Trouble - Süchtig nach Dir - Chelsea Fine - E-Book

Trouble - Süchtig nach Dir E-Book

Chelsea Fine

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Beschreibung

Kayla hält sich fern von Bad Boys. Und als Daren Ackwood ganz unerwartet bei der Beerdigung ihres Vaters auftaucht, weiß sie, dass sie ihm dringend aus dem Weg gehen sollte. Aber das ist gar nicht so einfach in einer Kleinstadt. Und dann erfährt Kayla vom letzten Wunsch ihres Vaters – und muss plötzlich jede Minute mit Daren verbringen … Daren mochte seinen Dad nie und hat auch keine Ahnung, warum er ihn in seinem Testament erwähnt. Doch dann begegnet er Kayla – und ist plötzlich zu allem bereit. Auch wenn es bedeutet, sich auf einen Wettlauf gegen die Zeit einzulassen – und gegen Kayla.

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Seitenzahl: 465

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Buch

Für die Beerdigung ihres Vaters ist Kayla nach Hause zurückgekommen. Aber nicht, weil sie trauert. Sie hofft auf das Erbe des Mannes, der sie und ihre Mutter sitzenließ und mit dem sie seit Jahren keinen Kontakt hatte. Womit Kayla nicht rechnet: Sie muss eine Schnitzeljagd durch den ganzen Ort meistern, um an das Erbe zu kommen – und das nicht alleine. Denn der reiche Schönling Daren Ackwood wird im Testament ebenfalls erwähnt. Als wäre das nicht schon schlimm genug, müssen die beiden die ganze Zeit über mit Handschellen aneinandergekettet sein. Kayla weiß nicht, welchen Plan ihr Vater damit verfolgt. Aber sie merkt schnell, dass Daren nicht nur verdammt sexy ist, sondern auch zu allem bereit, um an das Erbe zu kommen …

Autorin

Chelsea Fine lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Phoenix, USA. Sie verbringt möglichst viel Zeit damit zu schreiben und zu malen, um möglichst wenig ungeliebte Hausarbeit erledigen zu müssen. Dafür liebt sie Superhelden, Kaffee und verrückte Socken.

Außerdem von Chelsea Fine bei Blanvalet lieferbar:

Broken – Gefährliche LiebeBesuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvaletund www.twitter.com/BlanvaletVerlag.

CHELSEA FINE

Trouble

Süchtig nach Dir

Roman

Aus dem Amerikanischen von Babette Schröder

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Perfect Kind of Trouble« bei Grand Central Publishing, New York.

Erste Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Chelsea Lauterbach

Published by arrangement with Chelsea Lauterbach

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Blanvalet Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung eines Motivs von dreamstime.com

Redaktion: Melike Karamustafa

Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-15746-3

www.blanvalet.de

Für meinen wundervollen Ehemann Brett, dem ich auch für immer Handschellen anlegen würde.

1 Kayla

Auf der anderen Seite des Sargs steht eine Frau mittleren Alters in einem dunkelblauen Kleid und starrt mich wütend an.

Der Mann in der Holzkiste ist seit drei Tagen tot und diese Frau stempelt mich als seine schlampige Geliebte ab. So wie sie mich ansieht, hält sie mich wahrscheinlich zudem noch für eine ehemalige Stripperin mit einem Kokainproblem. Aber das hier ist nicht mein erstes Rodeo – und auch nicht meine erste Beerdigung – und tödliche Blicke, wie die der Nachtblauen-Nancy dort drüben, sind mir nicht neu … leider.

Da ich mich etwas befangen fühle, setze ich langsam meine schwarze Sonnenbrille auf, senke den Kopf und konzentriere mich auf den Sarg vor mir, während der Prediger oder Priester oder Geistliche oder wie auch immer sich der Schwafler mit Onlinezertifikat, der neben dem Sarg steht, schimpfen mag, über Frieden und Ewigkeit lamentiert.

Es ist ein hübscher Sarg aus glänzendem Kirschholz mit dekorativen Eisengriffen und abgerundeten Ecken. Ich sollte mehr um den verschiedenen Mann darin trauern, aber ich kann nur daran denken, dass dieser Sarg vermutlich mehr gekostet hat als jedes Auto, in dem ich in meinem Leben gesessen habe, und dass er dort drin wahrscheinlich in von ägyptischer Baumwolle gesäumtem Samt liegt.

Und jetzt bin ich auch noch wütend. Na toll!

Ich hatte mir geschworen, heute nicht wütend zu werden. Verbittert? Klar. Das ist unvermeidlich. Aber nicht wütend.

Ich hole tief Luft, hebe den Kopf und versuche, mich abzulenken. Hinter meiner dunklen Sonnenbrille lasse ich den Blick über den Friedhof schweifen. Es sind mehr Leute gekommen, als ich angenommen hatte, die meisten von ihnen sehen nett und anständig aus. Wie gut haben sie James Turner gekannt? Waren sie Freunde von ihm? Kollegen? Geliebte? Die Leute von hier tauchen vermutlich grundsätzlich bei jeder Beerdigung auf, egal, in welcher Beziehung sie zu dem Verstorbenen gestanden haben. So ist das in Kleinstädten, jeder interessiert sich für jeden – oder zumindest tun sie so.

»James war ein guter Mann«, sagt der Geistliche. »Er hat ein anständiges Leben geführt und ist nun an einem besseren Ort.«

In der Ferne donnert es und ich richte den Blick zu den schweren, grauen Wolken über uns. Der Meteorologe im Fernsehen hat gesagt, es würde heute Abend regnen. Man wird James beerdigen, seinen Sarg mit Erde bedecken und dann wird der Regen die Erde versiegeln. Was für ein schönes Ableben.

Zum Teufel mit ihm!

Eine Frau an der Seite des Geistlichen singt Amazing Grace, während die Träger den Sarg in das Grab hinabsenken. Von der anderen Seite des Wegs glotzt mich unverhohlen ein Jugendlicher an, sein Blick gleitet an meinem Körper hinauf und hinab, als würde ich hier nackt und nicht voll bekleidet stehen. Dabei trage ich ein knielanges, graues Kleid mit langen Ärmeln und Rollkragen, nicht weniger. Im Juli. Ich bin lächerlich hochgeschlossen gekleidet – nicht, dass das Nachtblaue-Nancy oder Glotz-Gary im Geringsten interessieren würde.

