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Fünf Tage für Detective Horseman: Um einen Mord aufzuklären und seine Beziehung zu retten Schon wieder ein Mord. Und das genau jetzt, wo Kommissar Horseman endlich Besuch von Melissa bekommt. Er hat genau fünf Tage Zeit, um den Fall zu lösen – und um seine Beziehung zu retten. Die Bewohner von Tanoa lieben die Abgeschiedenheit und die traditionelle Lebensweise im Hinterland der Fidschi-Insel Viti Levu. Doch dann rüttelt ein Mord die Gemeinde auf. Ein junger Mann liegt tot in der Dorfkirche. Er wurde mit einer traditionellen Zeremoniekeule erschlagen. Viliame war ein Außenseiter, der mit seinen Ideen zur Modernisierung des Dorfes, nicht nur auf Gegenliebe gestoßen ist. Joe Horseman übernimmt die Ermittlungen. Doch die Gemeinschaft ist verschlossen und Horseman gerät ganz schön unter Druck.
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Seitenzahl: 435
Veröffentlichungsjahr: 2022
B. M. Allsopp
Tropische Vergeltung
Ein Fidschi-Inseln-Krimi
Aus dem Englischen von Marie Rahn
Atlantik
Für alle Einwohner der Fidschi-Inseln
Anmerkung der Autorin:
Das Dorf Tanoa ist frei erfunden, ebenso die Inseln Paradise
und Delanarua. Alles andere auf dieser Karte existiert, aber fast
dreihundert ausnehmend schöne kleine Inseln fehlen.
Viliame nutzte sein Handy als Taschenlampe, um den Weg vor sich zu beleuchten. Zwar gab es in Tanoa keinen Empfang, aber so lange der Akku reichte, hatte er zumindest Licht. Kelera hatte den Gewürzgarten über den oberen Pfad verlassen und sollte mittlerweile zu Hause sein. In der kühler werdenden Nachtluft spürte er immer noch ihre heiße Umarmung. Es rührte ihn, dass sie ihm zuliebe ihre Eltern belog. Sie verdiente etwas Besseres als ihn: jemanden, der sie liebte. Aber wenigstens vor dem Dorfklatsch wollte er sie bewahren. Also hatte er eine Weile gewartet, bis er den Weg einschlug, der zuerst am Muskatnusswäldchen vorbei- und dann zum Dorf hinabführte. Von Suva aus musste er eine ziemliche Fahrt auf sich nehmen, wenn er samstags nach Tanoa kam: erst zwei Stunden mit dem Bus und dann mit irgendeinem Lieferwagen vom Markt aus weiter – wenn er Glück hatte. Wenn nicht, musste er zwei weitere Stunden bergauf in die Siedlung hoch über der Flussbiegung wandern. Sonntags ging es nach dem Mittagessen dann wieder zurück nach Suva. Dennoch blieb ihm genug Zeit, um Einfluss zu gewinnen. Selbst einige der älteren Dorfbewohner nahmen langsam Notiz von ihm und fragten ihn sogar nach seiner Meinung; natürlich nicht zu Dorfangelegenheiten, aber zu Dingen, die jenseits der Ortsgrenzen lagen. Zwar hegten sie Argwohn und Zweifel gegenüber der modernen Welt, waren jedoch gleichzeitig davon fasziniert. Sie waren zäh und abgehärtet, doch immer mehr würden wenigstens ein Minimum an Komfort und Annehmlichkeiten begrüßen. Und Elektrizität stand dabei ganz oben auf der Liste.
Er betrat das Brachland, das dicht mit Lantana und Ackerwinden bewachsen war. Als er die Blätter streifte, stieg ihm ein durchdringender Geruch in die Nase. Wieso rupften die Bauern dieses Unkraut nicht sofort samt Wurzel aus, sobald es sich zeigte, anstatt hilflos mit den Schultern zu zucken, wenn es alles zuwucherte? Aber das war nur eines der vielen Dinge, die ihn an der lethargischen Mentalität der Inselbewohner so frustrierten.
Als der Pfad breiter wurde, hörte er links von sich etwas rascheln. Er leuchtete mit der schwächer werdenden Lampe in die Richtung, sah aber nichts. Wahrscheinlich war es ein Mungo, der im Schutz des Dickichts in seinen Bau zurückhuschte. Also, das war mal ein Wesen mit Energie und Zielstrebigkeit! Würden die Dorfbewohner sich davon eine Scheibe abschneiden, sähe ihr Leben ganz anders aus.
Neben ihm knackte ein trockener Zweig. Er drehte sich um, und das schwache Licht des Handys fiel auf ein bekanntes Gesicht. »Was …«
Da krachte schon die Waffe gegen Viliames Kopf, und sein Körper sackte durch das Gestrüpp auf den Boden.
Detective Inspector Josefa Horseman beobachtete mit wachsender Sorge das Spiel. Das erste Match der Suva Shiners lief nicht, wie es sollte. Es war Pech, dass sie als Erstes gegen die Marist Brothers High School antreten mussten, eine der stärksten Rugbymannschaften im ganzen Schulbezirk. Keiner der Shiners hatte es auf die Highshool geschafft; die meisten von ihnen schlugen sich mit dem durchs Leben, was sie als Schuhputzer auf den Straßen von Suva verdienten. Disziplin hatten sie nicht gelernt, daher hatten sie dem Angriff der Marists wenig entgegenzusetzen. Und das war nur der psychologische Aspekt.
Ein weiterer war ihr körperlicher Zustand: Die meisten von ihnen waren so unterernährt, dass ihre abrupt wachsenden Teenagerknochen sich unter ihrer Haut abzeichneten. Neben Horseman stand Dr. Pillai, der ihn während der letzten vier Monate tatkräftig beim Training unterstützt hatte, und blickte ihn jetzt mit zusammengezogenen Augenbrauen besorgt an.
»Wegen Mosese hatte ich wirklich Bedenken, Joe. Sieh ihn doch nur an!« Er zeigte auf einen schlaksigen Jungen, der sich keuchend auf seine Knie stützte.
Horseman warf einen Blick auf seine Uhr. »Noch vier Minuten bis zur Halbzeitpause. Schafft er das, oder willst du ihn auswechseln?«
Als Mosese bemerkte, dass über ihn geredet wurde, richtete er sich auf und zeigte ihnen seine gereckten Daumen.
»Meine Güte, dieser Junge würde die vier Minuten schon mit reiner Willenskraft überstehen«, antwortete Dr. Pillai. »Sieh mal, die Stürmer bilden tatsächlich so was wie eine Linie. Mosese!«, brüllte er, »in eine Reihe!«
Es war wie ein Wunder: Vor Horsemans Augen wurde das oft geübte Manöver vollzogen. Der dürre Tevita stürzte sich auf den stämmigeren Gegenspieler, der daraufhin das Gleichgewicht verlor. Im Fallen rutschte ihm der Ball aus den Händen, Pita schnappte sich ihn, raste übers Feld und gab ihn an Simeone weiter, als ein Marist ihn stellte. Die Stürmer blieben auf einer Höhe mit Simeone, der den Ball an Livai weitergab, unmittelbar bevor sich zwei Marists auf ihn warfen. Livai ließ ihn fast fallen, schaffte es aber irgendwie, ihn festzuhalten, und rannte wie der Wind los. Plötzlich hatte der Mannschaftsclown alle Marists hinter sich, doch kurz vor der Linie blieb er abrupt stehen und legte den Ball ganz sanft auf das gegnerische Malfeld. Triumphierend jubelten die Shiners auf, wurden an Lautstärke aber noch von Horseman und Dr. Pillai übertroffen. Auch wenn die Marists schon drei Versuche und drei Goals geschafft hatten, war dies der erste Versuch der Shiners. Der allererste! Der Schiedsrichter pfiff ab. Konnte Paula, der beste Kicker der Shiners, die Chance auf zwei weitere Punkte verwandeln? Ja, der Ball segelte durch die Pfosten. Der noch lautere Jubel wurde vom Abpfiff zur Halbzeitpause übertönt.
Dr. Pillai rannte zum Sammelplatz der Mannschaft hinter der Seitenlinie. Die Jungen begrüßten ihn brüllend, die Reservespieler verteilten Wasserflaschen und Bananen.
Begeistert humpelte Horseman Dr. Pillai nach. Vier Monate zuvor war sein Knie bei einer Ermittlung in Mitleidenschaft gezogen worden. Dabei hatte es sich gerade erst langsam von einer Operation erholt, die nach einer Verletzung, die sich Horseman als Nationalspieler für Fidschi Rugby zugezogen hatte, nötig war. Jedoch musste er mittlerweile weder an Krücken noch am Stock gehen. Schon bald würde er wieder für die Polizei antreten, vielleicht sogar in der Nationalmannschaft. Allerdings wusste er, dass die meisten daran zweifelten und glaubten, er wäre für immer aus dem Spiel.
