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Jenni ist mit Anfang 30 am Ziel ihrer beruflichen Laufbahn angekommen, indem sie sich als Landärztin selbstständig gemacht hat. Auch privat zeichnet sich eine vielversprechende Entwicklung ab, als sie einen Mann kennen lernt, mit dem sie sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen könnte. Von den Einheimischen wird sie inzwischen akzeptiert. Lediglich das Verhältnis zu ihrer Vermieterin, der Witwe des früheren Arztes, lässt sehr zu wünschen übrig. Da diese im Nachbarhaus wohnt mischt sie sich regelmäßig in Jennis Alltagsleben ein, was zuweilen sehr lästig ist. Eines morgens berichtet eine Patientin vom Ableben der Arztwitwe Kaulberg, Jennis Vermieterin. Kurz darauf wird Jenni von der Polizei befragt, ob sie bemerkt habe, wen Frau Kaulberg am Vorabend zu Besuch hatte. Der zunächst vermeintliche Unfall entpuppt sich alsbald als Mord oder Totschlag. Jennis Neugier wird geweckt und sie begibt sich auf Spurensuche. Durch ein Kellerfenster findet sie Zugang zum Bungalow der Arztwitwe, welcher sich auf demselben Grundstück befindet. Einen Anhaltspunkt findet sie in Unterlagen über den Rechtsstreit bezüglich des Pflichtteilsanspruchs der Tochter aus erster Ehe, Tamara Schneider. Jenni notiert sich deren Anschrift und beschließt, die Frau aufzusuchen. Tamara ist begeistert von Jennis Nachforschungen in ihrem Elternhaus, sodass sie nach Langenheim fährt, um gemeinsam in das Haus einzudringen. Tatsächlich finden sie tagebuchähnliche Aufzeichnungen, die über 30 Jahre zurückreichen. Jenni, Tamara und die Arzthelferin Sabine arbeiten sich gemeinsam durch die Lektüre, wodurch zahlreiche erschütternde Begebenheiten ans Licht kommen. Eva Kaulberg hatte mit einem Studienfreund gezielt geplant mit dem verheirateten Langenheimer Arzt ein Verhältnis anzufangen, um ihn finanziell zu erpressen. Der Plan scheiterte jedoch, stattdessen wurde sie schwanger und erwirkte dadurch die Scheidung der Eheleute, um den Arzt anschließend selbst zu ehelichen. Mehrere mögliche Verdächtige erschließen sich aus den Aufzeichnungen.
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Seitenzahl: 171
Veröffentlichungsjahr: 2013
Petra Cabolet
© 2012 Petra Cabolet
Umschlaggestaltung/Layout: Petra Cabolet
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN: 978-3-8491-2038-2
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Petra Cabolet ist in einem fränkischen Dorf aufgewachsen. Ihr Vater war Landarzt, wodurch sie zu dem vorliegenden Roman inspiriert wurde.
Langenheim ist ein fiktiver Ort, den es aber so oder so ähnlich in Unterfranken durchaus gibt.
Es war wieder einmal einer dieser Tage, an dem sie lieber länger im Bett geblieben wäre, aber die Studienzeit, als man hin und wieder ein Seminar oder eine Vorlesung ausfallen lassen konnte, war endgültig vorbei.
Jenni bedauerte allerdings nicht, diesen Lebensabschnitt abgeschlossen zu haben, ganz im Gegenteil, hatte sie sich doch vor drei Jahren einen Lebenstraum erfüllt, und sich als Ärztin selbstständig gemacht. Zwar war sie in einem 950Seelen-Dorf mitten im Steigerwald gelandet, wo sich Fuchs und Hase sprichwörtlich Gute Nacht sagen, dafür war sie ihre eigene Chefin. Sie beglückwünschte sich selbst dazu, dies mit 30 Jahren bereits geschafft zu haben.
Die Gründung einer eigenen Familie musste daher zunächst zurückstehen. Ihre Beziehungen waren bisher nie von Dauer, denn das Studium stand bei ihr immer an erster Stelle. Zudem war keiner der bisherigen Kandidaten in ihren Augen ein potentieller Ehemann und Vater für die Kinder, die sie sich noch wünschte. Mittlerweile war sie der Meinung, die Zeit sei reif für die Familienplanung.