Als der Typ merkt, dass ich zu ihm hinübersehe, wendet er rasch den Blick ab und läuft knallrot an. Ich wende mich ebenfalls ab, spiele mit dem Armband an meinem Handgelenk und richte meine Aufmerksamkeit auf den hinteren Teil der Trauergäste.

Eine Gruppe Frauen tupft sich mit Taschentüchern die Augen. Neben ihnen steht still eine junge Familie mit gefalteten Händen. In der Nähe formt ein älteres Paar mit dem Mund die Worte Amazing Grace, derweil die Sängerin die dritte Strophe beginnt. Als ich mich weiter umsehe, bemerke ich, dass alle anderen ebenfalls singen. Natürlich kennen die Bewohner von Copper Springs die dritte Strophe von Amazing Grace.

Ich muss hier wirklich weg. Ich gehöre nicht in diese winzige Stadt. Ich habe nie hierhergehört. Noch eine letzte Verpflichtung morgen, dann bin ich wieder weg.

Im hinteren Teil der Menge steht ein junger Typ unter einer großen Eiche – ich neige den Kopf. Er kommt mir vage bekannt vor, aber ich kann ihn nicht einordnen.

Er ist durchschnittlich groß und hat dunkelbraune Haare, ein dunkelviolettes Button-down-Hemd bedeckt die breiten Schultern. Die langen Ärmel hat er bis zu den Ellbogen aufgerollt und er trägt dunkle Jeans, passend zu einer dunklen Sonnenbrille, die seine Augen verdeckt. Dunkel, dunkel, dunkel.

Er ist attraktiv. Gefährlich attraktiv. So attraktiv, dass er einem die Sinne vernebelt und einen fertigmacht, bevor man überhaupt merkt, dass man ihm verfallen ist. Ich weiß, dass ich ihn schon einmal gesehen habe, aber ich kann mich ums Verrecken nicht erinnern, wo. Was vermutlich auch gut so ist …

Die Sängerin beendet die vierte Strophe des deprimierenden Songs Amazing Grace, es folgt Stille, dann räuspert sich der Priester. Er blickt zu mir und ich deute ein Nicken an. Mit ein paar letzten Worten über den so wundervollen James Turner beendet er die Beerdigung und ich seufze vor Erleichterung verhalten auf.

Ende.

Die Menge löst sich auf, die meisten gehen direkt zu ihren Wagen, während ein paar der Trauergäste nacheinander an das Grab treten und eine Handvoll Erde oder eine Blume auf den glänzenden Kirschholzdeckel des Sargs werfen. Ich trete zur Seite, die Sonnenbrille fest auf der Nase, und beobachte die Trauernden. Nachtblaue-Nancy wirft mir erneut einen bösen Blick zu und ich wende mich ab. Wow. Sie muss mich wirklich für James Turners Flittchen halten.

Trotz der Kränkung ist mir klar, dass sie vermutlich nur trauert. Sie war die Erste, die heute zur Beerdigung erschienen ist, und sie hat mehrfach während der Trauerfeier geschluchzt, woraus ich schließe, dass sie und James sich ziemlich nahegestanden haben. Und wenn es ihr dabei hilft, sich an diesem traurigen Tag besser zu fühlen, soll sie mich ruhig verurteilen und hassen, so sehr sie will. Ich beobachte, wie sie den Friedhof zusammen mit einer kleinen Gruppe Trauernder verlässt. Ich werde sie ohnehin nie wiedersehen.

Der Kerl in dem violetten Hemd tritt ans Grab und wirft eine Handvoll roter Erde auf den Sarg. Das Rot hebt sich von der braunen Erde darunter ab und ich frage mich, was das zu bedeuten hat. Dann denke ich über den Kerl in Violett nach. Er scheint nicht mit jemandem gemeinsam hier zu sein, was nur deshalb seltsam ist, weil er so gut aussieht. Attraktive Männer treten normalerweise mit einer ebenso attraktiven Frau am Arm auf. Doch dieser Mann ist eindeutig allein hier.

Er geht mit langen Schritten zum Parkplatz und steigt in einen schwarzen Sportwagen. Schlagartig beende ich meine Spekulationen. Mich interessiert nicht länger, wer er ist, woher er James kannte oder warum er mir bekannt vorkommt. Verzogene, reiche Jungs sind das Letzte, was mich interessiert.

Als alle bis auf die Mitarbeiter des Beerdigungsinstituts gegangen sind, trete ich vorsichtig an das offene Grab. Die Absätze meiner schwarzen Pumps versinken langsam im weichen Rasen, während ich auf das Letzte hinunterstarre, was ich von James Turner jemals sehen werde. Ich versuche, etwas Trauer aufzubringen, aber alles, was ich empfinde, ist noch mehr Wut.

Ich hole tief Luft, werfe ein zartes weißes Rosenblatt auf die braune und rote Erde und sage leise: »Ruhe in Frieden, Daddy.«

2 Daren

Manche Leute geben ihren Autos keinen Namen. Wahrscheinlich sogar die meisten Leute. Aber ein schwarzer Porsche hat etwas an sich, dass man ihn einfach … Monique nennen muss.

Ich klettere in meinen Sportwagen, schließe die Tür und betrachte durch die Windschutzscheibe die dunklen Wolken. Könnte sein, dass Monique morgen eine Wäsche braucht. Mein Blick wandert zurück zum Friedhof und meine Brust schnürt sich zusammen. Ich kann noch immer nicht glauben, dass Alter Mann Turner tot ist.

Als ich dreizehn war, lief es in meinem Leben nicht gerade rund. Turner bot mir damals an, für fünfzehn Dollar die Woche seinen Rasen zu mähen. Ein Jahr verging, dann fragte er mich, ob ich nicht auch seinen Garten versorgen könnte und gab mir eine Gehaltserhöhung. Kurz darauf kümmerte ich mich um sein gesamtes Anwesen. Das habe ich bis zum letzten Jahr getan. Dann forderte er mich auf, meine Energie auf einen »richtigen« Job zu konzentrieren.

Damals wusste ich nicht, dass er Krebs hatte. Teufel, bevor er gestorben ist, habe ich noch nicht einmal gewusst, dass er krank war. Wir haben uns nur für ein paar Monate aus den Augen verloren, doch offenbar hat Turner in dieser Zeit einen kurzen, intensiven Kampf gegen die Krankheit geführt und verloren.

Bis letzte Woche hatte ich keine Ahnung.