Während der Pause erläuterte Horseman die Taktik für die zweite Hälfte des Matchs. Dann pfiff der Schiedsrichter, warf den Ball ein, und das Spiel ging weiter. Da vibrierte Horsemans Handy in seiner Tasche. Verdammt, er hatte vergessen, es abzustellen! Eine Unterbrechung kam jetzt gar nicht infrage! Es war Sonntag, er hatte dienstfrei, und es war das erste Match der Shiners. Andererseits war es vielleicht seine Mutter oder eine seiner Schwestern. Besser, er sah doch mal nach.
Horseman bereute seine Entscheidung, kaum dass er Detective Superintendent Navalas Namen auf dem Display erkannte.
»Bula, hallo, Sir.«
»Bula, Joe. Ich fürchte, ich habe schlechte Neuigkeiten. In den Bergen, genauer gesagt im Dorf Tanoa, gab es einen Mord. Ein junger Mann wurde vor dem morgendlichen Gottesdienst tot in der Kirche aufgefunden. Viliame Bovoro. Erschlagen. Laut Dr. Tavua in Nausori ist die Sache ganz klar ein Mord. Sie leiten die Untersuchung.«
»Ich, Sir? Aber Tanoa gehört doch zum Distrikt Korovou.«
»Eigentlich ja, Joe. Aber der dortige Inspector ist im Urlaub, und ansonsten gibt es nur noch einen Sergeant. Sie haben einfach nicht das nötige Personal. Außerdem wohnt Viliame, das Opfer, eigentlich in Suva. Er war übers Wochenende in sein Heimatdorf zurückgekehrt. Sie glauben vielleicht, auch wir hätten Personalmangel, aber wir sind der bestausgestattete Distrikt in Fidschi. Also sollten wir großzügig sein und unsere Hilfe anbieten.«
»Io, Sir, verstehe.«
»Begeben Sie sich so schnell wie möglich aufs Revier. Heute ist es schon zu spät, um noch ein Team hoch ins Dorf zu schicken. Leider. Aber Viliames Leiche ist auf dem Weg nach Suva. Schreckliche Angelegenheit. Seine Familie … furchtbar.«
»Io, Sir. Eine Schande, dass man ihn nicht dort lassen konnte.«
»Diese Entscheidung hat Dr. Tavua getroffen. Er hatte wohl seine Gründe. Aber wir bekommen Fotos vom Tatort.«
»Ist gut. Ich kann in einer Dreiviertelstunde da sein. Reicht das?«
»Sicher, so lange brauche ich auch.«
»Sir, haben Sie sich schon überlegt, wer alles zum Team gehören soll? Ich frage mich, ob Detective Sergeant Singh wohl zur Verfügung steht.«
»Daran hatte ich auch schon gedacht, Joe. Ich sehe mal, was sich machen lässt.«
Danach verdrängte Horseman das Telefongespräch und richtete seine Aufmerksamkeit auf die zweite Spielhälfte. Die Shiners zeigten mehr Mut, erzielten ein Penalty Goal und zehn Minuten später noch einen try, einen Versuch. Danach dominierten die Marists das Spiel, weil sie fitter, größer und erfahrener waren. In den letzten fünf Minuten gaben die Shiners wirklich noch mal alles, konnten die Marists aber nicht davon abhalten, immer mehr Punkte einzuheimsen. Horseman bekam einen Kloß im Hals, als er sah, dass diese Straßenkinder wirklich an ihre Grenzen gingen. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Auf gar keinen Fall konnte er gehen, ohne mit den Jungen geredet zu haben, auch wenn er dadurch zu spät zur Einsatzbesprechung mit dem Superintendent kam.
Schließlich drängten sich die jungen Spieler erschöpft, doch mit erwartungsvoller Miene um ihn. »Shiners, ich bin unheimlich stolz auf euch. Dies war euer erstes richtiges Spiel, und euch sind zwei Versuche gegen die Marists geglückt, gegen die stärkste Mannschaft eurer Altersklasse!«
»Aber wir haben verloren, Joe«, erwiderte Tevita düster. »Gegen die Marists hatten wir keine Chance.« Die anderen stimmten murmelnd zu.
»Tevita, wir haben die zwei Versuche, auf denen wir aufbauen können. Seht euch doch den Trainer der Marists an: Er staucht die Mannschaft zusammen!«
Tevita stand auf, um einen Blick auf die im Halbkreis aufgestellten Jungen zu werfen, und grinste, weil sie die Köpfe hängen ließen, während ihr Trainer lautstark herumwetterte.
»Er dachte, ihr würdet nicht einen einzigen Punkt schaffen«, erklärte Horseman lächelnd. »Freut euch, Jungs, ihr habt euch gut geschlagen. Feiern wir die ersten Goals und Versuche der Shiners. Ein dreifaches Hurra auf euch, ihr habt es verdient. Hipp, hipp …«
Ihr erster Jubel war gedämpft, der zweite schon überzeugender, und beim dritten vergaßen die Jungen ihre Enttäuschung und brüllten begeistert los.
»Shiners, als Trainer hat man das besondere Vergnügen, den Man of the Match zu bestimmen«, fuhr Horseman fort, »Heute ist es Livai, der beide Versuche erzielt hat, die allerersten für die Shiners. Livai, zur Anerkennung möchte ich dir die Hand schütteln.«
Livai trat vor, verbeugte sich und ergriff Horsemans Hand. »Ein dreifaches Hurra auf unseren Trainer, Shiners!«, rief er. Darauf ertönte ohrenbetäubender Jubel, der erst verstummte, als der Geruch von Grillwürstchen in ihre Nasen stieg.
»Dr. Pillai hat heute was Besonderes zum Essen vorgesehen, Shiners. Haut rein!«, verkündete Horseman. Als die Jungen wieder vor Begeisterung johlten, hob Dr. Pillai grinsend die Hände.
Es gab ein regelrechtes Wettrennen zu dem neben der Tribüne aufgestellten Grill, an dem Detective Constable Tanielo Musudroka Würstchen wendete, während zwei andere Freiwillige von der Polizei geschnittenes Brot, Tomatensauce und Milch auf einen Tapeziertisch stellten.
Zwar musste Horseman längst weg, doch wollte er vorher noch einem weiteren Unterstützer danken. Als Sunny Khan, der Eigentümer von Khan’s All Sports Emporium, sich der Gruppe näherte, klatschte Horseman in die Hände, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Shiners, wie gefallen euch die neuen Trikots, die wir unserem Sponsor Mr Khan verdanken?« Die Mannschaft trug hellbraune Trikots mit schwarzen Kragen und Bündchen, die auf der linken Seite einen Schuh als Logo zeigten und den Namen des Sportgeschäfts in strahlend weißen Lettern quer über der Brust.
»Vinaka vakalevu, vielen Dank, Mr Khan. Mit Ihren prächtigen Trikots sind die Jungs heute eine Mannschaft geworden. In diesen Trikots haben die Shiners den Marists Brothers heute Nachmittag zwölf Punkte abgenommen.«
Er unterbrach den erneut aufbrandenden Jubel, damit Sunny Khan etwas sagen konnte.
»Jungs! Als euer Trainer mich ansprach, ob ich nicht euer Sponsor sein wollte, hatte ich zuerst Zweifel. Aber Josefa Horseman, Fidschis größtem Rugbystar, kann man kaum was abschlagen, oder? Ich jedenfalls konnte es nicht. Ihr habt einen guten Start hingelegt, Jungs. Ich freue mich schon zu sehen, wie ihr im Laufe der Saison immer weiter nach oben klettert. Ihr habt den besten Trainer und die besten Trikots, also kann doch nichts schiefgehen, oder?«
Mit neuer Energie hüpften die Jungen brüllend und klatschend herum und feierten sich selbst. Nur Tevita wirkte verhalten, und Horseman wusste auch, warum. Sunny hatte ihnen keine Rugbyschuhe gestellt, was Tevitas größter Wunsch gewesen wäre. Aber Schuhe waren natürlich teuer. Wieso sollte Sunny eine so große Summe spendieren? Schließlich brachten ihm die Shiners nichts ein. Die Trikots waren nur ein Gefallen für Horseman gewesen. Also spielten die Jungen barfuß, genau wie die Marists und die meisten anderen Juniormannschaften. Daran war nichts auszusetzen. Aber eines Tages würde Horseman ihnen richtige Rugbyschuhe beschaffen.
