Tripoint - Carolyn J. Cherryh - E-Book

Tripoint E-Book

Carolyn J. Cherryh

4,7
5,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Jagd zwischen den Sternen

Offiziell herrscht Friede im All, der interstellare Verkehr nimmt zu, und der Handel unter den weit auseinanderliegenden, durch Sprungpunkte miteinander verbundenen Raumstationen floriert. Doch dann werden plötzlich zwei Kauffahrerschiffe in einen gewaltsamen Konflikt verwickelt, hinter dem sich eine Vendetta zwischen zwei Familien verbirgt. Denn vor zwanzig Jahren wurde Marie Hawkins, jetzt Kapitänin der Sprite, von Austin Bowe, der auf der Corinthian angeheuert hatte, vergewaltigt. Sie bekam ein Kind von ihm und sinnt seither auf Rache. Doch sie muss feststellen, dass die Corinthian wesentlich mehr Geheimnisse birgt, als sie je hätte ahnen können …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 710

Bewertungen
4,7 (18 Bewertungen)
13
5
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



C. J. CHERRYH

TRIPOINT

Roman

Das Buch

Offiziell herrscht Friede im All, der interstellare Verkehr nimmt zu, und der Handel unter den weit auseinanderliegenden, durch Sprungpunkte miteinander verbundenen Raumstationen floriert. Doch dann werden plötzlich zwei Kauffahrerschiffe in einen gewaltsamen Konflikt verwickelt, hinter dem sich eine Vendetta zwischen zwei Familien verbirgt. Denn vor zwanzig Jahren wurde Marie Hawkins, jetzt Kapitänin der Sprite, von Austin Bowe, der auf der Corinthian angeheuert hatte, vergewaltigt. Sie bekam ein Kind von ihm und sinnt seither auf Rache. Doch sie muss feststellen, dass die Corinthian wesentlich mehr Geheimnisse birgt, als sie je hätte ahnen können …

Der Autor

Titel der Originalausgabe

TRIPOINT

Aus dem Amerikanischen von Christine Strüh

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1994 by C. J. Cherryh

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat

Satz: Thomas Menne

Kapitel 1

I

Träume von einem Interface der Energien weit über dem Einstein-Limit.

Träume von einem Phasensturm, der über das hinwegstreicht, was er nicht einhüllen kann – bis er hinabgleitet, hinunter, immer weiter, hinunter in den nächsten Gravitationsschacht …

In diesem Fall war es E. Eridani. Viking, das zur Union gehört, verbunden mit Pell, auf Seiten der Allianz.

Schiffswerften und Industrie. Handel. Bergbau.

Wasserstoff glüht am Bug. Das Schiff stürzt sich in die thermonukleare Hölle.

Das Feld formt sich wieder. Beinahe. Einmal. Zweimal.

Dann wird aus dem Feld die Sprite, mit Kurs auf die bewohnte Zone.

Der Ring schließt sich.

Der Körper senkt sich auf die Matratze.

Jetzt nimmt der Atem den Rhythmus von Viking an, zehn, fünfzehn Atemzüge pro mit der Cäsiumuhr bemessener Minute. Das Herz flimmert und findet seinen Takt.

Die rechte Hand greift nach dem Nutripack, die linke verfehlt erst mal das Aufreißband. Die Hand zum Mund zu führen ist auch nicht einfach.

Wirklich grässlich, das Runterkommen. Aber wenn man ein paar Minuten ganz, ganz still dalag, wenn man als Computertechniker den Luxus genoss, dienstfrei zu haben, dann fühlte man sich gleich viel, viel besser, sobald man das Zeug erst mal intus hatte.

Und Tom Hawkins, dreiundzwanzig Jahre alt, hatte schon an die zweihundert solcher Systemabstiege hinter sich, ein paar davon schon vor seiner Geburt. Mit seinen dreiundzwanzig Jahren war er ein Handelsveteran auf der Route Voyager-Mariner-Cyteen, die seit jeher zur Routine der Sprite gehörte.

Es war lange her, seit er Viking in seiner zeitgedehnten Kindheit das letzte Mal gesehen hatte, und noch länger, seit Viking ihn das letzte Mal gesehen hatte.

Damals war alles ganz anders gewesen, unsicher, gefährlich. Manchmal wurde man im Hafen von den anderen Schiffen für verrückt erklärt, wenn man seine Reise wie geplant fortsetzen wollte … selbst als Heranwachsender spürte man die Angst der Senioren und hörte die Gerüchte. Selbst als Heranwachsender wusste man, wenn eine Fahrt gefährlich war. Und man hörte von toten Schiffen und Überfällen der Mazianni, obwohl die Senioren immer sehr darauf achteten, dass niemand in Hörweite war.

Inzwischen war Mariner wieder aufgebaut worden, modern und strahlend neu. Piraten waren eigentlich kein Thema mehr. Pell übernahm wieder seine Funktion als Tor zur alten Erde und ihrem Luxushandel. Die Hinteren Sterne waren nun endgültig geschlossen und nach langen, zähen Verhandlungen hatten Cyteen und Pell ein Handelsabkommen unterzeichnet, in dem Pell seinen Anspruch auf Viking aufgab und sich bereit erklärte, Tarifanpassungen für Frachter auf der Route Viking-Mariner vorzunehmen, da Viking außer Maschinen, Rohmaterialien und Unterkünften für Langstreckenfrachter nicht viel zu verkaufen hatte.

Aber – und das war ein Schlag für die Schmuggler – Viking wurde ein Freihafen, von der Regierung her unionistisch, steuerfrei für Erdwaren, die von Pell hier Zwischenstation machten, und für bestimmte Unionsgüter, die von anderen Häfen kamen.

Ein Riesenfortschritt für Viking, das bisher nie so richtig auf einen grünen Zweig gekommen war, meinte Mischa – der Kapitän der Sprite –, als sie ihren fetten Regierungsvertrag abgeschlossen hatten. Und einen noch größeren Auftrieb bedeutete es für die Sprite und ihre Besatzung – sie war kein Frachter mit temperiertem Frachtraum, und nur wenige ihrer Klasse waren in die Auslosung für Regierungsverträge gekommen, obwohl die Familie sich anfangs nicht einmal einig gewesen war, ob sie das Angebot überhaupt annehmen sollte. Wenn sie nämlich aus ihrer üblichen Runde ausstiegen, würden sie ihre langjährigen Freunde auf der Polly und der Surinam nicht mehr so oft treffen wie bisher. Aber alles hatte funktioniert und nach ein bisschen Erfahrung mit den neuen Bedingungen hatten sie entdeckt, dass sie den Kontakt mit ihren Handelspartnern weiterhin pflegen konnten, wenn sie zwei eng terminierte Überfahrten zwischen Viking und Mariner machten. Dann trafen sie die Polly und die Surinam auf der Rückreise von Cyteens Außenstation und kreuzten alle zwei Schiffsjahre ihre alte Route zu einem kurzen Ausflug nach Fargone, wobei sie mit der Bolivar und den Luiz-Romneys, die ebenfalls auf den Vertrag erpicht gewesen und auf die gleichen Einwände gestoßen waren, eine regelrechte Acht beschrieben. Die Sprite und die Bolivar gemeinsam konnten, wenn sie den Terminplan einhielten, zu zweit genau das Gleiche bewerkstelligen wie ein großes Schiff, und zwar absolut legal.

Also brauchten sie ihren alten Freunden, Liebhabern und Lieblingsorten nicht für immer Lebewohl zu sagen, sondern immer nur für eine kleine Weile.

Und nun also Viking. Mit sechs Jahren war er das letzte Mal hier gewesen, als ein ungeplant langer Aufenthalt den Insassen der Kinderstube die seltene Chance gegeben hatte, dass alle außer den Jüngsten nach unten gehen durften, durch die Schleuse und aufs Dock hinaus. In den wilden Zeiten damals wurden sie natürlich von einigen bewaffneten Senioren der Crew begleitet.

Das war sehr beeindruckend gewesen – schon allein die Eskorte von Onkeln, Tanten und Müttern mit Revolvern an der Hüfte! In seinem ganzen jungen schiffgeborenen Leben war das sein erster Blick auf ein Stationsdock gewesen, und er erinnerte sich noch lebhaft an kalten, frostigen Atem, an gebräuntes Metall und riesige Maschinen, von denen die Senioren behaupteten, sie würden streunende Kinder auflesen und zu Mehl für die Fischkuchen vermahlen, die es in Viking zu kaufen gab.

