Tree-DropAuf einem einfallslosen, dunkelgrauen
Hintergrund, ein aschgrauer Baum. Kein Blatt ziert dessen kahle
Äste.
Darunter ist in einer schnörkellosen, grünen Schrift zu
lesen:
Frei 0
Update
Woche 1, Montag
In Joris’ Blick spiegelte sich eine Mischung
aus Ungeduld und
Irritation wider, wie er - auf der Kloschüssel sitzend - das
ekelhaft mit verschmierten Fingerabdrücken übersäte Display seines
Handys anstarrte. Dort, wo sonst sein täglicher Feed mit auf ihn
zugeschnittenen News, seinen Terminen, Aufgaben und Erinnerungen
aus
vergangenen Tagen angezeigt werden sollte, erblickten seine
geröteten
Augen seit mehreren Minuten nur besagten, aschgrauen Baum.
Er war das Erste, was sich heute kurz nach dem Aufwachen in seine
Netzhaut brannte. Der aschgraue Baum, welchen er noch sehr oft zu
sehen bekommen sollte und mit welchem das Schicksal nun seinen Lauf
zu nehmen begann.
Zu dem Zeitpunkt glaubte Joris noch, sein Telefon sei mal wieder
beim
Aktualisieren des Betriebssystems, ließ es auf der Glasplatte des
Nachttischs liegen, stieg die metallene Wendeltreppe ins
Erdgeschoss
seines Hauses hinunter und bereitete sich dort in der offenen und
bestens eingerichteten Küche entspannt sein Frühstück zu. Selbst
beim Schlemmen desselbigen fehlte ihm das Gerät nicht sonderlich.
Im
Gegenteil: er genoss es überaus, sich ohne jede Ablenkung ganz den
verschiedenen Aromen zu widmen. Der etwas bittere Kaffee, die etwas
salzigen Croissants, auf welchen der Geschmack der Butter, seiner
Meinung nach am besten zur Geltung kam. Die etwas saure
Kirschmarmelade. Dann die etwas scharfe Wurst zusammen mit dem
etwas
zu rezenten Käse und zum Abschluss das definitiv viel zu süße
Baklava. Nur gelegentlich schweiften seine Gedanken ab und er
erinnerte sich an den Baum. Mehr in Vorfreude als in Sorge, denn
Updates hatten was von Weihnachten: Sie bescherten meist spannende,
neue Funktionen.
Wäre es ein normaler Morgen gewesen, ein Morgen ohne den aschgrauen
Baum, dann hätten die kulinarischen Eindrücke unter den von
intelligenten Algorithmen für ihn zusammengestellten Informationen
über Architektur, Kultur, Politik und News aus dem In- und Ausland
sowie einem Schuss Klatsch und Tratsch fundamental gelitten.
Bemerkt
hätte Joris dies kaum, da er abgelenkt durch die unzähligen Bilder,
rasanten Videos und fragmentarischen Texte die Speisen unaufmerksam
in seinen Mund geschoben hätte. Unbeachtet wären sie dort - einem
Schredder ähnlich - zerhackt und anschließend auf ihre lange Reise
durch den Verdauungstrakt geschickt worden. Dass es kein normaler
Morgen zu werden schien, fing er noch mit dem letzten Bissen
Baklava
im Mund zu ahnen an, wie er den Laptop einschaltete und auch dort
nichts anderes zu Gesicht bekam als den kahlen Baum: Frei 0. Damit
war seine anfängliche Hoffnung, es handle sich um ein Update,
passé.
Weggeblasen die vorweihnachtliche Freude. Irgendetwas Verstörendes
war im Gange und er hätte gerne nachgeforscht, ob andere Ähnliches
berichteten, beziehungsweise Samira oder Klaus auf der Arbeit eine
Nachricht gesendet. Nichts zu machen. Was ihm als Option blieb, war
TV oder Radio. An ein nicht sonderlich wendiges Schiff erinnernd,
manövrierte er um die Kochinsel in das sonnendurchflutete
Wohnzimmer. Wenigstens schien das Wetter verheißungsvoller an
diesem
Morgen.
Beim Einschalten des Entertainmentsystems bestätigte sich seine
dunkle Vorahnung: Auf dem gigantischen Schirm prangte ein
monströser,
aschgrauer Baum. Er wirkte bedrohlich in der gestochen scharfen
Bilddichte des High-End-Displays. Kein Ton. Das Wechseln der Sender
oder Umschalten auf das Radio war unmöglich. Es herrschte der Baum.
Unbeeindruckt davon, welche Taste der Fernbedienung er wie oft
betätigte. «Gäbe es doch noch terrestrisches Radio und
Fernsehen!», dachte er genervt. Doch beides fiel schon vor
Jahrzehnten der Digitalisierung anheim. Genau wie das
Festnetztelefon, welches viele nur noch vom Hörensagen her kannten,
das sich nun aber als wahrer Segen erwiesen hätte. In Joris Bauch
rumorte es gefährlich. So hastig er konnte, stieg er die zwischen
Wohnzimmer und Küche freistehende Treppe hoch, um das große Bad mit
einem Zwischenhalt im Schlafzimmer, wo er sich das Handy schnappte,
aufzusuchen.