Jetzt musste er aber wirklich gehen. »Jungs, meine Arbeit ruft. Wir sehen uns am Dienstag um vier Uhr. Seid ausnahmsweise pünktlich!«
Als Horseman unter allgemeinem Applaus aufbrach, gelang es ihm fast, nicht mehr zu humpeln.
»Bula, hallo, Joe, herein mit Ihnen! Wie haben sich Ihre Schlawiner denn heute geschlagen?«, fragte Superintendent Navala.
Also wusste der Super, warum er so spät kam. »Tut mir leid, Sir. Ich konnte die Shiners bei ihrem ersten Spiel doch nicht im Stich lassen. Das hätten sie als Fahnenflucht betrachtet.«
»Schon gut, Joe. Wir alle hier bewundern, was Sie mit diesen Straßenkindern anstellen. Wir sind nur nicht alle so von der Heilkraft des Rugby überzeugt wie Sie.« Der Super verzog ironisch einen Mundwinkel, was seine Version eines Lächelns darstellte. »Wenigstens wissen wir damit, dass alle aus der Mannschaft für heute Nachmittag ein Alibi haben. Nur falls es kleinere Diebstähle gegeben haben sollte.«
Horseman lachte leise. »Das ist wahr, Sir. Den Rest des Tages werden sie wohl auch nichts mehr anstellen, weil sie erledigt sind. Völlig am Ende. Zwei Versuche, zwei Erhöhungen und ein Penalty Goal gegen die Marists. Bei ihrem ersten Spiel! Wer hätte das noch vor einem Monat gedacht?«
»Sie, Joe. Das haben Sie gut gemacht – genau wie Musudroka und die anderen Freiwilligen von unserer Truppe. Ich hoffe nur, die kleinen Schlawiner sind dankbar und leeren Ihnen nicht die Taschen.«
Horseman gluckste noch mal, dem Super zuliebe. »Also, was haben wir? Mord in einem der Bergdörfer? Wie ungewöhnlich!«
»Allerdings, Joe, höchst ungewöhnlich, wenn Sie das Wortspiel erlauben.« Horseman grinste. Er erlaubte sich selbst gern Wortspiele, wenn sich die Gelegenheit bot.
»Io, Tanoa liegt ganz am Ende einer Straße oder sogar noch weiter. Jedenfalls können nur Wagen mit Allradantrieb dorthin, und selbst die nur bis zum Fluss. Ich war zwar noch nie dort, habe aber gehört, dass es eins der altmodischen Dörfer ist, wo man sich vor den schlimmen Gefahren der modernen Zeit abschirmt. Wie unter einer Glasglocke. Vermutlich ist es in vielen isolierten Dörfern so. Konflikte sind da vorprogrammiert. Aber Mord? Ihre Aufgabe ist es, die Frage nach dem Wer und Warum zu lösen. Das Wie ist diesmal offensichtlicher.«
»Ist doch auch schon was. Lassen Sie hören, Sir.«
»Glücklicherweise wohnt im Dorf ein Polizist im Ruhestand, ein ehemaliger Constable. Der Ermordete wurde in der Kirche vom Pastor entdeckt, der heute Morgen kurz vor neun alles für die Sonntagsschule vorbereiten wollte. Tomasi, unser Polizist, befahl dem Pfarrer, den Tatort zu bewachen, holte einen Fotoapparat, machte Aufnahmen und brachte jemanden dazu, zur nächsten Polizeiwache nach Kumi zu fahren. Die Wache von Kumi schickte sofort ihre beiden Constables, und aus Korovou kam Dr. Tavua, der auch den Tod feststellte. Seiner Ansicht nach wird der Pathologe bestätigen, dass der Mann durch einen Schlag mit dem berühmt-berüchtigten stumpfen Gegenstand umgebracht wurde. In der Kirche!«
»War schon jemand von der Spurensicherung da?«
Der Super schüttelte den Kopf. »Das ging heute nicht, aber morgen früh schicke ich direkt ein paar Spurensicherer ins Dorf. Bis dahin bewachen abwechselnd Tomasi und jemand von der Polizei in Kumi die Leiche.«
»Tomasi? Das ist vielleicht nicht so günstig, Sir. Meinen Sie nicht auch, dass der Mörder aus dem Dorf kommen muss?«
»Nicht so schnell, Joe. Zugegeben, ideal ist es nicht. Aber man kann ja kaum erwarten, dass der eine Polizist die ganze Nacht wach bleibt. Verstärkung war einfach nicht zu kriegen.«
»Io, verstehe. Wen haben Sie sich denn für mein Team vorgestellt?«
»Nehmen Sie Musudroka mit. Er scheint doch eine ganz gute Wahl zu sein, nicht wahr?«
Horseman erinnerte sich, dass er anfangs Probleme damit gehabt hatte, als ihm im Januar der unerfahrene Tanielo Musudroka vom CID zugeteilt worden war. Doch als er Bedenken anmeldete, hatte der scharfsinnige Superintendent sofort gemerkt, dass dies ein Zeichen seiner eigenen Unsicherheit war. Peinlich. Wie sich herausgestellt hatte, war Musudroka begierig zu lernen und würde sich mit der Zeit schon machen.
»Io, Sir. Gut, dass Tanielo dabei ist. Aber Befragungen kann er nicht allein durchführen. Können Sie sonst noch jemanden erübrigen?«
Wieder verzog der Super ironisch den Mund. »Wie Sie wissen, ist Sergeant Singh noch auf Urlaub in ihrem Heimatort. Aber sie wollte am Mittwoch wieder hier sein, also habe ich ihr eine Nachricht geschickt und gefragt, ob sie nicht ein, zwei Tage früher zurückkommen könnte. Ich warte noch auf ihre Antwort. Sie ist im Westen zwar auch irgendwo im Hinterland, aber viel leichter erreichbar als Tanoa. Ein Officer von der nächstgelegenen Wache hat die Nachricht schon zur Farm ihrer Eltern gebracht.«
Horsemans Laune stieg. »Ich glaube, Susie wird nichts gegen eine frühere Rückkehr zur Arbeit haben, Sir.«
»Dina, Joe, stimmt. Bei dem Doppelmord waren Sie beide ein gutes Team.«
Horseman nickte. »Könnte vielleicht auch Kelepi Taleca mit von der Partie sein?«
»Wie Sie wissen, wurde Taleca vor kurzem zum Sergeant befördert und ist jetzt zur Fortbildung, wo er sich gut schlägt. In diesem Stadium der Ermittlung brauchen Sie eigentlich keine zwei Sergeants, Joe. Schauen wir erst mal, wie es läuft. Ich habe ein Fahrzeug für halb sieben geordert. Fahren Sie auf dem Weg an der Wache von Nausori vorbei, holen Sie so viele Informationen wie möglich ein, und dann geht’s weiter zum Dorf.«
»Vinaka, Sir, das wird mal ein Tapetenwechsel für mich. Ich freue mich darauf. Jetzt setze ich mich an den Computer und mache mich an die Hintergrundarbeit.«
Wieder zog der Super einen Mundwinkel hoch. »Bevor Sie gehen, wollte ich noch sagen, dass ich Ihr Urlaubsgesuch ab nächsten Freitag nicht vergessen habe. Ihr Besuch aus den USA kommt doch, oder?«
»Io, Sir«, erwiderte er hilflos. Melissa würde mitten in eine Morduntersuchung platzen.
»Dann beten wir nur, dass alles schnell über die Bühne geht. Ich versuche Ihr Team noch zu vergrößern. Dennoch muss ich Ihnen sagen, dass bei Kapitalverbrechen wie diesem hier für alle Ermittlungsbeamten Urlaubssperre herrscht.«
»Io, Sir.« Na, wenn das mal kein Ansporn war!
Wie sollte das funktionieren? Schon seit er vor über vier Monaten Portland verlassen hatte, versuchte er Melissa nach Fidschi zu locken. Und jetzt würde sie in fünf Tagen hier sein! Er hatte gehofft, ihr Besuch würde zu etwas führen – vielleicht sogar zu einer Entscheidung für eine gemeinsame Zukunft. Aber jetzt?
Der Mörder hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht und seine Hoffnungen vereitelt. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sie den Fall bis Freitag geknackt hätten. Doch ganz unmöglich war es nicht: Daran würde er sich klammern und darauf hinarbeiten.