Jung und dumm, wie er damals war, hatte er das geglaubt und im Besonderen zwei Cousins der Gruppe verdächtigt, sie wollten ihn an die Maschinen verfüttern. Also hatte er sich eng in der Zweierreihe gehalten und gegafft, was das Zeug hielt, war dabei aber immer auf der Hut geblieben vor eventuellen heimtückischen Attacken von Cousins und vor raubgierigen Roboterladern.

Lagerhäuser, lange, lange Reihen von Lagerhäusern, riesige Container, die darauf warteten, beladen zu werden, daran erinnerte er sich. Automaten, an denen sie sich alle Limonade und Chips gekauft hatten – die Chips schmeckten scheußlich, aber er hatte noch nie gesehen, dass etwas Essbares aus einer Maschine herauskam, und das war ein Wunder. Er erinnerte sich an die langen Reihen von Bars, die Kinder eigentlich nicht betreten durften, aber die Senioren hatten sie in eine davon einen Blick werfen lassen: Eine dunkle, laute Spelunke, voller Leute, die bei ihrem Anblick im Trinken innehielten und sie anstarrten. Momentaufnahmen, für immer eingebrannt im Gedächtnis eines Kindes.

Vor dreißig Jahren war das gewesen, nach Stationszeit. Er lebte in Schiffsjahren, seinen eigenen biologischen Jahren. Als er sechs war, hatte ihn die Willkürlichkeit der Außenzeit verwirrt – und obwohl Computer und Zahlen inzwischen sein Beruf waren, mit dem er sich seinen Lebensunterhalt verdiente, verfiel er noch immer diesem kindlichen Missverständnis, wenn er versuchte, die annähernd vierzig Jahre zu fühlen, die er nach Ansicht dieser Außenseiter bereits gelebt hatte.

Aber das spielte nur in historischer Hinsicht eine Rolle. Bei diesem Ausflug war er sechs gewesen, nicht zehn – für Körper und Geist ein riesiger Unterschied. Trotzdem bestanden die Stationsoffiziere darauf, dass man auf den Zolldokumenten immer die universellen Daten angab. Für Schiffsbewohner kam es auf Körperjahre an, und die kannte man vom Medical; Computer berechneten das Alter anhand der Route, die das Schiff durchlaufen und anhand der Ladung, die es dabei befördert hatte. Alles wurde genau registriert, ganz gleich, wie lange ein uralter Planet dazu brauchte, seinen Stern zu umrunden. Das Schiff war die Welt. Vierhundertundsechzehn Cousins, Onkel und Tanten, allesamt Hawkins'. Drinnen, das war das Wir, dort wurde man geboren, dort hatte man eine Schiffsbeteiligung und das Vorrecht, für immer mit dem Schiff zu kommen und zu gehen – ein paar Wochen in irgendeinem Hafen und dann wieder fort, lebt wohl, bis zum nächsten Mal oder vielleicht auch auf Nimmerwiedersehen. Raumfahrer – Spacer, wie sie sich nannten – hatten mit Sicherheit nichts am Hut. Immer hieß es »wenn«; Pläne änderten sich, Schiffe fuhren dorthin, wo sie mit dem besten Profit ihren Handel treiben konnten.

Zweihundert Jahre alt war die Sprite. Kein großes Schiff. Nicht so alt wie beispielsweise die Dublin oder die Finity's End. Kein Glamourschiff, keine langen Touren, keine denkwürdigen Kampfhandlungen im Krieg, nur ein leicht bewaffneter Schwerarbeiter, der die Waren im Umlauf hielt und den Herzschlag der Zivilisation weiterreichte, wenn er anlegte und die Informationen aus seinem letzten Hafen in den jetzigen fließen ließ. Computerdaten, Börsenberichte, Handelsbilanzen, Geburten und Todesfälle, Bücher, Unterhaltung, Nachrichten und Erfindungen überall im Netz der Sterne: Das Ticken und Pulsieren alles Menschlichen befand sich in den Datenbanken der Sprite, wenn sie andockte. Für manches davon wurde sie bezahlt, einiges waren allgemeine Informationen, die jedes Schiff, das anlegte, gratis zum nächsten Hafen mitführen musste. In Viking würde die Sprite Informationen aufnehmen, die sie seit Jahren nicht mehr direkt erhalten hatte, die Daten des Erdraums und der Allianz – zumindest das, was die Allianz in dieser ungewohnten neuen Ära des Friedens zur Union durchsickern ließ.

Die bevorstehende Datenflut bedeutete eine Menge Arbeit für die Sprite, denn schließlich wollte man das Material bestmöglich nutzen – Information war für ein Schiff letztlich ebenso wertvoll wie die Ware im Laderaum, denn Daten sicherten den Profit und letztlich das Überleben eines Schiffs, das mit anderen um seine Verträge wetteifern musste. Ein kleines Schiff auf einem Markt konkurrenzfähig zu halten, in dem ständig neue stationsgebundene Kombinate und Kartelle aus dem Boden schossen, die ihrerseits versuchten, den Handel an sich zu binden und alles der eigenen Firma einzuverleiben – das erforderte viel Kopf- und Computerarbeit …

Obgleich Kapitän Mischa Hawkins gesagt hatte, das würde nicht passieren: Das Beyond hatte den Krieg geführt, um die Konzerne mit Basis auf der Erde loszuwerden, und die Kauffahrer würden so etwas nie zulassen. Die Sternstationen, die gegen die Herrschaft der Erde rebelliert hatten, dachten vielleicht, sie könnten das gleiche Spiel jetzt selbst spielen. Aber wenn Stationsregierungen als Konkurrenz für die Familienschiffe, die ihnen im Krieg geholfen hatten, Schiffe bauten, würden diese Schiffe kleine, aber kostspielige Unfälle erleiden, natürlich ohne Todesopfer – es sei denn, sie wehrten sich. Die Kauffahrerfamilien beherrschten den Handel auf beiden Seiten der Grenze zwischen Union und Allianz, sie verachteten permanente Bündnisse, und sie hätten eine Station eiskalt zugemacht, wenn sie versuchte, ihnen wieder Vorschriften zu machen.

Das wussten die Stationen. Auf den oberen Ebenen galt das Stationsgesetz, aber auf den Docks und in den Schlafheimen herrschten andere Regeln. Auf Deck jedes einzelnen Schiffs gab es eine autonome Rechtsprechung, am Dock und im Weltraum.

Also war das Gesetz dasselbe wie früher. Trotzdem war es für Thomas Hawkins ein ganz neuer Gedanke, ein Stationsdock zu betreten, wenn kein anderes bekanntes oder befreundetes Schiff im Hafen lag. Fast fühlte er sich wie ein Frischling, und das war er nun ganz bestimmt nicht … seit er nach Schiffsjahren achtzehn war, wanderte er nun schon auf eigene Faust durch die Docks und war noch nie in eine Messerstecherei geraten, überhaupt noch nie in irgendeine Situation, aus der er sich nicht hätte herausreden können. Meistens war er irgendwann auf eine Spacer-Frau gestoßen, die das Gleiche suchte wie er …

Vor allem gab es da ein dunkeläugiges Mädchen von der Polly, bei der er anfangs nicht sicher gewesen war, ob sie Vorsichtsmaßnahmen ergriff … aber wenn ein Mann gleich klarstellte, dass er nicht verhütete, und wenn eine Frau dann nichts unternahm, war das ganz allein ihr Problem – und das der Polly. Nur fragte man sich eben manchmal … ob wohl auf irgendeinem Schiff ein Kind von einem herumlief … irgendwo … und er würde die Frau die nächsten zwei Jahre nicht sehen.

Seine Gedanken wanderten, und er merkte, wie der Schlaf ihn wieder in die Arme nahm. In den Nutripacks war immer auch ein leichtes Beruhigungsmittel enthalten, hauptsächlich Aspirin. Nach dem Sprung brauchte es nicht viel, dass man in einen Dämmerzustand verfiel, und er hatte erst bei der nächsten Wache wieder Dienst.

