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»VERBOTEN« HAT SICH NOCH NIE SO GUT ANGEFÜHLT
Als Calla in ihre Heimatstadt zurückkehrt, will sie nur eins: ihre beste Freundin Dylan zurückgewinnen. Seit Dylan sie mit ihrem großen Bruder Ambrose erwischt hat, herrscht zwischen den beiden Funkstille. Sich von Ambrose, der mittlerweile ein berühmter Sternekoch ist, fernzuhalten wird allerdings schwieriger als gedacht, denn er ist sogar noch attraktiver geworden. Für Cal sind die alten Gefühle mit einem Schlag wieder da. Aber Ambrose ist tabu, heute mehr denn je, wenn sie die Freundschaft mit Dylan kitten will. Doch als Cal einen Job in Ambrose’ Restaurant annimmt, kommen sie sich unweigerlich wieder näher. Und etwas Verbotenes hat sich noch nie zuvor so gut angefühlt ...
»Das ist mein neues Lieblingsbuch der Autorin. Und das soll was heißen, weil ich alle ihre Bücher liebe.« lifeinwordsandlyrics
Der Auftakt der neuen Reihe von L.J. Shen — die Queen der Bad Boys
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Seitenzahl: 743
Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Motto
Leser:innenhinweis
Playlist
Vorwort
Prolog
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Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von L. J. Shen bei LYX
Impressum
L. J. Shen
Truly Forbidden
Roman
Ins Deutsche übertragen von Anne Morgenrau
Schon seit ihrer Kindheit schwärmt Calla für Ambrose, den großen Bruder ihrer besten Freundin Dylan, der sie immer vor allem beschützt hat. Für Cal ist klar, dass sie ihr erstes Mal nur mit Row erleben will. Doch als Dylan die beiden erwischt, bricht sie von jetzt auf gleich den Kontakt zu Cal ab. Denn eins hat Dylan ganz deutlich gemacht: Ihr Bruder ist absolut tabu. Als Cal fünf Jahre später nach dem Tod ihres Vaters in ihre Heimatstadt zurückkehrt, will sie alles versuchen, um Dylans Freundschaft zurückzugewinnen. Allerdings tritt auch Row wieder in ihr Leben. Er ist mittlerweile ein berühmter Sternekoch und zeigt ihr die kalte Schulter, weil Cal sich nach ihrer gemeinsamen Nacht nicht mehr bei ihm gemeldet hat. Dennoch ist die Anziehung zwischen den beiden mit einem Schlag wieder da. Doch um Dylans Vergebung zu erlangen, sollte Cal sich von Row fernhalten. Was jedoch schwierig wird, als sie einen Job als Kellnerin in seinem Restaurant annimmt. Cal bemüht sich, Row zu widerstehen, aber wie soll das möglich sein, wenn sich etwas Verbotenes noch nie so gut und vor allem richtig angefühlt hat?
Allen Mädels gewidmet, die wissen, dass der Märchenprinz nett ist, aber nur der Schurke all die aufgestaute Wut zwischen den Laken zu nutzen weiß.
Auf die Wahl eines Kerls, der beides sein kann.
Alle wollen strahlen wie ein Diamant, aber niemand will geschliffen werden.
Eric Thomas
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Truly Madly Deeply – Savage Garden
The Final Countdown – Europe
Creep – Radiohead
End of the Road – Boyz II Men
I’d Do Anything for Love (But I Won’t Do That) – Meat Loaf
Torn – Natalie Imbruglia
Basket Case – Green Day
Why Can’t We Be Friends – Smash Mouth
Crush – Jennifer Paige
There She Goes – Sixpence Non the Richer
Alive – Pearl Jam
Gonna Make You Sweat (Everybody Dance Now) – C+C Music Factory
Baby Can I Hold You – Tracy Chapman
I Will Always Love You – Whitney Houston
Human Nature – Madonna
All I Want for Christman Is You – Mariah Carey
Lovefool – The Cardigans
Doll Parts – Hole
Friday I’m in Love – The Cure
Never Ever – All Saints
I Try – Macy Gray
Everybody Hurts – R. E. M.
You Get What You Give – New Radicals
Back for Good – Take That
Gold Soundz – Pavement
Whatever – En Vogue
What’s Up – 4 Non Blondes
Desert Rose – Sting
All That She Wants – Ace of Base
Ordinary World – Duran Duran
The River of Dreams – Billy Joel
Closing Time – Seminsonic
Doo Wop (That Thing) – Lauryn Hill
Emotions – Mariah Carey
Liebe Leser:innen,
Maya Angelou sagte einmal, es gebe keine größere Qual, als eine nicht erzählte Geschichte in sich zu tragen, und ich bin geneigt, ihr zuzustimmen. Ambrose und Calla begleiten mich schon länger, als ich denken kann.
Ich wollte unbedingt über eine sozial komplett unbeholfene Heldin schreiben. Über eine Frau, die mit den besten Absichten immer das Falsche zur falschen Zeit sagt.
Row hingegen ist eine Zimtschnecke mit leicht bitterem Beigeschmack. Ein Golden Retriever, der keine Angst hat, die Zähne zu zeigen.
Ich fing diese Story in der Absicht an, eine verrückte RomCom zu schreiben, eine leicht neurotische, herzzerreißende Liebesgeschichte und einen Frauenroman, alles in einem. Es hat ein halbes Jahr gedauert, aber ich habe es tatsächlich geschafft.
Es war ein lustiger, wilder, anstrengender und wahnsinnig befriedigender Ritt.
Diese Serie hat mich fest im Griff, und ich kann es kaum erwarten, euch zu zeigen, was ich noch für euch auf Lager habe.
Danke, dass ihr euch darauf einlasst.
In Liebe
L. J. Shen
xoxo
Creep – Radiohead
Achtzehn Jahre alt
Hätte mir jemand eine Stunde zuvor erzählt, dass ich halb nackt unter Row Casablancas liegen und mich auf der Motorhaube seines schwarzen Mustangs winden würde – ich hätte angenommen, dass dieser Jemand in Schwierigkeiten geraten und auf die Idee gekommen war, mich unter Drogen zu setzen und mir lebenswichtige Organe zu entnehmen, um schnell an Geld zu kommen.
Row hasste mich nicht. Er liebte mich auch nicht. Über den Daumen gepeilt, lagen seine Gefühle für mich irgendwo auf einer Skala zwischen Nun seht euch diese süße kleine Irre an und Mist, hab ganz vergessen, dass es sie gibt.
Ich war die beste Freundin seiner kleinen Schwester. Der peinliche Tollpatsch, der an Anfällen von Sprechdurchfall und einem extrem fragwürdigen Modegeschmack litt.
Okay. Ich litt nicht unter dem fragwürdigen Modegeschmack. Ich hatte ihn nur. Verklagt mich doch, weil ich meine Individualität feiere.
Ich dachte immer, dass Row mich auf die Art mag, wie die Leute Hundewelpen mögen … weil sie süß und ein bisschen dumm sind und den Boden anbeten, über den du gehst, selbst wenn du ein schrecklicher Mensch bist, der auf öffentlichen Plätzen Clementinen schält. Ich schweife ab.
Eine kleine, überschaubare Schwärmerei für den Bruder der besten Freundin ist eigentlich ein Klischee. Ich war allerdings besessen von den Neunzigerjahren, einer Ära, in der man altbewährte Rezepte feierte. Ihn anzuschmachten passte also zu mir wie ein Tattoochoker.
Zu meiner Verteidigung: Row machte es meinem pubertierenden Selbst unmöglich, ihn nicht zu begehren, denn er war 1) eins dreiundneunzig groß und schlank, hatte definierte Muskeln, halblanges tiefschwarzes Haar und ein Kinn, das ausgeprägter war als die Neujahrsvorsätze meines ganzen Lebens zusammen, und er hatte 2) Bad-Boy-Vibes, die sich in jedem Detail widerspiegelten – einschließlich seines Sportwagens, der athletischen Gene, witziger Sprüche, eines Grübchenlächelns und Kampfstiefeln ohne Schnürsenkel zu engen Jeans.
Kurz gesagt, er war ein moralisch fragwürdiger Traumtyp und eine Red Flag – das bevorzugte Beuteschema meiner Altersgruppe. Also ja. Selbstverständlich wollte auch ich mich von Dylan Casablancas’ älterem Bruder ins Unglück stürzen lassen. Wer wollte das nicht? Unsere gesamte Highschool betete an seinem Altar. Fenna McGee hatte sogar mal einen Aufkleber gestaltet, auf dem stand: Ich behaupte nicht, dass Row Casablancas und Gott dieselbe Person sind – aber habt ihr die beiden schon mal zusammen in einem Raum gesehen?
Tatsache war, dass Rows Zunge gerade tief in meinem Mund steckte. Seine Erektion von der Größe einer ballistischen Rakete war an die Knöpfe meines gelb karierten Rocks gepresst und drohte, sie aufspringen und über die Milchstraße hinausfliegen zu lassen. Und ich konnte an nichts anderes denken als daran, dass ich Dylan in die Pfanne haute.
Ich hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Dylan hasste es, wenn ihre Freundinnen ihrem Bruder zu Füßen lagen. Wenn eine, die wir kannten, mit ihm flirtete, gab Dylan immer würgende Geräusche von sich, weshalb das, was hier gerade passierte, absolut unentschuldbar war. Aber ich war halb betrunken, hatte ausnahmsweise keine Hemmungen und legte einen für mich untypischen Leichtsinn an den Tag. Außerdem war Dylan so sehr daran gewöhnt, dass Row ihre Freundinnen vernaschte, als gäbe es olympische Medaillen dafür, dass es auf eine mehr oder weniger auch nicht mehr ankam.