Mein Magen krampft sich zusammen, als ich an den Tag denke, an dem ich es erfahren habe – und an die Tage danach … Ich stoße heftig die Luft aus. Die letzte Woche gehörte sowieso nicht gerade zu meinen besten. Und jetzt befinde ich mich auf der Beerdigung des einzigen Mannes, den ich je als Vater betrachtet habe. Ich hatte noch nicht einmal die Chance, mich von ihm zu verabschieden.

Ich atme langsam und tief ein und lasse meine Knöchel knacken. Es sind nur ein paar Jahre gewesen, verdammt wenig.

Durch die Windschutzscheibe entdecke ich ein graues Kleid, das hüftschwingend und mit wehenden, blonden Haaren den Friedhof verlässt. Mit der schwarzen Sonnenbrille und in dem coolen Outfit hätte ich Kayla Turner fast nicht erkannt. Doch als ich sie jetzt noch einmal betrachte, bin ich mir sicher, dass sie es ist.

Früher hat sie ihren Vater immer einmal im Sommer besucht. Hin und wieder habe ich sie im Haus gesehen, wenn ich draußen den Rasen gemäht habe. Und es gibt Gesichter, die vergisst man einfach nicht.

Damals bestand sie nur aus Ellbogen, Knien und Sommersprossen. Doch verdammt, Kayla Turner ist erwachsen geworden und … umwerfend! Heute auf dem Friedhof hat es keinen einzigen Menschen gegeben, der sie nicht mit offenem Mund angestarrt hätte. Ich hatte schon befürchtet, der Typ in der ersten Reihe würde gleich an seiner eigenen Spucke ersticken, so wie er sie angeglotzt hat.

Ich bin überrascht, dass sie überhaupt aufgetaucht ist. Sie ist schon seit ein paar Jahren nicht mehr hier gewesen und ich habe gesehen, wie es Alter Mann Turner das Herz zerrissen hat. Er hat sie sehr vermisst, aber das hat sie auch nicht zurückgebracht.

Es ist nett von ihr, dass sie endlich wieder zu Besuch kommt. Zu schade, dass sie bis zur Beerdigung ihres Vaters gewartet hat, um ihn mit ihrer Anwesenheit zu beehren.

Mit zusammengebissenen Zähnen starte ich den Motor, setze zurück und verlasse den Parkplatz. Schnurrend entfernt sich Monique vom Friedhof und am liebsten möchte ich mit ihr schnurren. Herumzufahren lindert den Druck auf meiner Brust und ich habe das Gefühl, wieder frei atmen zu können. Ich öffne das Verdeck und sauge tief die frische Luft ein. Viel besser.

In der Ferne donnert es. Ich komme durch ein großes, bewachtes Wohnviertel, das einen bitteren Beigeschmack für mich hat. Westlake Estates. Hier habe ich gewohnt, als das Leben noch in Ordnung war.

Na ja, nicht wirklich in Ordnung. Aber einfacher.

Über die Ausfallstraße fahre ich zur Arbeit. Ich habe zwei Teilzeitjobs: einen im Handygeschäft von Copper Springs und einen als Lebensmittellieferant für das Willow Inn Bed & Breakfast vor der Stadt. Aber nur die Arbeit fürs Willow Inn macht mir wirklich Spaß.

Das Inn liegt fünfzig Meilen südlich von Copper Springs, im Niemandsland jenseits der Hauptstraße, doch wegen meiner großartigen Chefin fahre ich trotzdem jede Woche dorthin. Ellen gehört das kleine Hotel, das sie selbst betreibt, und in ihrer Freizeit ist sie nebenbei außerdem noch als Schutzengel tätig.

Als ich auf die Uhr blicke, merke ich, dass ich in einer Stunde dort sein muss. So lange werde ich mindestens bis dorthin brauchen. Mist. Und Monique hat nur noch wenig Sprit. Doppelter Mist!

Leise fluchend fahre ich an eine Tankstelle – ein heruntergekommener Laden, der geschlossen aussieht, bis auf ein blinkendes Neonschild, auf dem OF EN steht. Ich halte neben der schmutzigen Tanksäule und stelle den Motor aus.

Nachdem ich ausgestiegen bin, zähle ich stöhnend das Geld in meiner Tasche und stecke es wieder weg. Während ich Monique betanke, piept mein Telefon, ich blicke auf das Display und sehe, dass ich einen weiteren Anruf von Eddie verpasst habe.

Eddie Perkins ist Anwalt in Copper Springs und in letzter Zeit zusätzlich der Fluch meines Lebens. Letzte Woche hat er mir acht Nachrichten auf der Mailbox hinterlassen, von denen ich keine abgehört habe, weil ich mir sicher bin, dass sie allesamt etwas mit meinem Dad zu tun haben. Ihn zu ignorieren scheint allerdings nicht zu funktionieren.

Ich stelle mich ein Stück neben den Wagen und höre die neueste Nachricht ab.

»Hallo Daren, hier ist noch einmal Eddie. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie meine bisherigen Nachrichten erhalten haben. Ich habe versucht, Sie wegen James Turner zu erreichen. Wie Sie sicher wissen, ist er verstorben. Die Testamentseröffnung ist morgen um 11:00 Uhr in meinem Büro und es war Mr. Turners ausdrücklicher Wunsch, dass Sie dabei sein sollen. Ich hoffe, wir sehen uns dort. Wenn nicht, rufen Sie mich dennoch an, damit wir die andere Sache besprechen können.«

Die Nachricht ist zu Ende und ich starre auf mein Telefon. Warum um alles in der Welt sollte Turner wollen, dass ich bei der Testamentseröffnung dabei bin?

Es sei denn …

Mir kommt ein unfassbar lächerlicher Gedanke.

Könnte es um die Baseballkarten gehen? Hat Turner sich an etwas erinnert, das schon so lange zurückliegt?

Ich muss lächeln.

Ja. Das könnte sein, denn genau so war er.

Als ich dreizehn war, hatte mein Dad mir zu Weihnachten einen Satz Baseball-Sammelbilder geschenkt. An das Weihnachten erinnere ich mich genau. Es war dasselbe, an dem unsere Haushälterin, Marcella, mir eine Ausgabe des Buchs Holes geschenkt hatte. Es handelt von einem Jungen, der zur Strafe für etwas, das er noch nicht einmal getan hat, scheinbar sinnlos Löcher in den Boden gräbt. Ich war besessen von dem Buch; ich habe es bestimmt zehnmal gelesen und jeden Tag davon gesprochen.