Dann allerdings würde es massig zu tun geben. Jede Menge Ausrüstung zu kontrollieren. Den Technikern saßen die Navigations- und die Frachtabteilung im Nacken, während sich die Junioren nur mit den ganzen lockeren Routineverrichtungen abgeben mussten, lauter Zeug, das für das Schiff nicht unbedingt lebenswichtig war. Davon gab es immer genug, die ganzen Datenspeicher, Fakten und Matrizen …

Die Dateien mussten geladen, verglichen und abgecheckt werden: Wenn eine Datei durch irgendeine technische Störung beschädigt war, bekam man nicht hundertprozentig den gleichen Backup. Die Computer im Operationszentrum kontrollierten sich selbst, überwacht von einem Seniortechniker. Für die Dateien, die nicht regelmäßig geladen wurden, gab es Juniortechniker, die sich an den Reservecomputern darum kümmerten – woher nahmen sich diese niederen Lebensformen auch sonst ihre Existenzberechtigung?

Noch eine Datei laden …

Den Check protokollieren …

Zwischendurch die Systeme testen.

Alles gute Gründe, um zuerst mal ein Nickerchen zu machen.

»Thomas Bowe.«

Er blinzelte. Hatte er geträumt? Ach, bestimmt. Er schloss wieder die Augen.

»Thomas Bowe, bitten melden.«

Er schlug die Augen auf. Wenn man ihn doch bloß nicht so nennen würde! Immer wieder hatte er sich darüber beschwert. Offenbar stand ein extra pedantischer Erbsenzähler auf der Brücke. Er kannte die Stimme: Duran T. Hawkins, Senior-Kom, den ließen alle derartigen Beschwerden vollkommen kalt.

Als sein Gehirn wieder einigermaßen funktionierte, wurde er unruhig. Warum wurde er so kurz nach dem Systemeintritt namentlich aufgerufen? War etwa jemand tot umgefallen? Junioroffiziere wurden nicht über das Kom-System gerufen, nur weil man ein bisschen mit ihnen plaudern wollte.

Er rollte von der Koje, ignorierte das Pochen in seinen Schläfen und streckte den Arm aus, um den Knopf an der Wand gegenüber zu drücken. »Hier ist Tom B., bestätige Nachricht.«

»Melde dich beim Kapitän, Thomas B., auf der Brücke, sobald wie möglich, Schiff ist stabil, bestätigen.«

»Verstanden«, sagte er und hörte, wie die Anlage abgestellt wurde, ohne ihm auch nur eine Sekunde Zeit für eine Frage zu lassen. Wenn er zurückrief, würde er nur ungeduldig abgefertigt werden, etwas anderes war von Duran nicht zu erwarten.

Außerdem hatten sie da oben ja wirklich viel zu tun – es war durchaus möglich, dass sie im Operationszentrum – kurz Ops – einen Notfall hatten und Computertechniker brauchten. Dann war wirklich Grund zur Eile. In dummer Panik hatte sein Herz angefangen zu rasen, und weil er so schnell aufgestanden war, tat ihm der Kopf jetzt wenigstens richtig weh. Aber Duran hatte gesagt »sobald wie möglich«, nicht »auf der Stelle«, also hatte er noch Zeit zu duschen.

Und es konnte unter den gegebenen Umständen auch nicht sein, dass seine Mutter einen Anfall gehabt hatte oder etwas Derartiges. Marie war noch keine vierzig, Schiffszeit, und gesund wie das sprichwörtliche Pferd. Vor dem Sprung hatten sie zusammen gefrühstückt und sich unterhalten, allerdings hatte er vergessen, worüber. Aber wenn ein Verwandter krank wurde, wurde man sofort alarmiert …

Das heißt, eigentlich wurde man vor allem dann gerufen, wenn man etwas verbockt hatte und die Chefs erst mal genau wissen wollten, was man mit dem Computer angestellt hatte, ehe Mischa einen dann aufforderte, im eiskalten dunklen All einen Spaziergang zu machen.

Aber Tom hatte schon ewig nicht mehr an den Kontrollbords zu tun gehabt –, das letzte Mal, bevor sie Mariner verlassen hatten. Da war er absolut sicher.

Das Schiff befand sich noch nicht wieder vollständig im Gleichgewicht. Tom schlug sich den Ellbogen an, schob die Tür zum Bad auf, die auf einer gebogenen Schiene die gesamten zwei Meter Breitseite der Kabine einnahm. Im Spiegel begegnete er seinem verwirrten, sorgenvollen Gesicht, die Augen gegen das Gleißen des weißen Lichts zusammengekniffen. Er schälte sich aus seinen Klamotten, stellte die Dusche auf Sparmodus, damit es schneller ging, schlüpfte durch in die Duschkabine, ohne dabei lebenswichtige Körperteile zu beschädigen, und schloss unter dem prickelnden Seife-Wasser-Gemisch, das ihn die nächsten dreißig Sekunden von überallher abspritzte, fest die Augen. Ein heftiger Luftstoß, der ihm den Atem raubte, saugte das Wasser wieder ein. Das Vakuum brachte seine Ohren zum Knacken und machte seinen nervösen Magen und die stechenden Kopfschmerzen nur noch schlimmer.

Aber als er die Badtür hinter sich schloss, war er wenigstens frisch gewaschen und rasiert – schon sah er viel gesünder aus. Er schlüpfte in einen sauberen Overall, und während er in die Stiefel stieg, fiel ihm plötzlich seine Schlüsselkarte ein. Eilig ging er zurück, und während er die Tür zum unteren Hauptkorridor öffnete, klemmte er sie mit der einen Hand fest. Wenn es hieß »Schiff ist stabil«, bedeutete das, dass man keinen Takehold zu erwarten hatte, und dass keine Clipleinen vorgeschrieben waren, und er lief schnell den unteren Ring entlang zum Lift. Besatzungsmitglieder kamen und gingen, ebenfalls ziemlich eilig beim Überqueren der Schiffsachse. Bestimmt hatte sich jemand krank gemeldet: Auf der Krankenstation brannte Licht, hinter der Biegung des Decks sah man eine Tür offen stehen.

Aber Kom hatte ihn ausdrücklich auf die Brücke bestellt, zum Kapitän, also ging er auch dorthin – er fand den Lift unbenutzt auf der Rim-Ebene und fuhr nach oben. Zwar fühlte er sich jetzt schon um einiges ruhiger, nachdem die Nachwirkungen des Sprungs allmählich nachließen und er allmählich wacher wurde, aber ein gewisses Unbehagen war geblieben. Seine Gedanken drehten sich im Kreis und landeten immer wieder bei den wenigen Erklärungsmöglichkeiten der Situation, die seine Erfahrung ihm nahe legte.

Der Lift kam zum Stillstand und Tom trat hinaus ins düster graue Computerlicht der Brücke. Köpfe wandten sich um und mehrere Cousins unterbrachen ihre Arbeit, um ihm nachzustarren. Blicke, wie sie ansonsten den Opfern von Massenkatastrophen vorbehalten waren.

Natürlich war das für seine Nerven alles andere als eine Linderung. Aber dann stand er auch schon seinem gesamten persönlichen Universum geliebter Verwandtschaft gegenüber: Mitten auf der Brücke unterhielt sich seine Mutter Marie mit Mischa. Mischa saß am Hauptcomputer. Marie war die Schwester des Kapitäns und ganz offensichtlich kerngesund – was sie beim Anflugmanöver auf der Brücke zu suchen hatte, war eine andere Frage.

Himmel, was hatte er getan, dass Mischa Marie aus dem Frachtbüro herbestellt hatte?

»Sir«, sagte er und kam sich vor wie ein achtjähriger Verbrecher, »Ma'am.«

»Gerade ist das Stationsschema reingekommen.« Mischa tippte auf den Bildschirm vor sich, wo eine schematische Darstellung der Station Viking und ihrer Anlegestellen erschien, das übliche Diagramm, das die Bojen übertrugen, wenn man in das betreffende System einflog. Tom verstand es nicht auf den ersten Blick, weil er mit dieser Art Information sonst nichts zu tun hatte, und auch nicht mit dem System, das sie ausspuckte.

