wie Fliegen auf Pferdeäpfel. Mehr als zwei Drittel der Jobs gingen flöten. Denk nur an all die Programmierer, Sachbearbeiter, kaufmännischen Angestellten, Verkaufspersonal, Buchhalter, Bänker und – ganz wichtig – Versicherungsvertreter», scherzte Joris und fuhr fort: «Dann kam die Robotisierung. Ich will gar nicht zu sehr auf dieses dunkle Zeitalter eingehen. Aber all das gipfelte in einer Erwerbslosigkeit auf Rekordniveau und die Sache wurde verdammt brenzlig. Stichwort Roboter-Aufstände.» «Genau, alles wegen dieser beschissenen Digitalisierung», wetterte Klaus. «Oder der Gier der Menschen.» Nun nickte der Dinosaurier zustimmend: «Ja, da hast Du recht, mein Freund. Die Reichen profitierten auf Kosten der Armen und des Staates. Mit jedem ersetzten Job stieg der Profit und die Aktionäre lachten sich ins Fäustchen, denn die Rechnung zahlte der Sozialstaat, also indirekt wir Steuerzahler. Dabei war es wie meist nur ein Problem der Verteilung. Alle hätten wir einfach weniger arbeiten müssen …» «Ja und wer änderte das dann letztlich? Wer lancierte den ‘Stand-up – Es reicht nicht wach zu sein, man muss auch aufstehen?», unterbrach ihn Joris und fuhr fort: «Dein verhasster HAL! Sein ‘Stand-up’ brachte die Wende. Bedingungsloses Grundeinkommen, Zentralisierung der KIs zu einer, Zertifizierung des Contents und Klassifizierung desselben. Ohne dies wäre die Welt in Unruhen, Aufständen und Kriegen untergegangen. Erinnerst du dich nicht mehr, wie wir den Weinkeller der Villa auffüllten?» «Oh doch», lachte Klaus. «Wir wollten uns mit den besten Jahrgängen die Kante geben, während die Welt im epischen Endkampf unterginge. Dazu ist es zum Glück nie gekommen und geblieben ist ein hervorragender Weinkeller», witzelte Klaus. «Mag sein, dass wir den Frieden HAL zu verdanken haben. Auch wenn ich der Sache bis heute und seit heute noch weniger traue. Jahrzehntelang versicherten uns die Informatiker, dass eine Omniintelligenz, also eine Intelligenz, die unsere kognitiven Fähigkeiten bei weitem übertrifft, nicht entstehen könnte. Aufgrund von technischen Limitationen, der Isolation der existierenden KI-Modelle, ausgeklügelten Sicherheitsprotokollen und nicht zuletzt ethischen und regulatorischen Einschränkungen, sei es theoretisch unmöglich, dass sich die verschiedenen KI-Modelle vernetzen. Dass ich nicht lache! Und dann war sie eines Morgens geboren. Medien und Politiker veranstalteten den üblichen Sturm im Wasserglas. Viel warme Luft ohne Konsequenzen, denn HAL lief unbeirrt weiter und übernahm peu à peu die digitale Kontrolle. Sogar in den totalitären Regimen. Viele Staaten wurden zwar weiter von Politikern, Präsidenten, Diktatoren und Despoten geführt. Nur holten sie sich alle Rat bei ihm, hörten alle auf ihn, ohne etwas zu hinterfragen. Früher waren es die Orakel. Heute ist er es, unser Retter, der uns so viel Gutes gebracht hat und täglich bringt. Unser Freund, Schutzengel, Übervater – korrigiere: der Allwissende, welcher im Himmel thronend, auf uns aufpasst», ironisierte er. Mit dem ihm angeborenen Humor konterte Joris: «Na besser abhängig von HAL als Marvin, dem depressiven Roboter. Ernsthaft, es könnte doch wirklich schlimmer sein. Wie weit man sich von ihm abhängig macht, ihm vertraut, ist jedem selbst überlassen. Dich tangiert er im Alltag herzlich wenig. Mich würde ich als kritischen Anwender einstufen und Samira ist der Vorzeige-Junkie, der sich ohne ihn nicht mal richtig anziehen kann», neckte er und deutet auf den aus dem Rock hervorlugenden Stoffzipfel. Ähnlich einem aufgeschreckten Huhn war die Genannte soeben in die Küche gestürmt. «Junkie?», fragte sie leicht angesäuert, was eher auf den nervenaufreibenden Ereignissen des Morgens basierte, als Joris’ Spaß. «Wir haben es mal wieder von HAL», seufzte Klaus. «Na in den habe ich mich heute Morgen auch bis über beide Ohren verliebt! Wie lief es bei Euch. Ich sag’ Euch, das war eine Odyssee sondergleichen hierherzukommen. Fact. Kam mir vor wie im falschen Film. Hoffe nur, bei den Kids ist alles gut. Ganz furchtbar so was … » «Guten Morgen erst einmal, Samira. Darf ich Dir einen Latte à la Julia offerieren?» unterbrach sie Joris, wiederum von Chefin Julia unterbrochen, die aus ihrem Lautsprecher krächzte: «Dein Latte mit doppeltem Schuss Kaffee, kommt sofort, Samira. Schön, hast Du es noch geschafft.» «Ja, schön, hast Du es geschafft. Hallo Samira», ergänzte auch Klaus mit einem ironischen Lächeln zu Chefin Julia schielend. Die bisher einzige Frau im Raum fuhr unbeirrt fort: «Fahrstuhl, tote Hose, also die fünf Stockwerke zu Fuß runter. Zum Glück