Meine Mutter und mein Vater haben meinen Interessen kaum je Beachtung geschenkt. Ich bezweifle, dass sie überhaupt wissen, dass ich überhaupt ein einziges Buch gelesen habe, geschweige denn ein spezielles immer und immer wieder. Doch Marcella wusste es. Sie interessierte sich immer für die Dinge, für die ich mich interessierte. »Du bist mein Lieblingsjunge, Mijo«, pflegte sie zu sagen.

Sie nannte mich immer Mijo.

Sohn.

An jenem Weihnachten packte sie das Buch in einen grünen Karton mit einem roten Band. Ich erinnere mich daran, weil es derselbe Karton war, in dem ich meine Baseball-Sammelkarten aufbewahrte.

Ich nahm den Karton mit zu Turner, um ihm meine neuen Karten zu zeigen und berichtete ihm stolz, dass ich den Wert jeder einzelnen Karte überprüft hätte und sie für mindestens hundert Dollar verkaufen könnte. Geld war mir damals wichtig. Geld war alles, was mir wichtig war. Das hatte mein Dad mir so beigebracht.

Später an jenem Tag, als ich den Rasen mähte, nahm Turner mir dann den Karton mit den Karten weg, weil ich seiner Meinung nach ›zu verwöhnt sei, um sie zu schätzen‹.

Natürlich hatte er recht, aber das war mir damals egal. Ich war wütend und überzeugt, dass er die Karten selbst verkaufen und das Geld für sich behalten würde. Doch weil ich genauso verwöhnt war, wie er behauptete, war ich nur so lange wütend, bis mein Vater mir ein paar Tage später neue Baseballkarten kaufte.

So funktionierte das in meiner Familie. Meine Eltern kauften mir, was immer und wann immer ich etwas haben wollte, solange ich sie ansonsten in Ruhe ließ. Ich war ihr einziges Kind und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ein Versehen war. Wenn meine Eltern mich geplanthätten, hätten sie sich sicher etwas mehr Mühe mit … na ja, mir gegeben. Aber ich war ein Unfall und somit lästig. Etwas Lästiges, das man mit neuem Spielzeug ruhigstellen konnte.

Als ich Turner ankündigte, dass mich der gestohlene Karton mit den Baseballkarten nicht mehr interessierte, lachte er und sagte: »Eines Tages wird er dich interessieren.« Dann versprach er, dass er mir die Karten eines Tages zurückgeben würde.

Ich starre auf mein Telefon und der Bildschirm mit der Mailboxnachricht blinkt mich an. Vielleicht ist das Turners Art, sein Versprechen einzulösen. Nach seinem Tod.

Erneut schnürt sich meine Brust fest zusammen und die Luft entweicht aus meiner Lunge. Ich kann nicht glauben, dass er tot ist. Wirklich tot.

Ein Klirren stört meine Gedanken, ich fahre herum und sehe einen Abschleppwagen, der Monique an einer Kette sichert und sie auf seine Ladefläche hebt. Erschrocken reiße ich die Augen auf.

»He!«, schreie ich dem übergewichtigen Fahrer mit dem geschwungenen Schnurrbart zu, der auf einem Zahnstocher kaut. »Was machen Sie da?«

Er würdigt mich kaum eines Blickes. »Ich nehme ihn mit. Rücklaufvereinbarung.«

»Rücklaufvereinbarung?« Panik erfasst mich. »Nein, nein. Das muss ein Fehler sein. Die Raten für den Wagen sind für ein Jahr bezahlt. Ich habe noch bis nächsten Monat Zeit.«

Er überreicht mir ein zerknittertes, fleckiges Papier mit fettigen Fingerabdrücken und einem nicht zu identifizierenden braunen Fleck. »Laut Bank nicht.«

Rasch überfliege ich das Dokument. »Mist.« Ich war mir sicher, dass ich mit den Zahlungen noch bis August Zeit hätte. Ich wische mir mit der Hand über den Mund und versuche, klar zu denken. »Hören Sie zu«, wende ich mich an den Fahrer und versuche, ruhig zu bleiben. »Wir können das klären. Was muss ich tun, um meinen unschuldigen Wagen zu befreien?«

Er wirkt gelangweilt. »Haben Sie vier Monatsraten dabei?«

»Äh, nein. Aber ich habe …« Ich krame den Inhalt meiner Taschen hervor. »Zweiundvierzig Dollar, eine kaputte Uhr und etwas rote Erde.«

Letztere rieselt durch meine Finger und ich denke an all die Wochenenden, die ich mich um Turners Anwesen gekümmert habe. Der Rasen war in gutem Zustand und die Pflanzen wuchsen üppig, doch Turners Lieblinge waren die Rosenbeete. Ganz besonders verrückt war er nach den weißen Rosen. So kümmerte ich mich um die dornigen Blumen wie um hilflose Babys und Turner sparte dafür nicht mit Lob. Jeden Samstag zog ich den Rechen durch den seltenen, roten Mutterboden um die wertvollen Rosen herum und sorgte dafür, dass die Büsche atmen und wachsen konnten. Ich habe mich unzählige Male an ihren Dornen gestochen, doch die Rosen verwelkten nie und darauf war ich stolz. Ich glaube, Alter Mann Turner ist ebenfalls stolz auf meine Arbeit gewesen.

Der Kerl vom Abschleppdienst zuckt mit den Schultern. »Kein Geld, kein Wagen. Tut mir leid.« Er betätigt einen Hebel, sodass Monique nun etwas über dem Boden schwebt und ich schwöre, dass es sich anfühlt, als werde ein von mir geliebter Mensch entführt.

»Warten Sie. Warten Sie!« Ich hebe eine Hand. »Ich kann es besorgen. Ich meine das Geld. Ich brauche nur etwas Zeit.«

»Besprechen Sie das mit der Bank.«

Ich schüttele schnell den Kopf. »Nein, hören Sie. Ich kann nicht mit der Bank sprechen, die Bank hasst mich …«

»Tja, ich frage mich, warum wohl …« Er sieht mich nicht an.