»Es ist die Corinthian«, sagte Mischa. »Austin Bowe ist im Hafen.«

Das allerdings war ein Schlag in den Magen. Tom konnte Marie nicht ins Gesicht sehen. Mischa deutete auf einen Ankerplatz in der Stationsskizze. »Nach Terminplan sollen sie in neun Tagen ablegen, wir haben fünfzehn Tage und sind morgen früh im Dock. Ich sage euch gleich, ihr könnt noch genug in dieser Gegend spazieren gehen, wenn der Kerl wieder verschwunden ist, und ich erlasse hiermit einen Befehl, der sowohl dich, Marie als auch dich, Tom und die gesamte übrige Mannschaft betrifft: Kein Kontakt, keine Kommunikation mit der Corinthian, ganz gleich in welcher Form, es sei denn, etwas ist von mir persönlich abgesegnet. Wir können uns keinen Ärger erlauben, und ich bin sicher, die Corinthian will auch keinen. Ich schwöre, dass ich kein Auge zudrücken werde, Marie. Nach dem Regierungsvertrag haben wir hier keinen Spielraum, überhaupt keinen, habt ihr mich verstanden?«

»Vollkommen«, antwortete Marie. Viel zu fröhlich, fand Tom. Marie war so ruhig, dass ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. »Wir lassen die Vergangenheit ruhen – es sei denn, Austin Bowe kommt zu unserem Dock.«

»Deine Einstellung gefällt mir nicht, Marie. Ich überlege mir ernsthaft, dich und deinen Sohn und die ganze Besatzung an Bord bleiben zu lassen, bis Austin Bowe wieder weg ist. Und das wird niemandem gefallen.«

»Und wie würde das denn aussehen? Möchtest du vielleicht, dass man auf Viking sagt, wir haben Angst vor Bowe?«

»Ach, Viking, die können mich mal. Ich wette, dass sich kein Stationsbewohner hier daran erinnert, dass es mal Schwierigkeiten zwischen Austin Bowe und uns gegeben hat.«

»Ich wette dagegen. Ich glaube, dass sich die Schiffe im Dock sehr wohl daran erinnern.«

»Aber es ist allein unsere Sache. Und es geht ums Geschäft, Marie. Keine persönliche Racheaktion eines Besatzungsmitglieds ist es wert, dass wir unsere Rechtsgrundlage aufs Spiel setzen, und das wird jeder verstehen, der seine fünf Sinne beisammen hat. Wir befinden uns nicht mehr im Krieg. Der Mann ist inzwischen Seniorkapitän. Hier geht es um die Grundlage unseres gesamten Lebensunterhalts.«

»Ich bin ganz deiner Meinung, aber ich sehe nicht, wo für dich das Problem liegt.«

Sie lügt ihm dreist ins Gesicht, dachte Tom. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und ein absolut neutrales Gesicht aufgesetzt. Mischa wusste, dass Marie log, und konnte sie nicht dazu kriegen, sich verbindlich festzulegen.

»Wir lassen die Vergangenheit ruhen, ja? Hör mir zu, Marie. Du auch, Tom. Hört mir genau zu. Ein Regierungsvertrag und Regierungsfracht, das bedeutet, dass wir Unbedenklichkeitsbescheinigungen haben, Sondergenehmigungen, wir bekommen als Erste die Landeerlaubnis in einem Hafen, mit dem die Corinthian schon seit zwanzig Jahren zu tun hat, und die Handelskammer wird keine Ausreden akzeptieren. Und auch der Rest der Familie nicht.«

»Wir stehen mitten auf der verdammten Brücke, Mischa, warum stellt du nicht den Kom ein, damit die ganze Familie uns hören kann? Schick die Kids in die Kinderstube, und dann verkriechen wir uns alle, bis die Corinthian weg ist, wie wär's? Wir wissen, dass wir uns nicht verteidigen können. Eine Vergewaltigung ist ein wunderschönes Erlebnis, wenn man sich einfach zurücklegt und es genießt. Gott, ich kann nicht glauben, was du da von dir gibst!«

»Beruhige dich, Marie!«

»Ich werde ganz normal meine Arbeit machen, Mischa! Ich werde nicht in diesem Schiff rumsitzen. Ich verstecke mich nicht. Ich habe kein Verbrechen begangen. Ich bin kein Vergewaltiger, falls du auf Mariner etwas missverstanden haben solltest, und ich habe keinen Grund, mich zu schämen! Wenn die Corinthian Ärger will, kann sie ihn haben. Wenn nicht …«

»Wenn nicht?«

Ringsum herrschte Totenstille. Tom stand reglos da und konzentrierte sich darauf, das Atmen nicht zu vergessen. Ein Schauer durchzuckte seinen Körper, als er Marie leise und vernünftig sagen hörte: »Ich mache meine Arbeit, Mischa, ich bin nicht verrückt.«

»Tu das, Marie«, erwiderte der Kapitän ebenso ruhig, »tu das, aber sonst tust du gefälligst nichts. Und das gilt für die ganze Besatzung.«

Marie verließ die Brücke. Die Schwester des Kapitäns, Frachtchefin Marie Kirgov Hawkins, forderte den Kapitän heraus, sie in ihrem Quartier einzusperren – und ließ ihn dann stehen, vor den Augen der gesamten Operationszentrale.

Vielleicht hätte Mischa die Sache besser handhaben können – aber bei Marie wusste man nie so genau, worauf man sich einließ. Er hätte weniger streng sein können, aber sie hatte ihn angelogen, als sie sagte, dass sie die Vergangenheit ruhen lassen würde. Bei Austin Bowe war das unmöglich. Sie hatte ihrem Bruder ins Gesicht gelogen, und der Kapitän des Schiffs hatte einen unmissverständlichen Befehl erlassen.

Eine Grenze gezogen, die Marie Hawkins nicht überqueren konnte – und das konnte Marie gegenüber schon ein Fehler sein, wenn sie einen guten Tag hatte.

So leise wie möglich sagte ihr Sohn: »Darf ich mich entschuldigen, Sir?«

»Ich möchte dich sprechen. In meinem Büro, in einer Stunde. Momentan habe ich alle Hände voll zu tun. Lass deine Mutter in Ruhe. Du brauchst ihren Rat nicht. Verstanden, Thomas?«

»Jawohl, Sir.« Mit dreiundzwanzig war er endlich kein »Junge« mehr. Manche Onkel sagten »Sohn« zu den Sprösslingen ihrer Schwestern. Mischa hatte das nie getan. Er sagte »deine Mutter«, wenn er sich gerade über Marie geärgert hatte, »Marie«, wenn sie einer Meinung waren, und »Thomas«, wenn dessen Verhalten auf dem Prüfstand war. »Ja, Sir, ich habe verstanden.«

»Dann fort mit dir.« Mischa wedelte mit der Hand.

Tom ging zurück zum Lift. Köpfe wandten sich hastig ab und wieder der Arbeit zu. Nur die höchsten Seniorcousins bedachten ihn mit durchdringenden Blicken und fragten sich wahrscheinlich, ob Thomas Bowe-Hawkins tatsächlich zur Hawkins-Familie gehörte oder ob er, da dieses Schiff auf Viking vor Anker lag, Dummheiten machen würde, die womöglich katastrophal endeten.

»Sohn.«

Saja. Technikchef. Auch er musterte Tom prüfend und drehte sich dabei auf seinem Sitz zu ihm um.

Aber Saja war momentan Dienstältester und konnte nicht weg, also entging Tom dieser Moralpredigt, obwohl er sie immer noch lieber gehört hätte als eine vom Kapitän, so viel stand fest.

Der Lift kam von unten, wo Marie ausgestiegen war. Tom drückte auf Abwärts, in der Hoffnung, dass Marie schon in ihrem Büro war, und verließ den Korridor. Nach diesem Zwischenfall würde sie nonstop arbeiten, und gnade Gott dem Familienmitglied, das sich in ihr Büro wagte. Tom kannte die Anwandlungen seiner Mutter: Marie arbeitete, wenn sie wütend war, Marie arbeitete, wenn sie durcheinander war, Marie stand völlig grundlos mitten in der Nacht auf, ging in ihr Büro und blieb dort sechsunddreißig, vierzig, fünfzig Stunden, wenn sie in der entsprechenden Laune war, und nichts konnte Tom dazu verleiten, in ihre Nähe zu kommen.