Tatsächlich war ihr vor einem guten halben Jahr das Glück wohlgesonnen, als ein Mann, der keiner ihrer Patienten war, zufällig in ihre Sprechstunde kam. Er war groß und schlank, beinahe schlaksig, hatte dunkle, leicht gewellte Haare und braune Augen. Dazu kamen eine ausgeprägte Nase und ein süffisantes Lächeln. Jenni war von seinem charmanten Auftreten fasziniert und daher sofort bereit, sich am selben Abend zum Essen ausführen zu lassen. Hinhalte-Taktik hielt sie für albern und nicht mehr ihrem Alter entsprechend. Die Romanze nahm ihren Lauf und Jenni glaubte inzwischen sehr verliebt zu sein.
Am vorigen Abend hatten sie spontan halbjähriges Jubiläum gefeiert, als Manfred überraschend vor ihrer Tür stand. Es wurden ein paar Gläser Sekt mehr, als gut für Jenni gewesen wären, weshalb sie sich nun mit einem Brummschädel quälte. Vor dem Badezimmerspiegel schnitt sie Grimassen und schöpfte sich mehrfach kaltes Wasser ins Gesicht, um ihre Lebensgeister zu wecken.
In einer halben Stunde musste sie die Praxis öffnen und hoffte, dass der Tag einigermaßen ruhig beginnen würde. Nachdem sie schnell geduscht hatte, zog sie ihr übliches Outfit an: weiße Jeans, Sneaker, irgendein T-Shirt, dessen Farbe gleichgültig war, da sie einen Arztkittel darüber anzog. Nur noch etwas Tagescreme und Wimperntusche, die langen blonden Haare hochgesteckt, und sie war fertig für den Tag.
Jenni musste nur eine Etage tiefer in die Praxisräume, da sie glücklicherweise die großzügig geschnittene Wohnung darüber ebenfalls mieten konnte. Die Räumlichkeiten befanden sich in einem Gebäude, welches um 1900 im Stil eines Herrenhauses erbaut worden war, wie es in der näheren Umgebung kein vergleichbares gab. Jenni fühlte sich sehr wohl in dem dicken Gemäuer mit Doppelfenstern. Die Stufen der breiten Treppe, die Wohnung und Praxis miteinander verbanden, knarzten bei jedem Schritt und versetzten Jenni in ein früheres Jahrhundert. Hier hatten bereits mehrere Generationen Ärzte praktiziert. Im Treppenhaus hing ein Druck von Rembrandt, Die Anatomiestunde des Doktor Tulp, der die Patienten vermutlich abschrecken würde. Da das Treppenhaus für die Patienten nicht zugänglich war, entschied Jenni ihn aus Nostalgie hängen zu lassen.
Als sie gerade die Eingangstür aufgeschlossen hatte und alle Klappläden geöffnet waren, kam ihre Arzthelferin Sabine herein. Mit ihrer munteren Art verbreitete sie, wo auch immer sie erschien, sogleich gute Laune. Sie kam mit sämtlichen Patienten gut zurecht, obwohl manche von ihrem äußeren Erscheinungsbild zunächst irritiert waren. Sie trug gerne bauchfreie Shirts, wodurch ihr Nabelpiercing sichtbar wurde, an der linken Fessel hatte sie ein Delphin-Tattoo und die Haarfarbe wechselte so häufig wie ihre männlichen Begleiter. Ihr herzförmiges Gesicht umrahmten derzeit rote strubbelige Haare.
»Einen wunderschönen guten Morgen Jenni!«, rief sie fröhlich.
Die beiden verstanden sich so gut, dass Jenni bereits nach einigen Wochen der Zusammenarbeit beschloss, Sabine das »Du« anzubieten. Eigentlich dachte sie, dass das dem Chefin-Angestellten-Verhältnis eher abträglich war, die drei vergangenen Jahre hatten jedoch gezeigt, dass sie sehr gut miteinander harmonierten. Sabine begab sich sogleich in die kleine Teeküche mit der vollautomatischen Kaffeemaschine, die wahlweise Kaffee, Espresso, Cappuccino, heiße Schokolade oder auch Tee produzierte. Wenn die Wartezeiten den Patienten zu lange wurden, konnte man sie mit einer Tasse nach Wunsch beschwichtigen.