»Aber ich kann das Geld besorgen!« Ich deute auf Monique. »Bitte setzen Sie mein Baby wieder ab. Lassen Sie uns ein Bier trinken und die ganze Sache besprechen.« Ich lächele ihn freundlich an. »Was meinen Sie?«

Er hustet. »Ihr hübschen Jungs seid alle gleich. Ihr seid es gewohnt, alles mit Daddys Geld zu bezahlen und wenn man euch euer Spielzeug wegnimmt, ballt ihr die Fäuste.« Er schüttelt den Kopf und steigt in den Abschleppwagen. »Bis dann.«

»Aber wie soll ich denn jetzt nach Hause kommen?!«, rufe ich und werfe die Arme in die Luft.

Er startet den Motor und schiebt den Zahnstocher in den anderen Mundwinkel. »Das hätten Sie sich überlegen sollen, bevor Sie die Zahlungen eingestellt haben.« Dann fährt er mit der süßen Monique als seiner Gefangenen von der Tankstelle und ich sehe zu, wie das letzte Stück meines anderen Lebens langsam verschwindet.

Mistk…

»Sir?«

Ich fahre herum und sehe einen dürren Tankstellenwart, der sich an einem Tuch die Hände abwischt.

»Was?«, fahre ich ihn an, frustriert über alles, das in meinem Leben schiefgelaufen ist.

»Sie müssen noch bezahlen«, erklärt er.

Ich verziehe das Gesicht. »Wofür?«

Er deutet mit dem Kopf auf die Tanksäule. »Für das Benzin.«

»Das Ben…« Ich bemerke den herabhängenden Zapfhahn, von dem die arme Monique fortgerissen wurde, und würde am liebsten laut schreien. »Ach, kommen Sie, Mann! Mein Wagen wurde gekidnappt! Ich habe nicht darauf geachtet, wie viel Benzin ich getankt habe.«

Er zuckt mit den Schultern. »Egal. Benzin ist Benzin. Das macht siebenundachtzig Dollar.«

»Siebenund…« Ich beiße die Zähne zusammen. »Ich habe keine siebenundachtzig Dollar.«

Er kratzt sich am Hinterkopf. »Tja, ich darf Sie nicht gehen lassen, ohne dass Sie bezahlt haben.«

Ich reibe mir über das Gesicht und bemühe mich, die vielen Flüche, die mir auf der Zunge liegen, für mich zu behalten. Sehr ruhig und kontrolliert sage ich: »Gibt es einen Geschäftsführer, mit dem ich die Angelegenheit klären kann?«

Er deutet mit dem Kopf auf das kleine Tankstellengeschäft. »Meine Schwester.«

Durch die Scheibe sehe ich eine junge Frau mit lockigen, roten Haaren hinter der Kasse sitzen und muss lächeln.

»Perfekt«, sage ich.

Als ich zum Eingang gehe, fallen ein paar Regentropfen platschend auf den schmutzigen Betonboden neben meinen Schuhen. Ich blicke hinauf zu den dunklen Wolken, die schwer von dem bevorstehenden Unwetter sind, und runzele die Stirn. Ich will wirklich nicht im Regen nach Hause laufen.

Als ich den Laden betrete, schlagen ein paar schrille Glocken gegen die Tür, und die Schwester blickt von ihrem Kreuzworträtsel auf. Auf ihrem Namensschild steht WENDY. Das merke ich mir.

Sie mustert mich und sogleich wird ihre Miene weicher. »Ach, hallo«, sagt sie mit tiefer, aufreizender Stimme, die so klingt, als habe sie sie extra für Gespräche mit attraktiven Männern reserviert. »Kann ich helfen?«

Ich schenke ihr mein bestes Hilfloser-Junge-Grinsen und seufze dramatisch. »Das hoffe ich sehr, Wendy.«

Als ich ihren Namen nenne, hellt sich ihr Blick auf. Frauen mögen es, wenn man sie mit ihrem Namen anspricht. Sie schmelzen dahin. Es ist wie ein geheimes Passwort, mit dem man sofort ihr Vertrauen gewinnt.

Sie beugt sich mit einem verklärten Lächeln vor und mir ist klar, dass ich mich mit meinem Charme innerhalb weniger Sekunden von einer Siebenundachtzig-Dollar-Benzinrechnung befreit habe – und vielleicht sogar eine Mitfahrgelegenheit nach Hause gefunden habe.

»Ich auch«, erwidert sie vieldeutig.

Ich lächele.

Manchmal lohnt es sich eben doch, ich zu sein.

3 Kayla

Als ich mit einer Spinne im Gesicht aufgewacht bin, wusste ich gleich, dass das heute ein beschissener Tag werden würde. Mit einer Spinne!

Im Gesicht!

So etwas passiert, wenn man sich nur ein heruntergekommenes Motel mit dem aufbauenden Namen Quickie Stop leisten kann.

Doch die Spinne war nicht das Einzige, was den Tag so fulminant beginnen ließ. Da waren außerdem noch mysteriöse Haare auf dem Nachttisch, die ich zufällig berührt habe, als ich über den Siebzigerjahre-Pornoteppich gestolpert bin. Ein langhaariger,zotteliger Pornoteppich – ein anderer wäre wohl nicht eklig genug gewesen. Es folgten eiskalte Wassertropfen aus der schimmeligen Dusche, die sich als Heimat meiner freundlichen Gesichtsspinne herausstellte. Und zuletzt war da noch der erquickende Geruch von Katzenurin, der den ganzen Morgen durch die verrostete Deckenlüftung hereinwehte.

Ich bin also nicht wirklich gut gelaunt, als ich fertig angezogen und zum Aufbruch bereit bin. Aber ich habe schon Schlimmeres erlebt. Deutlich Schlimmeres. Dies mag ein heruntergekommenes Motelzimmer sein, aber verglichen mit der mit Kakerlaken verseuchten Bude, die ich in Chicago hinter mir gelassen habe, ist dies hier eine echte Luxusunterkunft.

Mein Blick fällt auf mein Spiegelbild im Badezimmerspiegel und ich runzele die Stirn. Ich bin für eine Testamentseröffnung passend gekleidet. Eine königsblaue Bluse mit einem Bleistiftrock und schwarzen Pumps. Aber das Oberteil ist zu eng, als dass ich mich darin wohlfühlen würde, es schmiegt sich um meine Brüste, als wollte ich sie mit Absicht zur Schau stellen. Der Ausschnitt ist zwar relativ züchtig, doch wenn ich mich nach vorn beuge, ist mein Dekolleté deutlich zu sehen.

Merke: Nicht nach vorn beugen!

