Trinity - Bittersüße Träume - Audrey Carlan - E-Book

Trinity - Bittersüße Träume E-Book

Audrey Carlan

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Beschreibung

Sie ist die Frau seines Lebens. Doch er darf sie nicht lieben. Der vierte Band der Trinity-Serie Das Leben von Maria de la Torre liegt in Scherben: Thomas, die Liebe ihres Lebens, wurde als Polizist im Dienst getötet, als er Marias beste Freundin Gillian Callahan vor einem irren Stalker retten wollte. Thomas' Zwillingsbruder Redding sieht Maria auf der Beerdigung zum ersten Mal und versteht sofort, warum sich Thomas in die temperamentvolle Tänzerin verliebt hatte. Doch die Verlobte seines toten Bruders ist für ihn tabu. Bis plötzlich der Mann auftaucht, der vor Jahren beinahe Marias Tanzkarriere zerstört hätte. Redding will alles tun, um Maria zu beschützen. Doch je näher er ihr kommt, umso stärker wird seine Leidenschaft ... Die neue Serie von der Autorin des Mega-Bestsellers Calendar Girl!

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Das Buch

Das Leben von Maria de la Torre liegt in Scherben: Thomas, die Liebe ihres Lebens, wurde als Polizist im Dienst getötet, als er Marias beste Freundin Gillian Callahan vor einem irren Stalker retten wollte. Thomas’ Zwillingsbruder Red sieht Maria auf der Beerdigung zum ersten Mal und versteht sofort, warum sich Thomas in die temperamentvolle Tänzerin verliebt hatte. Doch die Exfreundin seines toten Bruders ist für ihn tabu. Bis plötzlich der Mann auftaucht, der vor Jahren beinahe Marias Tanzkarriere zerstört hätte. Red will alles tun, um Maria zu beschützen. Doch je näher er ihr kommt, umso stärker wird seine Leidenschaft ...

Die Autorin

Audrey Carlan schreibt mit Leidenschaft heiße Unterhaltung. Ihre Serie »Calendar Girl« stürmte auf Anhieb die Bestsellerlisten in den USA wie auch in Deutschland und wird als das neue »Shades of Grey« gehandelt. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Kalifornien.

AUDREY CARLAN

TRINITY

Band 4

BITTERSÜSSETRÄUME

Roman

Aus dem Amerikanischen von Graziella Stern

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1486-0

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Juli 2017

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017

© 2015 Waterhouse Press, LLC

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Trinity – Life

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Titelabbildung: © FinePic®, München

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für meine Seelenschwester Dyani Gingerich.

Ohne dich gäbe es keine Maria De La Torre.

Ohne dich würde unserem perfekten Freundinnenkreis eine Seelenschwester fehlen.

Ohne dich wäre diese Liebesgeschichte nie geschrieben worden.

BESOS

Bound – Eternally – Sisters – of – Souls

KAPITEL 1

Ich werde nicht weinen. Ich kann nicht weinen. Würde ich jetzt meinen Schmerz zeigen, wäre das ein Zeichen von Schwäche. Und ich will auf gar keinen Fall als schwach gelten. Vor zehn Jahren war ich machtlos, lediglich ein Produkt meiner Umgebung. Aber jetzt, fünf Jahre später, bin ich eine Überlebende. Selbstbewusst und stark. Von meiner schwachen Seite habe ich mich an dem Tag verabschiedet, an dem ich beschloss, zu leben.

Heute, vor all diesen vielen hundert Trauergästen, läuft mein Überlebensprogramm auf Hochtouren. Ich werde mich zusammenreißen. Für Tommy. Auch wenn mein Herz gebrochen, mein Hirn ein Klumpen Brei und mein Körper nur noch eine Ansammlung von Knochen, Gewebe und Muskeln ist, die auf Autopilot funktioniert … Ich muss einfach. Tommy würde wollen, dass ich weitermache und mein Leben lebe.

Ein Leben ohne ihn.

Die Trauer ist ein heimtückisches Biest. Niemand kann sich vor ihr verstecken oder sie ignorieren. Sie schleicht sich an wie ein Schattenkrieger, egal, ob Tag oder Nacht. Ich stelle sie mir wie ein unsichtbares Monster vor, das mir mitten in der Nacht seine säuregetränkten Klauen ins Herz schlägt. Man sehnt sich nach Frieden, aber stattdessen fühlt man sich niedergeschmettert und leidet wie ein Hund.

Der Schmerz ist mir nicht fremd. Im Moment ist mir seine tödliche Spitze sogar willkommen. Der Dolch in meinem Herzen verhindert wenigstens, dass ich völlig in der Gefühllosigkeit versinke, in die ich mich so gerne fallen lassen würde. Das absolute Nichts wäre eine Erleichterung in einer Zeit, in der alles um mich herum nur noch Chaos ist.

Wohin ich auch blicke, sehe ich Männer in schwarzen Anzügen oder Uniformen, die langsam die Kirche betreten. Ihre glänzenden Dienstabzeichen funkeln in der Morgensonne. Die Flagge in Rot, Weiß und Blau, die über den Sarg vor mir gebreitet ist, sollte mich eigentlich stolz machen. Ein Held ist gefallen, und die riesige Menschenmenge, die hier zusammengekommen ist, um ihm die letzte Ehre zu erweisen, sollte eine Art Schlusspunkt für mich bilden. Aber das funktioniert nicht. Tommy ist meinetwegen tot. Er ist in Erfüllung seiner Pflicht gestorben, um meine beste Freundin zu beschützen.

Das Schlimmste daran ist, dass ich es nicht anders gewollt hätte. Tief in meinem Herzen bin ich mir sicher, dass ich mich gerade erst in Tommy verliebt hatte. Aber Gillian, meine beste Freundin, ist nun mal die einzige Familie, die ich je gekannt habe. Und das wusste Tommy. Sonst hätte er sich wohl nicht in den Kampf gegen einen geistesgestörten Killer gestürzt. Er hat meiner Seelenschwester das Leben gerettet und dafür mit seinem eigenen bezahlt.

Wie soll ich damit weiterleben? Es gibt kein Buch, das ich lesen könnte und das mich von meinem Herzschmerz und meiner Schuld freisprechen würde. Und kein Gebet kann etwas daran ändern, dass der Mann, den ich gerade begonnen hatte zu lieben und der vielleicht der erste Mann gewesen wäre, dem ich wieder hätte vertrauen können, für immer fort ist.

Gillian drückt meine Hand und hält sie ganz fest. Sie sitzt zu meiner Linken – an der Seite meines Herzens. Sie und meine beiden anderen Seelenschwestern sind der einzige Grund, warum das zerschundene Organ immer noch weiterschlägt. Bree sitzt rechts von mir und streichelt über meinen Schenkel. Eine beruhigende Geste schwesterlicher Unterstützung. Ihre andere Hand liegt auf ihrem gerundeten Bauch. Ein Leben ist vergangen, ein anderes steht kurz vor der Geburt. Ein abergläubischer Mensch würde jetzt vielleicht sagen, dass das der Lauf der Dinge ist. Yin und Yang. Leben und Tod. So einem pinchazo würde ich am liebsten ins Gesicht schlagen. Ihm alles wegnehmen und noch auf ihn drauftrampeln.

Ich starre auf meine Finger – die fest mit denen meiner Freundinnen verschlungen sind – und denke an die Seelenschwester, die heute nicht bei uns sein kann. Kathleen. Sie ist immer noch im Krankenhaus. Der zweite Mensch, den ich im Stich gelassen habe. Wenn ich nur schneller bei ihr gewesen wäre, hätte sie möglicherweise nicht ganz so schlimme Verbrennungen erlitten. Dann wäre ihre Lunge vielleicht nicht kollabiert. Und sie könnte heute bei uns sein und wir würden uns gegenseitig stützen. Stattdessen liegt sie in einer Spezialklinik für Verbrennungen und kämpft um ihr Leben.