Allerdings musste er vernünftig sein. Vielleicht war es doch besser, Melissas Reise zu verschieben, bis der Fall gelöst war. Andererseits war sein Job unvorhersehbar. Beim nächsten Mal konnte genau dasselbe passieren. Er musste es noch mal mit ihr besprechen, und zwar sofort. Sonntag sechs Uhr in Fidschi war Samstag elf Uhr nachts in Portland. Er simste ihr nur zwei Wörter: Neuigkeiten. Skype? Dann fuhr er seinen Laptop hoch, loggte sich bei Skype ein und wartete. Nach wenigen Minuten gab sein Computer ein Signal, und da war sie: lächelnd, mit einem Handtuch um den Hals, die kurzen Haare nass.
»Ciao, Joe, ich kann dich noch nicht sehen. Ah, da bist du ja. Wie du siehst, war ich gerade unter der Dusche. Ich könnte ein bisschen Fidschi-Sonne gebrauchen. Was hast du denn für Neuigkeiten, Schatz?« Sie trocknete sich die Haare ab und legte das Handtuch beiseite.
»Heute gab es einen Mord in den Bergen, ein paar Stunden von Suva entfernt. Ich leite die Untersuchung und muss morgen ganz früh los. Momentan gibt es noch keinen Hinweis auf den Mörder. Das könnte unsere Pläne für deinen Besuch gefährden. Ist sogar ziemlich wahrscheinlich.«
Melissas glückliches Lächeln verblasste. »Ja, klar, das verstehe ich. Und was heißt das?«
»Ich möchte unbedingt, dass du am Freitag kommst, Süße. Aber du solltest dich darauf gefasst machen, dass ich rund um die Uhr an dem Fall arbeiten muss, wenn wir den Mörder bis dahin nicht geschnappt haben. Dann wird mein Urlaub gestrichen.«
Sie sah ihn mit ihren blauen Augen forschend an. »Findest du, ich sollte meinen Besuch verschieben? Im Krankenhaus dürfte das kein Problem sein. Ich hab ein flexibles Flugticket, also kann ich kostenlos umbuchen.«
Beim Anblick der Sommersprossen auf ihrer Nase und ihren Wangen überkam ihn der Drang, sie zu küssen. Er seufzte. »Ich weiß nicht. Das Problem ist, dass man in meinem Job nichts sicher vorhersagen kann. Wenn du deinen Besuch verschiebst, könnte beim nächsten Mal genau dasselbe passieren.«
»Oh nein, dann klappt es ja nie! Weißt du was? Hoffen wir einfach auf das Beste und warten noch mit der Entscheidung. Wer weiß, möglicherweise fährst du morgen früh in die Berge und kommst abends mit dem Täter in Handschellen zurück!« Sie lächelte.
Positives Denken konnte nie schaden. »Gut, reden wir Montagabend noch mal, wenn ich nach Suva zurückkomme – das ist bei dir Sonntagnacht. Oder ist das zu spät für dich, Engel, es könnte sogar nach Mitternacht werden?«
»Nein, ruf an, sobald du kannst. Ich bleibe auf. Kann sowieso nicht schlafen.«
»Okay, so machen wir’s. Hast du was für morgen geplant?«
»Essen mit der Familie und vielleicht danach einen Spaziergang mit Dad. Er ist in der letzten Zeit so träge geworden, da will ich ihn mal ein bisschen auf Trab bringen.«
»Gut. Grüße deine Familie von mir. Und treib deinen Vater nicht zu sehr an.«
»Viel Glück bei deinem Fall – und löse ihn ganz schnell, Schatz!«
»Ich geb mein Bestes, das kannst du mir glauben. Aber wir schaffen das schon mit deinem Besuch, Melissa, komme, was da wolle. Bis morgen.«
»Ist gut, Schatz. Ich kann es kaum erwarten. Träum süß!«
Als sie sich ausloggte, sah er noch, wie ihr Lächeln einer besorgten Miene wich.
Die Straße im Hinterland von Nausori führte am breiten Fluss Rewa und einem bunten Flickenteppich aus Obstplantagen und traditionell mit Knollenfrüchten bepflanzten Äckern vorbei. Aber um den Bedürfnissen einer wachsenden Anzahl von Touristen entgegenzukommen, pflanzten findige Bauern auch bislang unbekannte Gemüsesorten an: Blattsalat, Pak Choi, Paprika, Tomaten in allen Größen und Formen und vieles mehr.
»Was für ein schönes Bild, finden Sie nicht?«, fragte Detective Constable Tanielo Musudroka, der vom Beifahrersitz des Land Cruisers das fruchtbare Farmland betrachtete.
»Allerdings«, bestätigte Horseman. »Sind Sie das erste Mal hier?«
»Ja, in die Gegend musste ich noch nie. Aber ich habe davon gehört. Die Bauern aus meinem Heimatort bei Ba schwärmen immer davon, wie gut der Boden ist und wie leicht es die Bauern hier haben.«
»Trotzdem steckt hinter diesem schönen Bild viel harte Arbeit. Apropos Bilder: Was meinen Sie zu den Fotos vom Opfer?«
»Die finde ich ziemlich merkwürdig, Sir.« Musudroka zog die A4-Ausdrucke aus dem Umschlag auf seinem Schoß und warf einen Blick darauf. »Er liegt mit ausgestreckten Armen auf dem Boden, sein Kopf ist zum Kreuz im Altarraum gerichtet. Sieht irgendwie aus wie bei einer Kreuzigung.«
Er sichtete die Fotos. »Auf diesem hier kann ich mit Blut verkrustete Haare sehen, also hatte er wahrscheinlich eine Kopfverletzung, aber am restlichen Körper sind keine Wunden oder Blutergüsse zu sehen. Die Matte, auf der er liegt, ist ganz gerade und sauber, so als hätte es keinen Kampf gegeben.«
»Io, er muss überrascht worden sein, und der erste Schlag hat ihn direkt ausgeknockt oder gar getötet. Dr. Tavua hat gesagt, es hätte kaum Blut gegeben, also scheint er woanders getötet und danach in die Kirche geschafft und dort so hingelegt worden zu sein. Es könnte wirklich eine Position sein, die auf eine Kreuzigung oder Unterwerfung hindeutet.«
Musudroka schwieg eine Weile. »Und was sagt uns das, Sir?«
»Gute Frage, Tani. Zum Beispiel, dass der Mörder seine Tat nicht verbergen, sondern sie öffentlich präsentieren, gleichzeitig aber seine Identität geheim halten wollte. Er ist arrogant, befindet sich wahrscheinlich unter den Dorfbewohnern und gibt sich wie sie geschockt und traurig, während er seine Anonymität genießt. Außerdem will er eine Botschaft vermitteln. Wenn der Tote wie bei einer Kreuzigung arrangiert wurde, ist er wohl wirklich als Opfergabe gedacht, aber für was?«
»Und wenn es um Unterwerfung geht?«, fragte Musudroka.
»Das könnte bedeuten, der Mörder wollte das Opfer zu etwas zwingen. Vielleicht betrachtete er ihn als Sünder, der zu Gott zurückgeführt werden musste. Aber welche Sünde soll Viliame begangen haben?«
»Und wer glaubt, er könne wie Gott richten und strafen?«
»Ausgezeichnete Frage, Tani. Sie werden noch ein richtiger Detective! Beachten Sie, dass die, die sich als Richter, als Geschworene und vor allem als Vollstrecker aufführen, nur selten Respekt vor der Polizei haben. Wenn wir jetzt das Dorf aufsuchen, werden wir wahrscheinlich auf Widerstand stoßen, den isolierter lebende Menschen oft gegenüber ungebetenen Behördenvertretern leisten. Sollte der Mörder noch dort sein, wird er nicht nur versuchen, uns auszutricksen, sondern sich vielleicht auch damit amüsieren, die Gemeinde gegen uns aufzustacheln.«
Musudroka wirkte alarmiert. »Leute, die nicht wollen, dass man sich in ihre Angelegenheiten mischt, bin ich ja gewohnt, aber …«
»Aber dieser Fall ist anders, Tanielo. Ein Mörder, der einiges auf sich nimmt, um sein Werk in der Öffentlichkeit zu präsentieren, und dann auch noch in der Kirche, ist ganz anders als einer, der die Leiche seines Opfers versteckt. Dieser hier zielt darauf ab, die Polizei zu diskreditieren und als möglichst dumm oder korrupt darzustellen. Daher müssen wir besonders vorsichtig sein, uns strikt an die Vorgaben halten und mit jedem so respektvoll wie möglich sprechen.«
»Natürlich, Sir. Das versteht sich von selbst«, erwiderte Musudroka leicht gekränkt.
