Trusting Was The Hardest Part (Hardest Part 2) - Rabia Doğan - E-Book

Trusting Was The Hardest Part (Hardest Part 2) E-Book

Rabia Dogan

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Beschreibung

**Seine Hände halten mich zusammen. Sie verdecken all die Risse, die das Leben in mir hinterlassen hat.** Seit Zelal zum Lehramtsstudium nach Berlin gezogen ist, reibt sie sich im steten Kampf zwischen Geldsorgen und dem Wunsch nach Eigenständigkeit auf. Ohne Unterstützung ihrer Familie ist sie auf sich allein gestellt. Ein Licht scheint sich abzuzeichnen, als sie die Stelle der studentischen Hilfskraft beim neu eingestellten Postdoc Levi Jakab bekommt. Doch dann passiert, was Zelal nie zulassen wollte: Zwischen den beiden beginnt es verbotenerweise heftig zu knistern. Aber Levis heiß-kalte Signale verwirren Zelal, bis sie feststellt, dass er ein Geheimnis birgt – eines, das ihn seinen Arbeitsplatz kosten und Zelal in ihre schmerzhafte Vergangenheit zurückwerfen könnte. Romance, die mitten ins Herz trifft und niemanden unberührt lassen wird. »Ehrlich. Authentisch. Herzzerreißend. In der deutschen New Adult Romance brauchen wir mehr Stimmen wie die von Rabia Doğan.« SPIEGEL-Bestseller-Autorin Carina Schnell //Dies ist der zweite Band der zutiefst bewegenden »Hardest Part«-Trilogie. Alle Romane der romantischen Own-Voice-Reihe:  -- Band 1: Staying Was The Hardest Part -- Band 2: Trusting Was The Hardest Part -- Band 3: Leaving Was The Hardest Part (erscheint im Herbst 2024)//

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ImpressDie Macht der Gefühle

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Rabia Doğan

Trusting Was The Hardest Part

»Seine Hände halten mich zusammen. Sie verdecken all die Risse, die das Leben in mir hinterlassen hat.«

Seit Zelal zum Lehramtsstudium nach Berlin gezogen ist, reibt sie sich im steten Kampf zwischen Geldsorgen und dem Wunsch nach Eigenständigkeit auf. Ohne Unterstützung ihrer Familie ist sie auf sich allein gestellt. Ein Licht scheint sich abzuzeichnen, als sie die Stelle der studentischen Hilfskraft beim neu eingestellten Postdoc Levi Jakab bekommt. Doch dann passiert, was Zelal nie zulassen wollte: Zwischen den beiden beginnt es verbotenerweise heftig zu knistern. Aber Levis heiß-kalte Signale verwirren Zelal, bis sie feststellt, dass er ein Geheimnis birgt – eines, das ihn seinen Arbeitsplatz kosten und Zelal in ihre schmerzhafte Vergangenheit zurückwerfen könnte.

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Vita

Triggerwarnung

© privat

Rabia Doğan ist als knappes Maikind im Jahre 1998 auf die Welt gekommen und schreibt, seit sie realisiert hat, dass sie viel zu erzählen hat. Ohne einen Kaffee oder Matcha Latte auf dem Tisch und ihren Kater neben sich passiert das selten. Wenn ihr das Studium zu viel wird, backt sie Unmengen an Kuchen, um am Ende keinen davon zu essen. Sonst findet man sie beim Stricken oder Bingen einer Comedy-Serie.

Für alle jungen Mädchen, die ›erwachsen für ihr Alter‹ waren und sich dabei in den Händen abscheulicher Männer wiedergefunden haben. Es ist nicht eure Schuld, und ihr seid nicht allein.

&

Für anne, die mich lehrte, grenzenlos, tief und empathisch zu lieben. Wegen dir tue ich heute das, was mir am wichtigsten ist.Ez ji te hezdikim.

VORBEMERKUNG FÜR DIE LESER*INNEN

Liebe*r Leser*in,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthält.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und / oder betroffen bist, bleib damit nicht allein. Wende dich an deine Familie, Freunde oder auch professionelle Hilfestellen.

Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.

Rabia und das Carlsen-Team

EINS | YEK

Zelal

»Einfach zur Koserstraße?«

»Du hättest mich echt nicht fahren müssen.«

Talhah winkt ab und parkt seinen Twingo aus, den er immer noch nicht aufgeben mag, egal wie oft ich ihn angebettelt habe. Als Wohngemeinschaft hatten wir sogar vorsorglich Geld zusammengelegt, weil wir davon ausgegangen waren, dass das Auto den TÜV nicht noch einmal überstehen würde. Zum Schrecken der WG hat Talhah die Plakette für zwei weitere Jahre bekommen.

Lauthals dürfen wir uns nicht beschweren … er ist die einzige Person mit einem Wagen, den wir netterweise ausleihen dürfen, falls wir ihn brauchen sollten. Trotzdem weiß ich nicht, wie das Auto überhaupt fährt, wenn das Armaturenbrett wie ein Weihnachtsbaum leuchtet.

»Das ist echt kein Problem. Ich muss Evren sowieso aus der Bibliothek abholen. Die ist ja in der Nähe. Dann musst du nicht spät am Abend mit der Bahn fahren.«

Die Freie Universität war dieses Semester so nett und hat die vielversprechendsten Seminare auf die schlimmsten Zeiten gelegt. Ich habe fast jeden Tag Veranstaltungen, zwischen denen mehrere Stunden liegen, in denen ich nichts tun kann. Es ist irgendwo auch meine Schuld, ich wollte unbedingt etwas belegen, wovon ich halbwegs Ahnung habe und das Herr Heller nicht lehrt. Er ist das größte Arschloch und starrt sich jeden Morgen mindestens eine Stunde im Spiegel an. Da bin ich mir sicher. Anders kann ich mir das aufgeplusterte Verhalten und den halbstündigen Monolog vor den Vorlesungen nicht erklären.

Irgendein neuer Dozent soll ein Seminar übernehmen, das ich mir in der Hoffnung ausgesucht habe, gute Noten zu schreiben. Oft sind neue Lehrende freundlicher in ihren ersten Kursen und benoten dementsprechend kulanter.

»Startet die Uni früher, oder musst du arbeiten?«, fragt Talhah und blinkt rechts.

»Wir räumen ein Büro für den neuen Dozenten um, der jetzt anfängt. Ich soll helfen, und ich brauche das Geld sowieso, also warum nicht?« Donnerstagabends kurz vor Semesteranfang hatte ich eh nichts Besseres vor, außer zu stricken. Lukrativer ist es, ein paar Euro mehr zu verdienen, damit ich durch das unbezahlte Praxissemester komme, das ich ans Ende meines Studiums geschoben habe.

»Spannend.« Talhah grinst. Es passt überhaupt nicht zu seinen Augenringen und dem Kasack, den er nicht ausgezogen hat, nachdem er von seiner Schicht gekommen ist. »Hast du ihn schon kennengelernt?«

»Nein, noch nicht. Aber die Erwartungen sind zu einem Minimum heruntergeschraubt.« Ich rümpfe die Nase, als ich mich an den letzten Doktoranden erinnere, dem ich bei seiner Literaturrecherche helfen musste. Er war einundfünfzig und so großkotzig, dass ich jede Minute in seinem Büro verabscheut habe.

»Dann kann man nicht enttäuscht werden«, sagt Talhah.

Ich nicke lustlos. »Dann kann man nicht enttäuscht werden.«

Auf den wie immer überfüllten Straßen bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil Talhah weitere zwanzig Minuten fahren muss, anstatt direkt nach Hause zu gehen.

»Was habt ihr zwei heute vor?«, frage ich, während die Berliner Szenerie an uns vorbeizieht und ein Farbenspiel aus Grautönen auf der Fensterscheibe hinterlässt. Nach dem Sommer ist es in dieser Stadt besonders trist.

Er zuckt mit den Schultern. »Mal schauen. Wahrscheinlich einen Film gucken und nach den ersten zehn Minuten einschlafen, weil wir beide todmüde sind.«

So endet es jedes Mal, wenn die zwei bei uns in der WG sind. Was mich nicht wirklich überrascht. Als Medizinstudentin und Assistenzarzt sind ihnen Freizeit und Ruhe Fremdwörter.

»Wie romantisch«, säusle ich.

»Heute habe ich auch keine Körperflüssigkeiten auf meiner Kleidung. Sexyer geht es wohl kaum.«

»Da wird Evren ganz bestimmt aus dem Häuschen sein.«

»Sie wird über mich herfallen«, sagt er lachend.

Die gute Laune ist seiner Stimme anzuhören, was Wärme durch mich strömen lässt. Seitdem die zwei sich kennengelernt haben, ist Talhah glücklicher denn je. Früher war er reserviert und still, jetzt blüht er auf – innig und allumfassend.