Der Rock ist abgetragen und etwas zu kurz, um als seriös durchzugehen, aber er ist der einzige, den ich besitze, also muss er reichen. Die Schuhe sind ebenfalls abgestoßen und alt, aber von Weitem sehen sie anständig genug aus. Alles in allem also nicht gerade mein Lieblingsoutfit. Ich mag keine enge Kleidung, die meine Sanduhrfigur betont. Doch da die anderen Optionen Jeans, Schlafanzug oder das dicke graue Kleid von gestern, das ich in der Sommersonne durchgeschwitzt habe, sind, trage ich diese Kombination.

Ich hänge meine Tasche über die Schulter und nehme meine Autoschlüssel. Ich muss nur noch ein lächerliches Treffen mit Dads Anwalt überstehen – demselben Anwalt, der mich letzte Woche angerufen hat, um mir die schockierende Nachricht von seinem Tod zu übermitteln –, dann packe ich meine Sachen und fahre nach Hause. Obwohl Zuhause nicht wirklich viel bedeutet, wenn alles, was man besitzt, in einen kleinen, braunen Koffer passt.

Mein Blick fällt auf mein Gepäck auf dem Bett und mein Magen krampft sich zusammen. Ich habe keine Ahnung, was ich als Nächstes tun soll. Nicht nur hier in Copper Springs, sondern im Leben generell. Ich durchwühle meine Tasche, finde meine Brieftasche und zähle die Scheine.

Sechsunddreißig Dollar. Mist!

Ich schiebe eine Hand in meinen BH, in dem ich mein Geld für den Notfall aufbewahre.

Einundzwanzig Dollar.

Ich ziehe meinen rechten Schuh aus, hebe vorsichtig die schwarze Ledersohle an und pule ein paar wertvolle Scheine aus dem Versteck, in dem ich das Geld für den absoluten Notfall aufbewahre.

Achtzehn Dollar.

Alles zusammen bleiben mir also fünfundsiebzig Dollar.

Jeder andere Penny, den ich besessen habe, ist für die Reise hierher draufgegangen, und auch, wenn mein Leben davon abhinge – was es vielleicht tut, wenn sich die Dinge weiterhin so erquicklich entwickeln –, komme ich nicht an eine Kreditkarte. Ich bin pleite. Und arbeitslos. Und obdachlos.

Mein Magen verkrampft sich noch mehr.

Ich hatte einen Job in einem Restaurant in Chicago, aber als ich meinen Chef, Big Joe, gebeten habe, mir für die Beerdigung meines Vaters freizugeben, hat er sich geweigert. Also habe ich gekündigt – was nicht gerade glimpflich abgelaufen ist.

Meine Mutter, Gia, hatte sich ohne mein Wissen 20 000 Dollar von Big Joe geliehen, um alte Schulden zu begleichen. Ich wusste nichts davon, bis ich gehen wollte und Big Joe das Geld von mir zurückgefordert hat. Da meine Mutter ihm das Darlehen nicht mehr zurückzahlen kann, bestand er darauf, dass ich die Schulden bei ihm abarbeite. Das war eine Drohung, kein Angebot, und ich hatte eine Heidenangst.

Mein ganzes Leben befand sich in der Kakerlakenwohnung, also packte ich meine Sachen, löste meinen letzten Gehaltsscheck ein und fuhr nach Arizona. Und selbst wenn ich das Benzingeld hätte, um zurück nach Chicago zu fahren, könnte ich mir dort keine Wohnung mehr leisten und wäre gezwungen, für Big Joe zu arbeiten, bis die Schulden meiner Mutter abbezahlt wären. Und wie ich Big Joe kenne, verlangt er sicher auch noch auf andere Weise Entschädigung, indem er mir auf den Hintern haut oder meine Brust betatscht.

Ich schaudere.

Ich bin am Ende, aber ich bin keine Prostituierte. Eher würde ich auf einer Parkbank schlafen, als mich für Geld betatschen zu lassen.

Oje, vielleicht muss ich wirklich auf einer Parkbank schlafen.

Ich schüttele den Kopf, um die pessimistischen Gedanken zu vertreiben. Eines Tages, Kayla, eines Tages schaffst du es! Gott! Das Leben verläuft wirklich kein bisschen so, wie ich es mir erhofft hatte.

Eigentlich sollte ich jetzt die Krankenschwesternschule besuchen und eine glänzende Zukunft vor mir haben. Stattdessen befinde ich mich auf der Flucht vor einem Schuldeneintreiber, gehe zu unerwarteten Beerdigungen und wache mit Spinnen im Gesicht auf.

Ich verstaue alle Notdollars wieder an den dafür vorgesehenen Stellen und verlasse das Motelzimmer. Es hat die ganze Nacht geregnet, aber das Unwetter ist schnell abgezogen und hat klare, frische Luft zurückgelassen. Sie hellt meine Laune etwas auf, als ich über den Parkplatz zu Moms Wagen gehe. Der jetzt mir gehört.

Er hat die Farbe von vertrocknetem Gras, seine Blütezeit liegt ein paar Jahrzehnte zurück, und er hat überall Beulen, aber ich beklage mich nicht. Er hat vier Räder und riecht nicht nach Urin. Für mich könnte es genauso gut eine Limousine sein.

Ich fahre durch die Straßen der Kleinstadt Copper Springs und ein Anflug von Nostalgie überkommt mich. Hier habe ich die besten Jahre meines Lebens verbracht; erst mit meiner Familie, als meine Eltern noch verheiratet waren, und dann, nachdem Mom und ich nach der Scheidung weggezogen waren, wenn ich im Sommer meinen Dad besucht habe.

Die niedlichen Ladenfronten und die gepflegten Straßen sehen noch genauso hübsch aus wie früher. Ich bin seit mehr als fünf Jahren nicht mehr hier gewesen. Eigentlich hatte ich vor, nie mehr zurückzukehren, aber es kam mir nicht richtig vor, der Beerdigung meines Vaters fernzubleiben. Und wenn ich ehrlich bin, brauchte ich einen Abschluss. Vor allem nach der Art, wie Mom gestorben ist …

Nicht daran denken. Nicht daran denken!

Ich schlucke, konzentriere mich auf die Straße und lenke meine Gedanken auf etwas anderes – irgendetwas anderes. Ich finde problemlos die Kanzlei des Anwalts und parke. Dann spreche ich mir im Geiste etwas Mut zu.