Horseman bog auf eine Schotterstraße ab, die sich die Hügel hinaufwand. Die kommerziellen Anbauflächen wichen kleinen Feldern, die von Dorfbewohnern zur Selbstversorgung bewirtschaftet wurden. Hier und dort sah man auch struppige Weiden, auf denen braune Kühe grasten, die dabei ständig den Schwanz hin und her schwangen, um Insekten abzuwehren.
Die letzte Abbiegung war nicht zu verfehlen. Der steile Weg hatte tiefe Spurrillen, wo der Schotter weggespült worden war. Jetzt waren sie in den Bergen. Die Dörfer und Anbauflächen waren noch kleiner und lagen weiter auseinander, und die Waldstücke dazwischen wurden immer größer und dichter. Horseman fuhr langsamer, als sich zwei Reiter näherten, die noch zwei Packpferde mit dicken Säcken, Netzen voller Wurzelgemüse und mit Bananenbüscheln bei sich führten. Als sie ihnen winkten und Bula, Bula riefen, erwiderten die Officers ihren Gruß.
Horseman fragte sich überflüssigerweise, ob die Pferde wohl Nachkommen jener Tiere waren, die mit seinen eigenen Vorfahren Anfang des achtzehnten Jahrhunderts bei einem Schiffbruch auf die Inseln gekommen waren. Das erste Pferd auf Fidschi hatte seinem eigenen Urahn das Leben gerettet, weil ein Häuptling sein Herz an das wunderschöne Tier verloren hatte. Da dieser bislang keine größeren Tiere als Schweine gesehen hatte, wusste er nicht, wie er damit umgehen sollte, und so fiel Horsemans Vorfahre nicht dem Kannibalismus zum Opfer, sondern endete als Stallmeister des Häuptlings und gründete eine Familie. Er wurde bei den Fidschianern als Pferdemann bekannt, als horse-man, und dieser Name blieb seinen Nachkommen erhalten.
»Was sind denn die dunkelgrünen Büsche da?«, fragte Musudroka unvermittelt und riss Horseman damit aus seinen Gedanken. Er zeigte auf eine kleine Plantage, die sich über eine Anhöhe erstreckte.
»Kaffee. Arabicasträucher, die nur in dieser Höhe und noch höher gut gedeihen. Der beste Kaffee der Welt. Oder vielleicht der zweitbeste, nach kolumbianischem. Durch seine abgelegene Lage wird Fidschi von den Kaffeekrankheiten verschont, die größere Plantagen oft ereilen und die Preise in die Höhe jagen. Wir haben noch nicht die Kapazitäten, um große Händler zu versorgen, aber Single-Source-Lieferanten wollen unseren Kaffee und zahlen dafür Bestpreise.«
»Woher wissen Sie das, Sir? Sie sind ja ein wandelndes Lexikon.«
Horseman gluckste. »Nein, Tani, nur ein patriotischer Kaffeejunkie.«
»Ich mag keinen Kaffee. Dafür könnte ich ständig süßen Tee trinken.«
»Ach, das liegt nur daran, dass Sie noch nie wirklich guten Kaffee gerochen und geschmeckt haben. Ich werde Sie mal im Arabica in Suva in die Materie einführen.«
Horseman musste jetzt noch langsamer fahren, da der Schotter mittlerweile roter Erde gewichen war und der Weg noch tiefere Spurrillen hatte. Die stellten selbst für den Land Cruiser eine echte Herausforderung dar. Die beiden Insassen wurden gründlich durchgerüttelt. Die Bäume um sie herum wuchsen dicht und hoch: mit Aufsitzpflanzen bewachsene Mahagonibäume und Ingwergewächse, die sich unter der Last ihrer schweren roten oder cremeweißen Blüten beugten. Der Weg schlängelte sich stetig durch den Nebelwald bergauf. Horseman schaltete die Scheinwerfer ein. Sie hörten den wild rauschenden Fluss, und nach der nächsten Biegung fiel das Licht der Scheinwerfer auf eine Barriere aus Holzstämmen. Ein mit Hand beschriebenes Schild erklärte auf Fidschi und Englisch allen Besuchern: Ab hier keine Fahrzeuge, nur noch Fußgänger. Hinter der Barriere sah man eine Brücke aus Holz. Links davon standen auf einer schlammigen Lichtung ein verbeulter, roter Truck, zwei alte Fahrräder und ein noch recht neu wirkendes helles Nutzfahrzeug. An der Einfahrt des Behelfsparkplatzes lagen ein paar umgedrehte Schubkarren.
»Das ist der Parkplatz, den der Super erwähnt hat. Am Ende der Straße, mitten im Nirgendwo.«
»Tanoa ist ein komischer Name für ein Dorf, oder? Kava-Schale?«
Horseman zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, woher der Name stammt. Vielleicht hat er was mit der Landschaft zu tun. Wir sind von Bergen umgeben, also könnte der Ort eine Talsohle widerspiegeln, wie der Boden einer Kava-Schale eben.«
Nebel stieg über dem Fluss auf und lichtete sich mit zunehmender Höhe. Das diesige Ufer auf der anderen Seite bog sich der Holzbrücke entgegen.
Rechts von ihnen sah man Häuser und eine Kirche. Auf einer Anhöhe bot eine Terrasse Platz für eine Schule und ein mit Gras bewachsenes Rechteck, das an beiden Enden von Bambuspfosten begrenzt wurde. Das war wohl die Rara, das Festgelände, das in kleinen Dörfern auch als Rugbyfeld diente und in beiden Funktionen gleich wichtig war. Hier und dort sah man Wäscheleinen und kleine Schuppen. Am Ufer unter der Brücke wuschen Frauen Wäsche und schlugen die Kleider und Tücher rhythmisch auf die glatten Steine. Andere kümmerten sich unter den wachsamen Blicken von zwei mageren Hunden um Reusen für Fische. Es war ein typisches Dorf im Hinterland: pittoresk, friedlich und langweilig. Aber in diesem gab es einen außergewöhnlichen, gefährlichen Mörder.
Links von der Brücke ragte der Berg fast senkrecht wie eine Klippe empor. Es sah aus, als wären an der Spitze etliche Felsbrocken aufgetürmt worden, um sie noch zu erhöhen. Horseman erinnerte das an die Ruinen einer Bergfestung aus der vorkolonialen Zeit. Ihm sträubten sich die Nackenhaare, als er durch den Nebel der Zeiten blutige Schlachten vor sich sah. Die Einwohner von Tanoa würden die Eindringlinge von dort aus mit Speeren, Pfeilen und anderen Geschossen verteidigt haben, die sie mit tödlicher Genauigkeit abgefeuert hatten. Es gab keine bessere Stelle, um die Angreifer vom Fluss zu entdecken und sie abzuwehren.
Als sie die Brücke überquerten, kam ihnen mit großen Schritten ein Mann mittleren Alters entgegen. Er trug ein kurzärmliges blaues Hemd und einen Pocketsulu, die förmlichere Version des traditionellen Wickelrocks, der in Dörfern von Männern und Frauen gleichermaßen getragen wurde. Horseman zeigte seine Polizeimarke und stellte sich und Musudroka vor.
»Bula vinaka, Officers. Herzlich willkommen. Ich freue mich natürlich sehr, unsere Rugbylegende persönlich kennenzulernen. Ich bin Joni Tora, der Pastor der hiesigen Methodistenkirche. Und ich war es, der gestern Morgen unseren Bruder Viliame in der Kirche entdeckt hat. Es ist mir immer noch unbegreiflich, wie das passieren konnte. So etwas Böses in unserem friedlichen Dorf!«
»Vinaka vakalevu, Pastor Joni. Unser größtes Mitgefühl darüber, dass Sie einen Ihrer wertvollen jungen Männer verloren haben. Wir müssen uns entschuldigen, dass wir Sie in Ihrer Trauer stören. Da Viliame eindeutig umgebracht wurde, ist es nur gut, dass wir nach seinem Mörder suchen. Ich fürchte jedoch, Sie werden so lange mit einem ganzen Polizeiteam zurechtkommen müssen.«
»Das verstehe ich, und Viliames Familie wird das auch verstehen. Sie verrichten hier Gottes Werk. Heute ist unser Häuptling nicht vor Ort, aber sein Stellvertreter Ilai ist hier. Begleiten Sie mich in mein Haus, dort warten Erfrischungen auf Sie. Sie sind nach der langen Fahrt doch sicher müde. Sind Sie wirklich heute aus Suva gekommen? Da müssen Sie sehr früh aufgebrochen sein.«
Die meisten Behausungen waren traditionell aus Schilf gebaut und mit Reet gedeckt, doch gab es auch bunt gestrichene Holzhäuser mit Wellblechdächern. Auf dem Weg zum Haus des Pastors durchbrach die Sonne die tief hängende Wolkendecke und erhellte die Szenerie. Kurz darauf trugen Frauen aufgerollte Pandanusmatten aus dem Haus und breiteten sie auf nahe stehenden Hibiskusbüschen aus.