»So …« Er parkt vor dem Geschichtsinstitut. »Viel Spaß?«

»Werde ich definitiv haben.« Ich seufze. »Danke fürs Fahren.«

»Für dich doch immer«, sagt Talhah sanft.

Ich will nicht aus dem Auto. Es ist warm und gemütlich. Trotzdem schnalle ich mich ab und atme tief durch, bevor ich die Wagentür öffne. Kälte und Dunkelheit empfangen mich, was mich ungemein stört. Dabei ist der Herbst in der Theorie die beste Jahreszeit. Die Vorfreude auf Schnee und Weihnachtsmärkte, Spekulatius und heißen Tee ist die schönste Freude. Bis man einen Fuß vor die Tür setzen muss und am liebsten wieder umdrehen würde, weil es eisig und die meiste Zeit über finster ist.

Vor mir erhebt sich imposant das Friedrich-Meinicke-Institut, dessen Fenster sich endlos aneinanderreihen und Blicke in Büros erlauben, die längst leer stehen. Um diese Zeit arbeiten die Wenigsten. Ein paar Doktorierende und Lehrende, die sich alleinig über ihren Job identifizieren.

Talhah hupt, bevor er mit quietschenden Reifen weiterfährt. Die Philologische Bibliothek, in der seine Freundin neben dem Studium arbeitet, ist nicht weit weg. Sie freut sich bestimmt genauso wie ich auf eine gemütliche Autofahrt statt der anstrengenden Öffis und der kalten U-Bahn-Schächte.

Um diese Zeit öffnen sich die Gleittüren noch, und im Foyer lungern vereinzelt Menschen. Die Arbeit in einem universitären Institut hört nie auf, auch wenn Studierende während der vorlesungsfreien Zeit nur die Bibliotheken besetzen.

Vor einem Jahr habe ich die Stelle als studentische Hilfskraft am Geschichtsinstitut aus Verzweiflung angenommen, als die in der Germanistik gestrichen wurde. Plötzlich war es vorteilhaft, als Lehramtsstudentin zwei Fächer zu belegen.

Damals habe ich bei meiner Linguistikprofessorin gearbeitet und ihre Folien aufgehübscht. Nachdem sie von der Uni gegangen ist, bin ich zur Geschichte übergesprungen und unterstütze seitdem Dozierende dort. Letztes Semester war ich auch Tutorin für Bachelorstudierende, die mit dem geschichtlichen Stoff nicht klarkamen. Dieses Semester übernimmt jemand Neues die Aufgabe, weil die leitende Professorin mir mehr Arbeitsstunden am Geschichtsinstitut selbst versprochen hat. So gern ich auch einmal die Woche das Tutorium geführt habe, war es viel Arbeit für das wenige Geld. Da setze ich mich lieber ein paar Stunden vor den Computer und beantworte E-Mails.

»Zelal!« Cecil lächelt breit und legt die zwei Ordner in ihrem Arm um, sodass sie mir zuwinken kann, als ich in den Büroflur trete. »Schön, dass du es noch geschafft hast! Herr Jakab übernimmt Büro sieben. Ich bring das Zeug schnell weg und komme zu dir.«

Herr Dr. Jakab. Das war der Name – und Titel –, der auf der Campus-Management-Seite aufgeführt war, als ich sein Seminar zur kolonialen Kunstgeschichte ausgewählt habe.

»Schön, dich zu sehen!« Ich hebe die Hand und steuere auf die Tür hinten rechts zu. Das Büro ist eines der kleineren, aber ist gesegnet mit einem Ausblick auf den nahe gelegenen Park, was die Größe wettmacht. Vor allem im Sommer.

Der braune, platt getretene Teppich wurde frisch gesaugt, und vor der linken Wand stapeln sich Akten über Ordner und Haufen von bedruckten Blättern.

»Schlosser hat alles hiergelassen.« Cecil stößt genervt die Luft aus und kreuzt die Arme vor der Brust. Sie arbeitet seit fünf Jahren als Sekretärin am Institut. Jedes Mal, wenn ich ihr Lächeln und ihre perfekte Aufmachung sehe, frage ich mich, wie sie es in dieser testosterongeschwängerten Luft aushält.

»Der Didaktikkurs war auch für den Arsch. Klar, dass er nach seiner Promotion keine Festanstellung bekommen hat«, gebe ich schulterzuckend zurück.

Ich musste mich um seine Mails kümmern und habe mitbekommen, wie häufig Studierende wegen seiner Erwartungen und des Stoffs verzweifelt sind.

Cecil eilt auf die Ordner zu und greift nach so vielen, wie sie tragen kann. »Er hat konstant sexuelle Anspielungen gemacht. Ich konnte für Wochen keinen Rock mehr tragen, ohne mich beobachtet zu fühlen.«

Mit solchen Meldungen wurde das Institut regelrecht überschwemmt. Studentinnen, die sexistische Äußerungen beklagt oder sich in seinen Kursen unwohl gefühlt haben. Überrascht hat es mich damals nicht. Der Mann hat einen praktisch mit den Augen ausgezogen. Jede Minute, die ich mit ihm allein verbringen musste, war eine zu viel.

Am Ende wurde sogar die Fachschaft eingeschaltet, wodurch der Dekan sich gezwungen sah, Fabian Schlosser zu entlassen, nachdem er promoviert hatte. Besser so.

Ich stelle meine Tasche ab und ziehe die Jacke aus, um Cecil zu helfen. »Mal schauen, ob der Neue dir auch einen Strich durch die Outfits und Dekolletés macht.«

Wenn man der hübschen Frau etwas nicht nehmen kann, dann ihre eng anliegenden Bleistiftröcke und der gewagte, aber noch immer professionelle Ausschnitt.

Ein schelmisches Grinsen stiehlt sich auf ihre pinken Lippen, und sie pustet sich ein paar Strähnen aus der Stirn, die sich aus dem Knoten in ihrem Nacken gelöst haben. »Ich glaube nicht. Diesmal kriegen wir jemand Jungen.«

Ich folge ihr aus dem Büro ins Archiv, wo wir die Ordner auf einem Wagen abstellen, damit die Mitarbeitenden schauen können, ob etwas Brauchbares drin ist oder alles weggeworfen werden kann.

»Ach echt?«

»Aber so was von«, sagt sie und richtet ihr Oberteil. »Ende zwanzig. Hat in den USA promoviert. Wollte einen Tapetenwechsel.«

»Und sein Alter hindert ihn daran, ekelhaft zu sein?«

Cecil verdreht die Augen. »Natürlich nicht, Spielverderberin, aber er kriegt wenigstens jemanden ins Bett und muss sich nicht wie Schlosser die Augen aus dem Kopf schauen. Das hat er wahrscheinlich nicht nötig mit dem Bewerbungsfoto, das ich sehen durfte.«

»Er ist Geschichtsdoktor. Bist du dir sicher?«

Das Lachen können wir uns auf dem Weg zurück ins Büro beide nicht verkneifen.

»Spätestens am Montag werden wir es ja wissen.«

Das Ausräumen dauert länger, als ich zu Anfang erwartet habe. Eigentlich wollte ich um zwanzig Uhr wieder auf meinem Bett sitzen und mit Atlas und Yousef eine Serie schauen, doch erst nach einundzwanzig Uhr lehne ich mich angestrengt gegen die Wand des jetzt ausgeräumten Büros.

»Der Mailserver außerhalb des universitären VPNs ist seit heute Nachmittag down«, sagt Cecil. »Es kann sein, dass Mails eingeflattert sind, die du zu Hause nicht einsehen konntest.«

»Oh.« Ehrlicherweise habe ich heute nicht versucht, in mein Postfach zu schauen. »Meinst du, du schaffst es, die letzten Dinge wegzubringen, damit ich ins Büro flitzen kann?«

»Klar.« Sie scheucht mich mit einer knappen Handbewegung aus dem Raum und bückt sich nach den wenigen Ordnern, die noch übrig sind.

Das Miniaturbüro, das für die studentischen Hilfskräfte gedacht ist, befindet sich schräg gegenüber. Der Schlüssel klemmt immer, weswegen ich an der Klinke ziehen muss, damit sich das Zimmer aufschließen lässt. Zurzeit schaukeln Felix, Safiya und ich die Hilfskraftstellen allein und teilen uns zwei Schreibtische. Ich schmeiße einen der alten Computer an und gebe meine Zugangsdaten ein, um in das interne Mailprogramm zu kommen. Tatsächlich habe ich eine ungelesene Nachricht. Professorin Bucher, deren Schwerpunkt auf Frauen in der Neuzeit liegt, hat mir heute Mittag eine Mail geschickt.

Zelal,

Du hattest erwähnt, dass Du ein paar mehr Stunden in der Woche arbeiten möchtest. Ich habe mit unserem neuen Postdoc Herrn Dr. Jakab Absprache gehalten. Er braucht eine Hilfskraft für seine nächste Forschungsarbeit. Falls Du Dich noch immer dafür interessierst, kannst Du ihm eine Mail schreiben. Ich habe natürlich ein gutes Wort für Dich eingelegt.