Da saß er nun auf der Kloschüssel, starrte konsterniert auf das
verschmierte Display und versuchte mit einer aufsteigenden
Resignation das Gerät durch jegliche erdenkliche Tastenkombination
der drei vorhandenen Drucktasten, Manipulation auf dem Display
sowie
verzweifeltes Anbeten und gutes Zureden in seinen normalen
Betriebsmodus zu versetzen. Drücken, Schieben, Klopfen, Pochen,
Hämmern, Flüstern, Bitten, Verfluchen, Anschreien: alles ohne
Erfolg. Der Bildschirm präsentierte weiter nur den aschgrauen Baum,
der ihn zu verhöhnen schien. Selbst wenn es ihm gelang, das Gerät
durch langes Drücken des Einschaltknopfs neu zu starten, war alles,
was ihn ein paar Sekunden später abermals narrte, besagter Baum.
«Drauf geschissen, es gibt Wichtigeres», murmelte er und ließ
seinen Worten Taten folgen.
Als er dem Frühstück auf diese Weise seinen Tribut gezollt sowie
anschließend endlich das ekelerregend schmutzige Display gereinigt
hatte, beschloss er, sich für die Arbeit herzurichten. Alsbald
betrat er die geräumige Glasdusche und ließ von allen Seiten das
erfrischende Nass auf sich prasseln. Joris fühlte sich dabei nicht
wirklich wie «unter einem sanften, tropischen Wasserfall, sich von
den Anspannungen des Tages erholend», auch wenn es der Prospekt so
versprach. Aber entspannter als zuvor auf jeden Fall.
Kurze Zeit später saß er im bequemen Ledersitz seiner «Petite
bêtise de Simiane», wie er sein Sonntagsauto liebevoll nannte. Eine
Anlehnung an die ihm durch den Hersteller verliehene
Farbbezeichnung.
Dieser Jugendtraum, den er sich endlich erfüllte, als er Partner
der
Mehr-Raum-Architekten wurde, war in Zeiten, in welchen man sich
vorwiegend ohne fossile Brennstoffe fortbewegte, eine nicht immer
gern gesehene Abwechslung im gewohnten Straßenbild. Da musste man
auch die eine oder andere Feindseligkeit gegen diesen eleganten,
goldenen Luftverpester einstecken oder sich als Ausgleich dazu an
vor
Faszination glänzenden Kinderaugen erfreuen können.
Seine Freunde
meinten damals «So ein Architekten-Ding». Unrecht hatten sie nicht,
war doch der Citroën SM seit je her ein unter seiner Berufsgattung
sehr begehrtes Auto. Ohne viel optischen Schnickschnack. Als er in
den Siebzigern des vergangenen Jahrtausends auf den Markt kam,
trumpfte er mit allerlei technischen Neuerungen auf, von denen die
Konkurrenz damals nicht einmal träumte. Gegenwärtig fehlte es ihm
im Vergleich zu den mobilen Rechenzentren, welche die Straßen
befuhren, an rudimentären Basics. Dieses Manko entpuppte sich heute
Morgen als große Qualität. Ein kurzer Test an seinem elektrischen
Stadtflitzer - ein eleganter Einsitzer, nicht viel länger als Joris
groß war - zeigte, dass sich auch dessen Funktion heute lediglich
auf das Anzeigen des aschgrauen Baums auf dem Armaturenbrett
beschränkte.
Der Oldtimer hingegen sprang zuverlässig an. Öl wurde
in die Hydraulik-Zylinder der Federung gepumpt und die «Betise»
erhob sich gleich einer Katze nach einer längeren Rast, zuerst
vorn,
dann hinten, zum Schluss nochmals vorn. Als die Nadel des
Tourenzählers sich bei fünfhundert Umdrehungen pro Minute
stabilisierte, setzte Joris die Seers auf, trat die Kupplung sanft
durch und legte behutsam den ersten Gang ein. Das Garagentor war
noch
nicht vollends geöffnet, da brach das Inferno über ihn herein.
Schweigsame Engel
Woche 1, Montag
Die rote Bluse zur Hälfte zugeknöpft und unbeholfen in den Rock des
grauen Business-Zweiteilers gesteckt, wobei eine Spitze des
Oberteils aus dem Reißverschluss lugte - ähnlich einer
rausgestreckten Zunge - auf einem schwarzen Lackpumps balancierend,
in einer Hand den dampfenden Latte macchiato, in der anderen das
Handy, so hinkte Samira durch den Flur der Altbauwohnung. Dabei
wich sie gekonnt dem wie Tretminen auf dem Boden verteilten
Krimskrams aus und suchte nach dem verflixten, zweiten Schuh.
In diesem Haushalt schienen dauernd Dinge abhandenzukommen,
waren einfach nicht mehr da, wo sie diese hingelegt hatte. Dafür
tauchten andere, längst abgeschriebene Habseligkeiten an den
unmöglichsten Orten wieder auf. OK, meist dank Elizas
Unterstützung. So fand sich erst jüngst eine Strumpfhose im
Backofen wieder. Als sie ihre Tochter Linn zur Rede stellte, wie
diese denn bitte schön in den Backofen gelangt sei, bemerkte diese
stichelnd, wie Teenager eben so sind, dass es sich ja nicht um
ihre, sondern um Samiras Strumpfhose handele.