Ich fahre mit der Zunge über die raue Haut meiner trockenen, aufgesprungenen Lippen und denke an jene Nacht zurück. Ich hätte bei ihr sein sollen. Ich hatte zwar versucht, die Bretter vor dem Fenster von Kathleens Arbeitsraum im Theater einzutreten, aber ich kam zu spät. Die Schnitte an meinen Fußsohlen jucken in den flachen Stiefeln, die ich trage. Das unangenehme Gefühl kommt mir gerade recht. Nachts schmerzen diese Schnitte, und die klaffenden Wunden, die ich mir am Bauch zugezogen habe, als ich durch das zerbrochene Fenster kletterte, um meine Freundin zu retten, sind auch noch nicht ganz verheilt.

Drei Wochen sind vergangen, seit Kat und ich nach dem Brand im Theater ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Und zwei Wochen ist es her, dass der Mann, den ich geliebt habe, aus dem Fenster eines historischen Turms gestoßen wurde und sechzig Meter tief in den Tod stürzte. Nach dem, was mir erzählt wurde, hat mein Tommy noch eine Kugelsalve abgefeuert, während er durch die Luft flog. Er hat den Täter direkt am Hals erwischt. Was Daniels Schreckensherrschaft ein für alle Mal ein Ende setzte.

Ein Schauer durchläuft mich, während ich meine ganze Aufmerksamkeit auf den Sarg vor mir richte. Tommys Eltern sitzen auf der anderen Seite des Ganges, neben weiteren Verwandten. Sobald ich eintraf, haben sie mich umarmt, als wären sie meine Eltern – nicht dass ich das Gefühl wirklich kennen würde. Seine Mutter flüsterte mir sogar ins Ohr, dass ich in ihrer Familie immer willkommen wäre. Und sein Vater führte mich in die erste Reihe, wo normalerweise eine Ehefrau an der Seite der Familie sitzen würde, als hätte ich diese Ehre verdient. Nicht ansatzweise.

Doch jetzt tritt der Priester an den Altar, und das bringt mich in die Gegenwart zurück. Er beginnt den Trauergottesdienst in Gedenken an Thomas Redding, Mitglied der San Francisco Police, Sohn, Bruder … der Mann, dem ich niemals meine Liebe gestehen konnte. Tommy starb, ohne je die Wahrheit erfahren zu haben. Und mit dieser Erkenntnis muss ich jetzt den Rest meines Lebens verbringen.

***

Ich spüre, wie sich eine warme Hand von hinten auf meine Schulter legt, während ich reglos auf den Sarg starre. Ich genieße die Stille. Da erst bemerke ich, dass die Kirche leer ist. Offensichtlich sind alle Trauergäste bereits auf dem Weg zu dem Empfang, der auf dem Anwesen von Thomas’ Familie abgehalten wird.

»Maria, es hora de ir.« Es ist Zeit zu gehen, sagt Chase auf Spanisch, meiner Muttersprache. Ich nicke und stehe auf. Ein scharfer Schmerz schießt von den zerschnittenen Fußsohlen meine Beine hinauf. Der Arzt hatte mir für drei bis vier Wochen Ruhe verordnet, damit meine Füße heilen können. Nur leider bin ich eine sehr ungeduldige Patientin, so dass die Genesung am Ende wohl länger dauern wird als gedacht.

»Kann ich noch einen Moment allein sein?« Ich blicke über die Schulter. Chase Davis hält Gillian, meine beste Freundin, im Arm. Tränen strömen ihr übers Gesicht. Ich glaube, sie hat seit dem Brand nicht ein Mal aufgehört zu weinen. Sie ist noch blasser als sonst und in ihrem Blick liegt eine gewisse Leere. Ich mustere Gillian von oben bis unten. Sie hat wieder etwas Gewicht zugenommen, das sie während der Zeit, in der uns der Psycho terrorisierte, abgenommen hatte. Aber es ist nicht viel. Eigentlich ist sie nur noch Haut und Knochen. Abgesehen von der schwangeren Bree haben wir alle mehr Gewicht verloren, als wir uns eigentlich leisten können. So was passiert bei Schicksalsschlägen.

Chase hat eine Hand auf Gillians Bauch gelegt. Es ist eine beschützende und etwas seltsame Geste, aber er ist auch ein extrem besitzergreifender Mann. Das habe ich auf die harte Tour gelernt. Doch selbst wenn er seine Fehler hat, er ist das Beste, was meiner Freundin jemals passiert ist, und ich freue mich sehr, dass sich die beiden gefunden haben. Ich hatte gehofft, dass es für uns alle ein Happy End geben würde, genau wie im Märchen. Gillian mit Chase. Bree mit Philipp. Kat mit Carson. Und ich mit Tommy. Das ist vorbei. Ich bin jetzt die einsame Seele in der Gruppe.

Chase atmet tief ein und seufzt. »Natürlich. Wir warten vor der Kirche.« Er drückt meine Schulter und ich schließe die Augen.

Schließlich gehe ich zum Sarg hinüber. Eine lebensgroße Porträtaufnahme von Tommy in seiner Polizeiuniform steht daneben. Ich lege meine Hand auf die Flagge, die den Sarg bedeckt, und senke den Kopf.

»Tommy, es tut mir so leid. Nichts von alldem hätte passieren sollen. Es hätte dich niemals erwischen dürfen«, flüstere ich und jedes meiner Worte kommt aus tiefstem Herzen. Der Schmerz seines Verlustes quält und zerfleischt mich von innen nach außen.

Tränen steigen mir in die Augen und laufen mir über die Wangen. Ich gebe ihnen nach, weil ich sowieso keine Chance habe, der Trauer standzuhalten. Sie hat ihre abscheulichen Klauen in mich geschlagen und überwältigt mich. Auf einmal schaffe ich es nicht mehr, die Fassung zu bewahren. Mein Körper zittert vor Anstrengung. Ich muss meine ganze Kraft aufbieten, um nicht zusammenzubrechen und völlig zu verzweifeln. Jede Träne, die aus meinen Augen fällt und von meinem Kinn auf den Boden rinnt, ist wie glühend heißes Magma, das mich mit jedem Tropfen verbrennt.

»Wenn ich könnte, würde ich mit dir tauschen.« Ich berühre den Sarg und hoffe, dass mich Tommy irgendwo, irgendwie hört.

»Ahhh, schöne Frau, das wäre aber wirklich eine Schande«, erklingt eine tiefe, feierliche, nur allzu bekannte Stimme hinter mir und schreckt mich auf.

Ich kenne diese Stimme.

Ich habe sie in den letzten zwei Wochen jede Nacht in meinen Träumen gehört. Sie erklingt in meinem Kopf und beruhigt mich, wenn die Schuldgefühle und der Kummer kaum noch auszuhalten sind. Er ist es. Die Härchen an meinen Armen stellen sich auf. Ich schlucke und versuche, den riesigen Kloß in meinem Hals loszuwerden. Langsam hole ich Luft und schließe die Augen, während ich mich umdrehe. Bitte, lieber Gott …

Das kann nicht sein.

Es ist unmöglich.

Könnte es sein?

Tommy.

Ich blinzele heftig und sehe genauer hin. Er ist hier. Lebendig. Espléndido. Seine Augen haben dasselbe leuchtende Grün wie in meiner Erinnerung. Während er mich betrachtet, scheint er tief in mich hineinzublicken, bis in mein gebrochenes Herz. Es klopft so schnell, dass ich seinem Rhythmus nicht mehr folgen kann. Ich lege eine Hand auf meine Brust.