»Ah, das Mattenlüften – so ein schöner Anblick«, bemerkte Horseman.
»Und eine nie endende Aufgabe«, erwiderte der Pastor. »Hier in den Bergen ist es so oft bedeckt, dass die Frauen sofort zur Tat schreiten, sobald sich die Sonne zeigt.«
Pastor Joni führte sie an der Kirche vorbei zu einem Haus, das größer war, höher lag und einen frischeren Anstrich hatte als die anderen: leuchtend grün, die Tür und die Fensterrahmen rot. »Willkommen in meinem bescheidenen Heim, Officers. Bitte nehmen Sie an unserem Tisch Platz. Dies ist meine Frau, Mere.«
Horseman und Musudroka gaben Mere die Hand. Sie war eine kleine, rundgesichtige Frau mit einem strahlenden Lächeln. »Mere ist ein großer Rugbyfan«, fügte Pastor Joni hinzu.
Sie ließen sich an dem Tisch mit einer gelben Tischdecke nieder, auf dem bereits Wassergläser, Teetassen und Milch und Zucker standen. Mere brachte eine große Aluminiumkanne und schenkte Tee aus, dann holte sie Sandwiches und ein Körbchen mit Scones, das in ein kariertes Küchentuch gewickelt war.
»Sie wissen wirklich genau, was wir brauchen, Mrs Tora. Nach diesem wunderbaren Morgentee werden wir in Topform sein.« Pflichtschuldig aß Horseman ein paar Sandwiches mit Dosenfleisch und Dosenfisch und trank eine Tasse Tee, während er immer wieder die Scones beäugte. Als Mere das Küchentuch entfernte, breitete sich ein tröstliches Aroma in der Luft aus.
»Bedienen Sie sich, Inspector Horseman. Wir haben auch Butter.« Sie holte eine Dose aus einem Vorratsregal und reichte sie ihrem Mann, der sie mit einem Messer aus seiner Sulu-Tasche öffnete. Eigentlich war es Horseman gar nicht recht, die Lebensmittel seiner Gastgeber aufzuessen, aber jetzt war die Konserve schon geöffnet, und natürlich schmeckten Scones mit Butter auch viel besser. Also teilte er ein Scone in zwei Hälften und bestrich ihn sparsam mit dem Fett, während Mere ihm noch mal Tee nachschenkte. Musudroka folgte seinem Beispiel.
Plötzlich sprang Mere auf. »Ach, ich hab die Marmelade vergessen! Wie dumm von mir! Banane und Passionsfrucht, ich habe sie erst letzten Monat gemacht.« Sie stieg auf einen Hocker, nahm ein Glas vom oberen Regalbord und stellte es mit großer Geste auf den Tisch. »Ich finde immer, durch die Passionsfrucht kriegt sie einen ganz besonderen Geschmack.«
»Mere macht ausgezeichnete Marmeladen, Officers. Und diese hier ist etwas ganz Besonderes«, erklärte der Pastor. Also aßen beide Polizisten noch ein Scone, diesmal mit Meres Marmelade.
Horseman widerstrebte es immer, Dorfbewohner zur Eile zu drängen, da sie alle Hast als sehr unhöflich betrachteten. Dennoch wurde es Zeit, dass sie sich ihren Pflichten widmeten. »Pastor Joni, könnten Sie mir erzählen, wie Sie Viliame gestern in der Kirche entdeckten?«
Der Pastor trank erst mal einen Schluck Tee, bevor er antwortete: »Io, ich ging weit vor neun Uhr hinüber – dann fängt die Sonntagsschule an –, um alles vorzubereiten. Ich schätze, es war so gegen halb neun. Zuerst kümmerte ich mich um die Fenster und öffnete ein paar Blendläden, um Licht hereinzulassen. Als ich mich umschaute, sah ich sofort den armen Vili, der mit ausgestreckten Armen und dem Gesicht nach unten auf der Matte lag. Ganz kurz dachte ich, er würde beten, obwohl es bei uns nicht üblich ist, sich in der Kirche auf den Boden zu legen, aber … Jedenfalls fiel mir dann seine Reglosigkeit auf und das Blut in seinen Haaren.«
»Haben Sie ihn berührt, Pastor?«, fragte Horseman.
»Io, ich ging in die Knie und fühlte an seinem Hals nach dem Puls. Außerdem hob ich seine linke Schulter an und prüfte, ob sein Herz schlug. Seine Haut war etwas kühl. Zwar bin ich kein Fachmann, aber ich dachte sofort, er sei tot und zwar durch fremde Hand.«
»Was haben Sie dann gemacht?«
»Ich ging zu seinem Haus, erzählte es seinen Eltern und brachte sie hierher. Danach läutete ich draußen die Glocke, um das Dorf zusammenzurufen und es ihm mitzuteilen. Glücklicherweise ist einer der Sonntagsschullehrer ein Polizist im Ruhestand. Ich übergab alles an Tomasi, und er leistete großartige Arbeit beim Sichern der Kirche. Er machte sogar Fotos. Danach bat er Naca, mit seinem Truck zur nächsten Polizeiwache zu fahren und den Constable zu holen.«
»Wie geht es Vilis Eltern jetzt?«
»Sie trauern natürlich und sind geschockt. In der Kirche waren entweder Tomasi oder ich immer bei ihnen. Die Sonntagsschule habe ich abgesagt. Der Gottesdienst um halb elf fand zwar statt, wurde aber in der Schule abgehalten. Vilis Eltern waren auch dabei. Danach haben sie und ihre jüngeren Kinder bei uns zu Mittag gegessen, und dann gingen sie nach Hause, um sich auszuruhen.«
»Vinaka, Pastor Joni. Sie und Tomasi waren sehr umsichtig und haben alles getan, was Sie konnten. Was haben Sie mir zu Vili zu erzählen?«
»Ach, Vili, der war etwas ganz Besonderes. Ein aufgeweckter Junge mit großem Potenzial. Und jetzt ist er bei Gott.« Der Pastor senkte den Kopf, dann trank er langsam seinen Tee aus. Musudroka nahm sich noch ein Scone. Horseman runzelte die Stirn und starrte ihn an.
Dann fuhr Pastor Joni fort: »Sie sehen ja, wie es hier ist: Wir befinden uns mitten im Nirgendwo, weit weg vom geschäftigen Treiben an der Küste und im Haupttal. Für unsere Kinder ist es zu isoliert. Sie sind nicht besonders gut in der Schule, und nur wenige schaffen es auf die Highschool. Selbst die, die schlau genug wären, sind zu schüchtern und haben ein bisschen Angst vor dem Internat. Sie bleiben lieber hier und werden Bauer oder machen ihren Führerschein und fahren Bus oder Lieferwagen. Manche besorgen sich auch einen Job in einem Resort, sowohl Jungen als auch Mädchen. Aber da sie ungelernt sind, verdienen sie nicht viel, sodass nur wenig Geld ins Dorf zurückfließt. Das stört zwar niemanden hier, doch das Dorf ist arm, obwohl hier alle hart arbeiten.
Vili war ganz anders. Er ging mit Freuden auf die Highschool und machte sich gut. Da er sich für Landwirtschaft interessierte, startete er hier ein Projekt, das mit Gewürzanbau zu tun hat. Vanille und Muskatnuss. Er hatte große Pläne – meinte, wir bräuchten hier in unserem abgeschiedenen Dorf etwas, was wenig Aufwand erfordere, aber hohe Preise erziele, und Gewürze seien da genau das Richtige. Ach, er war ja so enthusiastisch.« Seine Augen füllten sich mit Tränen, aber er wischte sie energisch weg.
»Hat er das Gewürzprojekt denn in die Tat umgesetzt?«, hakte Horseman nach.