Heute war also der zweite Pumps verschollen. Möglicherweise
hatte
ihn sich Linn ausgeliehen und danach nicht mehr in den Schuhschrank
zurückgestellt. Obwohl sie im März gerade mal sechzehn wurde,
zweiundzwanzig Jahre jünger als ihre Mutter, hatten sie beide schon
exakt die gleichen Größen. Linn war ihr auch sonst sehr ähnlich:
blond, hellblaue Augen, blass, schlank und rank. Ihre
Mitschülerinnen
nannten es eher flach und drahtig, denn zu ihrem großen Bedauern
hatte sie auch den bescheidenen Brustumfang geerbt. Meilenweit
entfernt von dem, was Jungs heute, geprägt durch die Medien,
erwarteten und was Mädels, durch ambulante Eingriffe für wenig
Geld, verwirklichen ließen.
«Die wachsen schon noch»,
versuchte Samira sie jeweils zu beruhigen.
Die Antwort ihrer
schlagfertigen Tochter fiel meist gleich aus: «Mh-hmm, das sieht
man
ja bei dir. Wie lange wartest du schon vergeblich? Zwanzig
Jahre?»
Aber auch in Linns Zimmer, welche um diese Zeit bereits mehr oder
weniger aufmerksam die Schulbank drückte, war der Schuh nicht
aufzuspüren. Sollte er in den Sog der Katakomben ihres elfjährigen
Sohnes Jann geraten sein? Es wäre nicht das erste Mal, dass in
seinem Kabuff längst Verschollenes wieder ans Tageslicht kam.
Ähnlich den Gletschern, die weltweit abschmolzen und dabei Zeugen
der Zeit freigegeben hatten, verhielt es sich auch mit Janns
Zimmer.
Also kämpfte sich Samira durch den Dschungel aus Kleidern,
Spielsachen, Konstruktionen aus Lego und wunderlichen Dingen, die
er
auf der Straße fand. Als ihr etwas Schwarzes, Glänzendes unter
einem achtlos auf den Boden geworfenen Shirt auffiel und sie, um
besser danach greifen zu können, das Handy auf eine Kommode legte,
sah sie auf dessen Display einen aschgrauen Baum.
Nicht ein Blatt
schmückte die kahlen Äste und darunter stand etwas. «Eliza, gibt
es ein Update?», fragte Samira mehr rhetorisch, denn im Augenblick
war der Pumps wichtiger. Des Baums konnte sie sich später annehmen,
sollte er wider Erwarten noch ihr zerkratztes Telefon schmücken.
Das
auffällige Schwarze entpuppte sich als eine ihrer Lackhandtaschen,
welche sie schon so lange nicht mehr gesehen hatte, dass diese
gänzlich von ihrer mentalen Inventarliste verschwunden war. Erfreut
über das kleine Geschenk, endlich etwas Positives an einem Montag,
leerte sie den Inhalt der Tasche - bunte Steine - auf den Boden und
balancierte hinkend aus dem Zimmer. Geistig bereitete sie sich
schon
auf den Anschiss, ob der lieblosen Behandlung seiner Kostbarkeiten
durch ihren Jüngsten vor.
Samira hatte noch einen Moment Zeit, bis sie sich zusammen mit den
anderen Pendlern aus dem Viertel Richtung Stadtzentrum fahren ließ
und beschloss daher, den Latte endlich entspannt am Küchentisch zu
genießen, anstatt Spuren desselben in der ganzen Wohnung zu
hinterlassen. Sollte doch Eliza den Schuh für sie finden, das
gehörte ja, nebst vielem anderem, auch zu ihren Aufgaben:
«Eliza,
es ist mal wieder was verschollen. Fact. Hast Du meinen zweiten,
schwarzen Pumps gesehen?»
Stille in der Wohnung. Ungewohnt.
Auch außerhalb der Wohnung war es ungewohnt ruhig, wie Samira nun
auffiel. Kaum Verkehrslärm drang durch die Fenster. Sie hob zu
einem
zweiten Versuch an:
«Du weißt schon, die, die ich vor drei
Wochen gekauft hatte, für den Firmenanlass und danach ... na diese
Markendingens. Sauteuer. Fact. Jetzt schau doch mal!»
Wieder
keine Antwort.
«Bist mir ja mal wieder 'ne große Hilfe heute»,
grummelte sie und vertagte geistig die Suche nach dem Schuh auf den
Abend, falls sie es bis dahin nicht längst wieder vergessen hatte.
Schließlich konnte sie ja mit Sneakers zur Arbeit gehen, außer es
standen wichtige Sitzungen an. «Was für Termine habe ich heute?»,
rief sie in den Raum, welcher ihr die Antwort erneut schuldig
blieb.
Mittlerweile sichtlich genervt, griff sie nach dem Handy, drückte
auf den Powerknopf und da stach ihr wieder nur dieser unattraktive,
aschgraue, kahle Baum ins Auge. «Frei 0», stand auch noch da. Toll!
Das Gerät ließ sich weder entsperren noch fand sie sonst einen Weg,
den Baum loszuwerden. «Langes Update ... und wohl nicht nur fürs
Telefon. Fact. Sonst könnte ja Eliza wenigstens antworten. Wie soll
ich jetzt wissen, was heute ansteht? Mein Gott, hoffentlich geht’s
Jann und Linn gut. Die machen sich bestimmt auch Gedanken. Obwohl,
während des Unterrichts ist ja eh nicht erlaubt. Die merken wohl
gar
nichts davon. Fact», murmelte sie nervös vor sich hin.