»Das gibt’s nicht …«, bringe ich mühsam heraus. Meine Tränen führen ein Eigenleben, sie strömen über mein Gesicht und tropfen heiß auf meine Brust. Zitternd strecke ich eine Hand aus. Sein Kopf ist von einem Lichtschein umgeben, aber sein Haar ist dunkel und gestuft und an den Seiten kürzer geschnitten. Was? Ich blinzele mehrmals und versuche zu begreifen, was ich da sehe. Tommy hatte keine Haare.

»Alles in Ordnung?«, fragt er, aber seine Stimme ist tiefer und hat nicht ganz das gewohnte Timbre.

Er packt mich unter den Armen und zieht mich an seinen muskulösen Körper, als ich zu taumeln beginne und das Gleichgewicht verliere. Die Brust, gegen die ich gedrückt werde, ist viel breiter als die, die ich im vergangenen Jahr liebkost, geküsst und umarmt habe.

»Oh Gott! Was ist nur los?«, schluchze ich, während ich mich an seine tätowierten Arme klammere.

Tätowierte Arme? Tommy hatte keine Tattoos. Ich mustere jeden Zentimeter, den ich erkennen kann, mit scharfem Blick. Mein Körper bebt immer noch wie ein Blatt im Zentrum eines Hurrikans.

»Tommy?« Ich streichle den Bart an seinem Kinn. Bart?

Der Mann reißt den Kopf zurück. »Tommy? Nein … oh, nein. Miss, da haben Sie was verwechselt.«

»Aber, aber du bist es. Du hast dieselben Augen. Dein Gesicht …« Ich wische mir über die Wangen, löse mich aus seinem Griff und weiche zurück, bis ich rückwärts gegen den Sarg stoße. Er hält mich aufrecht, so wie es Tommy getan hätte. Verständnislos schüttele ich den Kopf. »Ich werde verrückt. Endlich ist es passiert. Ich bin loco en la cabeza!«, kreische ich. Ich kann mich kaum mehr auf den Beinen halten und starre Tommys Doppelgänger einfach nur an.

Der Mann hebt besänftigend die Hände. Es sind Tommys Hände, nur dass sie etwas größer wirken. Alles an diesem Mann wirkt größer. Ich verliere ganz offiziell den Verstand.

»Sie sind nicht verrückt.« Er lacht leise, ein tiefes Grollen, das mir das Herz zerreißt. Es klingt wie Tommys Lachen, aber auch wieder nicht.

»Ich verstehe das nicht. Du bist tot. Und du bist nicht du!« Ich drehe den Kopf zur Seite und suche nach dem Notausgang oder meinen Freunden. »Chase! Gillian!«, schreie ich, so laut ich kann. Ist das alles ein Traum? Ein weiterer wirrer Alptraum, aus dem ich nicht aufwachen kann?

Hinten in der Kirche öffnet sich eine Tür und ein Lichtstrahl fällt herein, vor dem sich die Silhouette des Fremden abzeichnet.

Schritte nähern sich. »Du bist tot.« Kopfschüttelnd zeige ich mit dem Finger auf den Mann.

»Ich bin nicht Thomas«, beeilt er sich zu sagen und lässt die Hände fallen.

Die Schritte auf dem Holzboden werden lauter. »Maria!«, höre ich Chase’ Stimme und sie ist wie Balsam auf meinen offenen Wunden.

Chase ist jetzt bei uns angelangt, die feuerroten Haare meiner Freundin folgen ihm in einiger Entfernung. »Ria!«, ruft sie.

Ich fliege in Chase’ Arme und weine – tiefe, stoßweise, herzzerreißende Schluchzer an seiner warmen Brust. »Tommy!«, stoße ich hervor, während ich innerlich zusammenbreche.

»Wer sind Sie?« Chase’ Stimme ist wie eine tödliche Waffe. Sie verlangt nach Antwort. »Oh mein Gott, Sie sehen ja genauso aus wie er!« Er schnappt nach Luft, als hätte er erst jetzt den Mann bemerkt, der ein paar Meter neben uns steht. Ich wende den Kopf und mustere den Fremden erneut.

Gillian kommt auf ihren Stilettos angestakst und hat die Arme ausgebreitet, um das Gleichgewicht zu halten. Der Mann reicht ihr eine Hand, um sie zu stützen. Sie umklammert sein Handgelenk, dann holt auch sie hörbar Luft, als sie sein Gesicht sieht. »Oh Gott, du bist es …« Sie schlägt sich die Hand vor den Mund und bedeckt ihre Pfirsichlippen mit zarten weißen Fingern.

Der Mann schüttelt den Kopf. »Ich wollte es ihr erklären, bevor sie total ausgeflippt ist«, sagt er in meine Richtung. Ich klammere mich immer noch an Chase. »Mein Name ist Elijah Redding, aber alle nennen mich ›Red‹.«

»Wer bist du?« Mühsam bringe ich die Worte heraus, trotz all der Angst, die jede Facette meines Wesens beherrscht.

Er fährt sich mit der Hand durch sein dunkles Haar. »Ich bin Tommys Zwillingsbruder.«

»Zwillinge?«, wiederhole ich mit rauer Stimme und löse mich von Chase’ Brust. Tommy hat nie erwähnt, dass er ein Zwilling ist.

Elijah nickt. »Eineiige Zwillinge.«

»Ich würde sagen«, fügt Gillian hinzu, »Sie sind die Hulk-Version von ihm. Das ist ja unheimlich.«

Chase reißt den Kopf herum und bedenkt seine Frau mit einem scharfen Blick.

»Was? Schau ihn dir doch an, Baby. Er sieht aus wie Tommy, nur mit fünfzig Pfund mehr Muskeln und Tattoos. Ein richtig harter Junge.« Man kann sich darauf verlassen, dass Gigi einen heißen Typen erkennt.

Chase lässt mich los, wendet sich seiner Frau zu, legt ihr einen Arm um die Taille und zieht sie an sich. »Wir besprechen das später«, raunt er, dann sagt er zu Tommys Bruder: »Wieso hat Maria Sie nie zuvor getroffen?«

Genau diese Frage hätte ich ihm auch gestellt, wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre, einen klaren Satz herauszubringen. Im Moment kann ich meinen Blick nicht von dem Bruder losreißen. Gillian hat recht. Er ist die aufpolierte Version meines Tommys. Dieselbe Größe, dieselben Augen und derselbe Mund. Das Haar ist anders. Tommy war kahl und im Gesicht glatt rasiert, während Elijah einen rauen Dreitagebart trägt. Er hätte ihn ja auch abrasieren und einen auf trauernden Bruder machen können, wenn er gewollt hätte. Aber offensichtlich war die Beziehung der beiden nicht sehr eng, wenn er erst jetzt in meinem Leben aufgetaucht ist.

»Haben uns in den letzten Jahren auseinandergelebt. Bin vor kurzem wieder in die Stadt zurückgekehrt«, erwidert Elijah gepresst. »Und in welcher Beziehung standen Sie zu meinem Bruder? Ich habe Sie in der ersten Reihe sitzen sehen. Woher kannten Sie ihn?«

Ich runzle die Stirn. Wenn er zur Familie gehört, warum wusste er nichts von mir? Tommy und ich waren fast ein Jahr zusammen.

Aus demselben Grund, weshalb ich nichts von ihm wusste.