»Ja, das hat er, obwohl er seinen Plan, Landwirtschaft zu studieren, aufgeben musste. Seine Eltern haben nicht viel Geld, und da sie noch drei jüngere Kinder versorgen müssen, waren sie der Meinung, Vili sollte sich eine Arbeit suchen. Er hatte Glück, eine Ausbildung zum Buchhalter beim Native Land Trust Board zu bekommen. Wenigstens meinen alle, er habe Glück gehabt, weil das eine so ehrwürdige Institution ist. Aber ich finde, der NLTB hatte Glück, denn Vili zeigte ein Engagement, das jeden Arbeitgeber beeindrucken würde, und seine Noten an der Highschool waren wirklich sehr gut. Nach fünf Jahren ist er immer noch beim NLTB, mittlerweile als leitender Buchhalter. Aber was sage ich da – er ist ja tot. Nur, wer hätte Vili töten wollen? Es ist einfach unbegreiflich!« Der Pastor zog ein Taschentuch hervor und wischte sich die Tränen ab.
»Wie konnte er denn das Gewürzprojekt fortführen, Sir?«, fragte Musudroka.
Der Pastor lächelte. »Oh, vor harter Arbeit scheute Vili nicht zurück, Constable, und er war der geborene Anführer. An den meisten Wochenenden und während seines gesamten Urlaubs war er immer hier. Er brachte andere dazu, in ihrer Freizeit ein paar Stunden am Projekt zu arbeiten, so wurde alles Notwendige getan. Obwohl es nur ein kleines Projekt ist, bringt es doch Geld ein. Vili hielt genau fest, wer wie viel arbeitete, und teilte den Gewinn gerecht unter den Mitarbeitern auf. Auch sich selbst bezahlte er nur den Arbeitslohn. Seine Aufzeichnungen konnten von jedermann eingesehen werden, und natürlich behielten die Mitarbeiter einander im Auge.«
Horseman lächelte. »Das kann ich mir vorstellen. Er muss sehr beliebt gewesen sein.«
»Ja, das war er wirklich. Er wollte den Gewürzgarten vergrößern und hat von den Älteren schon zweimal die Erlaubnis dazu erhalten. Aber bei seinem letzten Antrag gab es ein paar Schwierigkeiten.«
»Schwierigkeiten?«, hakte Horseman nach.
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, während Mere ihnen eine dritte Tasse Tee einschenkte. Der Pastor starrte nachdenklich in seine Tasse. Als er schließlich aufschaute, sagte er: »Es hatte was mit der Landvergabe hier zu tun. Mehr kann ich nicht sagen. Ich stamme nicht von hier, wissen Sie, obwohl ich schon seit zwanzig Jahren in Tanua wohne und arbeite. Ursprünglich komme ich von Vanua Levu. Daher werde ich in die Überlegungen des Häuptlings und der Älteren nicht eingeweiht.«
Horseman sah Musudroka an und schüttelte kaum merklich den Kopf – nur für den Fall, dass der unerfahrene Polizist noch weiter nachfragen wollte. Dann trank er seinen Tee aus.
»Vinaka vakalevu, Herr Pastor und Mrs Tora. Sie waren ausgesprochen großzügig und haben uns für den Rest des Tages gestärkt. Aber jetzt sollten wir uns die Kirche ansehen.«
»Io, sehr gerne, Inspector, bitte lassen Sie sich von uns nicht aufhalten.« Der Pastor führte sie noch die Treppe hinunter, dann blieb er dort und sah ihnen nach, während sie zur Kirche nebenan gingen.
An der ochsenblutroten Tür der Kirche warteten zwei Männer. Der kleinere, kräftige trat einen Schritt vor und nahm Haltung an. Er trug den Sulu unterhalb des Bauchs, sodass die breite Lücke zwischen dem Sulu und seinem blauen Poloshirt aussah wie ein haariger brauner Gürtel.
Nachdem die Polizisten ihre Marke gezeigt hatten, schüttelte er ihnen die Hand. »Tomasi Kana, Constable im Ruhestand, Sir«, erklärte er in formellem Fidschi. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen und Ihnen zu Diensten zu sein, Inspector Horseman. Darf ich Ihnen Mr Ilai Takilai vorstellen, unseren Dorfvorsteher und Stellvertreter des Häuptlings?« Von der Nase des Dorfvorstehers bis zu seinem zusammengepressten Mund zogen sich tiefe Falten. Sein Handschlag war fest.
»Ich heiße Sie im Namen von Ratu Osea Matanitu, dem Häuptling von Tanoa und der damit verbundenen Dörfer willkommen. Heute ist Ratu Osea in Suva, erteilt Ihnen aber die Erlaubnis, hier ungehindert Ihre Ermittlungen durchzuführen. Sobald er wieder vor Ort ist, wird er Sie mit Freuden ganz offiziell mit einer sevusevu-Zeremonie willkommen heißen.«
Horseman klatschte einmal in die Hände: Die traditionelle Geste, um Dank auszudrücken. Musudroka folgte seinem Beispiel.
»Vinaka vakalevu, Sir«, erwiderte Horseman. »Ich danke Ihnen für Ihre Kooperation und freue mich darauf, schon bald mit Ihnen zu sprechen.«
»Natürlich stehe ich Ihnen zur Verfügung, fürchte aber, Ihnen nicht viel helfen zu können. Diese Tragödie hat mich zutiefst erschüttert. Aber ich habe nichts zur Aufklärung beizutragen. Einstweilen will ich mich verabschieden.« Der große, magere Dorfvorsteher nickte förmlich und ging.
Im Gegensatz zu ihm war Tomasi Kana entgegenkommend, fast schon schmeichlerisch. »Wissen Sie, Sir, auch ich habe vor vielen Jahren im Rugbyteam der Polizei gespielt.«
»Schön, Mr Kana. Die Polizei war schon immer spitze, nicht wahr?«
»Bitte nennen Sie mich doch Tomasi, Sir. Ich war allerdings nie so erfolgreich wie Sie, spielte nur in der zweiten Liga. Aber ich war stolz darauf.«
»Es gibt doch nichts Besseres, als mit ein paar Kollegen von der Polizei Rugby zu spielen, oder? Vinaka für Ihre Hilfe und die Informationen, die Sie uns schon haben zukommen lassen, Tomasi. Ohne Ihre Kenntnisse und Führungsqualitäten wären hier alle Beweise zerstört oder entfernt worden. Ich bin Ihnen sehr dankbar.« Horseman klatschte erneut einmal in die Hände.
Tomasi lächelte vor Vergnügen. »Ich freue mich, helfen zu können. Dies ist ein schändliches Verbrechen. Ich habe hier inoffiziell Wache gehalten, um Neugierige fernzuhalten. Vor einer knappen Stunde sind dann ein weiterer Constable und ein Beamter von der Spurensicherung eingetroffen.«
»Gut gemacht, Tomasi. Wir sehen uns sicher später.«
Musudroka stieß die schwere Tür auf. Da sich das Holz von der Feuchtigkeit ausgedehnt hatte, schabte sie über den Boden. Also hob er sie am Griff leicht an. »Die sollte mal ausgehängt und wieder ordentlich eingesetzt werden. Vielleicht würde es auch helfen, die Scharniere etwas fester anzuschrauben.«
Horseman war überrascht. »Sind Sie auf einmal unter die Handwerker gegangen, Tani? Ich bin beeindruckt!«
Musudroka wurde rot. »Mein Vater ist Zimmermann, Sir. Er schimpft dauernd über Leute, die sich nicht anständig um ihre Häuser und Möbel kümmern.«
»Das werde ich im Hinterkopf behalten. Aber jetzt schauen wir mal, was wir drinnen vorfinden.«
Die weiß gekälkte Kirche war schlicht, hatte aber schöne Proportionen und strahlte etwas Erhabenes aus. Das spitze Wellblechdach war wie die Balken hellblau gestrichen und vermittelte den Eindruck, man hätte den Himmel hereingelassen. Die Blendläden auf beiden Seiten wurden von Bambusstöcken offen gehalten, sodass viel Licht einströmen konnte. An den Wänden stapelten sich aufgerollte Matten, aber ein paar lagen auch in der Mitte des Betonbodens. Über dem Altar hing ein Kreuz, und die Kanzel war mit einem Tuch geschmückt, das mit Spitze gesäumt und mit Gott ist die Liebe auf Fidschi bestickt war.
Zwei Constables mit weißen Papieroveralls, Hauben und Überschuhen krochen auf dem Boden und fegten den Staub systematisch mit Handfegern auf Kehrbleche. Der Boden war mit Klebestreifen in Quadrate eingeteilt und jeder Abschnitt mit einem Etikett versehen. Einer der Männer blickte grinsend zu ihnen, als er das Kehrblech in einen Plastikbeutel kippte, ihn versiegelte und beschriftete. Er rief etwas zu einem dritten Beamten, der sich umdrehte und zu Horseman und Musudroka kam. »Bula, Bula, Detectives, sehr erfreut, Sie zu sehen.« Er zog einen Handschuh aus und bot ihnen die Hand. »Ashwin Jayaraman von der Spurensicherung. Aber nennen Sie mich bitte Ash.« Sie gaben sich alle die Hand.