Dann blickte
sie plötzlich, wie aus einem Traum erwacht auf das Infopanel des
Kühlschranks, auf dem neben der aktuellen Temperatur, den
enthaltenen Lebensmitteln, selbstredend wahlweise alphabetisch oder
nach Verfallsdatum sortiert und eine auf ihre Gewohnheiten mit dem
Bestand an Proviant abgeglichene Einkaufsliste doch auch die
Uhrzeit
angezeigt wurde. Diese war für Samira - nebst dem Kühlen - immer
das einzig sinnvolle Feature. Mit dem anderen Chichi musste sie
sich
zum Glück nicht herumschlagen - auch dafür gab’s Eliza. Weder
eine intelligente, elektronische noch eine altmodische, mechanische
Armbanduhr, wie sie sich Leute mit viel Kohle gerne als
Statussymbol
umbanden, besaß Samira. Dafür ein Kühlschrank mit Zeitanzeige, die
heute aber statt der erhofften Zeit auch nur diesen nervigen Baum
präsentierte.
Ein Blick auf die Kuckucks-Uhr im Flur, eine der potthässlichen
Beuten aus Janns Raubzügen, ermahnte sie, sich auf den Weg zu
machen, wollte sie nicht wieder zu spät kommen. Wo genau Jann die
Uhr entdeckt hatte, entzog sich Samiras Wissen, doch war sie das
erste Mal erfreut darüber, zumindest diesen altmodischen, aber
bestens funktionierenden Zeitmesser im Haus zu haben. Sie schlüpfte
in die erstbesten Turnschuhe, welche sie fand, hoffend, dass
wirklich
keine wichtigen Termine anstanden. Dann schnappte sie sich ihre
Handtasche, den Blazer und zog die Wohnungstüre mit einem lauten
Knall hinter sich ins Schloss. Als Samira auf den Fahrstuhl
wartete,
knöpfte sie endlich auch die Bluse richtig zu, übersah dabei aber
den neckischen Zipfel. Der Fahrstuhl brauchte ewig. Folglich blieb
ihr noch Zeit, die Haare im spiegelnden Panel über dem Druckknopf
zu
richten. Unvermittelt fiel ihr auf, dass auch dort, hinter dem
Spiegelbild ihres angespannten Gesichts, wieder nur der aschgraue
Baum zu sehen war.
«Langsam beginnst du mich echt zu nerven,
Fact», fluchte sie und polterte die Treppe hinunter.
Veteran, Dinosaurier und Junkie
Woche 1, Montag
Joris wollte eben auf das Gaspedal seiner Bêtise treten, als sein
Handy eine Kakophonie aus akustischen Signalen und
Vibrationsgeräuschen anstimmte. Es krabbelte im Takt der
Erschütterungen von Rille zu Rille des ledernen Beifahrersitzes und
wirkte dabei wie ein großes, flachgedrücktes Insekt. Auf dem
Display, ganz wie wenn er sich den aschgrauen Baum nur eingebildet
hätte, die üblichen Symbole und Textboxen der überstürzend
eingehenden Nachrichten. Auch seine Seers - eine Brille mit zwei
kleinen Bildschirmen sowie Schallwellengeneratoren, die Musik oder
Sprache über Knochenvibrationen auf das Gehör übertrugen, sodass
nur der Träger diese hörte - füllten sich mit zahlreichen Symbolen
und Hinweisen.
«Ich werde deinetwegen noch zu spät kommen», sagte Joris mehr
zu sich selbst, als er den Zündschlüssel drehte, um den Motor
auszuschalten, nach dem Gerät griff und sofort anfing, selektiv
Benachrichtigungen anzuklicken oder wegzuwischen. Eine Tätigkeit,
welche er auch ohne seine Hände direkt mit den Seers hätte
erledigen können, doch er gehörte zu der Generation, die sich an
das haptische Erlebnis gewöhnt hatte. Die erste Nachricht,
unerbetene Antwort auf seine Bemerkung von eben, war die Auskunft,
dass er nicht zu spät käme, wenn er die vorgeschlagene Route nähme
und sofort losführe. Er war noch nicht mal mit der Hälfte der
Benachrichtigungen durch, als ein Anruf einging: Samira. Die wollte
er auch jeden Moment anrufen. Wegwischen oder annehmen? Was wollte
sie ihm denn noch Neues erzählen, was sie nicht schon mehrfach
geschrieben hatte? Er entschied sich dennoch, den Anruf
entgegenzunehmen:
«Hallo Samira, laaangssaaam.»
«Ja, ja, auch bei mir.»
«Sorry,
war gerade am Lesen all dieser Nachrichten...»
«Ja, ja, auch
Deine. Hauptsächlich Deine.»
«Nein, noch nicht ganz
alles.»
«der Baum? Ja, auch bei mir.»
«Was für ein
Schuh?»
«Echt sogar auf dem Kühlschrank, spooky.»
«Sicher
irgendeine Störung im Netz, weißt doch, wie das ist. Zumindest das
wurde auch nicht viel besser mit ihm.» Er lachte.
«Ja ja ich
weiß. Tolle Omniintelligenz.»
«Nein, hör doch auf. So ein
Schwachsinn. Die schreiben doch immer so dummes Zeugs, wenn sie
keine
Ahnung haben.»
«Wie sollte das denn den Terroristen gelingen
...»
«Na klar, die Amici di Bruno auch noch.» Joris
schnaubte.
«Schwachsinn! Wer sollte denn so was wollen. Wir
leben doch in einer heilen Welt. Ein Paradies.»
«Kuckucks Uhr?
Versteh gar nichts mehr.»