Außerdem war ich ein PeoplePleaser, und Row wollte ich unbedingt gefallen. Also gab ich schmeichelhafte Stöhngeräusche von mir, die ich an der Pornhub-Universität für Gefakte Orgasmen gelernt hatte. Hinzu kamen Kopfrollen, begeistertes Hecheln und mädchenhaftes Keuchen.
Was Row als Aufforderung zu weiterem Handanlegen betrachtete. Er schloss seine rechte Hand hart um meine Kehle und drückte mich auf die noch heiße Motorhaube, sodass ich mich fragte, ob ich am nächsten Morgen Verbrennungen zweiten Grades haben würde. Ich hatte die Pobacken angespannt, um seine schlanke Taille zwischen meinen Schenkeln gefangen zu nehmen, und hinter meinen Lidern hämmerte mein Puls wie ein wütender Specht.
Wir hatten auf einer zerklüfteten Klippe mit Blick auf die Gletscher von Maine geparkt. Der Ozean erstreckte sich am Horizont wie ein straff gespanntes schwarzes Laken. Die Meeresbrise stieg mir in die Nase, und auf meinen Armen bildete sich eine Gänsehaut.
Es fühlte sich so gut und gleichzeitig so falsch an, dass ich nicht wusste, ob ich kichern, weinen oder in Flammen aufgehen sollte.
Hör sofort damit auf, Cal. Dylan wird dich erwürgen.
Tatsächlich war meine BFF eher der Typ, der mir die Klamotten klauen und Amok laufen würde. Dylan Casablancas war kreativ, innovativ und wahnsinnig komisch. Ich liebte sie sehr. Sie verdiente etwas Besseres als das hier.
Row schob eine Hand unter meinen beigefarbenen Rollkragenpulli und meine gelb karierte Weste und umfasste meine linke Brust, während seine Lippen an meinem Kinn entlangwanderten und feuchte, heiße Küsse darauf hinterließen, die mir Schauer über den Rücken jagten. Seine Lippen waren sündhaft, sein zerzaustes Haar zwischen meinen gierigen Fingern so weich wie Seide.
Verdammt, ich bin auch nur ein Mensch.
Wir rieben uns aneinander, und ich staunte, wie sehr sich sein Körper von meinem unterschied. Hart statt weich. Groß statt klein. Gebräunt statt blass. Er machte alles richtig. Die Art, wie er die Zunge um meine empfindlichen Stellen wirbeln ließ, entlockte mir ein glückliches Wimmern. Die Art, wie sein Daumen die Spitze meiner harten Brustwarze rieb, sodass sie zu prickeln begann, empfindlicher wurde und sich verzweifelt nach mehr sehnte, fühlte sich an wie dunkle Magie.
»Fuck,du bist so schön.«
Was für ein schrecklich peinlicher Satz. Andererseits richtete Row seinen grenzenlosen Zorn niemals auf mich. Wahrscheinlich, weil ich wie eine Schwester für Dylan war.
In der Moorlandschaft unterhalb der Klippe, auf der wir geparkt hatten, brannte ein Lagerfeuer. Eine Abschiedsparty für uns Schüler der Abschlussklasse, bevor wir uns auf die verschiedenen Colleges verteilten. Row war vorbeigekommen, um Dylan abzuholen. Er war ein paar Wochen lang in unserer Kleinstadt zu Besuch, weil seine exklusive Kochschule in Paris gerade Ferien machte. Dylan hatte noch ein bisschen auf der Party bleiben wollen. Ich hingegen wollte lieber nach Hause, Soleier essen und ein paar Folgen Riverdale suchten.
Und doch waren wir auf dem berüchtigten Knutschberg gelandet, zu dem die Paare aus der Gegend fuhren, um ungestört ihre Unschuld und manchmal auch Spitzenstrings zu verlieren.
Row und ich waren Freunde. Er verhielt sich mir gegenüber immer fürsorglich. Ich hatte ihn gebeten, zu der Klippe hinaufzufahren, damit ich vor meinem Umzug nach New York einen letzten Blick auf den Ozean werfen konnte. Ich hatte definitiv nicht vorgehabt, wie ein tollwütiger Waschbär mit meinen Lippen über die seinen herzufallen, während wir zusahen, wie am Horizont eine dottergelbe Sonne aufging.
Und trotzdem war es passiert. Es war passiert, und jetzt lag ich in seinen Armen, kalte Empfängerin seiner Küsse und Zungenschläge, der Berührungen seiner umherwandernden Hände. Ich erstarrte, denn ich fühlte mich wieder einmal schuldig wegen Dylan. Sie würde mir doch sicher verzeihen. Schließlich war Row ihr Bruder, nicht ihr Freund.
Er löste den Mund von meiner Haut und blickte leicht missbilligend auf mich herab. »Lebst du noch?«
»Hmhm.«
»Soll ich aufhören?« Sofort lockerte er den Griff um meine Taille, und plötzlich fiel mir wieder ein, warum ich überhaupt Sex mit ihm hatte haben wollen.
»Nein!« Ich zog ihn wieder an mich und drückte meine Lippen auf seinen Mund, führte mich noch verrückter auf als bisher. »Du … du kannst nicht aufhören.« Aber vielleicht sollte er aufhören? Mein Geist und mein Körper waren definitiv nicht in Einklang miteinander.
»Klar kann ich aufhören.« Sein Mund schwebte nun wieder über meinem, seine Stimme bestand aus Samt und Rauch. »Einvernehmen gibt es tatsächlich. Kannst du googeln.« Ich errötete derart heftig, dass mir nur durch ein medizinisches Wunder nicht der Kopf explodierte. Er grinste an meinem Mund, seine Zähne streiften meine Unterlippe. »Fuck. Du bist so süß. So unschuldig. Ich könnte dich fressen.«
»Ich will dich auch fressen.« Moment mal, was? Es klang irgendwie falsch. Ich hatte eine Sozialphobie und wenn ich nervös war praktisch null Filter.
»Ach, echt?« Ich hörte das Grinsen in seinem Klugscheißer-Tonfall.
Verdammt noch mal, Cal. »Na ja … äh … nicht wie eine Kannibalin …«
»Dann zeig’s mir. Ich brauche Beispiele, ich bin ein langsamer Lerner.« Knurrend intensivierte er den Kuss. Unsere Zähne stießen aneinander, und eine Welle der Lust lief mir den Rücken hinunter. Meine Haut war kalt, aber mein Inneres stand in Flammen. Ich drückte ihm über der schwarzen Jeans eine Hand auf die Leistengegend. Nicht zu fassen, dass ich ihn berührte, dass ich tatsächlich den Kerl berührte, der die Frauen allein mit seinem Blick zu Hormonpfützen schmelzen lassen konnte.
Er löste seine Lippen von meinem Mund und sah mich durchdringend an. Keuchend starrten wir einander ins Gesicht. Ich hatte keine Ahnung, was ich da tat. Ich ließ meine Hand auf seinem Schwanz liegen und rieb ihn, wie ich meinem Kater Semus den Kopf kraulte, wenn er dort gestreichelt werden wollte.
Row drückte seine Stirn an meine und ließ ein leises Knurren hören, das in meinem Brustkorb widerhallte. Sein Schwanz zuckte und drängte sich gegen meine Hand. »Verdammt,Dot, deine bloße Existenz macht mich an. Du musst nur atmen, und ich werde hart.«
Oha. Männer sagten verrückte Sachen, um Sex zu bekommen. Wussten die Frauen das denn nicht? Mit vereinten Kräften könnten wir Kriege verhindern. Wir müssten nur hemmungslos bei Target auf Shoppingtour gehen.
Dass er mich Dot nannte, ließ mir lustvolle Schauer über den Rücken laufen. Der Spitzname geht auf Dylan zurück, denn als wir vier oder fünf Jahre alt waren, konnte sie sich das Wort Sommersprossen nicht merken, also hat sie mich kurzerhand nach den Polka Dots auf meiner Nase, Dots, benannt. Der Spitzname war mir geblieben.
Ich löste meine Hand von seiner Leistengegend, schloss die Finger um die Aufschläge seiner Lederjacke und zog ihn an mich. Er roch köstlich. Nach Zedern, abgetragenem Leder und Gewürzen. Nach einem sehr fremden Land voller Restaurants, die mit Sternen ausgezeichnetet waren, voller romantischer Chansons, gläserner Kronleuchter und dicker, staubiger Bücher auf Französisch. Und seltsamerweise roch er auch nach … zu Hause.
»Row?«
»Ja?«
»Wie du weißt, habe ich … äh …« Eine höllische Sozialphobie.
»Eine gesunde Abneigung gegen Fremde«, flüsterte er an meiner Haut und knabberte sanft an meinem Kinn. »Finde ich verständlich, ich bin auch kein Fan von Menschen.« Mit dem Daumen rieb er die empfindliche Stelle hinter meinem Ohr. »Wenn du aufhören willst …«
»Nein!«, rief ich. Dies war das erste Mal, dass es mir tatsächlich Spaß machte, mit einem Typen zusammen zu sein. Okay, es war auch das einzige Mal, dass ich mit jemandem zusammen war, seit … na ja, eben seit.»Ich möchte, dass du mir die Unschuld nimmst«, brachte ich mühsam heraus und drückte meine Lippen auf seinen Mund. Ich zitterte vor Panik, Adrenalin und morgendlicher Kälte. »Sei mein Erster.« Das hier war absolut nicht geplant. Ich hatte nie davon geträumt, Dylans Bruder zu verführen, aber jetzt, wo wir zu zweit allein waren, konnte ich mir nicht mehr vorstellen, es mit einem anderen zu tun.