»Jenni, ich glaube du brauchst heute Morgen einen doppelten Espresso! Ich sehe dunkle Ringe unter deinen Augen. Bist du vielleicht gestern mit deinem neuen Lover versackt?«
Jenni hatte sich mittlerweile ebenfalls in der Teeküche eingefunden und fühlte sich ertappt, es war ihr peinlich, dass man ihr die lange Nacht ansehen konnte.
»Zunächst einmal ist er nicht mein neuer Lover, denn einen alten gibt es nicht, wenn dann schon einen ur-alten, denn es ist Jahre her, dass ich überhaupt einen hatte. Ich habe schon vergessen, wann das war. Außerdem haben wir nur unser Halbjähriges gefeiert. Es wurde etwas später als geplant!«
»Aha! Hatte ich also nicht unrecht. Wann lerne ich ihn eigentlich mal kennen? Anscheinend verdünnisiert er sich immer wenn ich komme. Ist er menschenscheu oder so was? Oder ist er so unansehnlich, dass du ihn vor mir versteckst?«
»Pah, wenn du ihn erst siehst, wirst du vor Neid erblassen! Es wird selbst dir mal die Sprache verschlagen. Aber Spaß beiseite, ein Adonis ist er sicher nicht. Dennoch hat er das gewisse Etwas, und so etwas schelmisches im Blick. Natürlich stelle ich ihn dir vor, sobald sich die Gelegenheit dazu ergibt. Er ist beruflich sehr eingespannt und muss immer wieder nach Würzburg zurückfahren. Jetzt sollten wir an die Arbeit gehen und die ersten Patienten empfangen«, lenkte Jenni ab, denn es war ihr ein wenig unangenehm darüber zu sprechen.
Damit war für Jenni das Gespräch beendet und sie verschwand im Sprechzimmer. Da sie keine Bestell-Praxis hatte, musste sie abwarten wer und wie viele kamen. Sie zog ihren Kittel an, klappte den Tageskalender auf, worin sie die erscheinenden Patienten sowie Behandlungsdauer eintragen würde, und wartete.
Das Warten war bereits nach fünf Minuten beendet. Sabine kam mit Herrn Huber und dessen Karteikarte ins Sprechzimmer. Herr Huber kam häufig in die Sprechstunde, da er unter Bluthochdruck litt, und sich regelmäßig untersuchen ließ. Allerdings kam er auch unabhängig von irgendwelchen Krankheitssymptomen in die Praxis. Er plauderte einfach gerne mit Jenni. Sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, schließlich war ihr bereits vor Praxisübernahme bewusst, dass Landärzte nicht nur wegen der medizinischen Versorgung aufgesucht wurden, sondern auch als Seelentröster und Berater in sämtlichen Lebenslagen fungierten. Genau diese Mischung war es, die Jenni an ihrem Beruf faszinierte, nicht die reine Behandlung von Krankheiten, ohne auf die Psyche des Menschen zu achten, wie es Jenni im Krankenhaus als Assistenzärztin kennen gelernt hatte.
Nach einigen Startschwierigkeiten wurde sie inzwischen anerkannt. Die Bevölkerung war ihr gegenüber zunächst misstrauisch, zum einen aufgrund ihres relativ geringen Alters, zum anderen, weil sie eine Frau war. Zudem war sie zugezogen, was schon alleine genug Anlass zur Ablehnung gab. Die Landbewohner vermissten anfangs ihren Vorgänger, dessen Praxis sie samt Einrichtung übernommen hatte. Er genoss aus verschiedensten Gründen ein hohes Ansehen. Für seine Patienten war er rund um die Uhr zu sprechen, und hatte mit seiner ruhigen Art immer ein offenes Ohr für die großen und kleinen Probleme. Auch war er einer der ihren, in Langenheim aufgewachsen und Arzt in der dritten Generation. Vor einem dreiviertel Jahr war er seiner Krebserkrankung erlegen. Das ganze Dorf trauerte.