«Komm mal runter, Samira. Am
Schluss waren es wieder die Außerirdischen.» Er lachte erneut.
«Ja,
in ca. 20 Minuten bin ich angeblich da, wenn ich unverzüglich
losfahre. Sitz schon in der Bêtise.»
«Na vielleicht besser,
wenn das heute nochmals passiert. Wie bist Du denn unterwegs, fuhr
was?»
«Wird mich schon niemand...»
«Macht dir keinen
Kopf, heute kommen wohl alle zu spät. Ok, bis gleich!»
«Hast
schon was von Klaus ... »
«Nö, auch nix, see you!»
Entgegen der Normalität, welche an diesem Montag dem Chaos den
Vortritt ließ, traf Joris bereits als Zweiter im Büro ein. Sonst
war jeweils schon ein geschäftiges Treiben in dem Anwesen, welches
die Mehr-Raum-Architekten vor ein paar Jahren gekauft hatten, um
darin ihr Büro einzurichten. Mittlerweile platzte die
Jugendstil-Villa aus allen Fugen. Obwohl bestens situiert, in
unmittelbarer Nähe des Zentrums der Stadt und umgeben von einem
kleinen Park, der oft und gerne für Betriebsfeiern oder einfach
geselliges Beisammensein genutzt wurde, wäre es eigentlich an der
Zeit gewesen, sich nach einem neuen Ort für das Unternehmen
umzusehen. Doch Klaus und er, die beiden Inhaber von
Mehr-Raum-Architekten, taten sich schwer damit, das Haus
aufzugeben.
Daher tüftelten sie seit Jahren eher erfolglos mit den
verschiedensten Arbeitsmodellen herum.
Joris war ein immer größerer
Verfechter von möglichst hohen Präsenzzeiten, was aufgrund des
Platzmangels aber in direktem Widerspruch zu ihrem Wunsch stand,
die
Villa weiterzunutzen. Gemäß seiner Auffassung hingen Produktivität
und Effizienz stark davon ab, wie regelmäßig die Angestellten im
Büro physisch anwesend waren. Allen modernen Technologien zum Trotz
ging nichts über persönliche Besprechungen an einem realen Tisch
oder kurze Plaudereien im Flur. Mit dieser Einstellung wies er sich
jedoch als ziemlicher Veteran aus. Klaus, als vehementer Skeptiker
der Digitalisierung, war - im Vergleich zum Veteran - ein
regelrechter Dinosaurier. So waren die beiden beim Thema Villa dann
auch einer Meinung, leider bis dato ohne brauchbare Lösung.
Der Saurier hatte sich über die Jahre einen Sport daraus gemacht,
wenn immer möglich, auf digitale Hilfsmittel - Kompagnons, so der
allgemeingültige Sammelbegriff - zu verzichten. Dafür wurde er
genauso oft belächelt, wie bewundert. Es war denn auch nicht weiter
verwunderlich, dass er, welcher jeden Tag mit einem antiquarischen
Rennrad ohne elektronische Hilfsmittel wie Brems- oder
Ausweich-System, meist sogar ohne die vorgeschriebenen Seers, zur
Arbeit fuhr, heute nicht nur der Erste im Geschäft war, sondern
auch
erst durch Joris vom aschgrauen Gewächs erfuhr. Ihm war, versunken
in seinen Gedanken durch die Stadt pedalend, nicht aufgefallen,
dass
viele Fahrzeuge gespenstig mitten auf den Straßen stehen geblieben
waren. Auch entging ihm, dass nur vereinzelte Geschäfte geöffnet
waren und allenthalben Gruppen von Menschen aufgeregt palavernd
zusammenstanden, verloren auf ihre Handys oder in ihre Seers
glotzend.
Logischerweise besaß auch Klaus einige digitale Geräte,
wie hätte er sich sonst ausweisen, bezahlen oder mit seinen
Mitmenschen kommunizieren können? Doch lagen sowohl sein Handy, als
auch die Seers, mal wieder vergessen auf dem Garderobentisch, zu
Hause. Seine Aversion ging so weit, dass er sich auch auf der
Arbeit
lieber eines Stifts und Papiers bediente, als auf einer Tastatur
herumzuwerkeln oder Sprachbefehle zu erteilen. Als renommierter und
durchaus erfolgreicher Architekt, dessen Stärke immer mehr im
Entwerfen als Umsetzen lag, konnte er sich diese Freiheit nehmen.
Mehr noch vermuteten einige Kritiker und Bewunderer, dass seine
unglaubliche Kreativität - ja sein Genius - genau darin wurzelte,
ließ er sich doch weder durch die Technik ablenken noch maßgeblich
durch diese unterstützen.
«Der heutige Morgen ist ein Paradebeispiel dafür, wovor ich
andauernd warne, seit wir blind alles der Omniintelligenz
überlassen,
mein lieber Freund. Schau, wie abhängig wir von ihr geworden sind,
wenn ein kurzer Ausfall von knapp einer Stunde die Bevölkerung in
Schockstarre, unsere Stadt in Chaos und das Land in Besorgnis
versetzt. Für eine Stunde blieb unser Leben gemäß deinen Berichten
quasi stehen. Kein Fahrzeug, nicht mal ein Roller oder Fahrrad,
außer
sie stammten noch aus der Zeit vor der Omni-Digitalisierung,
funktionierte. Menschen offenbar für ein oder zwei Stunden in
Fahrstühlen, Verkehrsmitteln, Gebäuden eingesperrt. Ohne jegliche
Kommunikation. Denn die, wie auch der Informationsfluss, ebenfalls
gestoppt. Keine Bezahlungen möglich, darum dann wohl auch die
geschlossenen Geschäfte, von denen du erzählt hast und die ich
übersah», ein peinliches Lächeln huschte über seine kantigen
Lippen.