Ich weiß, dass mein Dad mir in seinem Testament nichts hinterlassen hat, was mich nicht weiter überrascht. Er hat mir nichts von seinem Geld gegeben, solange er lebte, warum sollte sich das mit seinem Tod ändern? Dennoch bin ich etwas enttäuscht.

Als Nachfahre der ursprünglichen Stadtgründer hat Dad einiges an Land in Copper Springs gehört – einschließlich eines Großteils des Marktplatzes, wodurch er relativ wohlhabend war. Das Wertvollste, was ihm gehörte, war Milly Manor, sein prächtiges Anwesen am Rand der Stadt. Da es ein historisches Gebäude ist, öffnete mein Vater es für Besichtigungen und ließ die Leute Fotos vom Haus machen. Er war stets mehr als glücklich, es mit den Bewohnern von Copper Springs zu teilen.

Als mich der Anwalt letzte Woche anrief und mir erklärte, dass mein Vater sein Anwesen und all seinen Besitz der Stadt gespendet habe, war ich daher nicht wirklich überrascht. Als er jedoch sagte, er brauche meine Unterschrift unter einigen Testamentspapieren von Dad, da war ich überrascht – und zwar unangenehm überrascht.

Meine Gefühle spielten völlig verrückt: Schock, Neugier, Bitterkeit, Gereiztheit waren nur einige der Phasen, die ich durchlitten habe. Es schien unnötig grausam von meinem Vater, mich fünf Jahre lang zu ignorieren und dann dreist darum zu bitten, nach Arizona zu kommen, um mit meiner Unterschrift abzusegnen, dass er seinen Reichtum anderen Leuten vermachte. Vor allem, da meine Mutter und ich in Armut gelebt haben und er uns in den letzten Jahren kaum ein Lächeln geschenkt hat, geschweige denn jemals eine milde Gabe.

Nichtsdestotrotz bin ich hier, also unterzeichne ich eben seine wertvollen Papiere. Klar, ich werde das mit Würde über die Bühne bringen. Oder zumindest ohne zu fluchen oder zu murren.

Ich stelle den Motor aus, starre auf die Tür des Anwalts und spiele mit meinen Schlüsseln. Dann klappe ich die Sonnenblende herunter und richte im Spiegel meine langen Haare. Schon jetzt fühle ich mich irgendwie deplatziert, dabei sitze ich noch in meinem eigenen Wagen. Vielleicht war das alles eine blöde Idee. Vielleicht hätte ich in Chicago bleiben und die Schulden auf mich nehmen sollen. Obwohl ich mich auch in Chicago deplatziert gefühlt habe, vor allem seit Mom tot ist.

Sofort schiebe ich den Gedanken fort, klappe die Sonnenblende nach oben und steige aus dem Wagen. Es gibt eine Zeit, um zu trauern, und diese Zeit ist vorüber. Ich straffe meine Schultern und schreite in die Anwaltskanzlei.

Als Erstes fällt mir auf, dass Mr. Perkins sehr wahrscheinlich der unorganisierteste Anwalt aller Zeiten ist. Überall stapeln sich Papiere und Akten, ohne dass darin irgendeine Ordnung erkennbar wäre, und an die Wände sind wahllos Artikel und Bilder geheftet, als handele es sich hier um das Zimmer eines Siebtklässlers und nicht um einen Ort, an dem Recht ausgeübt würde.

Das Zweite, was ich bemerke, ist der Kerl, der auf dem schwarzen Kunstledersofa vor der anderen Wand sitzt. Violettes Hemd. Dunkle Jeans. Höllisch gut aussehend.

Ach, verdammt!

Gestern bei der Beerdigung kam er mir nur bekannt vor, jetzt, ohne Sonnenbrille, erkenne ich ihn.

»Daren Ackwood«, sage ich laut.

Er grinst mich an und ein Grübchen erscheint auf seiner Wange. »Kayla Turner.«

Manche Menschen sehen so gut aus, dass man sie einfach nur mit offenem Mund anstarren will. Menschen wie Daren.

Nein. Gutaussehend ist das falsche Wort.

Er ist schön.

Und das war er schon als Kind.

Seine dunkelbraunen Haare sind kurz geschnitten und so gestylt, als wäre er gerade aus dem Bett direkt in einen Katalog mit heißen Surfer-Typen gestiegen. Zu seiner Frisur passen die dichten Brauen über seinen schokoladenfarbenen Augen. Die Haut an seinem sehnigen Hals und an den muskulösen Unterarmen, die aus seinen aufgerollten Ärmeln hervorlugen, ist bis hin zu den langen kräftigen Fingern leicht gebräunt. Und sein Mund ist die reinste Versuchung – volle Lippen und weiße Zähne … Als er den Mundwinkel zu einem Lächeln verzieht, erscheint erneut das freche Grübchen auf seiner linken Wange. Er sieht aus, als würde er einem nur Ärger bringen.

Aufgrund seines verheerend guten Aussehens in Kombination mit dem lächerlichen Reichtum seiner Familie fühlte sich damals jedes Mädchen in Copper Springs wie ein Magnet von ihm angezogen – zumindest habe ich das gehört.

Ab meinem fünften Lebensjahr bin ich nur noch einmal im Jahr in der Stadt gewesen, sodass ich nicht viel Zeit hatte, Freundschaften zu knüpfen. Eigentlich hatte ich nur eine enge Freundin in der Stadt, Lana, die nach der Highschool weggezogen ist. Doch als ich dreizehn war und Daren angefangen hat, für meinen Dad im Garten zu arbeiten, war Lana außer sich. Ständig dachte sie sich neue Ausreden aus, um mit zu meinem Dad zu kommen und Daren anzuhimmeln. Es war lächerlich, wie verknallt sie in ihn war. Und sie war nicht die Einzige.

Bald wussten alle in der Stadt, dass Daren für meinen Dad arbeitete und jedes Mal, wenn ich ein Mädchen aus der Stadt kennenlernte, fragte es mich kichernd dasselbe: »Kennst du Daren Ackwood?«

Die Antwort lautete jedes Mal nein. Ich kannte Daren Ackwood nicht. Ich sah ihn manchmal durch das Küchenfenster und ich beobachtete ihn, wenn er im Garten arbeitete – vor allem, wenn er kein Hemd trug –, aber ich kannte Daren Ackwood nicht und er kannte mich nicht. Wir haben nie miteinander gesprochen. Offen gestanden bin ich überrascht, dass er überhaupt weiß, wie ich heiße.