Mittlerweile hatte sich Jenni an die barsche Art der Einwohner gewöhnt, da sie erkannte, dass sie unter der Oberfläche herzlich und hilfsbereit waren. Eine weitere Schwierigkeit war für Jenni zunächst der Dialekt. Sie würde nie vergessen, als am Anfang der Praxiseröffnung ein Mann zu ihr kam und seinen blutenden Daumen hochhielt, dabei etwas sagte wovon Jenni nur »Rostinoochl« verstand. Im weiterführenden Gespräch wurde Jenni die Bedeutung des Wortfetzens klar. Es handelte sich schlichtweg um einen »rostigen Nagel«, den sich der Mann unglücklicherweise in den Daumen geschlagen hatte.
Herr Huber hatte es sich ein wenig zur Aufgabe gemacht Jenni über die Vorgänge in der Gemeinde auf dem Laufenden zu halten. Jenni hatte zudem das Gefühl, dass sie für ihn wie eine Tochter war, da seine eigene Ehe kinderlos geblieben war.
Er setzte sich sofort auf den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches und kam ohne Umschweife zur Sache.
»Mein Blutdruck scheint ganz in Ordnung zu sein. Meine Frau, die Traudl, meint auch, ich hätte nicht mehr so einen roten Kopf.«
»Das freut mich sehr. Was führt Sie außerdem heute zu mir, Herr Huber?«
»Ja, die Millie, Sie wissen schon, die Kuh vom Bauern Hilpert hat gekalbt. Da musste extra der Tierarzt kommen, weil es falsch lag.« Herr Huber hüstelte und fuhr fort. »Das interessiert Sie sicher nicht. Ich wollte nur nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Man munkelt, dass die alte Frau Doktor einen Neuen hat. Sie trifft sich scheinbar ab und zu mit einem Mann, allerdings immer hinter geschlossenen Vorhängen. Nie wurden sie auswärts zusammen gesehen. Das wollte ich Ihnen nur erzählen. Jetzt gehe ich mal wieder heim zu meiner Traudl. Noch einen schönen Tag, Frau Doktor.«
»Das wünsche ich Ihnen auch, Herr Huber! Und grüßen Sie Ihre Frau.«
Jenni lehnt sich zurück und dachte, na da hat die alte »Frau Doktor«, womit die Witwe des verstorbenen Arztes gemeint war, weil auf dem Land die Frau des Arztes eben die »Frau Doktor« war, nicht lange getrauert. Sicher fühlte sie sich sehr einsam, zumal die beiden Kinder bereits lange von zuhause ausgezogen waren, um im 50 Kilometer entfernten Würzburg zu studieren, oder wie Jenni vermutete sogar schon einen Beruf ausübten. Dadurch kamen sie nicht sehr häufig nach Hause.
Natürlich war Jenni die ganze Entstehungsgeschichte dieser Ehe zugetragen worden. Danach war die Frau Doktor, jetzige Witwe, die zweite Frau des Arztes Kaulberg. Sie hatten sich vor 31 Jahren ineinander verliebt, sie wurde schwanger, worauf eine unschöne Scheidung von der ersten Frau und der Sorgerechtsstreit um die beiden Kinder folgte. Die Exfrau zog in eine entfernte Stadt, die Kinder blieben zunächst bei ihrem Vater und der Stiefmutter. Das Mädchen verstand sich anscheinend nicht sehr gut mit der Stiefmutter, woraufhin sie zur eigenen Mutter übersiedelte. Der Sohn blieb bis zum Schulende beim Vater.
Jenni hatte weder Sohn noch Tochter aus der ersten Ehe jemals kennen gelernt. Zweifellos vertraten ihre Patienten unterschiedliche Meinungen. Die einen meinten, dass die neue Ehefrau dem Arzt schöne Augen gemacht hatte und absichtlich schwanger geworden ist, worauf er nicht umhin konnte zu ihr zu stehen. Die anderen vertraten die Ansicht, dass es die wahre Liebe gewesen sei und das Schicksal unabwendbar gewesen wäre. Jenni konnte sich weder der einen noch der anderen Meinung anschließen, da sie die Ereignisse nur vom Hörensagen kannte.