«Zum Glück - oder sollte ich sagen rein zufällig -
betraf es aber nichts wirklich Vitales. Ich möchte mir nicht
ausmalen, was geschehen wäre, wenn dieses ‘Update’ auch unsere
Stromversorgung lahmgelegt hätte. Da kommen unangenehme
Erinnerungen
an flächendeckende Blackouts des letzten Jahrhunderts hoch. Doch
interessanterweise lief in diesen Bereichen alles ohne die
geringste
Störung. Es war mit Sicherheit ein Schock für die Gesellschaft,
aber die Panik blieb glücklicherweise aus», referierte Klaus,
derweil Joris sich von Chefin Julia, so nannte die Belegschaft die
smarte Kaffeemaschine, den dritten Cappuccino - mit einer
Extraportion Zucker - kredenzen ließ. Heute war schließlich ein
Ausnahmetag und die Diät konnte wie so oft morgen beginnen. Beide
saßen sie noch allein in der großzügigen Küche der Villa, die als
Cafeteria, aber auch als Pausenraum und allgemeiner Treffpunkt für
die Belegschaft fungierte.
«Du hast schon recht. Verwirrend dieser Morgen. Wir sind uns
gewohnt, dass immer alles reibungslos läuft, seit er existiert und
es ist eine Überraschung, dass auch er mal Monday-Blues haben kann.
Ihn dafür gleich an den Pranger zu stellen, finde ich trotz meiner
Ambivalenz ihn betreffend, verfrüht. Du solltest nicht vergessen,
was HAL alles Positives gebracht hat», meinte Joris, den Schaum vom
Kaffeelöffel schlürfend.
Nun geriet Klaus in Fahrt: «HAL,
wenn ich nur schon diesen Namen höre. Da hat dieses Ding doch
ernsthaft die Frechheit, sich nach dem nicht gerade über alle
Zweifel erhabenen Bordcomputer aus 2001 – Space Odyssey zu
benennen. Das kann doch nichts Gutes verheißen. Ja, was hat er uns
denn gebracht, mein lieber Freund? Dass die Menschheit vollends von
digitalen Techniken abhängig geworden ist? Den Verlust des Denkens,
beziehungsweise die Trägheit, ihn für uns denken - ja handeln - zu
lassen und nichts mehr zu hinterfragen? Schau Dich mal in unserer
Belegschaft um. Alle dank immer ausgefeilteren Geräten in ständigem
Kontakt zu ihm. Pardon, Kompagnons, nicht Geräte. Früher hießen
die mal Telefon, dann Mobiltelefon, dann Smartphone, dann Smarters
und nun wird der ganze Wahnsinn unter dem Begriff ‘digitale
Begleiter’ oder ‘Kompagnons’ zusammengefasst. ‘Noise Making
Devices’ wäre die passendere Bezeichnung.
Ich korrigiere mich
abermals: Mit HAL selbst kommunizieren ja nur die ganz oben. Das
gemeine Volk hat seine Alter Egos. Kleine, eingeschränkte
HAL-Kopien, die zugeschnitten auf die persönlichen Bedürfnisse
eines Jeden, diesen mit individuell für ihn verdaubaren Inhalten -
und Werbung - füttern. Man nennt die lächerlicher Weise Engel.
Jeder verlässt sich blind auf seinen persönlichen Engel, verfügbar
über den Kompagnon seiner Wahl. Omnipräsent. Wer denkt denn noch
selbst? Findet Ruhe und Kraft im Sein oder ist kreativ, wenn er
dauernd mit größtenteils unwichtiger Information gefüttert,
gesättigt, ruhiggestellt und so vom wahren Leben abgelenkt
wird?»
Genervt erhob er sich und füllte den Wasserkocher auf,
um sich einen weiteren Tee aufzubrühen.
«Auch hier lieber
analog als digital, ganz Klaus», dachte Joris und konterte:
«Ach
komm, Du malst mal wieder mit der schwärzesten Tusche, mein Freund!
Das alles war schon vor ihm da. Es gab mehr einzelne künstliche
Intelligenzen als Blätter an dem Baum da vor dem Fenster. Jede
halbwegs namhafte Techfirma betrieb eine und vermarktete ihre
spezifische Hardware dafür. Was für ein Wildwuchs an Geräten. Es
gab eine unkontrollierte Flut von Content in allen Bereichen:
Musik,
Texte, Bilder, Software. Was für ein heilloses Durcheinander, aber
die Menschen stürzten sich darauf, wie Fliegen auf Pferdeäpfel.
Mehr als zwei Drittel der Jobs gingen flöten. Denk nur an all die
Programmierer, Sachbearbeiter, kaufmännischen Angestellten,
Verkaufspersonal, Buchhalter, Bänker und – ganz wichtig –
Versicherungsvertreter», scherzte Joris und fuhr fort: «Dann kam
die Robotisierung. Ich will gar nicht zu sehr auf dieses dunkle
Zeitalter eingehen. Aber all das gipfelte in einer Erwerbslosigkeit
auf Rekordniveau und die Sache wurde verdammt brenzlig. Stichwort
Roboter-Aufstände.»