»Ich war mit deinem Bruder zusammen.«

Elijah schließt die Augen, grinst schief und schüttelt den Kopf. »War ja klar, dass er eine scharfe Braut zur Freundin haben würde.« Bei diesen Worten lässt er seinen Blick über mich gleiten, von meinem schwarzen Einteiler bis hinunter zur Spitze meiner Stiefel. »Hätte ich wissen müssen.« Er reibt sich mit dem Daumen über die Unterlippe. »Er hatte schon immer ein Händchen für Frauen.«

Ich verschränke die Arme vor der Brust. Chase reicht mir eine Hand und ich nehme sie. Als ich neben ihm stehe, legt er mir einen Arm um die Schultern. »Bist du so weit?«

»¿Listo para decir adiós? No.« Nein, ich bin nicht bereit, Lebewohl zu sagen.

Chase nickt traurig, und Gigi streichelt meine Wange. »Wir verabschieden uns niemals wirklich, Liebes. Sie leben in uns und in allen, die sie geliebt haben, weiter.« Gillian blickt Elijah an. »Unser herzliches Beileid. Tommy ist gestorben, als er mir das Leben rettete. Das werde ich nie wiedergutmachen können, aber wenn Sie irgendwie Hilfe brauchen, wäre es meinem Mann und mir eine Ehre, Sie zu unterstützen.«

Elijahs breite Schultern spannen sich sichtlich an. »Vielleicht können wir uns demnächst mal treffen und, äh, Sie erzählen mir, wie er Ihnen das Leben gerettet hat«, sagt er und verkrampft seine Hände ineinander.

Das Lächeln meiner Gigi ist so strahlend, als würde der Himmel selbst ein Licht auf sie werfen. »Ich würde Ihnen zu gerne erzählen, was für ein Held Ihr Bruder war.«

Bei ihren Worten zuckt Elijah zusammen und wendet den Blick ab. »Ja, danke.«

»Haben Sie eine Visitenkarte?«, fragt Chase, und die Frage wirkt so absurd, dass ich ein Kichern nicht unterdrücken kann.

Elijah schüttelt lachend den Kopf. Dachte ich mir.

Chase runzelt auf eine Art die Stirn, die ich mittlerweile nur zu gut an ihm kenne, und zieht etwas aus seiner Anzugtasche. »Hier haben Sie meine. Und wie meine Frau schon sagte, wir würden Sie gerne auf einen Drink oder zum Essen einladen. Bitte kontaktieren Sie uns. Es würde meiner Frau bestimmt guttun.« Er streckt die Hand aus und Elijah schüttelt sie kurz. Chase beugt sich rasch vor, so dass Gigi ihn nicht hören, ich ihn aber verstehen kann. »Ihre Schuldgefühle wegen seines Todes quälen sie schrecklich«, flüstert er. Dann tritt er zurück und sagt: »Also, bitte melden Sie sich.«

Elijah stopft die Karte in die Tasche seiner schwarzen Jeans. »Das tue ich.«

»Ich danke Ihnen.« Dann reicht Chase mir den Arm und sagt: »Wollen wir?«

Ich drehe mich noch einmal zu Elijah um. »Tut mir leid, dass ich so überreagiert habe …« Ich blicke ihm fest in die Augen, die mir von einem anderen Mann her so vertraut sind.

Er legt mir eine Hand an die Wange. »Kein Problem. Mach dir keine Sorgen.«

Elijah wischt sich eine Träne aus den Augen.

»Tut mir leid wegen deines Bruders.« Ich atme ein, atme aus und dränge wieder einmal meine Tränen zurück.

»Ja, mir auch«, sagt er ernst, ehe er seine Hand fallen lässt.

Ich berühre meine Wange, die noch warm ist von seiner Berührung. Seine Hand fühlte sich so sehr wie Tommys an und gleichzeitig ganz anders.

Chase führt mich den Kirchengang hinunter, auf das große hölzerne Portal zu.

»Hey!«, ruft Elijah.

Wir drei wenden uns um.

»Wie heißt du eigentlich?«

»Maria. Maria De La Torre.«

»Nett, dich kennenzulernen, Maria De La Torre«, sagt er, ehe er sich in die erste Reihe setzt. Ich beobachte ihn einen Moment. Er stützt seine Ellbogen auf die Knie und birgt den Kopf in den Händen. Als würde ihn ein riesiges Gewicht niederdrücken, so traurig und hoffnungslos wirkt diese Geste.

»Jetzt komm«, drängt Gigi, aber aus irgendeinem Grund möchte ich noch bleiben, um ihn zu trösten und um diesen Mann kennenzulernen, der meinem Tommy so sehr ähnelt.

Sein Zwilling. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass er einen Zwillingsbruder hatte, von dem ich nichts wusste. Warum hat mir Tommy nie von Elijah erzählt? Und auch seine Familie nicht? Ich war zu zahllosen Abendessen in der casa familia de la Redding. Es gibt keine Erklärung dafür, warum sein Name nie erwähnt wurde. Wir haben Thanksgiving und Weihnachten zusammen verbracht, und nichts. Kein Wort.

Das ergibt doch alles keinen Sinn. Ich weiß nur, dass ich das Gefühl hatte, Tommy würde aus dem Grab zu mir sprechen, als Elijah mich von hinten anredete. Und als ich mich umwandte, erschien er mir wie ein lebendiger, atmender Geist. Nur dass Elijah kräftiger ist und auf eine rauere Art gut aussieht. Elijah wirkt wie ein Mann, der niemals lange am selben Ort bleibt. Er ist ziemlich in Form, nach dem schwarzen T-Shirt zu urteilen, das sich über die gewaltigen Muskeln spannt. Seine dunklen Jeans, die Motorradstiefel und seine breitbeinige Haltung machen deutlich, dass es ihm völlig egal ist, was andere von seinem Kleidungsstil halten. Er zieht sich nicht an, um anderen zu gefallen. Nicht einmal bei einer Beerdigung. Wenn alle in ihrem Sonntagsstaat kommen, erscheint Tommys eigener Bruder in Jeans und T-Shirt, nachdem der Gottesdienst vorbei ist. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich den Typen umarmen oder ihm den Stinkefinger zeigen soll.

Als wir draußen sind, hält mich Gillian vor der Limo auf. »Mensch, Ria. Alles klar bei dir?« Sie packt mich an den Armen und starrt mit ihren leuchtend grünen Augen in meine blauen.

Ich schüttele den Kopf. »Ich weiß nicht. Ja. Nein. Das war vielleicht verrückt.«

Chase zupft an seinen Manschetten und glättet sie. »Da hast du recht. Du hast gar nicht gewusst, dass er einen Zwilling hat, oder?«

»Nein. Was für eine Überraschung! Tommy und seine Familie haben ihn während des ganzen letzten Jahres nicht ein Mal erwähnt. Ich würde mich daran erinnern, wenn mir mein Freund gesagt hätte, dass er einen Zwillingsbruder hat. Einen eineiigen!«

Gillian zieht mich in ihre Arme. »Gott, was für ein Tag. Sollen wir uns im Penthouse betrinken?«

Chase nimmt Gillian in die Arme, flüstert ihr etwas ins Ohr und legt ihr beide Hände auf den Bauch. Was. Zur. Hölle. Soll das. Normalerweise macht er in meiner Gegenwart nicht einen auf superbesitzergreifend – das passiert eher, wenn er das Gefühl hat, dass ein anderer Mann an seiner Liebsten interessiert ist. Und auch wenn die letzten Wochen Fegefeuer und Verdammnis über unsere kleine Gruppe gebracht haben, nimmt sein Beschützerverhalten inzwischen wirklich epische Ausmaße an.