»Dot.« Seine Hände waren in meinem Haar vergraben, während er mit seinem kundigen Mund über mich herfiel. Ohne jede Raffinesse, ohne Spielereien, ohne die unberührbare Coolness, die er normalerweise an den Tag legte. »Sag nichts, was du nicht auch meinst.«
Ich hatte Row noch nie derart aufrichtig, entschieden und … außer Kontrolle gesehen. Normalerweise war er ruhig und gelassen, und die Macht, die ich über ihn hatte, war so berauschend, dass mir schwindelig wurde.
»Bitte«, krächzte ich. »Ich weiß, was ich will.«
»Und was willst du?«
»Dich.«
Abrupt löste er die Lippen von meinem Mund und musterte mich aus beutegierigen goldenen Tigeraugen. »Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie sicher bist du dir? Zehn bedeutet absolut sicher, eins heißt vergiss, was ich gesagt habe, und bring mich nach Hause.«
»Zwölf.« Ich blinzelte übertrieben, ungefähr sieben- oder achtmal nacheinander. Das passierte häufig, wenn ich ängstlich war. Ein nervöser Tic, den ich im Alter von vier Jahren entwickelt hatte und nie wieder losgeworden war. Entgegen der allgemeinen Annahme handelte es sich nicht um das Tourettesyndrom. Es war eine chronische Ticstörung. Meine Art, mein Herz auf der Zunge zu tragen und den Leuten zu zeigen, wie nervös ich war.
»Bist du dir sicher, dass ich dich entjungfern soll?« Seine Augen wurden schmal.
»Ja, Row, ich bin mir sicher. Wer soll es sonst tun? Irgendein Typ mit Treuhandfonds von der Uni in New York? Jemand mit Brokkolifrisur? Ein Kerl, dem ich völlig egal bin und der mich zwingt, mir in seinem Wohnheimzimmer experimentellen Techno anzuhören?« Streng genommen war ich auch Row egal. Aber ich wusste, dass er mich weder foppen noch verspotten würde. In der Vergangenheit hatte ich mich in seiner Gegenwart immer sicher gefühlt, und das war ein ungewohntes Gefühl für mich.
Ihm blieb der Mund offen stehen, und ich erkannte, dass er meine Bitte ablehnen wollte. Wahrscheinlich fand er mich seltsam, genau wie alle anderen in dieser Kleinstadt.
»Warum?« Er zog die dichten Augenbrauen zusammen. Ich beschloss, ihm die Wahrheit zu sagen. Er hatte es verdient.
»Weil ich …« Unter einer schweren Androphobie leide. »Ich habe Probleme mit Vertrauen, und ich weiß, dass ich es bei dir nicht bereuen würde. Du bist der einzige Typ, den ich kenne, der fickbar, aber kein verfickter Versager ist. Ergibt das irgendwie Sinn?«
»Ich bin ein großer verfickter Versager.« Er strich mir ein paar verirrte Haarsträhnen hinter das Ohr. »Aber ich bin viel zu selbstsüchtig, um dich nicht zu vögeln, verdammt. Weißt du, es wird wehtun«, sagte er und musterte mich kühl. »Jedenfalls beim ersten Mal. Es wird immer besser, je öfter …«
»Ein weiteres Mal wird es nicht geben«, fiel ich ihm ins Wort. Ich wusste es zu schätzen, dass er so tat, als wäre dies kein One-Night-Stand, aber es war überflüssig. »Du musst so was nicht sagen, damit ich mich besser fühle.«
Seine lüsterne Miene verwandelte sich in ein Stirnrunzeln. »Ich sage das nicht, damit du dich besser fühlst. Ich sage es, weil ich dich wahrscheinlich immer wieder vögeln will, wenn wir erst mal damit angefangen haben.«
»Row, es muss eine einmalige Sache bleiben. Dylan darf nichts davon erfahren. Bitte.« Ich legte ihm beide Hände auf die Brust. Ich war ein Feigling und eine Betrügerin, und in diesem Augenblick hasste ich mich mehr, als Dylan mich hassen könnte, sollte sie es jemals herausfinden. Und trotzdem … Er war meine einzige Chance, nicht als Jungfrau zu sterben.
Offenbar begriff er den Ernst der Lage, denn er nickte und sagte: »Okay.«
»Ich bin bereit, Row. Lass es uns tun.« Bevor er seine Meinung ändern konnte, schob ich ihm meine Zunge in den Mund. Bereits die Knutscherei mit ihm war ein kolossaler Fehler. Da konnte ich auch gleich meine lästige Jungfräulichkeit verlieren, ehe ich aufs College wechselte.
Es war das einzig Richtige.
Erstens, weil er Gerüchten zufolge mit dem Körper einer Frau umzugehen wusste. Zweitens, weil ich mit seinem Adonisgesicht eine Geschichte, Kontext und Nostalgie verband. Für mich war er Trost, Vertrautheit und Leichtigkeit, kein schäbiger Fehler. Und drittens wusste ich, dass er mich trotz seines Rufs nicht verletzen würde.
Und der letzte Grund? Der war einfach riesig.
Row war in vielerlei Hinsicht meine Schmusedecke, auch wenn er es nicht wusste. Als wir noch Kinder waren, hatte er Dylan und mich im Freibad so oft ins Becken geworfen, wie wir wollten. Er hatte uns beigebracht, wie man ein Rad schlägt, wie man Auto fährt, beim Poker betrügt und wie man ein Schloss knackt. Er hatte uns Geld für Vinyl-Schallplatten gegeben, obwohl wir es ihm nie zurückgaben. Er spielte Taxi für uns. Kaufte uns Eis, wenn wir unter PMS litten. Hat die eine oder andere Nase gebrochen, wenn uns auf der Straße jemand hinterhergepfiffen hatte.
Row war vernünftig. Bei ihm brach mir nicht der kalte Schweiß aus. Vor ihm versteckte ich mich nicht. Wenn ich in seiner Gegenwart extremen nervös bedingten Sprechdurchfall bekam, schaute er mich nicht an, als hätte ich den Verstand verloren. Und bei ihm war ich selbstsicher genug, um freche Antworten zu geben.
Unsere Körper verschmolzen miteinander, als er sich mit Küssen einen Weg an meinem Hals hinabbahnte und weiter nach Süden vordrang, bis sein Kopf schließlich zwischen meinen Schenkeln verschwand.
»Nein«, stieß ich atemlos hervor und versuchte verzweifelt, ihn wieder hochzuziehen. »Dazu haben wir keine Zeit.« In Wahrheit hatte ich schreckliche Angst, dass er meinen Geschmack vielleicht nicht mochte. »Just … do it.« Na super, jetzt klang ich wie ein Werbespot von Nike. »Und beeil dich.«
»Na, du weißt aber, wie man in Stimmung kommt.« Row stand rasch auf, küsste mich erneut, weigerte sich, mir diese neue Erfahrung zu vermiesen. Seine starken Hände fuhren langsam an meiner Taille hinab, dann hoben sie meinen Rock hoch. Erneut rieben wir uns aneinander. Sein Schwanz glitt in seiner Jeans und über meinem Höschen an meiner Mitte auf und ab. Ich spürte, wie sich Hitze zwischen meinen Schenkeln ausbreitete, wie er dafür sorgte, dass ich heiß und bereit für ihn war, ehe er ein Kondom überstreifte. Und dann war er endlich in mir und versiegelte mein schmerzerfülltes Stöhnen mit einem entschuldigenden Kuss. Tränen brannten mir in den Augen, und der heftige Schmerz ließ mich nach Luft schnappen.
»Okay, wenn ich mich bewege?«, knurrte er, während er fest in mir steckte.
»Es wäre mir lieber, du tätest es nicht.«
»Wir können auch …«
»Schon gut. Ich weiß. Bitte, fick mich einfach.« Hatte ich ihm genau das nicht gerade verboten? In meinem Kopf herrschte das reinste Durcheinander. Und im Rest meines Körpers auch.
»Ich will dir nicht wehtun.«
»Ich weiß. Genau darum sollten wir weitermachen.«
Er zog sich langsam aus mir zurück, um erneut in mich einzudringen. Bald krallte ich mich an seine Schultern und blickte in die Sonne, die hinter seinen zerzausten dunklen Haaren hervorblitzte, als er in mich hineinstieß. Bei jedem Stoß schlugen meine weißen Mary Janes auf die Motorhaube. Die ganze Zeit hielt ich den Atem an.
Klonk. Klonk. Klonk.
Standhaft und fest entschlossen drang er in mich ein. Er küsste und knabberte, erkundete und bewunderte. Wusste er denn nicht, dass jede Frau beim Verlust ihrer Jungfräulichkeit ab einem gewissen Zeitpunkt ganz allein ist? Jede gibt ihrer Unschuld einen Abschiedskuss. Und dies war der Punkt, an dem es aufhörte, toll zu sein, und anfing, anstrengend zu werden. Ich war nicht mehr so erregt.
Tatsächlich tat es weh.
Es brannte.
Es nervte.
Und die ganze Zeit flüsterte Row mir süße Worte ins Ohr. Dinge, die auf keinen Fall wahr sein konnten. Dinge wie: »Himmel, Dot, ich würde in dieser Enge wohnen, wenn du mich ließest« und »Du bist das schönste Mädchen auf der ganzen Welt, verdammt, und zwar bei Weitem« und »Meinen Schwanz in dir zu sehen ist atemberaubender als Paris bei Nacht.«.