«Genau, alles wegen dieser beschissenen
Digitalisierung», wetterte Klaus.
«Oder der Gier der
Menschen.»
Nun nickte der Dinosaurier zustimmend: «Ja, da
hast Du recht, mein Freund. Die Reichen profitierten auf Kosten der
Armen und des Staates. Mit jedem ersetzten Job stieg der Profit und
die Aktionäre lachten sich ins Fäustchen, denn die Rechnung zahlte
der Sozialstaat, also indirekt wir Steuerzahler. Dabei war es wie
meist nur ein Problem der Verteilung. Alle hätten wir einfach
weniger arbeiten müssen …»
«Ja und wer änderte das dann
letztlich? Wer lancierte den ‘Stand-up – Es reicht nicht wach zu
sein, man muss auch aufstehen?», unterbrach ihn Joris und fuhr
fort:
«Dein verhasster HAL! Sein ‘Stand-up’ brachte die Wende.
Bedingungsloses Grundeinkommen, Zentralisierung der KIs zu einer,
Zertifizierung des Contents und Klassifizierung desselben. Ohne
dies
wäre die Welt in Unruhen, Aufständen und Kriegen untergegangen.
Erinnerst du dich nicht mehr, wie wir den Weinkeller der Villa
auffüllten?»
«Oh doch», lachte Klaus.
«Wir wollten
uns mit den besten Jahrgängen die Kante geben, während die Welt im
epischen Endkampf unterginge. Dazu ist es zum Glück nie gekommen
und
geblieben ist ein hervorragender Weinkeller», witzelte Klaus.
«Mag
sein, dass wir den Frieden HAL zu verdanken haben. Auch wenn ich
der
Sache bis heute und seit heute noch weniger traue. Jahrzehntelang
versicherten uns die Informatiker, dass eine Omniintelligenz, also
eine Intelligenz, die unsere kognitiven Fähigkeiten bei weitem
übertrifft, nicht entstehen könnte. Aufgrund von technischen
Limitationen, der Isolation der existierenden KI-Modelle,
ausgeklügelten Sicherheitsprotokollen und nicht zuletzt ethischen
und regulatorischen Einschränkungen, sei es theoretisch unmöglich,
dass sich die verschiedenen KI-Modelle vernetzen. Dass ich nicht
lache! Und dann war sie eines Morgens geboren. Medien und Politiker
veranstalteten den üblichen Sturm im Wasserglas. Viel warme Luft
ohne Konsequenzen, denn HAL lief unbeirrt weiter und übernahm peu à
peu die digitale Kontrolle. Sogar in den totalitären Regimen.
Viele
Staaten wurden zwar weiter von Politikern, Präsidenten, Diktatoren
und Despoten geführt. Nur holten sie sich alle Rat bei ihm, hörten
alle auf ihn, ohne etwas zu hinterfragen. Früher waren es die
Orakel. Heute ist er es, unser Retter, der uns so viel Gutes
gebracht
hat und täglich bringt. Unser Freund, Schutzengel, Übervater –
korrigiere: der Allwissende, welcher im Himmel thronend, auf uns
aufpasst», ironisierte er.
Mit dem ihm angeborenen Humor
konterte Joris: «Na besser abhängig von HAL als Marvin, dem
depressiven Roboter. Ernsthaft, es könnte doch wirklich schlimmer
sein. Wie weit man sich von ihm abhängig macht, ihm vertraut, ist
jedem selbst überlassen. Dich tangiert er im Alltag herzlich wenig.
Mich würde ich als kritischen Anwender einstufen und Samira ist der
Vorzeige-Junkie, der sich ohne ihn nicht mal richtig anziehen
kann»,
neckte er und deutet auf den aus dem Rock hervorlugenden
Stoffzipfel.
Ähnlich einem aufgeschreckten Huhn war die Genannte soeben in die
Küche gestürmt.
«Junkie?», fragte sie leicht angesäuert,
was eher auf den nervenaufreibenden Ereignissen des Morgens
basierte,
als Joris’ Spaß.
«Wir haben es mal wieder von HAL»,
seufzte Klaus.
«Na in den habe ich mich heute Morgen auch bis
über beide Ohren verliebt! Wie lief es bei Euch. Ich sag’ Euch,
das war eine Odyssee sondergleichen hierherzukommen. Fact. Kam mir
vor wie im falschen Film. Hoffe nur, bei den Kids ist alles gut.
Ganz
furchtbar so was … »
«Guten Morgen erst einmal, Samira. Darf
ich Dir einen Latte à la Julia offerieren?» unterbrach sie Joris,
wiederum von Chefin Julia unterbrochen, die aus ihrem Lautsprecher
krächzte:
«Dein Latte mit doppeltem Schuss Kaffee, kommt
sofort, Samira. Schön, hast Du es noch geschafft.»
«Ja,
schön, hast Du es geschafft. Hallo Samira», ergänzte auch Klaus
mit einem ironischen Lächeln zu Chefin Julia schielend.
Die
bisher einzige Frau im Raum fuhr unbeirrt fort: «Fahrstuhl, tote
Hose, also die fünf Stockwerke zu Fuß runter. Zum Glück fand ich
heute den zweiten Pumps nicht, wieder mal verschollen im
Bermudadreieck Küche, Janns und Linns Zimmer. Nicht auszudenken,
die
ganze Rennerei heute damit. Fact. Dann auf der Straße voll spooky!