Gillian tätschelt seine Hand, schaut mir wieder in die Augen und antwortet ihm gleichzeitig: »Keine Sorge, ich bin nicht in der Stimmung für ein Besäufnis, Baby. Ich trinke nie, wenn ich traurig bin. Aber Ria und du, ihr solltet auf jeden Fall einen heben. Was meint ihr?« Sie lächelt mich lieb an und schiebt sich eine rote Locke hinters Ohr.

»Das klingt, als würde ich heute in der casa Davis übernachten. Chase, du spendierst uns am besten la buena mierda.«

»Den guten Stoff.« Er grinst. »So machen wir das. Und jetzt steig bitte ein und schnall dich an.«

Ich verziehe das Gesicht. »Du kommandierst mich immer rum.«

»Schwester, du hast ja keine Ahnung«, seufzt Gigi.

»Das kannst du mir gleich alles bei einem Tequila erzählen«, erwidere ich leise und leicht genervt und öffne die Tür der Limousine. Ich blicke zurück zu der Kirche, die ich nie wieder betreten werde. »Auf Wiedersehen, Tommy«, flüstere ich, als plötzlich Elijah aus der Tür tritt. Ich halte den Atem an, als sein Blick auf mich fällt. Er hebt eine Hand und winkt.

Ein frischer Wind zerzaust mir die Haare und lässt mich erschauern. Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus und meine Zähne beginnen unkontrolliert zu klappern. Noch einmal sehe ich zur Kirche und winke der einsamen Gestalt zu, ehe ich den Kopf einziehe und ins Auto steige.

KAPITEL 2

»¿Y entonces qué pasó?«, murmle ich undeutlich in meinen Margarita. Himmel, dieser Typ mixt wirklich tolle Drinks. Benty? Benito? Nein, nein … Bentley. Genau, so heißt er. Er ist increíble.

Gigi schlägt mir auf den Schenkel. »Auf Englisch!«, tadelt sie mich kichernd.

Ups. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich Spanisch gesprochen hatte. Die Drinks schmecken einfach zu gut. »Und was passierte dann?, habe ich gesagt.«

Meine beste Freundin sitzt im Schneidersitz neben mir auf der Couch. Chase grinst und lehnt sich auf der gegenüberliegenden Couch zurück. Normalerweise ist er die Ruhe selbst, aber seit Daniel McBride seine geliebte Gillian gestalkt und entführt und meinen Tommy umgebracht hat, ist er eindeutig wachsamer geworden und hat seitdem fast etwas Eisiges an sich. Allerdings merke ich, dass er auftaut, je mehr Whisky er intus hat.

Gillian holt tief Luft, sucht meinen Blick und platzt mit der Antwort auf meine Frage heraus. Ich glaube, ich ahne schon, was sie gleich sagen wird.

»Wir haben geheiratet!«, quietscht sie und hüpft auf ihrem Platz auf und ab. Sie strahlt vor Freude übers ganze Gesicht.

Ich blinzele ein paarmal und beobachte, wie ihre Bewegungen von Lichtstrahlen in allen Regenbogenfarben begleitet werden. Hitze durchströmt meinen Körper und die Wut quillt mir aus jeder Pore.

Ich schüttele den Kopf und bohre einen Finger in ihren Oberschenkel. »Ich wusste es. Ich habe es gewusst. Du puta! Du bist durchgebrannt und hast ohne deine besten Freundinnen geheiratet! Ohne mich!¡No es cool!« Ich schmolle und werfe Chase böse Blicke zu. »Und du«, ich deute anklagend auf ihn, »du hast das alles geplant. Aber du weißt schon. ¡Karma es una puta y su nombre es Maria!« Das bedeutet, grob übersetzt, das Karma ist ein Miststück und sein Name ist Maria.

Chase muss so heftig lachen, dass er sich an seinem Drink verschluckt. Mit der Faust klopft er sich gegen die Brust. »Meine Güte, Maria, du hältst mit deiner Meinung wirklich nicht hinter dem Berg.«

»Das habe ich bis jetzt nicht getan und werde es auch in Zukunft niemals tun. Du bist durchgebrannt. Mit meiner besten Freundin. Wie konntest du nur?« Ich sage es geradeheraus, aber ich kann nicht verhindern, dass meine Worte deprimiert klingen.

Wäre ich etwas besser in Form, würde ich bestimmt nicht wie ein nörgelndes Kind reagieren. Aber leider habe ich einige Margaritas intus, eine Beerdigung hinter mir und schon länger nichts mehr gegessen … Was soll ich sagen? Da bricht eben die Fünfjährige in mir durch. Chase weiß, dass mir Gillian alles bedeutet. Das weiß er.

Chase’ Augen glitzern ozeanblau, als er sich neben mir in einen Sessel setzt und mir die Hand reicht. Das hat er noch nie gemacht, aber in letzter Zeit ist er körperlich etwas zugewandter geworden. Ich finde es toll, dass er sich bemüht, eine Beziehung zu mir und den Mädels aufzubauen, als gehörten wir jetzt zu seinem Leben, vielleicht sogar zu seiner Familie.

»Maria, ich denke, die Frage lautet doch vielmehr, wie hätte ich sie anders als heimlich heiraten können, nachdem unsere eigentliche Hochzeit so entsetzlich schiefgegangen ist?« Spöttisch hebt er eine dunkle espressobraune Augenbraue.

Irgendwie hat er ja recht. Gillian und Chase wollten vor ein paar Monaten in einem wunderschönen Ferienresort in Cancún heiraten. Stattdessen drang der Stalker ins Brautzimmer ein, schnitt Chase’ Mutter die Kehle durch und entführte meine beste Freundin. Er hielt sie volle vier Tage gefangen. Als man sie fand, war sie nur mit ihrem Brautkleid bekleidet in einem Betonbunker angekettet. Das alles geschah, noch bevor der Typ im Theater von San Francisco den Brand legte, der Kats Leben verändern und Tommy am Ende den Tod bringen sollte.

Ich schüttele den Kopf und bringe diese Gedanken mit einem gewaltigen Schluck Alkohol zum Verschwinden. Das Salz auf dem Glasrand und der Limettengeschmack des Tequilas brennen sich durch meine Kehle und erinnern mich daran, dass ich am Leben bin.

»Ich verzeihe dir. Aber keine Geheimnisse mehr.« Ich deute zuerst auf ihn, dann auf sie.

Gillian reißt die Augen auf und wirft Chase einen Blick zu, dann sieht sie mich an, dann wieder Chase. Grinsend kneift er die Lippen mit zwei Fingern zusammen. Der verführerische bastardo verbirgt noch etwas vor mir. Gillian beißt sich auf die Unterlippe. Mist.

»Spuck’s schon aus, cara bonita.«

Sobald ich ihren Kosenamen verwende, wird sie sichtlich weich. Ich nenne sie immer Schönes Gesicht, weil sie die hübschesten Züge hat, die mir je untergekommen sind. Sogar als wir uns damals vor fünf Jahren zum ersten Mal in einer Gruppentherapie begegneten und sie grün und blau geschlagen war, leuchtete sie wie ein kaputter Engel. Gillian hat eine unglaublich reine elfenbeinfarben schimmernde Haut, rötlich braune Locken, die ihr über die Schultern fallen, und strahlend grüne Augen. Mit ihren vollen Lippen ist sie der Traum jedes Mannes. Auf jeden Fall ist sie der Traum ihres Mannes, der sie dauernd ansieht, als würde er sie am liebsten sofort gegen die nächste Wand drücken und ordentlich durchvögeln. Ich mag das an ihm. Was mein Mädchen angeht, zeigt er seine Gefühle ganz unverhohlen. Sie braucht das. Ach Gott, das brauchen wir beide.

»Baby, sag es ihr. Dana und Jack wissen es auch.« Er macht eine großzügige Handbewegung.