Der Lift blieb stehen. Die Tür öffnete sich. Auf dem unteren Deck stand Marie und wartete auf ihn, an die gegenüberliegende Wand gelehnt, die Arme verschränkt.

»Was hast du ihm gesagt?«

»Nichts. Ehrenwort. Nichts.«

Maries Augen waren grau, schwarz umrahmt und kalt – kalt wie das Herz der Mondgöttin, wenn sie jemanden hasst. Tatsächlich war sie ihrem Sohn nicht immer wohlgesonnen. Zweifellos dachte sie jetzt an die Corinthian, vielleicht sah sie Bowes Gesicht in ihm … er wusste es nicht. Er hatte es nie gewusst. Das war ja das Schlimme.

Jetzt war Austin Bowe also Seniorkapitän der Corinthian. Mischa und Marie hielten sich diesbezüglich stets auf dem Laufenden und zapften dafür auf dem Dock Quellen an, zu denen Tom keinen Zugang hatte, das war klar.

»Ich hab meine Pflicht getan«, sagte Marie. »Ich habe für dieses Schiff gearbeitet. Was denkt er sich dabei, mich so aufs Deck zu zitieren, vor der ganzen verdammten Crew?«

»Ich glaube, er wollte dich nur informieren, ehe es sich anderweitig rumspricht – er konnte nicht …«

»Von wegen er konnte nicht! Er weiß doch, wie der Interkom funktioniert, oder? Wach auf, Marie, oh, übrigens, Marie, könntest du mal zu mir kommen, Marie? Der Teufel soll ihn holen!«

»Tut mir Leid.« Wenn Marie in die Luft ging, war es das Einzige, was man sagen konnte. Jetzt versammelten sich ein paar Teenie-Cousins unten bei der Krankenstation. Wahrscheinlich ein Schockpatient – irgendein Idiot, der bei den Nutripacks gemogelt hatte. Jeder Jugendliche glaubte zu wissen, wann er genug hatte – zumindest einmal im Leben.

»Mischa wird mit dir reden wollen«, sagte Marie. »Ich kenne ihn. Er wird dir all die guten Gründe aufzählen, warum man die arme Marie nicht von Bord lassen kann. Die arme Marie ist einfach zu emotional, um ihren Job angemessen zu erledigen. Marie ist vergewaltigt und halb tot geschlagen worden, während ihre Mutter und ihr Bruder tatenlos rumgesessen und darauf gewartet haben, dass die Stationspolizei eingreift – womöglich rennt sie jetzt runter aufs Dock und geht mit einem Frachthaken auf den Mistkerl los, denn die arme Marie ist einfach nie über diese Lappalie weggekommen. Ich hab beschlossen, dich zu bekommen, weil ich entscheide, was mit mir passiert, aber Mischa traut der armen Marie nicht zu, ihr verdammtes Leben selbst in die Hand zu nehmen! Tja, die arme Marie wird sich in ihr Büro setzen, die Börsenberichte studieren und sehen, ob es eine Möglichkeit gibt, Austin Bowes Schiff auf dem Finanzmarkt kaputtzumachen, ganz legal, denn das ist meine Domäne! Wenn der liebe Mischa dich also zu sich ruft, um dir mitzuteilen, du sollst der armen Marie nachspionieren – natürlich nur dem Schiff zuliebe – dann weißt du ja, was du ihm zu antworten hast.«

»Er hat mich zu sich bestellt.«

»Woher hab ich das nur wieder gewusst? Sag ihm, er soll …« Marie machte den Mund zu. »Nein, sag ihm irgendetwas, sag ihm, was du willst. Aber ich bin nicht verrückt, ich bin nicht zwanghaft. Mutterschaft ist nicht meine Stärke, da hab ich nie jemandem etwas vorgelogen, aber du hast dich ganz gut gemacht.« Sie streckte die Hand aus – als Jugendlicher wäre er jetzt zurückgezuckt – und strich ihm die Haare aus der Stirn. Sein Leben lang hatte sie versucht, seine Haare zu bändigen, aber sie hingen ihm sofort wieder in die Augen. »Richte Mischa von mir aus, dass ich ihn für einen Trottel halte. Es ist lange her, dass ich dir gesagt habe, du sollst den Mistkerl umbringen, der dich gezeugt hat. Das war eine schlimme Zeit, stimmt's? Ich hab Fehler gemacht. Aber aus dir ist trotzdem was geworden.«

Es war das erste Mal, dass Marie so etwas sagte. Sie machte ihm ein Kompliment, und er saugte es auf, obwohl er keine Ahnung hatte, was genau sie damit meinte – wie ein Idiot verstaute er es an der weichen Stelle in seinem Innern, die noch immer das Etikett »Mama« trug. Dabei wusste er ganz genau, dass Marie die Letzte war, die jemals von einem Anfall Mütterlichkeit heimgesucht werden würde. Sie hatte vollkommen recht: Mutterschaft war nicht ihre Stärke. Aber es hatte auch schöne Augenblicke gegeben, gerade genug, dass man sich Hoffnung auf mehr machte, genug, dass man sich genau das wünschte, was Marie nicht zu geben bereit war. Manchmal reichte es aus, um sich vorzumachen, man hätte das, was alle anderen bei der Geburt umsonst kriegten.

Nun verschwand sie in Richtung Büro.

Der Allgemein-Kom plärrte die Ankündigung in die Gegend, dass alle Junioren vernünftig mit ihrem Nutripack umgehen und ihre Ration nach Anweisung und gewissenhaft zu sich nehmen sollten.

Also stimmte es tatsächlich. Irgendein Kid lag auf der Krankenstation und hatte Muskelkrämpfe, an denen er zu sterben glaubte, und dazu entsprechende Kopfschmerzen.

Immer wieder eine neue Generation von Idioten. In jeder Gruppe gab es mindestens einen, der alle Warnungen in den Wind schlug oder das Etikett nicht ordentlich las.

Aber Tom hätte gern mit dem Kerl getauscht – alles war ihm lieber, als sich in Mischas Büro eine Beschwerde über Marie anhören zu müssen. Mischa konnte Marie nicht befehlen, sich hinzusetzen und den Mund zu halten. Warum das so war, wusste Tom nicht genau. Aber etwas, das Marie vorhin gesagt hatte, darüber, dass ihre Mutter und Mischa auf die Stationspolizei gewartet hatten – das war wieder ein Teil in dem Mosaik, das Tom seit Jahren zusammenzusetzen versuchte, manchmal mit richtigen, manchmal mit falschen Teilen. Er passte sie ein und nahm sie wieder heraus, aber man durfte Marie nie zu direkt fragen, sonst hatte man überhaupt keine Chance, je die Wahrheit zu erfahren.

Manchmal bekam man eine Reaktion, die man nicht wollte. Tom wurde immer noch nervös, wenn er sich einen bestimmten Ton in Maries Stimme vorstellte, Einzelheiten in ihrem Gesicht. Gelegentlich schlug sie zu, und man wusste nicht, warum.

Sie war keine gute Mutter – aber trotzdem mochte er Marie, jedenfalls die meiste Zeit über. Hin und wieder musste er sich eingestehen, dass er sie liebte, oder er spielte zumindest mit der Idee, weil es sonst niemanden gab, den er lieben konnte. Seine Großmutter war auf Mariner gestorben. Er erinnerte sich an sie nur noch als ein verschwommenes Gesicht, warme Arme, ein weicher Schoß. Saja … Saja löste ein Besatzungsproblem, indem er seine Seite einnahm. Und Mischa …

Tja, Mischa …

II

»Und wie verkraftet deine Mutter die Situation?«, erkundigte sich Mischa und lehnte sich zurück. Zwischen ihnen stand der Schreibtisch.

Das war eine Falle und zwar eine ziemlich offensichtliche. Ließ Mischa den unteren Korridor überwachen? Spionierte er seiner eigenen Crew, seiner eigenen Verwandtschaft nach?

Vielleicht.