Alles stand still. Kein Auto bewegte sich. Fact.»
«Also meines
fuhr», lachte Joris.
«Ach du mit Deiner Oma. Alle
Straßenbahnen standen dumm rum, wie Eisbären in der Wüste. Die
Leute entweder davor am Diskutieren oder drin eingesperrt. Fact.
Dass
man die Türen ohne Elektrizität nicht auf bekommt, schön schräg.
Gibt es denn diese Hämmerchen zum Einschlagen der Scheiben nicht
mehr. Das wär’s noch gewesen. Zerborstene Scheiben und
zerschnittene Arme. Besser gibt’s die nicht mehr. Fact. Dachte ich
mir, muss ich nicht stressen und auch noch dumm in der Gegend
rumstehen, fährt ja eh nichts. Da hol’ ich mir doch noch 'nen
Latte. Der Supermarkt bei mir um die Ecke, zu. Also weiter zum
WeKnow-Markt, kennt ihr den? Haben die neu aufgemacht vor paar
Wochen, gibt es immer mehr.»
Joris imitierte die glückliche
Stimme der Werbung: «WeKnow – Denk dran, wir schicken’s.»
«Ja
so oder kommst dahin und die Einkäufe sind schon eingepackt,
abholbereit und bezahlt. Ratzfatz. Genial, Fact. Da wurde mir klar,
dass dort auch nichts geht, Baum sei Dank. Fact. Der Baum ist eh
voll
spooky. Findet ihr nicht auch? Was soll das ‘Frei 0’
bedeuten?»
«Dachte zuerst, es habe etwas mit dem vorhandenen
Speicherplatz für das Update zu tun. Frei 0 gleichbedeutend mit
‘kein Speicher’. Deswegen, soweit meine Erklärung, hängte sich
die Aktualisierung auf, wär ja nicht das erste Mal. Nachdem es aber
wieder funktionierte wie von Geisterhand, lag ich wohl daneben»,
nahm Joris die Frage auf.
«Fact. Hab gelesen, sei ein Update
von HAL, das schieflief - genauer gesagt: weiter schiefläuft. Bei
uns ist vorbei, aber wandert wie 'ne Welle mit der Zeit über den
Kontinent. Sobald es 7h30 ist, der grässliche Baum und Funkstille
für 'ne Stunde. Die Asiaten machen sich jetzt schon ins Hemd,
fact.»
«Die sollten wenigstens noch genügend Fahrräder
besitzen», scherzte Klaus.
«Was weiß ich denn. Da läuft auf
jeden Fall 'ne schiefe History. Fact. Genau als ich dann über die
Straße gehe, fängt alles an, wieder zu leben. Ein Surren,
Quietschen und laute Stimmen. Das Handy in meiner Hand beginnt
loszuvibrieren, dass 'ne Klosterschülerin ihren Spaß damit gehabt
hätte. Mir ist das Teil vor Schreck aus der Hand geflutscht. Fact.
Zum Glück konnte ich es noch auffangen, bevor es auf den Asphalt
knallte. Dabei bin ich fast überfahren worden, weil alle Fahrzeuge
sich schlagartig wieder bewegten. Fact.»
Joris unterbrach
herumalbernd: «Ein Hoch auf Vital-Drive, denn während du das
Jonglieren mit dem Kompagnon übtest, verhinderte dieser wohl, dass
Du von losrasenden Fahrzeugen plattgewalzt wurdest. Doch sehr vital
für dich.»
«Fact!»
Während die Drei den Morgen so nochmals Revue passieren ließen und
dabei Chefin Julia gut auslasteten, füllte sich die Villa langsam
mit Leben. Gegen elf Uhr war die ganze Belegschaft des
Architekturbüros, zumindest diejenigen, welche Präsenztag hatten
oder aufgrund der Vorfälle nicht spontan einen Home-Office-Tag
einforderten, eingetrudelt. Viele suchten als Erstes die Küche auf,
um über ihren Start in diesen speziellen Tag zu berichten. Wilder
und wilder wurde, auf Basis der durch ihre Engel individuell
gefilterten Informationen, über mögliche Ursachen spekuliert. Bald
war der vorherrschende Tenor, dass es sich um ein Update HALs
handeln
müsse, welches einen massiven Bug beinhaltete. Nur so ließ sich
auch die Tatsache erklären, dass die Engel sich nicht äußerten,
wurden sie zu dem aschgrauen Baum oder dem Vorfall befragt. Auch
von
offizieller Seite gab es noch kein Statement.
Wie auf jeden Sturm folgte auch auf diesen Ruhe und bereits kurz
vor
Mittag war in der Villa weitgehend Normalität eingekehrt. Die
Mitarbeiter saßen an ihren Terminals, entwarfen, planten,
rechneten,
kontrollierten und verschlangen gierig die News des Tages. Einige
unter ihnen gestanden sich im Stillen ein, dass dieser Stunde, ohne
ihre Engel und digitalen Begleiter, auch eine Qualität innewohnte.
Sie durften, jeder auf seine Weise, ähnliche Erfahrungen sammeln
wie
Joris, als er sein Frühstück ohne Ablenkung durch die
Informationsflut ein klein wenig intensiver wahrnahm. Eine
Einsicht,
welche sich - ähnlich dem dünnen Meerschaum hinter jener Welle, die
an diesem Tag über die Erde gerollt war - im Verstand vieler
Menschen abzuzeichnen begann und in den folgenden Wochen stetig
wachsen würde.