Sie funkelt ihn böse an. Wüsste ich es nicht besser, würde ich meinen, dass ihr Blick gerade eine wenig freundliche Botschaft übermittelt. Ihre Stirn ist gerunzelt und ihre Nasenflügel sind zornig gebläht.

Ich würde gerne lachen – und die ganzen Drinks machen es mir schwer, mich zurückzuhalten –, aber ich will jetzt wirklich wissen, was sie mir verschweigt. »Gigi?«

»Wir sind schwanger«, stößt sie mit einem Luftschwall hervor und ihre Brust hebt und senkt sich vor Anstrengung.

»Meine Güte, putos sagrados! ¡No puedo creer que usted guardó esto de mí!«, zische ich in rasend schnellem Spanisch. Ich bin aufgesprungen und fuchtele wie wild mit den Händen herum. Mir wird heiß. Mich überfällt das Gefühl, betrogen worden zu sein. Wie konnte sie nur? Sie ist meine beste Freundin!

»Auf Englisch!« Gigi steht ebenfalls auf. »Wenn du mich schon anschreist, sollte ich es zumindest verstehen!«

Ich starre sie wütend an und komme ihr ganz nahe. Sie ballt die Fäuste und streckt die Brust heraus, gewappnet für alles, womit ich sie aus der Fassung bringen könnte. Braves Mädchen. Sie wehrt sich. Wir haben die Kämpferinnen in uns gemeinsam entdeckt. Und haben uns in schweren Zeiten immer gegenseitig wieder aufgerichtet.

Chase legt seiner Frau wieder die Hand auf den Bauch. Sein Beschützerinstinkt ist wie eine Energie, die meterweit von ihm abstrahlt. Aber jetzt macht seine viel zu dominierende, besitzergreifende Art wenigstens Sinn.

»Maria, mir gefällt es nicht, dass du meine Frau so bedrängst, vor allem da sie schwanger ist.« Seine Worte sind sehr direkt.

Da bricht der beschützende Supermann in ihm durch. Gut. Er muss wohl immer auf der Hut sein. Nicht, dass ich meiner besten Freundin jemals weh tun würde. Aber sie muss wissen und verstehen, wie sehr mich diese Nachricht verletzt.

Gillian schiebt Chase mit ihrem Hintern ein Stück zurück. »Setz dich. Das hier betrifft meine Freundin und mich. Also, Ria, Chase und ich hatten eine Menge um die Ohren. Es ist ja nicht so, dass wir absichtlich etwas verschweigen wollten. Aber so lange Danny uns immer noch bedroht hat und dann die Sache mit dem Brand passiert ist, da konnte ich einfach nicht darüber reden. Danach kam das mit Tommy … es hat einfach nicht gepasst.« Ihre Schultern sacken nach unten und ihr laufen die Tränen übers Gesicht.

Ich gehe zu ihr, lege ihr die Hände auf die Schultern und lehne meine Stirn gegen ihre. »Du kannst immer zu mir kommen, Gigi. Du weißt das. Du. Weißt. Das.«

Sie nickt. »Ja, aber jetzt geht es nicht mehr nur um mich. Jetzt habe ich Chase.« Ihre Stimme bricht und bebt, so verwundbar ist sie geworden.

Chase. Sie hat Chase. Und ich freue mich für sie. Die Frage, wie mein Platz in ihrem Leben in Zukunft aussehen wird, macht mich traurig und unsicher, aber trotzdem wünsche ich ihr das Allerbeste, und das wird Chase ihr geben, sobald die zwei ein bisschen zur Ruhe kommen. Seit sie zusammen sind, haben sie nichts als Probleme erlebt. Sie haben wirklich etwas Frieden verdient, und jetzt, wo Danny tot ist, werden sie ihn zum Glück endlich finden.

Seufzend lege ich ihr den Arm um die Schultern. »Ich freue mich für dich. Und bin wahnsinnig glücklich, dass du endlich den ganzen Horror los bist und das Leben mit deinem Mann und dem neuen bebé genießen kannst.«

»Babys.«

Ich runzele die Stirn und reiße überrascht den Kopf zurück. Ich bin mir nicht sicher, ob ich richtig gehört habe.

»Mehr als eines?« Ich schüttele den Kopf und versuche mich trotz meines betrunkenen Zustands zu konzentrieren.

Sie nickt und ihr Lächeln ist so breit, dass man alle Zähne sieht. »Wir bekommen Zwillinge!«

Mir klappt die Kinnlade runter und ich merke, dass ich dringend noch einen Drink brauche. Und zwar sofort! »Du kannst nicht irgendwas einfach mal ganz normal machen, oder?«

Chase hinter ihr lacht so herzhaft, dass er sich dabei auf die Schenkel klopft. »Drinks sind unterwegs.«

»¡Sí, gracias!« Ich schüttele erneut den Kopf und betrachte meine beste Freundin auf der ganzen Welt. »Zwei Babys?«

Sie grinst stolz und schon wieder schießen ihr die Tränen in die Augen.

Ich lege ihr eine Hand auf den Bauch und spüre etwas Kaltes und etwas Warmes. Daraufhin reibe ich sanft über die Wölbung und versuche mir klarzuwerden, was ich fühle. Ich habe mich noch nie getäuscht, wenn ich das Geschlecht eines Babys vorausgesagt habe. Niemals. Normalerweise bedeutet kalt ein Mädchen und warm einen Jungen. Immer. Aber diesmal spüre ich beides.

»Was ist los?«, fragt Gigi und legt ihre Hand über meine.

»Ich weiß auch nicht. Irgendwie bin ich mir nicht sicher, was sie werden. Jungs oder Mädchen?«

Gigi runzelt die Stirn und kaut auf ihrer Lippe. »Und wenn es von jedem eines wird?«

Ja, das ist die Lösung! »Genau! Du bekommst einen Jungen und ein Mädchen! Ach, wie toll!«

Sie legt die Hände an ihre Wangen, die eine rosige Farbe angenommen haben. »Meinst du? Wirklich?«

»Ich habe mich noch nie getäuscht.« Ich stupse ihre Nase an. »Nie. Du bekommst von jeder Sorte eines.«

Chase kehrt mit einem Glas Eiswasser für Gillian und einem frischen Margarita für mich zurück. Lecker. Ich greife mit gierigen Fingern nach dem Glas, bis er mir die Tequila-Köstlichkeit reicht.

Gillian stürzt sich auf ihn. »Baby, stell dir vor! Wir bekommen einen Jungen und ein Mädchen!«, verkündet sie und küsst ihn leidenschaftlich auf den Mund.

Er erwidert den Kuss und schlingt ihr einen Arm um die Taille. Als sie sich von ihm löst, streichelt er ihre Wange. »Woher weißt du das? In meinem Buch steht, dass wir das erst bei dem Ultraschall in der zwanzigsten Woche erfahren werden.«

Klar, dass der superbesitzergreifende Chase bereits ein Buch über Babys studiert hat. Wahrscheinlich ist er über Gillians Schwangerschaft besser informiert als sie selbst.

»Ich habe in diesen Dingen einen siebten Sinn. Habe mich noch nie getäuscht«, erkläre ich.

»Von jeder Sorte eines, hm? Das klingt doch großartig!« Er gibt Gillian noch ein Küsschen, dann geht er zur Anrichte hin­über, um sich einen Whisky nachzuschenken. »Darauf trinke ich!«

Er hebt sein Glas, und ich tue es ihm gleich.

»Ich auch!«

»Und wir drei!«, stimmt Gillian mit ein.