Einen Augenblick starren wir uns bloß an, er sitzend mit leicht gespreizten Beinen und ich mit gelangweilter Miene auf meinem letzten Paar Pumps stehend.

»Schön, dich zu sehen.« Mit einem weiteren schmutzigen Lächeln im glattrasierten Gesicht mustert er mich.

Oh ja, er bedeutet Ärger! Die Art von Ärger, die ich mir überhaupt nicht leisten kann.

Ich habe mehr Geschichten über Darens Sexleben gehört, als ich zugeben mag. Die ganze Highschool-Zeit über hielt Lana mich über alles in Copper Springs auf dem Laufenden, einschließlich über Daren, den Frauenflüsterer – so nannte sie ihn.

Laut Lana und jedem anderen Mädchen auf der Highschool von Copper Springs war Daren eine Art Gott im Bett. Ich bezweifle, dass irgendetwas von dem, was sie mir erzählt hat, stimmte, aber die Geschichten verschafften Daren einen Ruf, der ihm vorauseilte.

Unabhängig von den Gerüchten kenne ich diese Art Typen. Sie lassen ihren Charme sprühen, verführen Frauen und hinterlassen jede Menge gebrochener Herzen auf ihrem Weg. Ich habe nicht vor, eines seiner zurückgelassenen Herzen zu werden – weder das von Daren noch von sonst jemandem. Also bewahre ich sorgsam eine neutrale Miene, als ich seine zerknitterte Kleidung mustere.

»Hübsche Aufmachung«, bemerke ich. »Hast du letzte Nacht vergessen, nach Hause zu gehen?« Ich hebe eine Braue, um meine Missbilligung zum Ausdruck zu bringen.

Sein schmutziges Lächeln wächst. »So ungefähr.«

Mistkerl!

»Oh, hallo! Sie müssen Kayla sein.« Ein älterer Herr mit dichten, weißen Brauen und schütterem Haar tritt mit freundlicher Miene aus einer Tür im hinteren Teil der Kanzlei. Seine kleine, runde Statur kämpft sich durch das Schlachtfeld aus Papieren zu mir. »Ich bin Eddie Perkins.« Er streckt mir die Hand entgegen.

Ich drücke sie fest. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Perkins.«

»Ich bin auch sehr erfreut, Miss Turner«, sagt er. »Ich wünschte nur, es wäre unter anderen Umständen.« Seine fröhliche Miene verdunkelt sich. »Mein Beileid.«

Ja, ja. Mein Dad ist tot. Wir sind alle traurig.

Ich lächele höflich. »Danke.«

»Ich freue mich, dass Sie hier sind«, fährt er fort. »Ihr Vater hat nicht geglaubt, dass Sie kommen würden, wissen Sie, aber ich bin froh, dass er sich getäuscht hat.« Er lächelt warm, dann blickt er sich um. »Ach, wo ist nur meine Brille?« Er betastet seine Anzugjacke und dreht sich im Kreis, während er seine Hosentaschen durchsucht.

»Auf Ihrem Kopf, Eddie«, bemerkt Daren.

Eddie tastet auf seinem Kopf, bis er die Lesebrille findet, die er in seine spärlichen Haare gesteckt hat. »Ach! Da ist sie ja.« Er lächelt, als er die Brille herunterzieht und aufsetzt. »Ich vergesse ständig, wo ich sie gelassen habe. Also«, er klatscht in die Hände, »da nun alle hier sind, sollten wir gleich anfangen, oder?«

Ich blicke mich um und zögere. »Alle?«

Der Anwalt nimmt die Brille ab, die er soeben aufgesetzt hat. »Ja. Sie und Mr. Ackwood sind die einzigen Geladenen.« Er schiebt eine Hand in die Innentasche seines Jacketts, zieht sie leer wieder hervor und murmelt: »Na, wo habe ich denn jetzt wieder mein Taschentuch?«

Mit gerunzelter Stirn vergewissere ich mich: »Mein Dad hat um Darens Anwesenheit gebeten?«

»Ja. Ach, da ist es ja.« Der Anwalt zieht ein gelbes Taschentuch aus seiner hinteren Hosentasche und putzt damit seine Brille.

Ich blinzele ein paarmal. »Warum?«

Daren antwortet: »Dein Vater hatte noch ein paar Baseballkarten von mir.«

Ich starre ihn an. »Hä?«

»Sie sind beide hier, um einige Papiere zu unterzeichnen, Miss Turner.« Mr. Perkins steckt das Taschentuch in seine Jackentasche und setzt die Brille wieder auf. »Doch zunächst müssen wir den letzten Willen Ihres Vaters verlesen.« Er kratzt sich am Kopf. »Wo habe ich bloß das Testament hingetan?« Er lässt den Blick über seinen chaotischen Schreibtisch schweifen. »Gerade war es doch noch da.« Er schiebt ein paar Papiere hin und her, dann durchwühlt er einen hohen Aktenschrank.

»Neben dem Kaffeebecher«, sagt Daren.

»Ach, stimmt.« Eddie lächelt, als er die Unterlagen meines Vaters aus einer kleinen Teeküche in der Ecke hervorkramt.

Es gefällt mir, dass das Testament meines Vaters sorgfältig zwischen Keramikbechern und einer Dose Kaffeeweißer abgelegt war.

»Ich verstehe noch immer nicht«, bemerke ich.

Mr. Perkins wendet sich zu mir und zuckt mit den Schultern. »Vielleicht wurde Mr. Ackwood wegen der Baseball-Kartensammlung Ihres Vaters hergebeten.«

»Es ist eigentlich meine Sammlung«, korrigiert Daren. »Turner hat die Karten nur für mich aufbewahrt. So in etwa.«

Ich blicke erst Daren an, dann den Anwalt. »Ich dachte, mein Vater hätte niemandem etwas vermacht. Ich dachte, er hätte alles vor seinem Tod gestiftet.«

»Fast alles.« Mr. Perkins deutet auf das Sofa. »Bitte, nehmen Sie Platz.«

Ich blicke auf die einzige Sitzmöglichkeit und stöhne innerlich auf. Daren hat einen gebräunten Arm auf der Rückenlehne des Sofas abgelegt, der andere ruht lässig auf der Armlehne, sodass seine breite Brust zur Geltung kommt; das rechte Bein hat er lang ausgestreckt und den Knöchel des anderen Beins auf dem Knie abgestützt. Meine Güte. Kann er sichvielleicht noch breiter machen?

ENDE DER LESEPROBE