»Ich weiß nicht, Sir. Wir haben miteinander geredet. Sie wollte es.«

»Ach ja.« Mischa schien das nicht zu glauben und starrte Tom ein, zwei Sekunden lang durchdringend an. »Ich weiß nicht, ob sie dir je die Details erzählt hat …«

Reichlich. Viel zu viel, und Tom hatte keine Lust, sich von Mischa alles noch einmal anzuhören. Aber in der letzten Stunde hatte er das eine oder andere erfahren, was er vorher nicht gewusst hatte, nur vom Zuhören. Vielleicht gab es ja eine Chance, noch mehr Puzzleteile zu ergattern.

Er zuckte die Achseln, versuchte sich ein wenig zu beruhigen und wartete.

»Damals sind wir auf Mariner gelandet«, begann Mischa auch schon zu erzählen. »Genau wie jetzt lag die Corinthian am Dock. Außerdem noch zehn andere Schiffe. Es war mitten im Krieg, die Stationen waren nervös, man wusste nie, zu welcher Seite das Schiff neben einem gehörte. Die Corinthian war sehr verdächtig, weil sie reich war und die Crew das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinauswarf. Alles roch nach Mazianni-Verrat, aber man konnte ihnen nichts nachweisen. Aber wir waren jedenfalls vorsichtig. Und meine Schwester …« Mischa schaukelte auf seinem Stuhl zurück und runzelte die Stirn. »Austin Bowe ist ein Teufel. Hundert Prozent. Marie war siebzehn, ein süßes, fröhliches Mädchen – und damals wusste niemand, wer sauber war und wer nicht. Man blieb in der Nähe der Familie, und im Schlafheim vertraute man sich einem Fremden möglichst wenig an. Das war die vorherrschende Atmosphäre. Marie war zum ersten Mal auf dem Dock unterwegs, noch nicht sicher, ob sie es tun wollte. Aber sie hielt die Augen offen. ›Bleib in der Nähe der Familie‹, sagte Mama. ›Halt dich an deine Cousins.‹ Zwei Schiffe im Hafen kannten wir sehr gut. Wir – Saja und ich – versuchten, Marie mit einem echt netten Kerl von der Madrigal zusammenzubringen. Wir arrangierten ein Treffen, mit ein paar Mitgliedern ihrer Crew in einer Bar, aber Marie verkrümelte sich. Sie wollte nicht mit uns gehen, auf gar keinen Fall. Also warteten wir. Ein Drink, zwei Drinks. Marie kannte den Namen der Bar, sie hatte ihren Taschenkom dabei. Aber sie antwortete nicht, als ich sie anpiepte, und da begann ich mir echt Sorgen zu machen. Ich war dumm – Saja sagte immer wieder, wir sollten anrufen, aber ich war sicher, dass ich Marie durchschaut hatte – sie wollte nichts mit einem Jungen anfangen, den ihr Bruder ausgesucht hatte, o nein, Marie entschied so etwas selbst, aber Heston – er war damals Kapitän – würde sie umbringen, verstehst du, was ich meine? Also deckte ich sie. Ich dachte, sie wäre bestimmt nicht weit weg. Wieder falsch geraten. Wir fingen an zu suchen, von einer Bar zur nächsten, möglichst unauffällig, um keinen Alarm auszulösen. Aber dann kriegten wir einen Anruf vom Schiff. Sie hatten eine Nachricht über den Stations-Kom erhalten, einmal um den Rand von Mariner herum: Marie ist in Schwierigkeiten, in irgendeinem Schlafheim, dessen Namen sie nicht kennt, sie weint und hat Angst.«

Marie weinte nicht. Tom hatte sie nie weinen sehen. Die Frau, von der Mischa ihm erzählte, war eine Unbekannte. Bisher konnte er Mischa keinen Vorwurf machen wegen dem, was er getan hatte.

»Später rekonstruierten wir den Gang der Ereignisse folgendermaßen«, fuhr Mischa fort. »Deine Mutter ist auf einen Fußgängerbus aufgesprungen, der an uns vorbeikam. So ist sie uns durch die Lappen gegangen. Sie war im blauen Sektor gelandet – wir befanden uns in Grün –, in einer etwas teureren Gegend, keine schlechte Wahl, wenn man ein bisschen Trubel sucht, und da spaziert sie nun herum, eine Wildfremde, groß, gut aussehend, geheimnisvoll, die ganze romantische Palette … Ein Junioroffizier von der Corinthian hat sie ordentlich abgefüllt und zu sich ins Bett gelotst, aber dann wurde es ihr doch zu wild und zu bedrohlich, damit konnte sie nicht umgehen. Sie hat es mit der Angst zu tun gekriegt. Aber der Kerl hatte den Schlüssel, Fehler Nummer zwei. Mama – deine Großmutter – nahm den Kom-Anruf entgegen. Als die Nachricht bei mir landete, waren Mama und Heston schon unterwegs nach Blau und hatten auch schon die Cops alarmiert. Wenigstens war Marie so geistesgegenwärtig gewesen, sich zu merken, dass der Knabe von der Corinthian stammte. Also riefen die Cops auf der Corinthian an, und dort benachrichtigte man wahrscheinlich Bowe – aber Bowe war der Sohn des Seniorkapitäns der Corinthian, deshalb war man auf der Corinthian nicht gerade scharf darauf, ihn verhaften zu lassen, und die Station war auch nicht darauf erpicht, sich unnötig mit einem Schiff anzulegen. Es gab damals oft Versorgungsengpässe, die Stationen hatten Angst, boykottiert zu werden, die Regierung hatte rein gar nichts unter Kontrolle, und deshalb machte man sich lieber vor, dass es sich um einen ganz ordinären Krach im Schlafheim handelte. Bowe nahm deiner Mutter also den Kom ab, wir kriegten keine Anrufe mehr. Von der Corinthian hielt man natürlich den Kontakt mit Bowe aufrecht, aber wir wussten immer noch nicht, in welchem Schlafheim Marie sich aufhielt – nur die Crew der Corinthian wusste es. Sie hatten die Bar besetzt, vielleicht hatten sie vor, ihren Offizier rauszuholen und aufs Schiff zurückzubringen, vielleicht wollten sie Marie mitnehmen – wir hatten keine Ahnung. Über Stations-Kom war keine Information zu kriegen, die Polizei verriet uns weder, was sie von der Corinthian noch was sie von Bowe erfahren hatte, und ohne Stationsvermittlung brach unsere Verbindung ständig zusammen. Inzwischen hatten wir allerdings keinen Zweifel mehr daran, wo Marie steckte. Ich war auf der Direktverbindung der Station und versuchte, den Stationsleiter zu erreichen, damit er die Polizei in Bewegung setzte, aber niemand wollte ihn wecken. Der Wechseltags-Stationsleiter war ein Esel und wollte partout ein Verhandlungsteam losschicken. Unterdessen gingen Heston und Mama und ein paar andere Crewmitglieder in die Bar, um nach Marie zu forschen. Die Besatzung der Corinthian hatte einiges intus, du kannst dir das wahrscheinlich vorstellen. Ein Wort gab das andere, und schon gerieten sie aneinander. Einem Besatzungsmitglied der Corinthian wurde mit einem Barstuhl der Arm gebrochen, die Stationscops mischten sich ein, aber sie bekamen die Tür nicht auf. Als wir den Haupttags-Stationsleiter endlich aus dem Bett holten, war ein Cop im Krankenhaus, sechs deiner zukünftigen Cousins lagen auf unserer Krankenstation, ungefähr gleich viele Besatzungsmitglieder der Corinthian lagen blutend auf dem Deck, und es stand unentschieden. Die Sektionstore der Station waren geschlossen worden.«

Tore, so groß wie manche Schiffe. So etwas machten Stationen einfach nicht. Jedenfalls seit dem Krieg nicht mehr.