Es dauerte viel länger, als die Freunde meiner Freundinnen ihnen zufolge beim Sex immer brauchten. Ich hatte mit fünf Minuten gerechnet … zehn, wenn ich Pech hatte. Aber nein. Row schien ewig weitermachen zu wollen. Ich plante meine Altersvorsorge, während er in mir drin war und mich mit seinem geschätzt fünfundzwanzig Zentimeter langen Schwanz entjungferte.
Er hatte auch ein paar Tricks drauf. Mit seiner Zunge, seinen Daumen, den Zähnen. Tricks, die ich vielleicht bewundert hätte, wäre ich in Gedanken nicht mit der Frage beschäftigt gewesen, wie ich Dylan diese Ereignisse erklären sollte, falls sie jemals davon erfuhr, und hätte ich mich nicht innerlich ins nächste Jahrhundert verkrochen, in der Hoffnung, dass sie mir verzeihen würde.
Dylan wollte hierbleiben, in Staindrop. Sie hatte beschlossen, dass ein geisteswissenschaftlicher Abschluss, der ihr null Chancen eröffnete, das Studiendarlehen nicht wert war.
»Und außerdem«, hatte sie kichernd gesagt, als ich das Thema zuletzt angeschnitten hatte, »gibt es nicht mal etwas, worin ich wirklich gut bin. Es wäre reine Geldverschwendung für einen Abschluss, den ich wahrscheinlich niemals nutzen würde.«
Wir hatten einander versprochen, uns alle zwei Monate zu besuchen, aber ich wusste, dass Dylan befürchtete, ich könnte sie wegen neuer, spannender Großstadtfreunde einfach fallen lassen.
Schließlich – dem Himmel sei Dank – knurrte Row: »Fuck,ich komme.«
»Ja. Unbedingt. Ich auch.« Ich nahm meine Hand von seinem Schulterblatt und biss mir in die Faust, um einen Schmerzensschrei zu unterdrücken. Dieses Ding zwischen seinen Beinen war ein Gesundheitsrisiko.
Row kam gerade in mir, da hörte ich, wie auf dem knirschenden Kies zu meiner Rechten jemand eine Vollbremsung machte. Ein weiteres Paar, das auf den Knutschberg gekommen war, um ein bisschen Action zu haben. Hinter meinem Rücken schlug eine Autotür zu.
Dann erklang die unverkennbare Stimme meiner besten Freundin.
»Halt mal meine Ohrringe.« Dylans Altstimme schnitt mein Herz in eine judasförmige Form, als wäre es Papier. »Ich werde nämlich gleich eine Bitch ermorden.«
»Shit.« Row wich vor mir zurück wie vor einem lodernden Feuer. Zentimeter für Zentimeter kam sein in ein Kondom gehüllter Schwanz aus meinem Körper hervor. Er nahm das Kondom ab, knotete es zu und zog seinen Reißverschluss hoch.
»Bitte sag mir, dass ich an einer Gehirnblutung leide und nicht wirklich sehe, was ich da sehe.« Dylan kam auf uns zugestapft, ihre neonpinkfarbenen Ankle Boots ließen den Kies knirschen. Sie trug einen roten Lederrock, den sie sich von mir geliehen hatte, karierte Kniestrümpfe und einen schwarzen Pulli. Sie sah hinreißend aus. Und stinksauer. Vor allem stinksauer. Wesentlich wütender, als ich es befürchtet hatte, wenn ich ehrlich sein soll.
Row warf mir seine Lederjacke über den Oberkörper, und da fiel mir wieder ein, dass er mir während unserer Sexkapade das Shirt und den BH ausgezogen hatte.
Außerdem … Warum bewegte ich mich nicht? Warum sagte ich nichts? Atmete nicht? Ach ja. Stimmt. Weil in Kampf- oder Fluchtsituationen stets die dritte Option das Mittel meiner Wahl war … Erstarrung. Ich versteinerte einfach und stellte mich tot.
»Cal!« Dylan blieb vor mir stehen, in ihren dunklen, nach oben gerichteten Augen glänzten Tränen. »Was zum Teufel … Verdammte Scheiße, was soll das?!« Sie hob beide Hände, die zur Seite kippten wie weich gekochte Nudeln, dann zeigte sie auf Row. »Das da ist mein Bruder. Was glaubst du denn, was du hier tust?«
Eine überaus berechtigte Frage. Auf die ich keine gute Antwort hatte.
Dylans Gesicht war ein Desaster. Ihre volle Unterlippe zitterte, und ihre Apfelbäckchen hatten rosa Flecken. Ich hatte völlig unterschätzt, wie sehr die Situation sie mitnehmen würde. Ich spähte hinter ihre Schulter. Ich hatte bemerkt, dass Tucker, der muskulöse Brutalo, den wir beide hassten, auf dem Fahrersitz des Wagens saß, der sie hierhergebracht hatte. Er tat so, als läse er seine Versicherungspolice. Wahrscheinlich aus Angst, von Row als Boxsack benutzt zu werden, falls er seine Anwesenheit bemerken sollte.
Was wollte Dylan mit diesem Vollpfosten? Hatte sie etwa vor, mit ihm rumzumachen?
Dies war definitiv der falsche Zeitpunkt, um ihr diese Fragen zu stellen.
»Verdammt noch mal, Dot, jetzt sag endlich was!« Dylan packte mich an den Armen und schüttelte mich verzweifelt und panisch. Die Lederjacke fiel mir von der Brust. Jetzt war ich oben ohne. Und ängstlich. So ängstlich, dass ich nicht atmen konnte. Die Flashbacks kamen.
Nackt.
Wehrlos.
Überfallen.
»Es reicht, Dylan.« Rows Stimme war so rau wie Schotter.
Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich, dass meine beste Freundin ihrem Bruder keine Beachtung schenkte. Normalerweise behandelte sie ihn so respektvoll wie einen Gott. Vielleicht war sie genau deshalb dermaßen wütend? Eine andere Erklärung gab es nicht, denn sie sah aus, als würde sie am liebsten jemanden umbringen. Vorzugsweise mich.
Trotzdem war ich unfähig, auch nur den kleinsten Laut, geschweige denn eine Entschuldigung herauszubringen. Ich war total geschockt, weil ich auf frischer Tat bei etwas Verbotenem ertappt worden war. Nämlich beim Sex mit dem großen Bruder meiner besten Freundin. Ich suchte in meinem Geist nach einer plausiblen Erklärung für das, was gerade passiert war.
Row war meine einzige Chance, meine Unschuld zu verlieren. Ich bin gebrochen.
Ehrlich gesagt schwärme ich schon seit einer Ewigkeit für ihn. Ich habe es dir nur nie gesagt, weil mir so viel an unserer Freundschaft liegt.
Es war nicht geplant. Es ist … einfach passiert.
Aber all das klang ziemlich dumm, sogar in meinem Kopf. Ich hatte es vermasselt, und ich musste dafür bezahlen.
»Hör sofort auf.« Row trat zwischen uns, packte Dylans Handgelenke hinter ihrem Rücken und zog sie von mir weg. »Du kannst sie nicht umbringen«, sagte er trocken.
»Nenn mir einen guten Grund!« Sie trat wild um sich in dem Versuch, sich zu befreien, um mit den Fäusten auf mich einzuschlagen.
»Erstens können wir uns die Anwaltskosten nicht leisten.«
»Wir können ihre Leiche einfach verstecken«, fauchte sie, wild in seinen Armen zappelnd. Sie hatte keine Ahnung, wie sehr ihre Worte mich triggerten. Ein unterdrückter Schrei schnürte mir die Kehle zu.
»Du schaffst es ja nicht mal, deine Pille vor Mom zu verstecken.« Row verdrehte die Augen.
»Du nimmst die Pille?«, fragte ich atemlos. »Das hast du mir gar nicht erzählt.«
»Chill mal. Ich nehme sie nur, um meine Hormone zu regulieren. Du weißt doch, dass ich über Fummeln noch nie hinaus…« Dylan verstummte, runzelte die Stirn. »Ach, verdammt, warum erzähle ich dir das eigentlich? Wir sind doch gar keine Freundinnen mehr.«
Was?
Mir kamen die Tränen. Siedend heiße Panik machte der Erkenntnis Platz: Ich hatte mit dem großen Bruder meiner besten Freundin geschlafen, und sie hatte mich erwischt. Vielleicht hatte ich geglaubt, es sei keine große Sache, aber was wusste ich schon? Ich hatte keine Geschwister, darum hatte ich mit einer solchen Situation noch nie zu tun gehabt.
Row würde nächste Woche nach Paris zurückkehren, ich bereits am nächsten Tag nach New York, und gerade hatte ich vierzehn Jahre Freundschaft für das zweifelhafte Vergnügen in die Tonne getreten, von einem Mann gevögelt zu werden, der ein Nudelholz anstelle eines Penis besaß.
»Es war meine Idee.« Rows Stimme klang distanziert, desinteressiert. Wieso sagte er so etwas? Es stimmte einfach nicht.