Allerdings kannte sie die Frau Doktor inzwischen so gut, um zu wissen, dass es besser war, sich nicht mit ihr anzulegen, da sie von dieser die Praxisräume und die Wohnung gemietet hatte. Des Öfteren hatte sie mit ihr Meinungsverschiedenheiten austragen müssen. Frau Kaulberg ließ sich nicht leicht von ihrer Überzeugung abbringen und war rhetorisch sehr geschickt, sodass Jenni sich hin und wieder geschlagen geben musste. Momentan hatten sie eine Auseinandersetzung die Parkplätze im Hof betreffend. Bislang konnten die Patienten in dem Innenhof bei der Praxis parken, was für Jenni keinerlei Problem darstellte. Nicht so für Frau Kaulberg. Sie wollte die Autos nicht in dem Hof haben, warum auch immer. Sie meinte, die Patienten könnten am Straßenrand parken. Der Streit hatte noch nicht zu einem befriedigenden Ergebnis für beide Teile geführt.
Jenni hing ihren Gedanken nach, als Sabine mit Frau Jakob in das Sprechzimmer kam, und ankündigte, dass diese eine weitere Akupunkturbehandlung wünsche.
»Guten Tag, Frau Doktor, die Behandlung hat mir so gut getan, ich wollte es ja nicht glauben, meine Migräne-Anfälle sind tatsächlich weniger geworden. Sie sagten doch, wenn ich einen positiven Effekt erkennen würde, könnten wir die Behandlung fortführen. Nun, hier bin ich!«, sprach sie, und legte sich sogleich auf die Liege.
Jenni holte ihre Nadeln hervor und war froh, dass sie Frau Jakob von der Akupunktur-Behandlung überzeugen konnte. Frau Jakob war das »Tagblatt« der Gemeinde. Jenni nannte sie insgeheim die »Lästerliese«, konnte man diese von einer Sache überzeugen, war man gewiss, dass die restlichen Gemeindemitglieder davon beeinflusst würden. Leider gab es auch den gegenteiligen Effekt. Konnte die Lästerliese jemanden oder etwas nicht leiden, bekam dies ebenfalls die ganze Gemeinde zu hören. Innerlich atmete Jenni auf, dass die Akupunktur-Behandlung von Erfolg gekrönt war, konnte sie nun mit weiteren Patienten rechnen, die davon profitieren wollten. Ihr Vorgänger, Doktor Kaulberg, hatte etwa zehn Jahre zuvor einen Heilpraktiker als Konkurrenten bekommen. Nachdem die Öko-Bio-Welle ins Rollen kam, wurden auch alternative Heilmethoden gewünscht. Diese Entwicklung drang sogar in das abgeschiedenste Dorf vor. Für Jenni war der ortsansässige Heilpraktiker keine Konkurrenz, da sie selbst über eine Ausbildung zur Heilpraktikerin verfügte und zudem die Technik der Akupunktur in China gelernt hatte.
Nach weiteren fünf Patienten ging Jenni für eine kurze Pause in die Teeküche und rief auch Sabine zu sich.
»Puuh, bin ich froh, dass die Lästerliese mit der Akupunktur zufrieden war. Das hätte auch ins Auge gehen können.«
»Nein, hätte es nicht«, antwortete Sabine. Jenni stutzte und schaute Sabine fragend an. »Ich habe ihr erzählt, dass Kate Moss sich regelmäßig akupunktieren lässt. Sie ist doch ein Promi-Junkie, kennt alle Geschichten aus der yellow press. Damit war mir klar, das muss gut gehen.«
»Ach Sabine, du bist ja mit Geld nicht zu bezahlen!« Jenni grinste und fragte: »Möchtest du einen Cappuccino? Von mir selbst zubereitet!«
»Was heißt hier von dir selbst, das macht doch die Maschine!«
Jenni ließ sich von der Kabbelei nicht beirren, bereitete den Cappuccino, schäumte die Milch auf, und streute zur Krönung das Kakaopulver mit einer Schablone in Herzform darüber. Sie servierte ihn Sabine und fragte gleichzeitig: »Der Huber hat mir erzählt, die Frau Kaulberg hätte einen neuen Freund. Hast du davon schon etwas gehört?«
Sabine war erstaunt. »Ach nein, die hat es fei nötig! Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich es dir längst erzählt«.