»Jetzt riefen beide Schiffe ihre Crew zusammen, holten sie überall von den Docks«, erzählte Mischa weiter. »Die Stationszentrale weigerte sich, Anrufe weiterzuleiten, man drohte, die Crews der Corinthian und der Sprite vom Fleck weg zu verhaften. Die Crews der Madrigal und der Pearl versteckten ein paar von unseren Jungs vor den Cops. Ich war in der blauen Sektion mit ungefähr fünfzig Besatzungsmitgliedern. Leider dockte die Corinthian direkt neben Blau. In der Bar hatten sich mindestens fünfzig von ihnen verkrochen, ungefähr weitere fünfzig waren an Deck, in Blau etwa genau so viele Stationscops und Sicherheitsleute, einige Hundert von unserer und von ihrer Crew und dazu noch die Cops, die zwischen den Sektionen festsaßen und nicht rauskamen. Achtundvierzig Stunden später erklärte sich die Station zu einer Totalamnestie bereit, wir bekamen Marie, die Corinthian bekam Bowe und den Rest ihrer Besatzung, die Versicherung des Barbesitzers und die Stationsverwaltung teilten sich die Rechnung. Wir einigten uns darauf, von nun an verschiedene Routen zu nehmen, damit wir nicht wieder im selben Dock aufkreuzten, und nach einigen Verwicklungen landeten wir dann bei der Union. Und deine Mutter war schwanger. So lässt sich die Geschichte ungefähr zusammenfassen.«

Mischa legte eine Pause ein, wahrscheinlich wartete er darauf, dass Tom etwas sagte. Der nahm schließlich allen Mut zusammen und stellte eine Frage, die er Marie nicht stellen konnte.

»War Austin Bowe der Einzige?«

»Nach dem, was Marie uns gesagt hat, ja.«

»Nach dem, was sie euch gesagt hat?«

»Der Sohn des Kapitäns steckte ja in einer üblen Zwickmühle, und er wusste, dass Marie seine beste Verhandlungsgrundlage war. Wenn die Corinthian ohne Geldstrafe aus der Sache rauskommen wollte, mussten sie Marie möglichst unversehrt freilassen, das war ihre einzige Chance. So kam sie denn auch aus dem Schlafheim marschiert. Mit blutender Lippe und blauen Flecken. Sie wollte sich nicht behandeln lassen, weder von der Station noch von uns. Die nächsten zwölf Stunden hielt sie sich ziemlich wacker. Sie nahm die üblichen Sprungdrogen …«

Auf einmal hatte Tom ein ganz abscheuliches Bild vor Augen, klar und deutlich. »Ihr habt sie mit in den Sprung genommen?«

»Wir hatten uns bereit erklärt, den Hafen zu verlassen.«

»Aber Marie hatte nichts verbrochen!«

»Auf der Station musste man mit einem Aufstand fertig werden, man wollte uns loswerden. Marie wollte den Hafen so schnell wie möglich verlassen. Medical gab grünes Licht und meinte, sie wäre so weit in Ordnung.«

»Mein Gott.«

»Damals waren die Kanonen geladen, die ganze Zeit. Heston wollte weg, sobald die Corinthian gesprungen war. Wir waren nicht sicher, ob sie Spione waren, wir wollten nicht, dass sie Informationen an andere Spione weitergaben, die womöglich draußen in der Finsternis auf der Lauer lagen – das war damals so üblich, sie lauerten an den Grenzen und fingen einen am Sprungpunkt ab – sie hatten ja kaum Gewicht an Bord. Da draußen konnten sie einen kalt erwischen. Und dann war man tot. Wir streiften den Sprungpunkt nur und machten dann, dass wir nach Fargone kamen. Es war keine einfache Reise. Wir haben uns mächtig ins Zeug gelegt. Damals zögerte man nicht lange, man ging Risiken ein, die Alternativen waren alle nicht besonders. Es war nicht wie heute, Thomas. Es gab keine Sicherheit. Wenn man draußen in der Dunkelheit war, dann gab es kein Gesetz, keinen Schutz. Wir hatten einfach keine andere Wahl.«

»Es ist ein Wunder, dass sie nicht verrückter ist …« Tom brach ab, ehe er noch mehr Unsinn von sich geben konnte, aber Mischa sagte:

»Ja, es ist ein Wunder, dass sie nicht noch verrückter ist. Ich weiß. Du meinst vielleicht, ich sehe das nicht. Aber ich kenne sie von früher.«

»Warum hat denn niemand eine Abtreibung angeordnet? Ich meine, macht Medical das nicht normalerweise in einem solchen Fall?«

»Auf diesem Schiff ordnet ein Kapitän so etwas niemals an. Deine Mutter meinte, wenn sie schwanger wäre, könnte sie damit umgehen, sie wollte …«

»Was wollte sie?«

Mischa hatte seine Antwort nicht vollendet, denn er hatte schon zu viel gesagt. Vor allem über ihn, Tom. Aber wenn er jetzt nachhakte, sagte Mischa vielleicht gar nichts mehr.

»Sie hat gesagt, es sei ihre Entscheidung«, meinte Mischa. »Sie ließ keinen an sich ran. Ich will dir mal was sagen, Tom. Es hat nie ein anderes Schlafheim gegeben. Keine Männer. Sie will keine Hilfe. Deine Tante Lydia hat formale Psychologie studiert – speziell im Gedanken an Marie. Hat nie das kleinste Bisschen damit erreicht. Marie kommt wirklich sehr gut zurecht, sie tut, was sie will, und sie macht ihre Arbeit hervorragend. Sie wollte keine pränatalen Tests, sie wollte keinen Rat, sie hat dich um ein Haar allein in ihrem Quartier zur Welt gebracht. Erst im letzten Moment hat deine Großmutter gemerkt, dass sie Wehen hatte. Marie war absolut überzeugt, du würdest ein Mädchen, und als sie dich geboren hatte und sah, dass du ein Junge bist, wollte sie dich erst einmal gar nicht ansehen, wollte dich nicht nehmen, nicht im Arm halten, drei Tage lang. Dann, auf einmal, hat sie es sich anders überlegt. Plötzlich hieß es: ›Wo ist mein Sohn?‹ Und deine Tante Lydia erzählt mir irgendeinen Humbug über postnatale Depressionen und dass es eine traumatische Niederkunft war und sonst noch einen Haufen psychologischen Quatsch, aber ich kenne meine Schwester, ich kenne ihren Gesichtsausdruck, ich bin nicht blind, Tom. Ich habe so gehofft, sie würde dich in die Kinderzimmer geben. Das tat sie auch, aber erst, als sie gemerkt hat, dass sie Windeln wirklich hasste und nachts gar nicht gern ständig geweckt wurde. Ich war nicht dafür, als sie dich zu sich zurückgeholt hat. Ich war sogar strikt dagegen, aber deine Großmutter hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Marie sich wieder einkriegt, sich sozusagen mit der Situation aussöhnt … keine Chance. Ich hab dich und sie beobachtet, sehr sorgfältig. Mama auch. Ich weiß nicht, ob du etwas davon gemerkt hast.«

Marie hatte oft Ohrfeigen verteilt. Manchmal hatte Tom keine Ahnung gehabt, warum. Er wusste nie, warum seine Mama tat, was sie tat, auch nicht, warum sie ihn im einen Moment schlug und im nächsten umarmte. Marie hatte ihm nie erklären können, was sie so wütend machte. Nenn mich Marie, nicht Mama, das war die erste Lektion, die sie ihm beibrachte. Marie war seine Mutter und schließlich nahm sie ihn mit nach Hause in ihr Quartier wie die Mütter der anderen Kinder – aber wenn er sie auf die Palme brachte oder gar Mama zu ihr sagte, dann brachte sie ihn zurück und die anderen Kinder wussten Bescheid, was los war …

Dieser Prozedur hatte sie ihn mehrmals ausgesetzt.

»Hast du es gemerkt?«, fragte Mischa, aber Tom hatte vergessen, was sein Onkel gerade gesagt hatte.

»Tut mir Leid, ich hab den Faden verloren.«

Ein langes Schweigen trat ein, eine lange Stille im Büro des Kapitäns. Er saß vor dem Schreibtisch wie ein Teenager, den man herzitiert hat, weil er durchgebrannt ist oder sich unbefugt in verbotene Sphären eingeschlichen hatte. Zum Teufel mit Mischa. Tom hatte geglaubt zu verstehen, er hatte geglaubt, Marie hätte Recht. Jetzt wusste er nicht mehr, wer gelogen hatte und was die Wahrheit war. Ob Mischa nicht vielleicht doch ein Mistkerl war.