Liebe Grüße

Jana

Bei ihren Worten muss ich schmunzeln. Jana ist eine der besseren Lehrenden, die sich immer die Zeit für Kritik nimmt. Seitdem Schlosser nicht mehr da ist, hat sie die Didaktik übernommen. Für sie habe ich ein paar Monate gearbeitet, und keiner der Geschichtsprofessoren war je so nett, wie sie es ist.

Ich bedanke mich bei ihr, kopiere die E-Mail-Adresse Herrn Jakabs aus der Mail, schicke ihm eine Anfrage und verweise auf Jana. Sicherheitshalber hänge ich meinen Lebenslauf an. Hoffentlich sieht er das als Bonus, sodass ich mehr Stunden in der Woche arbeiten kann. Zwar sucht das Institut nach neuen studentischen Hilfskräften, weil ich die Einzige bin, die um Extrastunden gebeten hat, aber bis die gefunden sind, kann ich meine Chance nutzen. Außerdem habe ich im letzten Jahr so viel Recherche betrieben, dass er mich nehmen muss. Für Quelleninterpretation findet er niemand Besseren!

Zu meinem Glück warte ich nicht lange auf eine Antwort. Der Benachrichtigungston tönt schrill durch das halbdunkle Büro.

Sehr geehrte Frau Korkmaz,

ich danke Ihnen für die Anfrage. Ich habe mit Professorin Bucher ein kurzes Gespräch darüber geführt und würde mich freuen, Sie kennenzulernen.

Ab Montag bin ich im Büro und halte um elf Uhr ein Seminar. Wenn Sie davor Zeit haben, können Sie gerne bei mir vorbeischauen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Levi Jakab

Dann weiß ich, was Anfang der Woche zu tun ist. Vielleicht sollte ich früh aufkreuzen und ihm einen Kaffee bringen? Erhöht das meine Chancen? Oder ist das zu dick aufgetragen, und er bietet mir die Stelle nicht an?

Ich muss mir dringend etwas einfallen lassen, damit ich mit größter Sicherheit diese Extrastunden bekomme.

ZWEI | DU

Zelal

Montag kommt viel zu schnell um die Ecke. Ich muss um neun beim Institut auf der Matte stehen, damit ich bei dem neuen Postdoktoranden vorbeischauen kann, bevor ich seine Veranstaltung besuche. Danach habe ich eine Deutschvorlesung und ein dazugehöriges Seminar. Die vorlesungsfreie Zeit und die weit auseinanderliegenden Hausarbeiten haben mich faul gemacht. Gegen Ende der freien Tage bin ich vor elf Uhr vormittags nicht mehr aus dem Bett gekommen.

Aber heute habe ich die Motivation, früh aufzustehen. Zwar wird das Studieren über die Jahre immer anstrengender, doch ich versuche, mich an meine Vision der Zukunft zu klammern. Wenn ich die letzten drei Semester zu Ende gebracht habe, darf ich an Schulen lehren. Mit Jugendlichen arbeiten, ihnen etwas beibringen und ein gutes Vorbild sein. Das ist alles, was ich will. Alles, was ich nie hatte. Ich möchte die Lehrerin sein, bei der sich jedes Kind wohlfühlen darf. Kinder, die häufig schlechte Erfahrungen gemacht haben, anstatt an einem sicheren Ort lernen zu dürfen.

Nur zwei Semester plus das Praxissemester, dann bin ich fertig. Dann kann ich endlich ins Referendariat und mich für eineinhalb Jahre überarbeiten und unterbezahlen lassen. Trotzdem wird das der Anfang der schönsten Zeit meines Lebens sein. Es kann nur bergauf gehen.

Die Unordnung auf dem Boden ist heute überschaubar. Wenn man das kleinste Zimmer und viel zu viel Krimskrams hat, dann wird es zwangläufig eng. Die halb fertig gestrickte Decke und Nadeln räume ich aus dem Weg und gehe zum Schreibtisch, auf dem meine Kleidung liegt, die ich abends rausgelegt habe. Sie ist gehobener als meine normale Pullover-und-Hosen-Kombi, schließlich habe ich ein Vorstellungsgespräch vor mir. Zwar gestalten diese sich im Institut angenehm, aber ich muss gut auftreten, um mir den Job auf alle Fälle zu sichern.

Ich kämme meine Haare und streiche sie hinter die Ohren. Bereits vor Monaten hätte ich sie schneiden sollen, jetzt liegen sie in meinem Kreuz, und es ist zu schade, die Schere in die Hand zu nehmen. Die grünen Vordersträhnen sind längst ausgeblichen, weswegen meine beste Freundin Safiya sie die kommenden Wochen nachfärben will.

Ich stecke meinen dünnen Rollkragenpullover in die weite schwarze Stoffhose und ziehe einen Blazer über. Den kann ich nach dem Gespräch einfach im Büro lassen. Mit der gepackten Tasche und meiner Lederjacke mache ich mich auf den Weg zur Uni. Frühstück hat mir Felix heute versprochen – ein Croissant vom Bäcker unweit vom Institut und der selbst gemachte Latte macchiato. Er hat sich einen Kaffeevollautomaten zugelegt und hört nicht auf, davon zu schwärmen. Als jemand, der eher Milch mit Kaffee trinkt statt andersherum, besitze ich wahrscheinlich nicht den Gaumen, um die Maschine wertzuschätzen wie er, aber gegen ein leckeres Heißgetränk habe ich trotzdem nichts einzuwenden.

Die dreißigminütige Fahrt und das Umsteigen, um zum Geschichtsinstitut zu kommen, zehren vor allem während der kalten Jahreszeit an meinen Nerven. Zu viel will ich mich aber nicht beschweren, weil die Wohnung und ihre Lage es mir erst erlauben, in Berlin zu leben. Außerdem liebe ich Wedding für den originalen Stadtcharme. Keine neuen, hippen Cafés, die Mieterhöhungen vorhersagen, sondern kleine bakkals, die günstig Obst verkaufen, und fremde Sprachen, die einem nach Jahren vertraut sind.

Die Fahrradständer am Institut sind vollgepackt, aber die Gesichter, die mir entgegenkommen, leer. Das FMI behaust mehr als die Geschichte, wodurch es gigantisch und tagsüber brechend voll ist. In der Jacke, mit dem Schal und zwischen den Menschen, die die richtigen Seminarräume suchen, wird mir beim Treppensteigen ganz warm.

Ich kann die Wolle erst von meinem Hals nehmen, als ich in den ruhigen Büroflur trete, der in neuer Farbe erstrahlt. Die Türen zu den Räumen sind aufgerissen, und Professoren unterhalten sich rege, während ich sie alle grüße und dann im Büro der studentischen Hilfskräfte verschwinde. Am Anfang des Semesters wird eine Willkommensrunde veranstaltet, in der wir den Lehrenden zugeteilt werden – je nachdem, was sie zurzeit brauchen. Am Germanistikinstitut war das mit Pizza und einer netten Spielrunde verbunden. Hier verlief es das letzte Mal sehr unterkühlt. Vielleicht wird es diese Woche ja besser.

»Na, Maus?«, begrüßt mich Saf. Sie ist schon im Büro und hat es sich vor dem linken Schreibtisch gemütlich gemacht. Ihre kupferrot gefärbten Locken hat sie vor zwei Wochen auf Kinnlänge geschnitten. Wir können uns bis heute nicht entscheiden, ob sie ihrem Charakter Ausdruck verleihen wollte oder ob der Stress der zwanzigseitigen Hausarbeit auf ihr gelastet hat.

»Hey«, seufze ich und lege meine Tasche auf dem anderen Schreibtischstuhl ab. Die Jacke und der Schal folgen. »Sehe ich in Ordnung aus? Ich wollte es mit der Schminke nicht übertreiben.« Was ungewohnt für mich ist, da ich das Haus nie ohne dicken Eyeliner und dunkle Lippen verlasse.

Der Computerbildschirm spiegelt nur ein verschwommenes Bild von mir wider. Mit dem Finger fahre ich um die Konturen meines Mundes, um mögliche Lippenstiftschmierer zu entfernen. Der Kaffee und das Croissant stehen schon auf dem Platz, weshalb mir das Herz schwer wird. »Ist Felix hier vorbeigekommen?«

»Dreimal darfst du raten«, antwortet Saf vielsagend.

»Das hätte er nicht tun müssen. Das ist von seiner Englischvorlesung aus eine halbe Weltreise.« Wir hatten abgemacht, dass er mir mein Frühstück zu unserem gemeinsamen Geschichtsseminar mitbringt.