»Nimm sie nicht auch noch in Schutz!« Endlich gelang es Dylan, sich aus Rows Griff zu befreien, und sie versetzte ihrem Bruder einen Stoß vor die Brust. Jetzt flossen ihre Tränen in Strömen. Er rührte sich nicht vom Fleck. Der Typ war gebaut wie ein Marvel-Superheld. »Sie ist eine selbstsüchtige, gemeine, herzlose Schlampe, und sie hat mich betrogen!«
»Ich bin ein selbstsüchtiges, gemeines, herzloses Arschloch, das genau dasselbe getan hat.« Seine Lippen bewegten sich kaum, aber in seinem gemeißelten Kiefer zuckte ein Muskel. »Trotzdem habe ich nicht den Eindruck, dass du meine Ermordung planst.«
»Tja, mit dir muss ich mich abfinden.« Verärgert hob sie die Hände. »Du bist mein Blut. Aber sie? Sie ist bloß … Pisse!«
Holy Shit. So hatte Dylan nie zuvor mit mir geredet. Nicht mal annähernd. Für sie war ich tatsächlich gestorben.
»Pass auf, was du sagst«, herrschte er sie mit kalter, undurchdringlicher Miene an.
Oha. Warum nahm Row mich in Schutz?
»Sie sollte besser aufpassen, dass sie die Beine nicht zu breit macht!«, ließ Dylan ihn abblitzen. »Und wenn wir schon mal dabei sind, sollte sie sich vielleicht auch was anziehen, anstatt hier vor Tuck blankzuziehen.«
»Dylan.« Er fixierte sie mit einem Blick, bei dem ich mich vor Angst in mir selbst verkroch. Dylan hielt ihm stand, und es sah aus, als führten sie wortlos ein ganzes Gespräch.
Langsam schüttelte sie den Kopf, ließ die Schultern sinken und atmete aus. »Mein Gott, bist du erbärmlich.«
Row? Erbärmlich? Ich bezweifelte, dass er das Wort auch nur buchstabieren konnte. Row war großartig. Spektakulär. Selbstsicher, talentiert und wahnsinnig heiß. Er war von Anfang an überlebensgroß gewesen. Schon als kleiner Junge hatte er gewusst, dass er dazu bestimmt war, ein großer Chefkoch zu werden. Mit zehn Jahren hatte er mithilfe von Reagenzgläsern und Tropfenzählern Zutaten abgemessen und sich neue Rezepte ausgedacht. Als ich zehn war, hatte ich mir gerade beigebracht, wie ich mittels Klebestift und Radiergummi meine Augenbrauen kaschieren konnte.
Endlich strömten die Worte, die mir im Hals stecken geblieben waren, heraus wie ein Fluss.
»Dylan, es tut mir schrecklich leid.« Ich ging in die Hocke und sammelte hastig meinen BH und den Rollkragenpulli ein. Ich hatte das kultige gelbe Outfit von Cher aus Clueless angezogen, das ich mir selbst genäht hatte. Meine weißen Kniestrümpfe waren schmutzig.
»Dass es mir leidtut, beschreibt nicht mal ansatzweise, wie ich mich fühle. Was ich getan habe, ist erbärmlich! Es war ein riesiger Fehler. Mir ist schlecht. Ich bin entsetzt und schockiert und …«
»Hör auf, sonst fange ich noch an, mich zu schämen, verdammt.« Row fuhr sich mit der Zungenspitze über die Innenseite seiner Wange und stellte einen Fuß in einem nicht geschnürten Armeestiefel auf die Motorhaube seines Wagens. Ich schenkte ihm keine Beachtung. Er war nicht wirklich beleidigt. Sarkasmus war seine Muttersprache.
»… abgestoßen, nein, angewidert von dem, was ich getan habe«, fuhr ich fort.
»Hast du ein Wörterbuch verschluckt, verdammt noch mal?« Rows whiskeyfarbene Augen verengten sich zu wütenden Schlitzen. »Meinetwegen kannst du behaupten, dass es schrecklich war, bis du blau anläufst, aber dein Körper auf der Motorhaube hat etwas anders gesagt.«
»Verdammt! Das ist Blasphemie.« Dylan hielt sich die Ohren zu und schloss fest die Augen. »Jetzt hat sich dieses Bild in meine Netzhaut gebrannt, und mir bleibt nichts anderes übrig, als euch beide zu töten.«
»Ich schwöre, ich wollte es nicht! Ich war betrunken«, log ich verzweifelt. Ich war schon immer eine Lügnerin gewesen. Meine Notlügen waren wie Make-up. Ein harmloser Concealer, um die Unvollkommenheiten meines Lebens abzudecken. Um dafür zu sorgen, dass meine Angehörigen beruhigt waren. Lügen war meine zweite Natur. Wenn ich glaubte, dass meine Antwort jemandem, der mir wichtig war, nicht gefiel, erfand ich speziell für diesen Menschen eine andere.
Ich schob die Arme in die Ärmel meines Shirts, um mich zu bedecken, und heftete den Blick auf Dylans schönes, gequältes Gesicht. »Es war ein riesiger Fehler. Ein Ausrutscher.«
Ich durfte sie nicht verlieren. Meine beste Freundin. Sie war da gewesen, als die anderen sich im Kindergarten über mich lustig machten, weil ich eine Socken-Sandalen-Kombi trug. Damals hatte Dylan angefangen, das Gleiche zu tragen, eine Art Modestatement. Ein Mittelfinger für die Mobber. Dylan tanzte immer nur nach ihrer eigenen Pfeife. Sie tat immer, was sie für richtig hielt. Und sie tat immer das Richtige, selbst wenn es beängstigend war. Im Gegensatz zu mir log sie nie. Sie stellte die Wahrheit zur Schau wie eine Ehrenplakette, selbst wenn sie hässlich war.
Sie war da, als meine Babuschka gestorben war, hatte mir die Haare geflochten und mir stundenlang zugehört. Sie war da, wenn ich lachte und wenn ich weinte. Bei Absagen von Colleges, Streit mit meinen Eltern und wenn wir im Pyjama auf dem Sofa rumhingen, Teen Mom schauten und den Kühlschrank leer aßen.
»Ich höre immer nur ich,ich,ich.«Dylan verdrehte die tränennassen Augen, legte den Kopf zurück und gab ein freudloses Lachen von sich. »Es geht immer nur um dich, stimmt’s? Duwarst betrunken. Duhast einen Fehler gemacht. Dubist angewidert. Duhast Angst. Was ist mit mir?Hast du schon mal daran gedacht, wie sehr ich es hasse, wenn meine Freundinnen meinen Bruder anmachen? Dass alle mit Dylan Casablancas befreundet sein wollen, weil sie diesen heißen Bruder hat?«
Sie glaubte, dass ich unsere Freundschaft ausnutzte, um mit Row rumzumachen? Das war lächerlich. Meine Schwärmerei für Ambrose Casablancas ähnelte meiner Schwäche für Chris Pine. Dass es sie gab, bedeutete nicht, dass ich vorhatte, sie in die Tat umzusetzen. Er war der unerreichbarste Mensch auf dem Planeten Erde mit seinen Stimmungen, diesem Haar und seiner Anziehungskraft, die allesamt noch dunkler waren als der Abgrund seiner Seele.
Außerdem hatte ich nicht vorgehabt, ihn zu daten. Ich hatte es nicht so mit Dates. Und mit Beziehungen schon gar nicht.Beziehungen waren für andere Menschen da, Menschen, die sich normal verhielten und nicht bei jeder sozialen Interaktion umkippten wie eine ohnmächtig gewordene Ziege.
»Dylan!« Eilig legte ich die vier Schritte zwischen uns zurück und fiel vor ihr auf die Knie. Schmerzhaft bohrten sich die Steinchen in meine Schienbeine. Blut sickerte aus der aufgeschürften Haut. »Es hat nichts zu bedeuten, ich schwöre. Bis heute hat mich Row überhaupt nicht interessiert.« Lügnerin. »Du weißt doch, dass ich ihn immer schon abnorm groß und irgendwie Furcht einflößend fand …«
»Wow, ein Kompliment nach dem anderen.« Über meinem Kopf hörte ich das spöttische Grinsen in Rows Stimme. Völlig unbeeindruckt, lehnte er an der Motorhaube seines Wagens, die Arme vor der Brust verschränkt. »Ist es etwa dein geheimes Talent, Leute zu beleidigen, Cal?« In diesem Moment hasste ich ihn aus tiefstem Herzen.
»Ein schlecht gehütetes Geheimnis, wie du siehst.« Ich bedachte ihn mit einem wütenden Blick und deutete auf seine Schwester.
»Wage es ja nicht, auf diese Art mit meinem Bruder zu reden.« Dylan zeigte mit dem Finger auf mein Gesicht. »Was dein Liebesleben betrifft, bist du absolut nicht seine Liga.«
Da war ich ganz ihrer Meinung. Row war der Hammer. Heiß, clever und wahnsinnig talentiert. Ich spielte nicht nur mehrere Ligen unter ihm, wir betrieben nicht mal dieselbe Sportart. Er war Fußball und ich war … rollender Käse oder etwas ähnlich Exzentrisches.
»Ich will damit nur sagen, dass es nicht meine Absicht war, sondern eine kleine Fehlentscheidung.« Noch immer kniend, presste ich die Handflächen aneinander und flehte sie an. Meine Klamotten waren verrutscht und schmutzig. Aus irgendeinem Grund hatte ich unterschätzt, wie wichtig es Dylan war, dass ich nicht mit ihrem Bruder rummachte. Wahrscheinlich weil buchstäblich alle Mädels an unserer Schule es bereits getan oder es zumindest irgendwann einmal versucht hatten.
»Klein?«, fragte Row hinter mir.
»Riesig«, korrigierte ich mich, und mein Kopf war so heiß, dass ich glaubte, er würde explodieren. »Und auch noch dick. Besser?« Ich bedachte ihn mit einem anzüglichen Blick.