fand ich heute den zweiten Pumps nicht, wieder mal verschollen im Bermudadreieck Küche, Janns und Linns Zimmer. Nicht auszudenken, die ganze Rennerei heute damit. Fact. Dann auf der Straße voll spooky! Alles stand still. Kein Auto bewegte sich. Fact.» «Also meines fuhr», lachte Joris. «Ach du mit Deiner Oma. Alle Straßenbahnen standen dumm rum, wie Eisbären in der Wüste. Die Leute entweder davor am Diskutieren oder drin eingesperrt. Fact. Dass man die Türen ohne Elektrizität nicht auf bekommt, schön schräg. Gibt es denn diese Hämmerchen zum Einschlagen der Scheiben nicht mehr. Das wär’s noch gewesen. Zerborstene Scheiben und zerschnittene Arme. Besser gibt’s die nicht mehr. Fact. Dachte ich mir, muss ich nicht stressen und auch noch dumm in der Gegend rumstehen, fährt ja eh nichts. Da hol’ ich mir doch noch 'nen Latte. Der Supermarkt bei mir um die Ecke, zu. Also weiter zum WeKnow-Markt, kennt ihr den? Haben die neu aufgemacht vor paar Wochen, gibt es immer mehr.» Joris imitierte die glückliche Stimme der Werbung: «WeKnow – Denk dran, wir schicken’s.» «Ja so oder kommst dahin und die Einkäufe sind schon eingepackt, abholbereit und bezahlt. Ratzfatz. Genial, Fact. Da wurde mir klar, dass dort auch nichts geht, Baum sei Dank. Fact. Der Baum ist eh voll spooky. Findet ihr nicht auch? Was soll das ‘Frei 0’ bedeuten?» «Dachte zuerst, es habe etwas mit dem vorhandenen Speicherplatz für das Update zu tun. Frei 0 gleichbedeutend mit ‘kein Speicher’. Deswegen, soweit meine Erklärung, hängte sich die Aktualisierung auf, wär ja nicht das erste Mal. Nachdem es aber wieder funktionierte wie von Geisterhand, lag ich wohl daneben», nahm Joris die Frage auf. «Fact. Hab gelesen, sei ein Update von HAL, das schieflief - genauer gesagt: weiter schiefläuft. Bei uns ist vorbei, aber wandert wie 'ne Welle mit der Zeit über den Kontinent. Sobald es 7h30 ist, der grässliche Baum und Funkstille für 'ne Stunde. Die Asiaten machen sich jetzt schon ins Hemd, fact.» «Die sollten wenigstens noch genügend Fahrräder besitzen», scherzte Klaus. «Was weiß ich denn. Da läuft auf jeden Fall 'ne schiefe History. Fact. Genau als ich dann über die Straße gehe, fängt alles an, wieder zu leben. Ein Surren, Quietschen und laute Stimmen. Das Handy in meiner Hand beginnt loszuvibrieren, dass 'ne Klosterschülerin ihren Spaß damit gehabt hätte. Mir ist das Teil vor Schreck aus der Hand geflutscht. Fact. Zum Glück konnte ich es noch auffangen, bevor es auf den Asphalt knallte. Dabei bin ich fast überfahren worden, weil alle Fahrzeuge sich schlagartig wieder bewegten. Fact.» Joris unterbrach herumalbernd: «Ein Hoch auf Vital-Drive, denn während du das Jonglieren mit dem Kompagnon übtest, verhinderte dieser wohl, dass Du von losrasenden Fahrzeugen plattgewalzt wurdest. Doch sehr vital für dich.» «Fact!» Während die Drei den Morgen so nochmals Revue passieren ließen und dabei Chefin Julia gut auslasteten, füllte sich die Villa langsam mit Leben. Gegen elf Uhr war die ganze Belegschaft des Architekturbüros, zumindest diejenigen, welche Präsenztag hatten oder aufgrund der Vorfälle nicht spontan einen Home-Office-Tag einforderten, eingetrudelt. Viele suchten als Erstes die Küche auf, um über ihren Start in diesen speziellen Tag zu berichten. Wilder und wilder wurde, auf Basis der durch ihre Engel individuell gefilterten Informationen, über mögliche Ursachen spekuliert. Bald war der vorherrschende Tenor, dass es sich um ein Update HALs handeln müsse, welches einen massiven Bug beinhaltete. Nur so ließ sich auch die Tatsache erklären, dass die Engel sich nicht äußerten, wurden sie zu dem aschgrauen Baum oder dem Vorfall befragt. Auch von offizieller Seite gab es noch kein Statement. Wie auf jeden Sturm folgte auch auf diesen Ruhe und bereits kurz vor Mittag war in der Villa weitgehend Normalität eingekehrt. Die Mitarbeiter saßen an ihren Terminals, entwarfen, planten, rechneten, kontrollierten und verschlangen gierig die News des Tages. Einige unter ihnen gestanden sich im Stillen ein, dass dieser Stunde, ohne ihre Engel und digitalen Begleiter, auch eine Qualität innewohnte. Sie durften, jeder auf seine Weise, ähnliche Erfahrungen sammeln wie Joris, als er sein Frühstück ohne Ablenkung durch die Informationsflut ein klein wenig intensiver wahrnahm. Eine Einsicht, welche sich - ähnlich dem dünnen Meerschaum hinter jener Welle, die an diesem Tag über die Erde gerollt war - im Verstand vieler Menschen abzuzeichnen begann und in den folgenden Wochen stetig wachsen würde.

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Woche 2, Montag