Bei diesen Worten nahm Jenni ein gläsernes Sparschwein vom Tisch und hielt es Sabine entgegen. »Entschuldige, auch bei Überraschungen wird kein fei akzeptiert«. Sabine griff bereits nach ihrer Handtasche, um einen Euro herauszunehmen. Es war ihr eigener Vorschlag gewesen, ein Fei-Schwein aufzustellen. Jenni konnte nicht verstehen, wofür man in Franken ein Füllwort wie fei brauchte, welches man nirgendwo sonst verstehen würde. Sabine war einsichtig und wollte dieses Wörtchen aus ihrem Wortschatz tilgen, so einigten sie sich auf das Fei-Schwein. Sobald es halb voll war, füllte Jenni es auf und sie plünderten es und kauften meistens irgendwelche Süßigkeiten davon. Schief grinsend warf Sabine den Euro hinein und sprach weiter. »Na, warum soll sie keinen neuen Mann haben? Ich gönne es der Giftziege. Sie ist ja schließlich noch nicht so alt, glaube ich. Sie ist ungefähr achtzehn Jahre jünger als ihr verstorbener Mann. Vielleicht haben wir jetzt eine Weile Ruhe vor ihr. Kürzlich hat sie mich angeraunzt, ich solle mit meiner Vespa nicht in den Hof fahren, weil sie Öl verlieren würde. So ein Blödsinn, wo bitte soll meine nagelneue Vespa Öl verlieren!? Ich habe einfach so getan, als hätte ich sie nicht verstanden und gesagt: Ihnen auch einen schönen Tag!«
»Du weißt ja, ich mag sie auch nicht sonderlich, trotzdem darf ich mir nichts anmerken lassen, da sie mir jederzeit kündigen kann. Und zwar nicht nur die Praxisräume, sondern obendrein die Wohnung. Das wäre doppelt blöd! Ich möchte nicht auf der Straße sitzen!«
»Ach komm, die weiß doch, dass sie so schnell niemanden findet, der die Praxis und die Wohnung mietet. Wer will schon in dieses Käsenest!? Dennoch musst du zugeben, dass es einfacher wäre, wenn wir einen freundlicheren Vermieter hätten. Sie kommt ja beinahe wöchentlich angelaufen, um sich über irgendwelchen Pippifax zu beschweren. Das wurde nach dem Tod ihres Mannes noch schlimmer. Wir können richtig froh sein, wenn sie jetzt einen neuen Mann hat, vielleicht hat sie nun andere Dinge zu tun«, dabei verzog Sabine schelmisch den Mund.
»Ja, ich hoffe, es geht noch einige Jahre so weiter. Ich habe nicht genügend Erspartes, um mir etwas Eigenes zu kaufen.«
»Kopf hoch, wenn alle Stricke reißen, und sie dir tatsächlich kündigt, findest du sicherlich ein neues Domizil. Die Mietpreise sind hier schließlich nicht sehr hoch.«
»Ich danke dir für den Trost. Vermutlich ist es nicht so einfach die Praxis zu verpachten, da ja kaum noch jemand Landarzt werden möchte. Ich habe einfach nur Bedenken, dass ihr das in dem Moment wenn der Ärger überwiegt, gleichgültig ist. Wenden wir uns lieber wieder den Patienten zu. Das Wartezimmer ist fast voll.«
So ging die Versorgung der Patienten noch einige Stunden weiter. Zwischendurch brachte Sabine Jenni ein belegtes Brötchen vom Bäcker. Jenni hatte eigens für die kulinarischen Zuwendungen von Sabine eine Geldkassette in die Küche gestellt, woraus sie sich bedienen konnte.