»Ja, warum wohl?«, murmelt meine beste Freundin, und ich presse die Lippen aufeinander. Dieses Gespräch bin ich leid. »Zurück zum Thema: Du siehst super aus. Brauchst dir echt keinen Kopf machen.« Safiya stellt sich zu mir und hebt mein Kinn an, um einen genaueren Blick auf mich zu werfen. »Ich habe Jakab heute Morgen flüchtig gesehen. Cecil hatte recht. Er sieht jung und verdammt gut aus.«

Meine Augenbrauen schießen in die Höhe. »Was meinst du mit ›verdammt gut‹?«

»So gut, dass ich mich gefragt habe, ob er nicht doch irgendein Männermodel ist, das sich auf dem Weg zur Berliner Fashion Week verlaufen hat.«

»Ich nehme dich beim Wort«, sage ich und hebe warnend den Zeigefinger, den sie, begleitet von einem kurzen Lachen, wegschlägt.

»Los, geh zu ihm und erkämpfe dir die Extrastunden!« Sie drückt beide Daumen und verfolgt mich, bis ich aus der Tür bin.

Übers Wochenende habe ich Safiya von meinem Plan erzählt. Sie war der festen Überzeugung, dass es klappen wird, weil weder sie noch Felix mehr arbeiten wollen. Die Unsicherheit begleitet mich trotzdem, als ich mich zum Ende des Flurs vorkämpfe. Cecil hat mich vorgewarnt, dass die Stellenausschreibungen für die neuen Hilfskräfte bald auf der Homepage hochgeladen werden. Das bedeutet: Konkurrenz, die ich nicht gebrauchen kann.

Ich setze ein Lächeln auf und klopfe zaghaft gegen die Tür.

»Herein«, kommt es gedämpft von der anderen Seite, woraufhin ich die Klinke herunterdrücke.

Das Büro ist nicht mehr leer wie letzte Woche. An der linken Wand neben den Aktenschränken stehen zwar Unmengen an Kartons, aber sie sind alle penibel aufeinandergestapelt, wodurch es wie ein durchdachtes Chaos wirkt. Die Glaswand mir gegenüber erlaubt eine sonnige Aussicht auf den Park, und der Schreibtisch rechts ist diesmal besetzt.

Auf dem Stuhl hat Dr. Jakab Platz genommen. Mir fallen mehrere Dinge gleichzeitig auf: dunkle Haare, die zurückgekämmt sind, ein perfekt sitzendes helles Hemd, dessen erster Knopf geöffnet ist, und schieferblaue Augen, die er keine Sekunde von mir abwendet.

»Zelal Korkmaz.« Ich gehe auf ihn zu, und er richtet sich auf, um mich zu begrüßen. Sein Händedruck ist fest, während meine Hand in seiner verloren geht. »Wir hatten einen kurzen E-Mail-Austausch.«

Er nickt und zeigt auf den Stuhl vor mir. »Wegen der Hilfsstelle, wenn ich mich recht entsinne?«

Ich setze mich ihm gegenüber und muss laut schlucken, als er sich kurz seinem Laptop zuwendet, bevor seine Aufmerksamkeit wieder auf mir liegt. Saf hat recht, er sieht aus wie ein Männermodel, das falsch abgebogen ist. Die breiten Schultern strafft er, während er die Ellbogen auf den Schreibtisch stellt, um sein Kinn zu stützen. Seine Armbanduhr reflektiert das Licht, und das enge Hemd lässt vermuten, dass er seine freie Zeit beim Sport verbringt. Was sucht er bitte in diesem Institut?

»Genau«, sage ich leise, um meine Überraschung zu überspielen. Das Letzte, was ich will, ist, dass er meine Gedanken erahnt. Ich bin schließlich nicht die erste Studentin, die sich das denkt. Er ist verdammt attraktiv – das muss er wissen.

Dr. Jakab schenkt mir ein Lächeln, das sich in seine Augenwinkel gräbt und weiße Zähne aufblitzen lässt. »Entschuldigen Sie. Ich habe die letzte Woche so viele Mails erhalten. Es ist schwer, den Überblick zu behalten.«

Ich schenke ihm einen ähnlichen Gesichtsausdruck. »Gar kein Problem. Das kann ich nachvollziehen.«

Er lehnt sich in seinem Sitz zurück. Das Lächeln verwandelt sich in einen amüsierten Blick. »So, was führt Sie zu mir? Warum wollen Sie mir bei meiner Forschungsarbeit helfen?«

Wegen des Geldes. Das kann ich nicht sagen, also setze ich mich auf. Seine Doktorarbeit habe ich gestern überflogen – mich durch das Inhaltsverzeichnis geklickt und die Diskussion am Ende gelesen, wenn ich ehrlich bin. Deutscher Kolonialismus und seine Implikationen im einundzwanzigsten Jahrhundert – Fortleben des Kolonialdenkens im Zusammenleben der Mehrheitsgesellschaft.

»Ich habe Ihre Dissertation gelesen, fand sie sehr interessant und habe mir erhofft, dass Sie in dem Themenfeld bleiben. Da ich letztes Semester sehr viel Literaturrecherche für Herrn Schlosser …« – bei der Erwähnung des Namens zieht er die Augenbrauen zusammen, aber lässt sich nicht aus der Ruhe bringen –, »für Herrn Schlosser betrieben habe, bin ich geübt darin und kann Zusammenfassungen und Interpretationen der Quellen mit Selbstbewusstsein erstellen.«

Er nickt anerkennend, bevor er mich taxiert. »War das auch der Grund, warum Sie sich für mein Seminar eingeschrieben haben, oder sollte mir das lediglich schmeicheln?«

Seine Worte lassen mich stocken, und ich blinzle mehrmals, bis ich überhaupt weiß, was ich darauf antworten soll. »Ich … ich habe mich für Ihr Seminar eingeschrieben, bevor mir Jana … Frau Bucher … Professorin Bucher Bescheid gesagt hat, dass … dass die Stelle –«

Er unterbricht mich durch sein Lachen, das mich völlig aus der Bahn wirft, die aktuell aus zusammengeklaubten Wörtern und Angstschweiß im Nacken besteht. »Ich habe mir einen Spaß erlaubt, Frau Korkmaz. Kein Grund, sich zu erklären.«

Sehr witzig, Scherzkeks.

Er hat meinen Nachnamen richtig ausgesprochen. Mit rollendem R und dem betonten Z. Ich presse die Lippen zusammen und versuche, meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Ich hätte mir denken müssen, dass auch er einen Haken hat. Er kann nicht attraktiv und nett sein. Wir sind schließlich im Geschichtsinstitut.

Als nichts von mir kommt, beugt er sich über den Tisch hinweg zu mir. »Sie interessieren sich also für den Kolonialismus, habe ich das richtig verstanden?«

Ich nicke.

»Sehr gut. Dann haben Sie wahrscheinlich den Imperialismus im Bachelor oder Master durchgenommen?«

Wieder nicke ich und versuche, die angenehme Tiefe seiner Stimme zu ignorieren.

»Meine jetzige Forschungsarbeit wird sich mit dem Imperialismus als Ganzem beschäftigen. Dabei liegt das Augenmerk auf der Selbstwahrnehmung, die er in der deutschen Bevölkerung nach dem Ersten Weltkrieg mitbedingt hat.« Für einen Moment hält er inne, als warte er auf eine Antwort meinerseits. »Was halten Sie davon? Interessiert es Sie?«

Ich nicke erneut – für Worte bin ich viel zu überrumpelt.

»Das beantwortet meine erste Frage nicht, Frau Korkmaz. Was halten Sie davon?«

»Ähm … das hört sich sehr vielversprechend an. Sehr interessant«, krächze ich und will das enge Büro verlassen. Das scheint ihm nicht Antwort genug zu sein, weswegen ich mich gezwungen fühle, weiterzusprechen. Die Stille zwischen uns wäre unangenehmer als seine Fragen. Ich soll kompetent rüberkommen, nicht überfordert. »Es wirkt so, als wollen Sie Rassismusforschung betreiben, ohne sie direkt als solche zu benennen.«

Als seine Augen für einen Moment groß werden, bin ich mir sicher, dass ich durch das Vorstellungsgespräch geflogen bin. Das war’s. Was fällt mir auch ein, so etwaszu sagen? Ich habe es neutral gemeint, aber ich bin mir sicher, dass er es als Angriff aufgefasst hat. Die billige Studentin denkt, ich sei nicht Manns genug, mich Kritik zu stellen. Dabei war das nicht meine Absicht! Ade, mehr Stunden und mehr Geld. Hallo, Für-immer-unweit-der-Armutsgrenze-Tänzeln.

Er verschränkt seine Finger und lässt die Hände dumpf auf das dunkle Holz des Schreibtischs fallen. Die Kaffeetasse wackelt für wenige Sekunden, weshalb ich zusammenzucke. Du hast es echt verhauen, Zelal. Wunderbar. Ich kann mich direkt aus seinem Seminar ausschreiben. Er wird mich hundertprozentig durchfallen lassen.