»Inspector, Sie können es bestimmt schon nicht mehr hören, dass man Sie in der Kindheit als Held verehrt hat, aber bei mir ist es wirklich wahr!«
Ash wirkte noch jung, aber es brachte Horseman immer aus der Fassung, wenn Erwachsene ihm erzählten, er wäre ihr Kindheitsheld gewesen. Lieber ignorierte er die Tatsache, dass auch er nicht jünger wurde. Außerdem hoffte er jetzt, er würde nicht aufgefordert, sich selbst auf den Boden zu knien.
»Vinaka, Ash. Was haben wir?«
»Es ist schwierig, Boss. Ich bin knapp eine Stunde vor Ihnen hier gelandet und musste erst mal die Constables einweisen. Wir haben die Hälfte des Bodens untersucht. Aber da es keinen Strom gibt, können wir nicht mit dem Staubsauger arbeiten. Ich nehme gerade Proben von den Matten, auf denen die Leiche lag. Es gibt Blut, ein paar Haare, aber sonst kaum etwas. Samstagnachmittag wurde die Kirche gründlich geputzt, da sollte man doch meinen, man fände deutliche Spuren vom Opfer und dem Mörder – oder den Mördern. Aber nichts weist darauf hin, dass die Leiche hierhergeschleppt wurde, weder von der Tür bis zu der Stelle, wo er positioniert wurde, noch auf den Matten. Ich schätze, das Opfer war bereits tot und in Stoff oder Plastik eingewickelt, während es zur Fundstelle geschleift oder getragen wurde.«
Horseman blickte sich um und nickte.
»Ziehen Sie sich einen Anzug an und kommen Sie zum Fundort.«
Die beiden Detectives gehorchten sofort. Musudroka wirkte stolz, weil er zum ersten Mal einen solchen Anzug anziehen durfte. Die Matten wirkten verblüffenderweise fast unberührt.
»Die ganze Matte, auf der der Leichnam lag, kommt ins Labor. Aber ich möchte Sie bitten, daran zu riechen, bevor ich sie eintüte. Sie riecht seltsam, irgendwie vertraut, aber ich kann es einfach nicht einordnen.«
Genau das, was Horseman befürchtet hatte. Musudroka war schon auf den Knien und schnüffelte herum wie ein Hund. Mit äußerster Vorsicht senkte sich Horseman auf die Knie und belastete dabei vor allem sein linkes Bein, dann folgte er Musudrokas Beispiel. Doch sofort lächelte er und mühte sich wieder auf. »Vanille.«
»Io, natürlich!« Ash kniete sich erneut hin, schnüffelte und sprang wieder auf. »Aber wieso?«
»Vili hat hier ein Gewürzprojekt geleitet. Der Pastor erzählte, hier würde Vanille angebaut. Vielleicht wurde Viliame auch dort umgebracht«, antwortete Horseman. Irrationale Hoffnung stieg in ihm auf. Vielleicht konnte er den Fall doch bis Freitag abschließen!
Tomasi war nur allzu bereit, den Detectives alles über das Gewürzprojekt des Dorfs zu erzählen – genauer gesagt Viliames Gewürzprojekt. Er zeigte ihnen sofort den Weg dorthin, der seinen Anfang am Ostende des Orts nahm. Ash überließ es den beiden Constables, den Rest des Kirchenbodens abzusuchen, und schloss sich ihnen an. Die vier Männer stellten sich mit je einem Meter Abstand in eine Reihe, schritten von der Kirche aus langsam ostwärts und suchten den Boden nach irgendetwas Ungewöhnlichem ab.
Tomasi zeigte auf das letzte Haus im Ort, das doppelt so groß war wie die anderen.
»Das hier gehört Ratu Osea. Er hat es gebaut, als er seinen Abschied von der Armee nahm. Heutzutage verbringt er viel Zeit in Tanoa.« Das Haus stand etwas abseits auf soliden Pfosten, war mit Holz verkleidet und hatte ein Wellblechdach, das mit Reet bedeckt war.
Die Officers kamen zu einem Gelände mit ein paar Schuppen und Wäscheleinen. Dort pickten Hühner in der Erde, und außer Reichweite der Wäscheleinen rupften an dicken Pflöcken angebundene Ziegen Kräuter, Gras und winzige, chancenlose Sträucher.
»Die finden mehr als wir!«, rief Musudroka.
»Die sind auch näher am Boden«, gab Ash zurück. »Aber ich möchte Ihnen nicht zumuten, schon jetzt auf die Knie zu gehen. Konzentrieren Sie sich nur auf Ihren Abschnitt und achten Sie auf Dinge, die auf den ersten Blick nicht hierhergehören.«
Wo die Ziegen nicht hinkamen, wuchs die Vegetation schlagartig höher: ein dichtes Gestrüpp aus allgegenwärtigem Hibiskus, Ingwer, wilder Passionsfrucht und Kikuyugras. Dazwischen wucherten Lantana und Ackerwinden, die opportunistischen Diebe von Licht und Platz. Es war ein ungenutzter, brachliegender Garten. Hier und dort sah man kleine Maniokpflanzen, die aus den Knollen sprossen, welche bei der Ernte vergessen worden waren.
Der Pfad zum Gewürzgarten war gerade breit genug für eine beladene Schubkarre. Ash bat sie, zu zweit nebeneinander zu gehen und fünf Meter Abstand zum anderen Paar zu lassen. Tomasi schnitt ihnen mit der Machete ein paar Stöcke zurecht, mit denen sie das Dickicht teilen und den Boden darunter sichten konnten. Sie entdeckten verrottende Pappstücke und Papierschnitzel, Verpackungen und Flaschen aus Plastik und Fischkonserven, die in unterschiedlichem Maße Rost angesetzt hatten.
»Höchste Zeit, hier mal den Müll aufzusammeln«, bemerkte Tomasi. »Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist.« Er klang verlegen.
»Von weiter oben sieht man es nicht«, beruhigte Horseman ihn. »Wir sehen den ganzen Abfall nur, weil wir das Gestrüpp richtig durchstöbern. Ehrlich, ich bin beeindruckt. Tanoa ist ein sauberes und ordentliches Dorf.«
»Vinaka, Sir. Sie wissen ja, wie es ist. Unser Häuptling will, dass hier Ordnung herrscht.«
Nach zehn Minuten, als sie einen steilen Hügel erklommen, wurde der Pfad noch schmaler. Am Gipfel blieb Horseman stehen und überblickte die Landschaft. Hier wuchsen die Bäume höher und waren auch nicht von Ackerwinden umrankt. Dafür aber waren die kurzen geraden Stämme von amerikanischen Mahagonibäumen, die sich zwischen die dicht gedrängten einheimischen Arten mischten, mit zartem Blätterwerk bedeckt. Es sah aus, als wären alte römische Säulen von Schlingpflanzen bewachsen. Leuchtend grüne rechteckige Abschnitte unterbrachen den natürlichen Dschungel. Horseman suchte nach einer Erklärung für diese geometrischen Stellen, fand aber keine.
Tomasi zeigte mit dem Finger darauf. »Sehen Sie die Vanille? Das leuchtende Grün?«
»Io, aber was genau ist das?«
»Vanille ist eine Orchideenart, rankt sich aber an Bäumen in die Höhe. Vili hat Stützbäume gepflanzt, die nicht groß werden, sodass man die Vanilleschoten problemlos erreichen kann. Die Arbeiter beschneiden die Bäume und verbinden die Äste verschiedener Bäume so, dass sich Spaliere bilden«, erklärte Tomasi stolz.
»Das hört sich nach viel Arbeit an.«
»Io, leicht ist es nicht. Vili hat sich über Vanille kundig gemacht und die Arbeiter gut eingewiesen.«
Horseman holte sein Fernglas aus dem Rucksack. »Ja, jetzt erkenne ich es. Sehr schön!«
Er richtete das Fernglas auf hellgrüne Zackenmuster, die sich als Bananenpflanzen erwiesen, zwischen denen ein paar Büsche standen. Horseman zeigte darauf und fragte Tomasi: »Und das da?«
»Muskatnuss: Die jungen Pflanzen brauchen nur in den ersten Jahren Schatten. Vili beschloss, ihn mit Bananenstauden zu spenden und die Früchte zu verkaufen, bis die Muskatnusspflanzen so weit wären. Schlau, nicht wahr?«