Gegen 18 Uhr war das Wartezimmer leer. Sabine verabschiedete sich ebenfalls, Jenni schloss Fenster und Eingangstür und ging nach oben in ihre Wohnung. Dort zog sie kurzerhand ihr Joggingdress an, um noch eine Runde durch die Felder zu drehen. Lieber hätte sie sich ins Bett gelegt, müde wie sie war, aber sie hatte ihre sportlichen Aktivitäten in letzter Zeit sehr vernachlässigt, sodass sie den inneren Schweinehund unterdrückte. Jenni genoss den Blick über grüne Wiesen und das goldgelbe Getreide auf sanften Hügeln. Als geborenes Stadtkind wusste sie diese Idylle mittlerweile zu schätzen. Durch die nahe gelegene Autobahn, die Hauptverbindung zwischen München, Nürnberg und Würzburg fühlte sie sich nicht gänzlich abgeschnitten. Für die Einheimischen war der Bau der Autobahn in den sechziger Jahren willkommen, sahen sie darin das Tor zur Welt. Einen Lärmschutzwall gab es nicht, erst seit einiger Zeit wurde in den Gemeinderatssitzungen darüber diskutiert. Zuvor sah man die Notwendigkeit eines solchen Baues nicht, denn die Gemeinderäte wollten, dass Langenheim gesehen wird. Der Erfolg in Form zahlreicher Busunternehmen, die mit den Ausflüglern hier Rast machten und somit den Tourismus ankurbelten, gab ihnen Recht. Außerdem verfügte Langenheim mit dem nahegelegenem Freizeitpark über eine Touristenattraktion.
Anschließend duschte sie ausgiebig, zog ihre Schlumpfklamotten für zuhause an, kuschelte sich mit einem Glas Rotwein und einem Käsebrot auf das Sofa, nahm ihr Handy und wählte die entsprechende Kurzwahl für Manfreds Handynummer. Am Abend zuvor hatten sie bereits besprochen, dass sie sich die nächste Zeit nicht sehen könnten, denn Manfred musste eine Geschäftsreise antreten. Sie telefonierten kurz, daraufhin schaltete Jenni den Fernseher an, schlief allerdings noch während der Spätnachrichten ein. Daher bekam sie von den Aktivitäten vor Frau Kaulbergs Haus nichts mit. Als sie weit nach Mitternacht aufwachte, schaltete sie den Fernseher aus und ging zu Bett.
Sabine fuhr nach Hause in den Nachbarort, wo sie sich eine 3-Zimmer-Wohnung gemietet hatte. Sie stellte ihren Roller in den dafür vorgesehenen Verschlag, und ging erwartungsvoll in den zweiten Stock zu ihrer Wohnung. Am Vorabend hatte ihre kleine Schwester überraschend vor der Tür gestanden. Sie hatte sich auf das Sofa geworfen, geweint und kein Wort gesprochen. Sabine hoffte, dass sie heute aus ihr herausbekommen würde, was vorgefallen war. Claudia war schon immer sehr launenhaft, himmelhoch-jauchzend und zu-Todebetrübt. Sabine vermutete, dass es mal wieder Liebeskummer war.
Am nächsten Morgen kam Jenni ausgeruht in die Praxis. Nach einem kurzen Geplänkel mit Sabine schneite Frau Jakob direkt in die Teeküche hinein und sprudelte sofort los: »Wissen Sie schon, dass die Frau Doktor« – hier räusperte sie sich kurz – »also ich meine die Frau Kaulberg, tot ist? Heute Nacht ist der Leichenwagen gekommen. Ihr Sohn hat sie gefunden. Sie lag tot im Haus – stellen Sie sich das einmal vor, der arme Junge!«
Sabine und Jenni riefen gleichzeitig: »Was?« Sabine fasste sich als Erste wieder und wollte Näheres von Frau Jakob wissen.
»Weiß man woran sie gestorben ist?«
Frau Jakob musste dies allerdings verneinen und verabschiedete sich so schnell wie sie gekommen war. Kaum war die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen, sanken Jenni und Sabine auf die Stühle.