»Sind Ihre Antworten immer so ehrlich?«

Ich weiß nicht, ob ich jetzt wahrheitsgemäß reagieren soll. Alles, was ich sage, kann er gegen mich verwenden. Dann bin ich die Stelle wirklich los.

»Wie haben Sie es geschafft, ein Jahr für Dozierende dieses Instituts zu arbeiten? Mit so einem Mundwerk?« Er streut Salz in die Wunde.

Ich beiße mir auf die Lippe, atme dreimal durch die Nase, bevor ich zu einer Antwort ansetze. Diesmal darf ich nicht aufmüpfig und voreilig sein. Ich muss sein Gemüt besänftigen und sein Ego streicheln, in der Hoffnung, wenigstens nicht seine böse Seite kennenzulernen.

Er kommt mir jedoch zuvor: »Aber da Sie, ähnlich wie ich, wissen müssen, dass Forschung harscher Nachfragen bedarf: Willkommen in meinem kleinen Team.« Er schmunzelt, bevor er sich wieder auf seinen Laptop konzentriert und anfängt, zu tippen. »Schicken Sie mir bis Ende der Woche Ihren Stundenplan, und ich schaue mal, wo noch Platz ist. Je eher Sie ihn mir zukommen lassen, desto früher können Sie anfangen. Sind acht Stunden die Woche ausreichend?«

»Ja, völlig«, antworte ich perplex, während meine Gedanken sich überschlagen. Hat er mir zugesagt? Habe ich den Job? War er nicht beleidigt? Er wirkte beleidigt. Mit dem Daumen fahre ich über die Nagelhaut an meinem Ringfinger, dabei beruhigt sich mein rasendes Herz nicht. Es scheint das Jobangebot nicht mitbekommen zu haben.

»Worauf warten Sie?« Jakab wendet sich wieder an mich. »Ich würde Ihnen gern einen Kaffee anbieten, aber der aus dem Automaten hier ist grässlich. Wir sehen uns um elf Uhr.«

Ich springe wie von der Tarantel gestochen auf und glätte meine Hose. »Entschuldigung … ich … wir sehen uns um elf.«

Mit diesen Worten gehe ich auf die Tür zu, möchte ihm winken, aber er beachtet mich nicht mehr. Als ich wieder im Flur stehe, könnte ich vor Freude quietschen.

Die Arbeit mit Levi Jakab wird, so wie er jetzt aufgetreten ist, anstrengend, doch das ist mir recht. Ich werde mein Bestes geben und das Geld verdienen, um in Berlin bleiben zu können. Um mit Jugendlichen zu arbeiten, die die Hilfe kriegen sollen, die sie brauchen. Das kann mir niemand nehmen. Nicht einmal ein arroganter Dozent.

DREI | SÊ

Zelal

Das Seminar ist für Geschichtsverhältnisse überlaufen. Studierende suchen sich panisch Plätze, und als keine zu finden sind, setzen sie sich auf die Treppen.

»Da hat sich wohl jeder das Gleiche gedacht«, flüstert Felix mir ins Ohr.

»Ich sage doch, niemand hat Bock auf Heller.« Bei dem Gedanken, dass das Seminar zur nordamerikanischen Geschichte gähnend leer sein muss und er seine vollgepackten Vorlesungsfolien den Geistern des Instituts vorstellt, kann ich mir die Genugtuung nicht verkneifen.

Felix fährt sich durchs Haar, bevor er seinen Laptop hervorholt. Wir konnten zwei Plätze in der ersten Reihe ergattern, weil wir früher losgegangen sind.

Dr. Jakab lehnt an seinem Pult und hat die Stirn in Falten gelegt, als immer mehr Studierende in den kleinen Seminarraum strömen. Hier haben vielleicht dreißig Leute Platz, heute sind wir mindestens fünfzig.

Felix beugt sich zu mir, und seine blauen Augen strahlen. »Ich verwette meinen Hintern darauf, dass er die Anmeldungsgrenze nicht gecheckt hat.«

Wir studieren seit dem Master zusammen. Vorher hat er in Düsseldorf seinen Bachelor gemacht und ist seiner Freundin nach Berlin hinterhergezogen. Sie hat sich drei Monate nach Semesterbeginn von ihm getrennt, sodass Felix sich eine WG suchen musste, weil seine Freundin ihren Neuen bei sich einziehen lassen wollte. Das erste Semester war nicht ideal für ihn.

Ich zucke mit den Schultern. »Solange er nicht unfair ist und Leute rausschmeißt, ist das okay für mich. Weniger Aufmerksamkeit auf einer einzelnen Person.«

Es gibt nichts Schlimmeres, als ungefragt aufgerufen zu werden, um etwas zu erklären. Neue Dozierende sind gut darin und denken, dass sie uns wie Schüler und Schülerinnen behandeln können, weil manche von uns Lehrende werden wollen.

Jakab betrachtet kurz seine Armbanduhr und stößt sich danach vom Pult ab. Das Hemd ist mittlerweile am Gürtel leicht zerknittert und die Haare nicht mehr perfekt zurückgekämmt, aber das tut seinem stoischen Ausdruck keinen Abbruch.

»So … hallo zusammen.« Er räuspert sich und lässt den Blick über die Menge gleiten. »Ich glaube, ich habe bei der Belegung etwas verhauen. Auch wenn ich keine Mathematik studiert habe, kann ich sagen, dass hier eindeutig mehr Menschen sitzen als erlaubt.«

Ein kurzes Raunen geht durch die Menge, und Felix schnaubt. »Einen Witzbold haben wir bekommen, wow.«

»Besser als einen Sexisten.«

Darauf erhalte ich keine Antwort, was in seiner Welt Zustimmung bedeutet. Auf Schlosser ist niemand gut zu sprechen.

»Ich müsste schauen, wie ich das am besten kläre, weil der Raum eindeutig zu klein und das Seminar zu groß ist, um es weiterhin als Seminar bezeichnen zu können«, fängt Jakab an und umrundet den Tisch, um sich vor seinen Laptop zu stellen. »Vielleicht entfallen auch viele von Ihnen, wenn Sie den Lehrplan sehen.«

»Rosige Aussichten«, kommentiert Felix.

Ich rutsche in meinem Sitz herum und ziehe einen Block aus meiner Tasche. Das fängt schon mal gut an. Wenigstens ist er sich seiner selbst bewusst und weiß, dass sein Unterricht schlecht ist. Jede dozierende Person, die ihre Lehre so anfängt, hat die Studierenden nicht im Hinterkopf.

Eine Präsentation in Weiß und mit dem Universitätsemblem in der oberen rechten Ecke wird gegen die Wand geworfen.

»Mein Name ist Levi Jakab.« Er hebt den Kopf und dreht sich leicht zur Slide, bevor er wieder in die Menge schaut. »Ich habe sowohl meinen Bachelor als auch Master an der Freien Universität in Geschichte und Kunstgeschichte gemacht. Zur Promotion bin ich an die Brown University in Rhode Island gegangen. Und jetzt schließe ich den Kreis, indem ich für die nächsten Jahre hier als Postdoc tätig sein werde.«

Es ist still im Raum, nur die zwei Mädchen neben mir unterhalten sich rege, was Jakab nicht zu stören scheint. Er klickt sich in seiner Präsentation weiter, und der Syllabus erscheint vor uns.

»Ich bin ein großer Verfechter der amerikanischen Lehrweise, deswegen werde ich viel Wert auf Ihre Teilnahme legen und plane wöchentliche Abgaben.«

Einige Leute stöhnen auf. Die Ersten packen ihre Taschen, weswegen er eine beruhigende Handbewegung macht, bevor er sich wieder vor seinen Tisch stellt.

»Immer mit der Ruhe. Es werden keine schwierigen Aufgaben sein, aber ich möchte ein ständiges Auseinandersetzen mit dem Inhalt anregen. Es wird ein sogenanntes Midterm geben. Ein Exposé zu Ihrer Hausarbeit, die dann am Ende des Semesters Ihre Note sein wird.«

Das überzeugt niemand derjenigen, die ihre Taschen gepackt hatten. Ein Dutzend Leute verlassen den Raum, was Jakab mit einem Schulterzucken quittiert.

»Dieses Seminar ist zudem nur für alle, die das Basismodul Europäische Geschichte belegt und bestanden haben. Also falls unter Ihnen jemand ist, der dies nicht getan hat, bitte ich Sie, den Raum zu verlassen.«

Wieder verlassen eine Handvoll Leute das Seminar.