»Ich kann nicht über Marie bestimmen«, sagte Mischa. »Deine Großmutter hätte das vielleicht gekonnt, aber sie ist nicht mehr da. Ich hab mit ihr gesprochen. Ma'am hat mit ihr gesprochen. Deine Tante Lydia hat mit ihr gesprochen. Du tust dem Jungen weh, Marie, hat sie gesagt, er ist zu jung, er versteht das noch nicht, er weiß nicht, warum du so wütend auf ihn bist, lass ihn damit in Ruhe, Marie. Hat alles nichts geholfen. Marie ist nicht mehr das Mädchen aus dem Schlafheim. Klar, dass sie ihren Groll mit sich herumträgt. Aber doch nicht …«

Wieder ein unvollendeter Satz. Vielleicht erwartete Mischa, dass Tom ihn vollendete. Er wusste es nicht. Aber er hatte immer noch eine Frage.

»Warum hat sie nicht abgetrieben? Was wollte sie, was hättest du mir vorhin beinahe gesagt?«

Die Frage behagte Mischa nicht, ganz eindeutig.

»Tom, hat sie dir gegenüber je erwähnt, dass sie Austin Bowe umbringen will?«

»Ja, manchmal schon. Aber in letzter Zeit nicht mehr. Seit ich ausgezogen bin und allein wohne.«

»Hat sie jemals etwas … – es fällt mir wirklich schwer, es auszusprechen – etwas Unschickliches getan oder angedeutet?«

»Mit mir?« Tom war entsetzt. Aber er begriff, warum Mischa das fragte. »Nein, Sir. Absolut nicht.«

»Die Antwort auf deine Frage lautet: Sie hat gesagt … sie wollte Austin Bowes Baby. Deshalb wollte sie nicht abtreiben.«

Es traf ihn wie ein Schlag. Da saß er nun auf seinem Stuhl und wusste weder, was er sagen, noch, was er denken sollte.

Vor gerade mal einer Stunde hatte Marie ihm gesagt, dass sie ihn behalten hatte, weil sie über ihr Leben entschied. Weil sie eigensinnig war. Das war Marie, wie sie leibte und lebte. Das konnte er glauben.

Aber er konnte – nachdem er nun die ganzen Zusammenhänge kannte – den anderen Grund beinahe auch glauben. Vorausgesetzt, er vertraute Mischa. Und während er seinem Onkel zuhörte, glaubte er ihm. Allerdings vielleicht nur, bis Marie ihm etwas Stichhaltiges erzählte, was das Gegenteil bewies.

»Sie wollte das Baby«, sagte er. »Und warum, Sir?«

»Ich kann nicht in Maries Kopf sehen. Sie hat es gesagt. Es hat mir höllisch Angst gemacht. Es kam nur einmal zur Sprache. Ehe wir aus Mariner gesprungen sind. Offen gestanden – ich hab es deiner Großmutter nicht erzählt, sie hätte sich nur aufgeregt. Ich hab auch Lydia nichts davon gesagt, ich wollte nicht, dass das ganze Schiff davon erfährt, und Lydia ist nicht – nicht das, was man diskret nennt. Ich wusste nicht mal, ob es so stimmte, wie ich es verstanden hatte. Marie war durch die Hölle gegangen, sie hat es nie wiederholt, in keiner Form – manchmal sagt man so etwas in der Hitze des Augenblicks und meint es später nicht mehr genau so.«

»Hast du Marie denn danach gefragt?«

Mischa schüttelte nur den Kopf.

»Scheiße.«

»Thomas, frag du sie bloß nicht. Sie und ich, wir haben unsere Probleme. Sorgen wir einfach nur dafür, dass deine Mutter die nächste Woche vernünftig übersteht, mehr will ich ja gar nicht.«

»Du wirfst mir erst so was an den Kopf, und dann sagst du … ich soll nicht nachfragen?«

»Du wolltest es wissen.«

Tom hatte das Gefühl … er war nicht sicher. Er wusste nicht, wer hier log, ob Marie sich selbst etwas vormachte oder ob Mischa ihn absichtlich in die Enge trieb, damit er nicht zu Marie gehen, sich nicht nach ihrer Seite der Geschichte erkundigen konnte.

»Was soll ich tun?«

»Hat sie – vorhin, da unten – davon gesprochen, jemanden umzubringen?«

»Sie hat gesagt – sie hat gesagt, sie will ihm über den Börsenmarkt an den Kragen. Legal.«

»Glaubst du, das stimmt?«

»Ich glaube, sie versteht was vom Börsenhandel. Ich glaube – ja, ich glaube, in dieser Hinsicht gibt es schon Grund zur Sorge.«

»Dass sie etwas Illegales abzieht? Uns schadet?«

Wenn Mischas Version von Marie korrekt war – ja, dann konnte es gefährlich werden. Die andere Art von Gefahr konnte er nicht einschätzen, er konnte nicht beurteilen, ob sie wirklich nicht mit einem Frachthaken auf jemanden losgehen würde, er hätte nicht schwören können, dass das nicht ihrem Stil entsprach. Ein Frachthaken war Maries Phantasie entsprungen. Tom wäre nicht auf so eine Idee gekommen.

»Was wirst du jetzt unternehmen?«, fragte er Mischa.

»Ich werde Jim Zwei darauf ansetzen – er soll den Börsenhandel der Corinthian beobachten, jede ihrer Aktionen, jede Sekunde. Und du begleitest deine Mutter, wenn sie rausgeht auf die Docks. Und dass du mir dabei immer daran denkst, was sie mit mir und Saja abgezogen hat. Du darfst sie keine Sekunde aus den Augen lassen.«

»Aber du sperrst sie nicht an Bord ein.«

»Es ist ein Risiko. Maries Risiko. Wie gesagt, seit der Sache sind inzwischen vierzig Stationsjahre vergangen, wahrscheinlich hat man auf Viking keine Ahnung, dass es ein Problem gibt – aber Schiffe verbreiten solche Geschichten gern. Irgendjemand da draußen weiß Bescheid. Die Corinthian hat die Geschichte jedenfalls bestimmt nicht vergessen und ich kann nur hoffen, dass Bowe nicht genauso verrückt ist wie Marie. Er hat keinen guten Ruf, und die Corinthian treibt sich immer noch in den dunklen Winkeln des Universums herum – ich bin ihm zu recht in den ganzen Jahren auf den Fersen geblieben. Sicher möchte er vermeiden, dass irgendwo jemand seine Geschäfte allzu genau unter die Lupe nimmt. Wenn er klug ist – und ich habe nie gehört, dass er dumm wäre –, dann wird er Gründe finden, seine Geschäfte hier schnell abzuschließen und zu verschwinden. Ich kann dir sagen, es macht mich ziemlich nervös, dass wir den Hafen verlassen müssen, während er irgendwo sein Unwesen treibt – Nervenkrieg, wie gehabt. Aber ich kann nichts anderes tun. Wir haben Ware abzuladen, wir müssen das Schiff warten, wir können nicht einfach umdrehen und das Weite suchen.«

»Hältst du es wirklich für möglich, dass er auf uns feuert, jetzt, unter den heutigen Bedingungen?«

»Er hat im Krieg bestimmt keine zusätzlichen Skrupel erworben. Natürlich würde er das tun, wenn es seinen Zwecken diente. Und falls er Marie nicht als gefährliche Feindin abgestempelt hat, dann hat er ihre Nachrichten in den letzten Jahren nicht bekommen.«

»Sie hatte Kontakt mit ihm?«

»Anfangs hat sie ihm mitgeteilt, dass sie ihn sucht. Dass sie ihn umbringen will. Sie hat Besatzungsleute, die in seinen Häfen anlegen, Botschaften übermitteln lassen. Hat in den Stationsdaten Nachrichten für ihn hinterlassen. Ganz nebenbei.«

»Herr des Himmels.«

»Ein gefährliches Spiel. Verdammt gefährlich. Ich hab ihr die Meinung gesagt. Ich hab ihr auseinander gesetzt, dass sie das Schiff ihn Gefahr bringt, und Heston über ihre Machenschaften informiert. Aber es ist schwierig, Marie an etwas zu hindern, wenn sie sich einmal was in den Kopf gesetzt hat. Ich glaube nicht, dass sie sich danach zurückgehalten hat.«

»Und ich soll sie also ernsthaft im Auge behalten?«

»Du kannst das besser als sonst jemand. Stell dich auf ihre Seite. Es gibt sonst keinen, dem sie sich anvertraut.«

ENDE DER LESEPROBE