»Viel besser.« Er fischte in seiner Vordertasche nach seinen Zigaretten und holte ein Päckchen Gitanes heraus. Natürlich rauchte er jetzt französische Zigaretten.
»Wow. Okay.« Dylan rieb sich die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich kotze gleich die drei Stücke Pizza wieder aus, die ich gerade gegessen habe.«
»Bitte, Dylan, verzeih mir. Bitte«, flehte ich.
Kopfschüttelnd schlenderte Row zur Fahrerseite seines Wagens. Er stieg ein und ließ den Motor an.
Dylan musterte mich wie eine Königin, die entscheiden muss, ob sie einen Untertan vor der Hinrichtung bewahren will. Sie schürzte die Lippen, verschränkte die Arme vor der Brust.
»Weißt du, Cal, ich habe immer zu dir aufgeschaut. Du bist großartig, witzig und klug, ein Kaleidoskop an Farben und an Wissen über die Neunziger; ich meine, verdammt, du bist ein wandelnder Wikipedia-Eintrag über Serienmörder und Schauergeschichten, und du hast das sonnigste Gemüt, das mir je begegnet ist. Es ist verlockend, einfach zu bleiben und sich weiterhin von diesen Calla-Litvin-Sonnenstrahlen küssen zu lassen. Aber wenn man all das wegnimmt … die Playlists, die Outfits, die guten Zeiten … Wenn man genau hinsieht, was für eine Art Freundin du bist … dann bist du echt mies.« Dylan schüttelte den Kopf und senkte die Arme. »Werd erwachsen, Dot. Und zwar weit weg von mir, denn ich will dich nie mehr wiedersehen.«
Sie stolzierte auf Tucks roten Pick-up zu, stieg ein und schnauzte ihn an, sofort loszufahren. Schockiert sah ich zu, wie der Typ, der seit vier Jahren Zigarettenasche und Kondome in unsere Spinde schmuggelte, tat, was von ihm verlangt wurde.
Ich lag in der eisigen Kälte auf den Knien und dachte über ihre Worte nach. Meine Fingerkuppen wurden taub. Wie ein riesiger Umhang legte sich die Kälte um meine Schultern. Ich drehte den Kopf zur Seite, zu Rows Scheinwerfern. Er schaltete sie rasch aus und wieder ein, womit er mich wortlos aufforderte, einzusteigen, bevor er seine Meinung änderte und mich zu Fuß nach Hause gehen ließ, wobei ich mir vermutlich eine Lungenentzündung zuziehen würde. Seine Miene war versteinert. Die distanzierte Version seines Selbst, die er jedem außer Dylan und seiner Mom zeigte. Und manchmal auch mir.
Dreist.
Berechnend.
Korrupt bis auf die Knochen.
Gedemütigt stieß ich mich mit beiden Händen vom Boden ab und kam taumelnd auf die Füße. Ich humpelte auf seinen Wagen zu, kalter Schmutz fiel mir in Klumpen von den Knien. Rows Miene hinter der Windschutzscheibe wirkte schnodderig.
Ich versuchte, mich mit seinen Augen zu sehen. Mich, dieses geschundene, Mitleid erregende Geschöpf, zerknittert und fleckig wie eine im Warenkorb hinterlassene Einkaufsliste. Ein schönes Mädchen,sagten die Leute hinter meinem Rücken, aber ziemlich seltsam, genau wie ihr Vater.
Ich setzte mich auf den Beifahrersitz, schloss die Tür und berührte mit gesenktem Kopf das Freundschaftsband, das Dylan mir geschenkt hatte. Wenigstens besaß ich es noch. Ich nahm das Gummiband zwischen zwei Finger, und wie auf ein Stichwort zerriss es. Die Perlen prasselten auf den Sitz und den Boden des Wagens. Hastig versuchte ich, sie aufzufangen, aber ich spürte meine Finger nicht mehr.
»Ist ja super gelaufen.« Er schnippte die Asche von seiner Gitanes. Eine weitere Zigarette ragte aus dem Päckchen hervor, er schloss die Zähne darum und zündete sie an wie ein Filmstar.
»Ich bin dermaßen bescheuert«, sagte ich, wischte mir Schmutz von den Knien und ließ den Hinterkopf gegen die Lehne fallen. Meine Tränen hielt ich zurück, so schwer es mir auch fiel. »Ich habe meine beste Freundin gegen einen One-Night-Stand eingetauscht.«
»In ihren Augen ist es womöglich die Liebesgeschichte des Jahrhunderts.« Er fuhr das Fenster herunter, Rauch strömte aus seinem Mund.
Ich schüttelte den Kopf. »Dylan weiß, was Sache ist. Sie weiß, dass ich mich nicht verlieben kann. Dass ich eine …« Der Rest des Satzes erstarb in meinem Mund.
»Dass du eine Narzisstin bist?«, fragte er und zog eine Braue hoch.
»Gebrochen,ich bin gebrochen«,korrigierte ich ihn stirnrunzelnd. »Trotzdem danke.«
»Du bist nicht gebrochen, Dot.« Er steckte sich die Zigarette in den Mund und tätschelte mir beiläufig den Schenkel. »Ein bisschen beschnitten, okay. Das sind Diamanten immer.«
Ich nicht. Unter meiner sonnigen Fassade wirst du nichts als Dunkelheit finden.
»Also«, setzte er an und fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe, während er den Blick stur geradeaus auf die Straße richtete. »Ich muss dir etwas sagen.«
Er wollte mich davor warnen, Dylan zu beunruhigen. Er war ihr gegenüber sehr fürsorglich, und er wusste, wie sehr sie mich im Augenblick hasste. Aber die Vorstellung, dass sie nicht mehr zu meinem Leben gehören würde, war einfach unerträglich.
»Bitte, sag nichts«, flehte ich ihn an. »Dieser Abend ist schon schrecklich genug.«
»Es geht nicht um Dylan.« Natürlich nicht. Es ging darum, wie schrecklich ich war. Mit dem großen Bruder meiner besten Freundin zu schlafen. Ich hatte mich in Row getäuscht. Am Ende würde er mich doch verletzen.
»Row, bitte.Es gibt nichts mehr zu bereden. Glaub mir, ich bin genauso entsetzt wegen uns wie du. Wahrscheinlich noch mehr.«
Er schlug auf das Lenkrad und murmelte etwas Unverständliches. »Kannst du mal eine Sekunde lang aufhören zu denken und mir einfach zuhören?«, fauchte er.
»Nein danke. Meine Gedanken sind schrecklich. Ich habe es absolut verdient, mich mit ihnen zu beschäftigen.«
Ich wollte mich für die Art entschuldigen, wie ich ihn behandelt hatte. Ich wollte ihn bitten, mit Dylan zu reden und sie zur Vernunft zu bringen. Aber genauso sehr wollte ich an dem kleinen Rest Stolz festhalten, den ich noch in mir hatte.
Die üppigen Bäume Neuenglands, englische Straßenlaternen und die örtliche Bibliothek sausten draußen vorbei, alles eingehüllt in bläulich-orangefarbenes Dämmerlicht. Der Leuchtturm schimmerte hinter einem Vorhang aus zurückgehaltenen Tränen. Mit schmerzlicher Klarheit erkannte ich, dass mein Zuhause nicht Staindrop, Maine, war. Mein Zuhause waren die Geschwister Casablancas. Und ich war aus ihrer Familie verbannt bis in alle Ewigkeit.
»Es tut mir wirklich leid, weißt du«, flüsterte ich, als der Wagen mit laufendem Motor vor meinem Elternhaus stehen blieb. Rows Blick klebte an der Windschutzscheibe, sein Kiefer zuckte so sehr, dass es wehzutun schien. »Ihr beide seid wie eine Familie für mich. Und ich … ich …« Mag euch so sehr. Ihr seid die einzigen Menschen, bei denen ich immer ich selbst sein kann. Aber mir fehlte der Mut, diese Worte auszusprechen. »Ich hoffe, dass für euch alles gut läuft.«
Rows Augen, leer und hohl wie die einer griechischen Statue, waren noch immer auf die Straße vor ihm gerichtet. »Viel Glück an der Columbia.«
»Viel Glück in Paris.«
»Brauche ich nicht. Ich habe Talent.«
Ohne mich eines Blicks zu würdigen, fuhr er davon. Ich starrte unser Pfahlhaus aus Schindeln an. Es hatte die Farbe von Erdbeereis und eine umlaufende Veranda. Pflanzen wuchsen in pastellfarbenen Töpfen, die Baumstämme hatte Mom in Strickpullover eingehüllt. Ein Haus, so verrückt wie seine Bewohner. Und ich wusste, dass ich es für lange Zeit nicht mehr wiedersehen würde.
Ich wollte nie wieder einen Fuß nach Staindrop setzen.
Ums Verrecken nicht.
End of the Road – Boyz II Men
Fünf Jahre später
Wie sich herausstellte, war es der Tod, der mich nach Staindrop zurückholte.
Der Tod meines Vaters, um genau zu sein.
»Na, wo habt ihr Artem denn begraben?« Melinda Fitch, unsere Nachbarin mittleren Alters, griff sich im Wohnzimmer meiner Eltern an ihre Perlenkette und ordnete sie auf ihrem üppigen Dekolleté neu an.
»In Moms Lieblingsvase.« Ich deutete auf den Kaminsims. Die Urne war ein hübsches Teil, ein Samovar aus Silber und Emaille aus dem 19. Jahrhundert, den meine Babuschka nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in die USA mitgebracht hatte.