»Gut, dann sind wir zwar trotzdem ein paar mehr, aber das sollte nicht schlimm sein. Ich werde mich um einen neuen Raum kümmern.«

Er klickt sich erneut in der Präsentation weiter, um uns den Inhalt der nächsten Wochen zu zeigen, und bleibt bei einem lila unterlegten Text stehen. »Außerdem möchte ich mit Ihnen gern Ende November in die Gemäldegalerie. Ihre Aufgabe wird darin bestehen, ein Werk auszuwählen und seinen kunsthistorischen und vielleicht kolonialen Kontext aufzuarbeiten und vorzustellen.«

»Na, das wird ja ein Heidenspaß.« Aus Felix’ Stimme ist kein Hauch der Belustigung zu hören, und ich stimme ihm zu. Dieses Semester wird unvergesslich anstrengend.

* * *

Ich dachte immer, dass die Uni von Halbjahr zu Halbjahr einfacher werden würde. Dass man sich an den Rhythmus gewöhnt und einem Dinge leichter fallen. Dem ist nicht so. Obwohl ich den Stoff von drei Semestern auf vier gestreckt habe, bekomme ich manchmal keine Verschnaufpause mit den Nebenjobs, die es mir erst erlauben, in Berlin zu leben.

»Du siehst aus, als hätte man dich überfahren«, sagt Atlas, nachdem er aus seinem Zimmer in den Flur kommt.

Mit einem Seufzen lasse ich meine Tasche auf den Boden fallen und versuche, aus meinen Schuhen zu kommen, ohne mich zu bücken.

»Deine Liebe rührt mich zu Tränen«, murmle ich wenig begeistert. »Ich verstehe eh nicht, wie du immer die Gelassenheit in Person bist. Als Jurastudent!«

Bis jetzt habe ich nicht erlebt, dass er durch irgendeine Prüfung gefallen ist oder wegen des Stresses völlig außer sich war. Klar hat er sich schon öfter mehrere Stunden am Stück zum Lernen verbarrikadiert, aber zum Abendessen war er trotzdem anwesend und hat sich nie lauthals über eine dozierende Person beschwert, wie ich es über Schlosser etliche Male getan habe.

Atlas zuckt mit den Schultern und geht in die Küche, in der es kracht. Irgendein Teller macht Bekanntschaft mit dem zerkratzten Laminatboden. »Man muss halt einmal verstehen, wie man zu einer Lösung kommt. Dann kann man das für alles andere anwenden.«

Das sagt er so leicht, nichtsdestotrotz bin ich mir sicher, dass sich hinter den dunklen Haaren ein Megamind versteckt. Alles andere wäre mir unerklärlich.

»Solange du uns wegen des Wasserschadens in Talhahs Zimmer die Miete endlich herunterhandelst, stelle ich keine Fragen mehr.«

»Hab die Mail schon vor Wochen abgeschickt«, antwortet er, und ich folge ihm in die Küche. Yousef macht sich ein Sandwich, dessen Hälfte Atlas stibitzt. Mehr als eine grimmige Miene erntet er als Küken der WG nicht. »Er wollte erst nicht. Als ich ihn mit Gerichtsurteilen bombardiert habe, ist er zehn Prozent runter, aber da Talhahs Zimmer das Kinderzimmer ist, haben wir uns auf zwanzig Prozent Mietminderung geeinigt.«

Er beißt gelassen von dem Sandwich ab, während Yousef und mir die Augen aus dem Kopf fallen. »Ist da Mayo drin?«, fragt er mit vollem Mund und gerümpfter Nase.

»Alter, das sind fast vierhundert Euro«, krächzt Yousef und ignoriert dabei Atlas’ Frage.

»Hab mir auch mehr erhofft, aber ja …« Atlas seufzt.

»Bist du durch?«, frage ich außer mir. »Das ist supergut, verdammt!« Ich reiße ihn an mich und drücke ihm einen Kuss auf die Wange, weswegen er das Gesicht verzieht. »Ich liebe dich und den Fakt, dass du Jura studierst!«

»Wenn du das noch mal machst, breche ich ab.«

Ich gebe ihm einen weiteren Kuss, und er schiebt mich angeekelt von sich. »Ich meine das ernst, Zel.«

Er ist die einzige Person, die mich so nennt. Als ich vor eineinhalb Jahren notgedrungen diese Männer-WG angeschrieben habe, war ich der Überzeugung, es würde schrecklich werden. Meine alte Wohngemeinschaft hatte sich wegen einer Mietverdopplung aufgelöst. Zeitgleich war meine Stelle im Germanistikinstitut gestrichen worden. Dementsprechend stand ich vor einem großen Nichts. Ich hatte nicht den Luxus, wählerisch zu sein. Und wurde völlig überrascht. Das Interview haben Atlas und Yousef geführt, weil Talhah wie immer an der Uni war. Die beiden waren von Anfang die Freundlichkeit in Person. Ich musste bei meinem Einzug nicht einmal einen Mülleimer ins Bad stellen, weil zwischen Waschbecken und Toilette schon einer stand!

»Sei froh, dass dich überhaupt eine Person anfassen möchte.« Ich schlage ihm halbherzig gegen die Schulter und schiebe die silberne Brille sein Nasenbein herunter.

Er zeigt mir den Mittelfinger, richtet seine Brille und beißt mehrmals von dem belegten Brot ab. »Ich geh lernen.«

»Ich muss auch los«, sagt Yousef und streicht sich seine Locken hinters Ohr. »Malik will eine Tour von der Hochschule, wir haben uns verabredet.« Er drückt sich an mir vorbei zur Küchentür.

»Ist er schon hergezogen? Ich dachte, erst nächste Woche.«

»Nee, seine Kurse fangen nächste Woche an. Bis dahin spiele ich den großen Bruder.«

Bei den Worten muss ich schmunzeln und lehne mich gegen die Theke. »Was hält der echte große Bruder davon?«

Yousef dreht sich zu mir um und beißt von seiner Hälfte des Brotes ab. »Der liegt meist im Bett, bevor ich ihn darauf ansprechen kann.« Er schnaubt. »Außerdem kann er Malik eh nicht behilflich sein. Was will er ihm zeigen? Den Operationssaal? Ich kenne mich an der Hochschule aus.«

Talhahs Bruder wurde zu diesem Wintersemester an der gleichen Kunsthochschule zugelassen, an der Yousef studiert. Ich habe mich darüber gefreut, als wäre ich seine ältere Schwester, weil er sich nichts sehnlicher gewünscht hat. Sein Talent hat es verdient.

»Grüß ihn von mir!«

»Warum?« Yousef schüttelt belustigt den Kopf. »Damit der arme Junge sich wieder Hoffnungen macht?«

»Er ist achtzehn!«, antworte ich entrüstet. Er ist ein Baby und nutzt jede Gelegenheit, mir zu sagen, wie toll ich doch sei, seitdem er sich vollends von seiner Freundin getrennt hat.

»Das interessiert ihn doch nicht«, ruft Yousef, als er endlich aus der Tür ist.

»Okay, grüß ihn nicht!«

Spätestens, wenn er uns besuchen kommt, werde ich ihn wiedersehen, und Talhah wird ihn mit seinen Blicken erdolchen.

Es ist ganz schön niedlich.

VIER | ÇAR

Zelal

Ich könnte mich nicht mehr freuen, als Jakabs Mail bei mir eintrudelt.

Ihrem Stundenplan zufolge haben Sie zurzeit frei. Könnte ich Ihre Zeit in Anspruch nehmen?

»Rate mal, wer einen guten Grund hat, die Linguistikvorlesung nicht nachbereiten zu müssen?«, flüstere ich Saf zu, damit niemand in der Bibliothek von mir gestört wird.

Sie stöhnt und hört auf, aggressiv auf ihrem MacBook zu tippen. »Warum?«

Ich zeige ihr meinen Bildschirm, und sie presst die Lippen zusammen. »Ich hoffe, du musst Texte kurz nach Christus lesen, du Miststück.«

»Hey!«, sage ich.

»Du lässt mich hier allein! Wäre das irgendjemand anderes gewesen, würdest du nicht zusagen. Gib doch zu, du machst es, weil er heiß ist.«

Zum Teil hat sie recht. Ich würde diese Mail nicht einmal öffnen, wäre sie von Schlosser. Aber bei jedem anderen stünde ich schon längst vor dem Büro.

»Weißt du, was heißer ist als er?« Ich schalte mein Handy aus und schiebe es in meine Hosentasche. Laptop und Block landen in dem Körbchen, und den Studierendenausweis lege ich zwischen zwei Seiten des Lehrbuchs. »Das Geld, das ich dabei verdienen werde.«

Saf wedelt abwesend mit der Hand. »Erzähl mir, was du machen musstest und ob ich dich aus den Fängen eines notgeilen Scheißers retten muss, oder ob er auszuhalten ist.«

»Ist versprochen.«

Den Korb gebe ich unten bei den Spinden ab und hole meine Tasche, in die ich notdürftig alles hineinquetsche, um so schnell wie möglich aus der Bibliothek zu kommen.

Die Flure des Instituts wimmeln von Studierenden verschiedenster Bereiche, aber mein Weg führt wie immer in die Abteilung der Geschichte. Hier ist es viel ruhiger, lediglich Jana steht im Flur und schließt ihr Büro auf.