***

Winzige Nadelstiche bohren sich in meine Schläfe. Als ich versuche die Augen zu öffnen, wird daraus rasch ein ameisenkleines Männchen, das mit einem Presslufthammer meine Stirnhöhlen bearbeitet. Das Zimmer ist in einem freundlichen Weiß mit gelben Akzenten gehalten. Das Bett ist unglaublich weich. Bestimmt hat es der Alte Herr dort oben nach der Erschaffung der Erde am achten Tag selbst entworfen, weil er einen erholsamen Schlaf brauchte. Leider hat er mich nicht gewarnt, dass ich besser nicht so viel Tequila trinken sollte, dass ich damit mein Körpergewicht aufwiegen könnte.

Guter Gott, hast du mich nicht genug leiden lassen? Ich reibe mir die Schläfen und drücke die Knöchel in die schmerzenden Stellen. Mein Magen grollt und poltert und ich bin mir nicht sicher, ob das an meinem Kater oder am Hunger liegt. So oder so, ich brauche dringend ganz viel fettiges Essen, damit ich mich nicht mehr wie ein Zombie fühle. Ich stemme mich in eine sitzende Position hoch und streiche mir meine wilde Mähne aus den Augen. Die schwarzen Locken fallen nach hinten und kitzeln mich am Rücken.

Vorsichtig klettere ich aus dem Bett, berühre den Boden mit einer Zehenspitze, dann mit dem Ballen und schließlich mit der Ferse. Ich mache ein paar schwankende Schritte nach vorne, bis ich mich an der Tür festhalten kann. Dort hängt ein Morgenmantel aus Seide, den Gigi offensichtlich für mich dagelassen hat. Gestern Abend bin ich einfach in meinem Sport-BH und kurzen Shorts von Gigi in diese Wolke von Bett geplumpst. Chase hat mich beim Tanzen schon unbekleideter gesehen, daher mache ich mir nicht die Mühe, meine Trauerkleidung noch mal anzuziehen. Vielleicht verbrenne ich diese Klamotten auch einfach, obwohl ich darin wirklich heiß ausgesehen habe. Aber sie werden mich immer an gestern erinnern und mich jedes Mal wieder schrecklich traurig machen. So wacklig, wie ich auf den Beinen bin, muss ich echt aufpassen, dass ich nicht umfalle.

Ich schleppe mich ins Badezimmer, erledige mein Geschäft und putze mir die Zähne. Ein besonderer Dank an Chase’ Zimmermädchen, das für Gäste Zahnbürste und Zahnpasta bereitgelegt hat. Ich fahre mir durchs Haar und versuche, wenigstens die schlimmsten Knoten zu entwirren. Mit einer Hand in den Haaren, die andere an der Stirn, wanke ich in die riesige Küche und bleibe wie angewurzelt stehen.

Glücklich am Tisch versammelt sind Gillian, die bereits in Jeans und Pulli steckt, und Chase, in seinem besten Golf-Outfit. Er hat die Augenbrauen hochgezogen und spitzt bei meinem Anblick den Mund. Mit den beiden habe ich ja gerechnet. Aber dass ich Tommys Bruder, Elijah, hier begegnen würde, das habe ich nun wirklich nicht erwartet. So früh am Morgen. Am Tag nach der Beerdigung.

»Habe ich eine Woche lang geschlafen und es nicht gemerkt?«, stöhne ich, während ich mich in den Türrahmen lehne. Mein Morgenmantel steht offen, aber es ist mir egal.

Elijahs Blick wandert über meinen Körper, angefangen bei den Spitzen meiner bloßen Zehen bis hinauf zu meinem Haar und zurück. »Wahnsinn«, murmelt er in seine Kaffeetasse und wendet den Blick ab.

»Was machst du hier?«, frage ich und bemühe mich vergeblich, nicht allzu genervt zu klingen.

Er neigt den Kopf zur Seite und stellt seine Tasse ab. Vor ihm steht ein Teller mit einem zur Hälfte aufgegessenen Frühstück. »Ich wurde eingeladen. Guten Morgen, Hottie.«

Hottie. Was zum Teufel …?

»Ist sie am Morgen immer so?«, fragt er Chase.

Der zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Spärlich bekleidet? Ja.« Ich werfe ihm einen bösen Blick zu, verschränke die Arme und verlagere mein Gewicht auf ein Bein. »Verkatert? Nein, für gewöhnlich nicht. Aber gestern war verständlicherweise ein harter Tag für sie. Für uns alle.«

Bentley, der Küchenchef, reicht mir eine Tasse Kaffee. »Ms De La Torre. Mit einem Hauch Zimt und viel Sahne, so wie Sie ihn mögen.«

Ich lächle. »Bentley, Sie sind zu gut zu mir. Zuerst die Margaritas und jetzt der perfekte Kaffee? Heiraten Sie mich!« Ich zwinkere ihm zu.

Die runden Wangen des kleinen Mannes werden kirschrot, als er davoneilt.

»Zurück zu dir. Ich habe gestern Abend eine Menge getrunken, aber als ich ins Bett ging, warst du noch nicht da.« Ich ziehe mir einen Stuhl hervor, und beide Männer erheben sich kurz, bis ich Platz genommen habe. Interessant.

Gillian strahlt mich an und nimmt meine Hand. »Wie hast du geschlafen? Hattest du wieder Alpträume?«

Ich zucke zusammen und blicke verlegen auf den Tisch, weil ich niemanden anschauen will. »Nein.«

»Du hast Alpträume?«, fragt Elijah, als wäre es ein ganz normales Gesprächsthema und nicht etwas Problembehaftetes und sehr Privates.

Ich hole tief Luft. »Manchmal.«

Obwohl ich nicht darum gebeten habe, stellt Bentley einen Teller mit Essen vor mich hin. »Also, ich sag es noch mal: Bitte heiraten Sie mich!« Ich hebe den Kopf, und er macht sich glucksend davon. Komischer kleiner Mann, aber ein phantastischer Koch.

Eier, Schinken, Würstchen, Kartoffeln und ein Muffin erwarten mich. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen, während ich ein paar Kartoffelstücke zusammensuche und mir zwischen die Lippen schiebe.

»Jesús dulce bebé. Tan bueno.« Liebes Jesuskind. So lecker.

»Also, Mr Redding. Wie lange bleiben Sie in San Francisco?«, fragt Chase.

Elijah stochert in seinem Rührei herum, dann seufzt er. »Ich weiß nicht.«

»Wieso denn nicht?«, fragt Gillian, neugierig wie immer.

Er schenkt ihr ein trauriges Lächeln. »Thomas hat alles, was er besaß, mir hinterlassen. Sein Haus, Auto, verdammt … alles.« Sein Kiefer verkrampft sich und der Bart, der mir gestern schon aufgefallen ist, sieht heute noch attraktiver aus. Elijah fährt sich mit der Hand durch die Haare, und ich beobachte gebannt jede seiner Bewegungen. So hätte Tommy also mit Haaren ausgesehen. Unglaublich sexy.

Ich tadele mich innerlich für diese Gedanken. Dieser Typ ist nicht Tommy.

»Haben Sie irgendwo eine Familie, zu der Sie zurückkehren werden?«, fragt Chase direkt.

Elijah schüttelt den Kopf. »Nein, nichts Derartiges. Ich habe überall in den Staaten ein paar Plätze, wo ich schlafen kann.«

Ich lache schallend. »Was bist du eigentlich? Ein Weltenbummler?«

Sein Blick wird messerscharf, als er mich mustert. »Nein, Maria. Ich bin Kopfgeldjäger. In diesem Job gibt es wenig Gelegenheit, sesshaft zu werden. Ich bleibe dort, wo man mich braucht.«

Sofort schießt mir vor Verlegenheit die Röte in Wangen, Hals und Brust. Bestimmt schaue ich aus wie eine saftige rote Tomate. »Tut mir leid«, sage ich leise.