Melinda stieß ein schrilles Lachen aus. Als ihr klar wurde, dass ich nicht gescherzt hatte, wurde sie blass und drückte die geschminkten Lippen an ihre Teetasse. »Moment mal, er wurde verbrannt?«Das letzte Wort flüsterte sie, als wäre es ein Kraftausdruck.
»Nein, wir haben ihn einfach da reingesteckt. Ist gar nicht so schwer, wenn man die Gliedmaßen nacheinander hineinquetscht«, sagte ich mit ausdrucksloser Miene.
Sprechdurchfall – eins.
Mein zweifelhafter Ruf – minus dreißig.
Melinda sah aus, als wollte sie wie eine Comicfigur die Wand durchbrechen und weglaufen. Ihre Augen waren so groß wie eine Melone. Die meisten Menschen waren an meine ungefilterten Gedankengänge nicht gewöhnt. Meine Kollegen und Freunde hatten im Lauf der Jahre gelernt, mein vorlautes, nervöses Geplapper zu ignorieren. Meistens jedenfalls.
Melinda führte einen weiteren Keks an den Mund und knabberte sittsam an seinem Rand. »Darf ich fragen … ähm … warum ihr euch für die Kremierung entschieden habt?«
»Dad war Atheist. Er glaubte weder an Gott noch an religiöse Rituale oder ein Leben nach dem Tod.« Leere durchbohrte meinen Magen wie ein Stich, als ich über meinen Vater sprach. »Er meinte, eine Einäscherung würde das Ökosystem am wenigsten belasten.« Ich merkte, dass meine Worte über Melindas mit Haarspray betonierte Frisur hinwegflogen. Wahrscheinlich dachte sie, das Ökosystem sei die Marke unserer Klimaanlage.
In der beschaulichen Kleinstadt Staindrop, Maine, hatte mein Vater aus der Menge geragt wie eine Stripperin in einer Kirche. Er hatte bis zu seinem letzten Lebensmonat an der örtlichen Highschool Physik unterrichtet, Schach und Kopfrechnen geliebt und zweimal pro Woche am örtlichen Stausee ehrenamtlich den Müll eingesammelt. Er war schonungslos pragmatisch und dennoch ein seltsam optimistischer Mensch gewesen. Der Krebs im vierten Stadium hatte sich Stück für Stück in seine Existenz gefressen, was ihn nicht davon abgehalten hatte, jeden Augenblick zu genießen.
Dad hatte bis zu seinem letzten Atemzug wirklich gelebt. Noch drei Tage zuvor hatten wir uns bei einer Partie Schach darüber gestritten, welches Essen im Hospiz am deprimierendsten war (definitiv das Porridge, sosehr er die Götterspeise auch verabscheute).
Nun saßen lauter alte Bekannte in unserem Wohnzimmer, die uns ihr Beileid aussprachen. Alle hatten ein Gericht auf Basis von Rüben mitgebracht, Dads Lieblingswurzelgemüse (und ja, er hatte die verschiedenen Arten durchgezählt). Es gab Aufläufe, Kuchen, überbackene Rüben, alle in unterschiedlichen Lilatönen.
Mechanisch umarmte ich Leute, beantwortete todlangweilige Fragen. »Wie ist es in New York?« Kalt und teuer. »Was machst du dort?« Kellnern und meinen Mut zusammennehmen, um endlich meinen True-Crime-Podcast an den Start zu bringen. »Wann willst du wieder nach Staindrop zurückziehen?« Nie scheint mir ein guter Zeitpunkt zu sein.
Am meisten schockierte mich, wie rasch mir dieses Haus, in das ich seit Jahren keinen Fuß mehr gesetzt hatte, wieder vertraut vorkam. Wie es mich einhüllte, als wäre es ein abgetragenes Kleid. Wie sehr die Wände mit zeitlosen Erinnerungen getränkt waren.
Der einzige Unterschied war, dass Dad nicht mehr aus der Küche auftauchen würde, eine Zeitung unter dem Arm und eine Tasse Tee mit Honig in der Hand, um mich aufzufordern: »Erzähl mir was Schönes, Callischka.«
Als ich Mom auf der anderen Seite des Wohnzimmers erblickte, schob ich mich durch die Masse schwarz ummantelter Schultern und legte ihr eine Hand auf den Arm. Blinzelnd starrte sie auf ein Tablett mit Desserts und tat so, als gelte ihm all ihre Aufmerksamkeit.
»Hältst du durch, Mom?« Ich strich ihr eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn. Sie nickte und presste die Lippen zusammen. Ich war eine jüngere Ausgabe von ihr. Die gleichen mandelbraunen Haare, in kleinen Locken auf dem Kopf aufgetürmt, die gleichen riesigen, himmelblauen Augen, die zierliche Gestalt.
»Es ist nur …« Sie schüttelte den Kopf und wedelte sich mit einer Hand vor dem Gesicht herum, um die Tränen zurückzuhalten.
»Was denn?« Ich rieb ihre Schulter. »Sag es mir.«
Mit der Gabel teilte sie ein Stück Biskuitkuchen ab. »Ich fühle mich … leichter.Als könnte ich wieder atmen. Ist das schlimm?«
»Nein, Mom, nein. Dad war sechzehn Monate lang krank und hat ununterbrochen gelitten. Seine Erleichterung ist auch deine. Es ist schwer, zuzuschauen, wenn jemand, den man liebt, das eigene Leben zu hassen beginnt.«
Dad hatte vom Kranksein die Nase voll gehabt. Ich war in seinem Zimmer, als er starb. Ich hielt seine Hand, strich über die dicken blauen Venen, die seinen Handrücken bedeckten. Ich sang ihm sein Lieblingslied vor, California Dreamin’ von The Mamas and the Papas.
Ich sang es, während ich gegen die Tränen und den Kloß in meinem Hals ankämpfte. Ich stellte ihn mir als kleinen Jungen in seinem Kinderbett in Leningrad vor, wo er von goldenen Stränden und hohen Palmen träumte. Offenbar träumte er auch in diesem Augenblick davon, denn er lächelte. Er lächelte, während seine Organe zu versagen begannen. Er lächelte, als ein Leben vor seinem inneren Auge vorbeizog, in dem er Kinder erzogen, in exakt abgemessenen Schritten die Wollknäuel meiner Mutter abgewickelt hatte, wenn sie Fäustlinge strickte, und Teekuchen aus der Keksdose über dem Kühlschrank geklaut hatte, wenn niemand hinsah. Die ganze Zeit hatte Dad gelächelt, denn er wusste, dass mir nichts lieber war, als ihn glücklich zu sehen.
Nachdem sein Herz zu schlagen aufgehört hatte, war seine Hand noch warm. Die Krankenschwester kam herein und drückte meine Schulter. »Mein herzliches Beileid zu Ihrem Verlust«, sagte sie. Doch ich hatte im Lauf der Jahre sehr viel gewonnen: Liebe, Widerstandsfähigkeit, zahllose Erinnerungen.
Mom rieb sich die Stirn und zog sie kraus. »Vielleicht bin ich ja noch in der Phase der Verleugnung. Wahrscheinlich wird mir alles erst klar, wenn du nach New York zurückgehst und ich hier allein bin. Das ist der Moment, in dem die Realität wieder einsetzt, nicht wahr?« Sie drückte sich eine Faust an den Mund. »Wenn alle weggehen und dich mit deinem Kummer allein lassen.«
Ich umarmte sie, wollte sie trösten, wusste aber nicht recht, wie.
»Weißt du, es ist bestimmt ein komisches Gefühl, wenn ich das erste Mal allein hier schlafe.« Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen und schluckte. »Als Dad im Hospiz war, hat immer eine Freundin hier übernachtet. Ich habe ihn mit einundzwanzig geheiratet. Ich glaube, ich weiß gar nicht mehr, wie das geht … allein sein.«
Mom brauchte jemanden an ihrer Seite. Die Vorwürfe, mit denen mich Dylan an dem Abend überhäuft hatte, an dem unsere Freundschaft zerbrochen war, überrollten mich wie ein Tsunami. Ich war also eine miese Freundin. Vielleicht war ich ja auch eine miese Tochter. Schließlich hatte ich Staindrop fünf Jahre lang erfolgreich gemieden. Ich hatte meine Eltern zwar häufig gesehen, weil wir uns in Portland, New York und an einigen Orten dazwischen getroffen hatten. Aber die Reise hierher hatte ich nie wieder unternommen.
Dann dachte ich darüber nach, wie es ist, ein Elternteil zu sein. Wie viel Eltern opfern … Zeit, Schlaf, Geld, Aufmerksamkeit, Besorgnis, Liebe. Und wofür? Damit einen das Kind eines Tages flüchtig umarmt, einem versichert, dass alles gut wird, dann nach New York verschwindet und nur eine Spur halbherziger Entschuldigungen zurücklässt?
Mamuschka sagte immer, dass eine Frau, die Mutter wird, sich ausdehnt. Sie findet Mittel und Wege, mehr von sich selbst zu geben, um die Bedürfnisse ihres Kindes zu erfüllen. Vielleicht war es an der Zeit, dass auch ich als Tochter mich ausdehnte. Dass ich mich der Situation stellte.
»Ich … ich bleibe noch eine Weile hier«, hörte ich mich sagen. Mein Gehirn hatte meinem Mund nicht erlaubt, diese Worte zu äußern. Und doch waren sie jetzt in der Welt. Draußen in der Wildnis. Drangen ans Ohr meiner Mutter, ehe ich sie daran hindern konnte.