»Zelal! Schön, dich zu sehen!« Sie hebt ihre Kaffeetasse zum Gruß.

»Hey«, begrüße ich Jana und bleibe neben ihr stehen. »Noch mal danke für die Empfehlung bei Dr. Jakab. Ohne dich hätte ich den Job bestimmt nicht bekommen.«

»Ach, das stimmt doch gar nicht.« Ihr Gesicht hellt sich auf. »Du bist eine Bereicherung für dieses Institut. Die Bachelorstudierenden letztes Semester haben dein Tutorium geliebt. Das weiß ich zu schätzen, und ich bin mir sicher, dass es Levi auch tun wird.«

»Hoffentlich«, sage ich mit einem aufgezwungenen Lächeln.

Ich hoffe es wirklich, denn das könnte bedeuten, dass ich nächstes Semester auch für ihn arbeiten und zum Referendariat hierbleiben könnte, weil ich nicht mit Geldnot zu kämpfen habe. Alles, was ich zurzeit verdiene und nicht zum Überleben brauche, geht auf ein Sparkonto. Unterstützung kriege ich von meinen Eltern keine. Für sie hätte ich nichts Enttäuschenderes als Lehramt wählen können. Etwas, das – ihrer Meinung nach – jeder studiert, der nichts mit seinem Leben anzufangen weiß. Es hat ihnen besonders sauer aufgestoßen, nachdem meine zwei Jahre ältere Schwester sich dazu entschieden hat, an einer englischen Exzellenzuniversität Rechtswissenschaften zu studieren.

Jana dreht sich wieder zu ihrem Büro. »Ich halte dich nicht länger auf. Vergiss das Meeting Ende der Woche nicht!«

»Werde ich nicht«, verspreche ich.

Freitagabend wäre ich lieber in meinem Zimmer und würde an meiner Decke weiterstricken, als im Institut zu sitzen und die Aufgaben für das Semester zugeteilt zu bekommen, aber ich werde trotzdem auftauchen. Ich muss.

Die Tür zu Büro sieben ist geschlossen, also klopfe ich an. Wenige Sekunden später werde ich hineingebeten.

»Ich bin wegen Ihrer Mail vorbeigekommen.«

Jakab sitzt hinter seinem Schreibtisch und überfliegt einen Stapel Blätter. Ein roter Stift klemmt zwischen seinen Zähnen, den er herausnimmt, bevor er spricht.

»Ich weiß, das gehört wahrscheinlich nicht in Ihren Aufgabenbereich, aber könnten Sie sich um den Aufbau der Regale kümmern?« Er zeigt auf drei Kartons, die übereinandergestapelt sind und seit letzter Woche vor der linken Wand stehen. Ein kleiner Wagen, der dem Archiv entnommen wurde, ist überfüllt mit Büchern und Ordnern.

Ich muss mich für einen Moment sammeln, weil ich davon ausging, dass sich die Aufgabe auf die Forschungsarbeit beziehen würde. Als Handwerkerin wurde ich bis jetzt nicht einberufen.

»Leider habe ich gerade keine Zeit dafür und wäre um jede Hilfe dankbar.« Er schenkt mir ein aufrichtiges Lächeln und lässt den Stift zwischen seinen Fingern hin und her wandern.

»Klar, warum nicht?« Ich zucke mit den Schultern. »Das sollte einfach sein.«

Als Felix aus der Wohnung seiner Freundin aus- und in eine WG eingezogen ist, haben Safiya und ich ihm beim Einräumen und dem Aufbau von Möbeln geholfen. Ich habe mir sogar Talhahs Auto geliehen, damit wir einkaufen gehen konnten. Man kann zwar vieles in den Bahnen Berlins transportieren – eine in ihre Einzelteile zerstückelte Couch gehört allerdings nicht dazu.

»Ich danke Ihnen, Frau Korkmaz.« Er konzentriert sich wieder auf den Blätterstapel vor sich. In der Vorlesung, die er hält, gelten zwar dieselben Anforderungen wie in seinem Seminar, deren Aufgabe diese Woche war jedoch eindeutig größer.

Ich schlüpfe aus meiner Jacke und stelle die Tasche neben der Tür ab. Regale habe ich in der Vergangenheit genug zusammengeschraubt, eins sollte ich hinbekommen, bevor meine Veranstaltung bei ihm startet.

»Würde es Sie stören, wenn ich nebenbei Musik laufen lasse?«, frage ich.

»Gerne.« Er schaut nicht einmal auf. »Solange ich mich weiter auf das Lesen fokussieren kann.«

Ich shuffle meine Playlist für klassische Musik und halte die Lautstärke im Rahmen. »Was lesen Sie?« Der erste Karton ist schon aufgerissen, und ich hole die Anleitung mit der Tüte voller Schrauben hervor.

»Eine kurze Abfrage der allgemeinen Geschichtskenntnisse der Bachelor-Erstsemester. Ich kümmere mich dieses Semester um die Einführung.«

Hätte er die erste Vorlesung meines Lebens gehalten, hätte ich damals viel größere Angst vor dem Studium gehabt.

Am Studienanfang hatte ich einen unfassbaren Tatendrang. Meiner Meinung nach war ich die geborene Lehrerin. Das erste Praktikum belehrte mich auf knallharte Weise eines Besseren – ich habe öfter vor und nach Unterrichtsstunden geweint, als mir lieb war.

»Und wie schlagen sie sich?«

»Herausragend schlecht« – er seufzt und fährt sich über das Gesicht –, »wenigstens können sie sagen, wer Hitler ist und wann der Zweite Weltkrieg stattgefunden hat. Sonst wäre ich völlig verzweifelt.«

Ich verkneife mir ein Lachen und hole die Spanplatten aus der Packung. »Immerhin ein Anfang. Die Einführung bringt bestimmt alle auf einen guten Stand.«

»Das ist der Plan.« Jakab steht von seinem Platz auf, nimmt seine Kaffeetasse mit und öffnet die Tür.

Viele wissen nicht, was sie studieren möchten, und greifen häufig auf Lehramt zurück, weil es dem ähnelt, womit sie vertraut sind – Schule. Dabei wird vergessen, wie fordernd und schwierig dieses Studium ist. Man studiert schließlich zwei separate Studiengänge. Und dann sitzt man in einem Fach, von dem man keine Ahnung hat. Zum Wehleiden der Dozierenden, die das mittlerweile gewohnt sein müssten. In meiner ersten Deutschvorlesung waren wir bestimmt mehr als dreihundert Menschen, die erwartungsvoll ihre Laptops aufgeklappt haben, um an Ende mit fünfzig Leuten die Klausur zu schreiben.

Ich habe zwei Platten für den Rahmen aneinandergeschraubt, als Jakab wiederkommt. Diesmal mit zwei Tassen in den Händen. Mir reicht er die blaue.

»Ich wusste nicht, wie Sie Ihren Kaffee trinken, aber da er hier sowieso zum Heulen ist, habe ich viel Milch reingeschüttet.« Die Tasse ist warm, doch seine Finger sind es, die eine brennende Spur hinterlassen, als sie meine Handflächen streifen. »Zucker habe ich auf meinem Tisch, falls Sie ihn benötigen.«

Ich schenke ihm ein Lächeln. »Danke.«

»Kein Problem.« Er setzt sich auf seinen Platz und nimmt einen Schluck vom eigenen Getränk.

»Sie sind also ein Kaffeesnob?« Ich nippe an der Tasse. Für meinen Geschmack fehlt ein großer Schluck Milch, aber ich ignoriere den bitteren Nachgeschmack. »Mir ist nie aufgefallen, dass er schlecht ist.«

»Mit irgendetwas muss man sich ja brüsten können«, sagt er amüsiert.

»Reicht es nicht, dass Sie jung an der Brown promoviert haben?«

Sein Blick schnellt in meine Richtung. »Jung?«

»Also Sie sehen …« Sofort halte ich inne. Wenn das wieder irgendein Satz wird, der sein Ego verletzt, sollte ich ihn mir zweimal überlegen. Aber das Kompliment, jung auszusehen, möchte doch jeder bekommen, oder nicht?

Sein heutiges Hemd ist ein gebrochenes Weiß, das in einer grauen Anzughose steckt. Diesmal trägt er sogar eine Krawatte, die locker um seinen Hals liegt.

»Ja, Frau Korkmaz?« Er macht eine ausladende Handbewegung, als er sich in seinem Schreibtischstuhl zurücklehnt. »Fahren Sie ruhig fort.«

»Ich … äh …« Mir bleiben die Worte im Hals stecken, also konzentriere ich mich wieder auf die Platten, die ich gekonnt zusammenbaue. Ich kann es mir nicht erlauben, ins nächste Fettnäpfchen zu treten.