Er zieht eine Schulter hoch, dann lässt er sie wieder fallen. »Nicht schlimm. Das passiert mir häufig. Ich habe gerade einen Job zu Ende gebracht. Es war nur ein wenig zu spät, um es rechtzeitig zur Beerdigung zu schaffen. Deswegen war ich nicht da.«

»Aber das erklärt immer noch nicht, warum ich erst jetzt von dir erfahre.« Ich steche so heftig in mein Essen, dass die Gabel auf den Teller klirrt.

Elijah stützt beide Ellbogen auf den Tisch und legt sein Kinn auf den Händen ab. »Also, ich finde, das sagt mehr über deine Beziehung zu meinem Bruder aus«, kontert er.

»Hey, das ist nicht fair!«, mischt sich Gillian ein, ehe ich ein Wort herausbringen kann. Durch den Kater bin ich deutlich langsamer als sonst.

»Vielleicht warst du ihm nicht wichtig genug, um erwähnt zu werden.« Ich stehe auf und schiebe meinen Stuhl zurück. »Danke für das Frühstück. Aber mir ist plötzlich der Appetit vergangen.«

»Maria, warte!«, ruft mir Gillian nach, als ich den Flur zum Gästezimmer hinunterstapfe.

Blitzartig wende ich mich noch einmal um, deute zur Küche und frage mit erhobener Stimme: »Was glaubt er, verdammt noch mal, wer er ist, dass er solche Sachen zu mir sagt? Er hat keine Ahnung, wie meine Beziehung zu Tommy war!«

Gillian hebt kopfschüttelnd die Hände. »Nein, nein. Hat er nicht, da stimme ich dir zu. Aber ihr habt euch eben beide danebenbenommen.«

»Wir beide?« Habe ich das richtig verstanden? Ergreift sie Partei für ihn?

Sie beißt die Zähne so fest zusammen, dass ihre Kieferpartie scharf und furchteinflößend hervortritt. »Ria, du bist aufgebracht, weil du nichts von ihm wusstest. Das verstehe ich. Aber er hat irgendwie auch wieder recht. Warum hat Tommy dir nichts von ihm erzählt? Ich finde, das ist die interessantere Frage.«

Ich starre ihr ins Gesicht. »Du denkst, er hat ihn mir aus einem bestimmten Grund verschwiegen?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Irgendwie, ja. Du bist doch nicht neun Monate lang mit jemandem zusammen und findest dann auf wundersame Weise heraus, dass er einen verschollenen Zwillingsbruder hat. Dafür gibt es einen dicken, fetten Grund und derjenige, der ihn kennt, sitzt gerade an meinem Küchentisch.«

Ich sacke auf dem Bett zusammen und reibe mir die Stirn. »Mir ist das alles zu viel. Ich muss jetzt nach Hause. Brauche eine Weile meine Ruhe. Muss über alles nachdenken.«

Gillian setzt sich neben mich und legt mir eine Hand auf die Schulter. Beruhigend streicht sie an meinem Rücken auf und ab, dann massiert sie mir den Nacken. Ich stöhne auf und lasse den Kopf nach vorne fallen. »Ich weiß, dass das weh tut. Und es ist ungerecht. Tommy war ein toller Typ. Der Beste überhaupt. Er hat mir das Leben gerettet, und ich werde auf immer in der Schuld seiner Familie stehen. Aber dich hat er geliebt. Du hast ihm wirklich etwas bedeutet.«

Ich schlucke krampfhaft, um meine Gefühle und die Übelkeit zurückzudrängen. »Aber ich habe es ihm nie gesagt.« Die Tränen, die ich bis jetzt zurückgehalten habe, marschieren über meine Wangen wie winzige, verräterische Soldaten, die ihr Lager aus Angst vor drohendem Unheil verlassen. Meine Schultern beben und ein saurer Geschmack breitet sich auf meiner Zunge aus. Ich werde mich gleich übergeben müssen.

Hastig springe ich auf, laufe ins Bad und spucke meinen gesamten Mageninhalt schwallartig in die Toilette. Gigi hält mir die Haare zurück und streichelt mich, während ich alles herauswürge, meine Gefühle, die Trauer und Fässer voller Margarita. Zumindest fühlt es sich so an.

Als nichts mehr übrig ist, lehne ich mich gegen den Rand der Toilette. Gillian reicht mir ein Taschentuch, damit ich mir die Nase putzen kann. »Ich habe es ihm nie gesagt, Gigi«, gestehe ich ihr. Die Sache quält mich, seitdem das alles passiert ist.

»Du hast ihm was nie gesagt?« Sie kauert sich neben mich und wischt mir das Gesicht mit einem kühlen Waschlappen ab.

Ich lecke über meine Lippen und schließe die Augen. »Ich habe ihm nie gesagt, dass ich ihn liebe.«

Ihr Gesicht verzieht sich, aber sie reißt sich zusammen. Jetzt muss sie mir eine Stütze sein. So funktioniert das bei uns. Gigi ist der einzige Mensch, vor dem ich Schwäche zeigen kann, denn ich habe sie durch die absolute Hölle begleitet und sie mich.

»Liebes, er wusste es. Natürlich wusste er es.« Sie zieht mich in ihre Arme. Ich lasse meinen Kopf an ihren Hals sinken und atme ihren Duft nach Vanille und Kirsche ein. Zu Hause. Hier fühle ich mich zu Hause. Meine Seelenschwester. Gigi streichelt mein Haar und flüstert immer wieder. »Er wusste es. Er hat es gewusst. Versprochen.«

Aber ich weiß es besser. Tommy hat mich am Tag seines Todes direkt gefragt, ob ich ihn liebe, und ich habe das Ganze heruntergespielt und wie immer so getan, als wäre er albern. Ich erinnere mich ganz genau an diesen Moment.

***

Tommy zog sich gerade für die Arbeit an, als ich in sein Apartment kam.

»Maria, ich muss los. Tut mir leid wegen heute Abend.«

»Ist schon okay. Ich werde auf dich warten. Na, wie klingt das?«

Die Muskeln in seinem Gesicht spannten sich an und er seufzte. »Ich habe heute Abend einen gefährlichen Job zu erledigen.« Er legte eine Hand um meinen Nacken und zog mich ganz nah zu sich. »Du sollst nur wissen, dass ich dich liebe. Für den Fall, dass was schiefgeht.«

Ich umarmte ihn ganz fest und schlang ihm die Arme um die Schultern. Dann küsste ich seinen Hals bis zu seinen Lippen hinauf. »Es wird bestimmt alles gutgehen.«

Er legte den Kopf schief. »Ich will mir sicher sein, dass du mich auch liebst, bevor ich dort mein Leben riskiere. Sag es mir.«

Mein Herz rutschte mir in die Hose und Angst kroch über meine Haut. »Nein, ich werde es nicht sagen, weil du wieder nach Hause kommst. Zu mir. Du wirst zu mir zurückkehren.«

»Maria … ich …« Ich drückte ihm einen Finger auf die Lippen. Dann küsste ich ihn wieder, um ihn von seinen negativen Gedanken abzulenken.

»Komm nach Hause, zu mir«, forderte ich.

Er lächelte sanft, küsste mich leidenschaftlich und löste sich schließlich von mir. Dann öffnete er die Tür und sah sich noch mal um. »Wirst du wach sein, wenn ich zurück bin?«

Ich warf ihm eine Kusshand zu. »Ich warte die ganze Nacht auf dich und halte dir das Bett warm.«

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