»Das würdest du für mich tun?« Ruckartig hob sie den Kopf, in ihren Augen blitzte Hoffnung auf.
Diese Frau hat dir die Windeln gewechselt, Pflaster auf deine Wunden geklebt und für deinen völlig nutzlosen Abschluss gezahlt. Du wirst sie jetzt nicht hängen lassen, nur weil du Angst vor Dylan Casablancas hast.
Denn genau darauf lief es hinaus: Dylan. Row war längst weg. Er war ein weltberühmter Bad-Boy-Chefkoch geworden: Restaurantbesitzer, Reality-TV-Juror, ein Prinz mit Michelin-Sternen. Im Lauf der Jahre hatte er mit beängstigender Häufigkeit meinen Bildschirm geschmückt. Vor Thanksgiving zeigte er in Morgenshows sein Grübchenlächeln, wenn er den Zuschauern erklärte, wie sie den perfekten, saftig gefüllten Truthahn zubereiten sollten. Auf E!News war zu sehen, wie er, ein Victoria’s-Secret-Model am Arm, in einer trendy Location in Europa ein neues Restaurant eröffnete. Oder als mürrischer Juror bei einer Reality-TV-Show auf geringem Niveau, bei der er finstere Blicke auf ausgefallene Gerichte warf und hoffnungsvolle angehende Chefköche unflätig beleidigte. Ein Kolumnist hatte einmal geschrieben: AmbroseCasablancasistdas,wasdabeiherauskommt,wennGordonRamsayundJamesDeanheimlicheinKindmiteinanderhaben.Der Satz traf mich bis ins Mark.
»Jep, ich bin für dich da«, sagte ich und legte einen Arm um Moms magere Schultern. »Wir machen uns Futter für die Seele, schauen uns Filme an und reden über alles Mögliche. Ich bleibe bis zum ersten Januar. Wie findest du das?«
Ich kann euch sagen, wie ich es fand … schrecklich.Bis zum ersten Januar waren es noch acht Wochen. Was bedeutete, dass ich früher oder später Dylan über den Weg laufen würde. Und anderen Leuten, denen ich noch weniger begegnen wollte.
»Oh, Cal.« Mom tupfte sich die Nase mit einem zerknüllten Papiertaschentuch ab und setzte ein dankbares Lächeln auf. »Wenn es dir nicht zu viel Mühe macht?«
»Überhaupt nicht. Du hast mir gefehlt. Ich möchte Zeit mit dir verbringen.«
Wenn mein Bankkonto sprechen könnte, hätte es mich jetzt garantiert gefragt, ob ich high war. Ich konnte mir nicht einfach freinehmen. Ich musste nach wie vor arbeiten, um mein Apartment in Williamsburg abzuzahlen. Und mit Apartment meine ich einen Schuhkarton.Ein furchtbar teurer Schuhkarton. Ich musste einen Weg finden, in Staindrop Geld zu verdienen, und die Lösung bestand sicherlich nicht in meinem Wunschtraum, dem nicht aufgezeichneten True-Crime-Podcast. Horror für Hotties.
»Nur, wenn du dir sicher bist.« Mom hielt meinen Arm im Klammergriff. »Ich will nicht, dass du meinetwegen dein Leben aufgibst.«
»Keine Sorge, ich habe kein Leben, das ich aufgeben könnte.« Ich zog sie ein weiteres Mal in eine innige Umarmung und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Wir werden einen Riesenspaß haben, Mamuschka, genau wie früher. Wirst schon sehen.«
»Wirklich?« Hoffnung ließ ihre Wangen erröten.
»Wirklich. Das lassen wir uns nicht nehmen.«
Während ich noch sprach, schwang die Tür auf, und herein kam Ambrose Casablancas.
Und mit ihm eine sehr schwangere Dylan.
I’d Do Anything for Love (But I Won’t Do That) – Meat Loaf
Dylan war schwanger.
Ihrem Aussehen nach zu urteilen, war sie im achtzehnten Monat.
Mit Drillingen.
Holy Shit,ihr Bauch war riesig.Wer war der Vater? Hodor aus Game of Thrones? Wann hatte sie geheiratet? Warum hatte mir niemand davon erzählt?
»Mom«, flüsterte ich laut und zog sie am Ärmel, denn ich spürte, wie sich das Gewicht des ganzen Kontinents auf mein Brustbein senkte. »Warum hast du mir nicht erzählt, dass Dylan geheiratet hat?«
Entsetzen raste mir durch die Adern. Auf eine Begegnung mit den Geschwistern Casablancas war ich absolut nicht vorbereitet. Vor allem nicht mit Dylan, die mir bei unserem letzten Gespräch das Herz aus der Brust gerissen hatte und darauf herumgetrampelt war, bis es zu Staub zerfallen war. Und was hatte Row eigentlich hier zu suchen? Gab es keinen Reality-TV-Kandidaten, den er anschreien konnte, weil sein Eintopf wie eine Dreckpfütze schmeckte? Denn das hatte er tatsächlich getan. Ich wusste noch, dass ich mir die Folge mit Schrecken angesehen und gedacht hatte: Dieser Mann hat in mir gesteckt.
Mom ließ den Blick benommen von ihrem Biskuitkuchen zur Tür schweifen, wo sich die Leute um die unfassbar strahlende Dylan scharten.
»Geheiratet?« Stirnrunzelnd schloss sie den Mund um ein luftiges Stückchen Butterkuchen. »Nein, Callischka. Dylan hat nicht geheiratet.«
»Sie ist schwanger.« Ich zeigte auf meine ehemals beste Freundin, als hätte man die Tatsache nicht noch vom Neptun aus sehen können. Ich wusste, dass ich voreingenommen klang. Viele Menschen hatten uneheliche Kinder, wir lebten nicht mehr in den Vierzigerjahren. Aber Dylan hatte sich immer eine prächtige Hochzeit gewünscht. Mit einer goldenen Kutsche und Einhörnern und weißen Tauben und fünf verschiedenen Kleidern. Sie hatte Seiten mit Anregungen für den Blumenschmuck aus der Vogue herausgerissen und sie fein säuberlich zusammengefaltet in ihrer Unterwäscheschublade aufbewahrt, als ob es kein Pinterest gäbe.
»Das stimmt, Callischka. Aber Babys entstehen nicht bei einer Hochzeitsfeier. Ich dachte, das wüsstest du?«, fragte sie stirnrunzelnd und mit schief gelegtem Kopf. »Über Bienchen und Blümchen haben wir nie gesprochen, nicht wahr?«
»Von wem ist das Baby?« Ich sah mich hektisch um.
Sie starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Von Tucker Reid natürlich, von wem denn sonst?«
Von wem sonst?Gute Frage.Vielleicht von jemandem, der auf der Highschool nicht jedem Mädchen angedroht hat, sie am Höschen hochzuziehen.
Waren die beiden zusammen? Wann hatte es angefangen? An dem Abend, an dem sie mich mit Row erwischt hatte? Und warum war Row damit einverstanden? Bei Kerlen, die seiner Schwester nicht würdig waren, war er normalerweise ausgesprochen schießwütig. Nebenbei bemerkt: Für ihn gab es auf dieser Welt keinen einzigen Mann, der seine Schwester verdiente. Ich war mir ziemlich sicher, dass Tuckers Nase und Rows Faust aufs Engste miteinander vertraut waren.
Und außerdem … Dylan schlief mit Tucker Reid? Er war ein Scheißkerl, aber … irgendwie heiß? Diese pikante Info wollte ich sofort und ausführlich analysieren. Das Problem war nur, dass ich mit Dylan darüber sprechen wollte.
Tucker. Freaking. Reid. Ich kam einfach nicht darüber hinweg. Er hatte uns tyrannisiert. Na ja, streng genommen hatte er wohl nur mich tyrannisiert. Alles deutete darauf hin, dass er Dylan nicht mehr die Gänsehaut-Buttons von ihrem JanSport-Rucksack klaute und in der Cafeteria »versehentlich« auf ihr Tablett nieste.
Als hätten sie unsere Anwesenheit gespürt, drehten Row und Dylan gleichzeitig den Kopf und erblickten Mom und mich.
Als vernünftige, verantwortungsbewusste Erwachsene kam ich zu dem Schluss, dass dies ein guter Zeitpunkt war, mich zu der Person hinter mir umzudrehen und eine Lawine aus zusammenhanglosen Wörtern loszutreten, um beschäftigt und unbeeindruckt zu wirken. Die beiden sollten auf keinen Fall merken, wie sehr ich mich vor der Konfrontation mit ihnen fürchtete.
Mein armes Opfer war Lyle Cooper, ein kleiner Tischler über siebzig, der mit Dad sonntags immer Fish and Chips gegessen und Bier getrunken hatte.
»Lyle. Wow. Wir haben uns ja lange nicht gesehen. Da gibt’s bestimmt ’ne Menge zu erzählen!«
Mir war überdeutlich bewusst, dass sich Row und Dylan nun durch das Gedränge hindurch auf meine Ecke des Zimmers zubewegten. Genauer gesagt: Row schlenderte, und Dylan schwankte. Sie machten halt, um mit Mom zu reden, die direkt neben mir stand, und ich versuchte, gleichzeitig mit Lyle zu sprechen und ihre Unterhaltung zu belauschen.
»… herzliches Beileid, Mrs Litvin. Mom lässt Grüße ausrichten …« Dylan.
»… der Schmerz wird mit der Zeit vergehen, und wir sind immer für Sie da, das wissen Sie …« Auch Dylan.