»Siebenundzwanzig, bald achtundzwanzig.«

Als ich die Augenbrauen zusammenziehe, fährt er unbeirrt fort.

»Ich bin siebenundzwanzig und werde am ersten Weihnachtstag achtundzwanzig.«

Bevor ich es mir anders überlegen kann, sage ich: »War das Absicht, dass Sie sich den wichtigsten Geburtstag in der westlichen Welt ausgesucht haben?«

Meine Augen werden groß und mein Hals trocken. O Scheiße. Was habe ich gesagt? Durchatmen und nicht ins Fettnäpfchen treten. Hast du richtig toll gemacht, Zelal, wirklich wunderbar.

Zu meiner Verwunderung – oder meinem Glück – fängt Jakab an, zu lachen. Ein richtiges, herzhaftes Lachen. Er legt den Kopf in den Nacken, wodurch sein Adamsapfel prominent hervortritt.

Als er den Blick erneut auf mich richtet, zeichnen sich Lachfalten um seine Augen ab. »Gut, ich habe mich immer darüber aufgeregt, dass meine Geburtstagsgeschenke auch als Weihnachtsgeschenke gegolten haben. Aber so kann man es natürlich auch sehen.«

Ich streiche ein paar lose Strähnen hinter meine Ohren, während sich eine unbarmherzige Hitze in meiner Brust ausbreitet.

»Soll ich die Regale später auch einräumen?«, frage ich erstickt, um die Stille zu durchbrechen, die einzig von Bach und dem Kratzen seines Stifts gefüllt wird. Alles, um das Thema zu wechseln.

»Brauchen Sie nicht. Das mache ich. Ich habe meine eigene Ordnung.« Seine Stimme ist stoisch wie zuvor. Würde in diesem Moment jemand reinkommen, könnte derjenige nicht erahnen, dass Jakab vor wenigen Sekunden Spaß hatte.

Vielleicht hat er einen guten Grund, selbstsicher zu sein, während die meisten in seiner Position alles daransetzen, von den Studierenden gemocht zu werden. Dass er mit siebenundzwanzig den Doktor und eine Postdoktorandenstelle hat, die den Weg zur Professur ebnet, ist beachtlich. Wenn er so weitermacht und genug Forschung publiziert, könnte er Anfang dreißig habilitieren.

Er ist gut darin, Studierende aus dem Sattel zu werfen. Das macht er nicht nur bei mir, er hat seine Sticheleien auch im Seminar unter Beweis gestellt. Nachdem eine Kommilitonin gesagt hat, sie glaube, es gebe keinen Unterschied zwischen dem Kolonialismus und Imperialismus, hat er gefragt, ob sie es glaube oder wisse. Die Arme ist erstarrt. Verübeln kann ich es ihr nicht, mir wäre es ähnlich ergangen, hätte er mich vor dreißig anderen Menschen vorgeführt.

Als das erste Kallax-Regal fertig ist, versuche ich vergeblich, es aufzurichten. Es gleitet mir aus den Fingern und landet mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Teppichboden.

»Warten Sie …« Jakab umrundet den Tisch und stellt sich mir gegenüber. »Ich helfe Ihnen.«

Zusammen rücken wir das Regal in die Ecke zwischen der Fensterfront und der Wand. Der weiße Lack verschmilzt mit der Wand. Sie müssen das Büro vor seinem Einzug gestrichen haben, die Farbe war vorher einem Gelbton näher als Weiß.

»Danke fürs Aufbauen.« Jakab fährt sich durch das dunkle Haar. Er überragt mich um gute zwanzig Zentimeter, aber bei meiner Größe von eins fünfundsechzig ist das auch kein Meisterwerk.

»Nicht der Rede wert, ich werde schließlich dafür bezahlt.«

Er schnalzt mit der Zunge und kreuzt die Arme vor Brust. »Das hätte ich ja fast vergessen, so schnell wie Sie das aufgebaut haben.«

»Ich gebe mein Bestes«, seufze ich. »Vielleicht hätte ich es in die Länge ziehen müssen, um mehr Stunden rumzubekommen, bevor ich die Literaturrecherche übernehme.«

»Was? Ich bin davon ausgegangen, dass Sie die Recherche lieben. Schließlich besteht die Geschichte zu neunzig Prozent aus Quellenfindung und -interpretation.« Jakab geht wieder zu seinem Tisch und sammelt Laptop, Stift und ein paar Blätter ein.

»Deswegen übergeben Sie die auch gerne an Hilfskräfte. Weil das die tolle Arbeit in der Geschichte ist«, sage ich spitz.

Die Uhr an der Wand verrät mir, dass in zehn Minuten das Seminar anfängt, weshalb ich meine Jacke über meine Schultern streife und nach meiner Tasche greife.

»Sie haben mich durchschaut.« Er öffnet die Tür. »Nach Ihnen.«

»Einen Moment …«, flüstere ich und linse in den Flur, der leer ist. »Ihre Krawatte sitzt schief.«

»Oh, Mist.« Jakabs Augen werden groß, und er versucht, seine Habseligkeiten unter einen Arm zu quetschen, was ihm misslingt – die Stifte und die Blätter fallen zu Boden.

»Ich kann sie richten.« Bevor er verneinen kann, liegen meine Hände auf dem Stoff. Er ist weich unter meinen Fingern, und die graue Farbe hebt sich von seinem Hemd ab. Für einen Moment wirkt es, als würde ihm der Atem stocken.

So dicht vor ihm, steigt mir sein Geruch in die Nase. Tabak und Vanille.

Ich ziehe die Krawatte enger und richte sie, sodass sie über den durchsichtigen Knöpfen des Oberteils liegt. Er macht einen halben Schritt zurück, wodurch meine Arme schlapp zu meinen Seiten fallen, und sammelt die auf dem Teppich liegenden Gegenstände auf.

»Wollen wir los?«, presse ich hervor.

»Nach Ihnen«, wiederholt er perplex und zeigt auf den Flur.

Ich bin mir sicher, ich werde das ganze Seminar über nicht aufpassen können, während meine Hände vor Scham brennen.

FÜNF | PÊNC

Zelal

Die Philologische Bibliothek ist überrannt, weil die Bücher fast aller Studiengänge sich in diesem Gebäude befinden – auch die der Germanistik. Außerdem lässt es sich hier in Ruhe arbeiten. Über meinem Zimmer ist neuerdings das Kinderzimmer einer Familie, deren Baby den ganzen Tag durchschreit. Wegen des Geräuschpegels komme ich nicht zum Lernen oder Hausarbeitenschreiben. Ich muss jeden Satz dreimal lesen und habe in meinen Vorlesungen konstant ein leises Geschrei im Ohr.

»Du kannst in den Pausenraum, da ist wenigstens Platz«, sagt Evren an der Rezeption, während sie abzugebende Bücher von Studierenden entgegennimmt. »Meine Packung Schokobons steht auf dem Tisch. Bedien dich.«

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und öffne die Tür, die hinter die Rezeption und in den besagten Raum führt. Manchmal sind die Freundinnen und Freunde meiner WG-Mitbewohner doch zu mehr nütze als das morgendliche Blockieren von Bädern. Wobei Evren bis jetzt meine Liebste ist – sie hat nie das Bad unnötig lang für sich beansprucht und verbringt Zeit mit mir, weil sie es will, nicht weil sie sich gezwungen fühlt.

»Danke, dass du Talhah für uns erträgst«, rufe ich, ernte daraufhin jedoch einen bitterbösen Blick.

Der Raum ist leer und dunkel, weswegen ich das Licht anschalte. Wenn alle Stockwerke überfüllt sind, findet man mich häufig hier.

Das Letzte, was ich machen möchte, ist, an der Hausarbeit zu tippen, also greife ich nach der Plastikpackung und reiße sie auf, um das erste Stück Schokolade zu essen. Theoretisch würde es reichen, wenn ich meine Literatur heraussuche, aber sogar dafür bin ich zu faul.

Meine Gedanken wandern ungewollt zu heute Mittag. Zu dem federleichten Gespräch und den etlichen Fettnäpfchen, in die ich nicht aufhören kann zu treten. Als meine Finger anfangen, zu brennen, weil ich Jakabs Brust unter ihnen spüre, verschlucke ich mich an dem Schokobon.

Es war ein flüchtiger Moment und hatte nichts zu bedeuten. Auf dem Weg zum Saal war er reserviert und hat danach unbeirrt sein Seminar über die koloniale Kunstgeschichte gehalten. Was richtig war. Ich hätte seine Unterlagen halten und nicht direkt an seiner Krawatte fummeln sollen wie ein Schulmädchen, das heiß auf ihn ist. Was ich definitiv nicht bin. Ekelhaft. Der Gedanke, dass ich mich genauso anstelle wie die Darstellerinnen aus Schlossers schmutzigen Filmen, die er einmal zu oft auf seinem Computer offen gelassen hat, löst einen Würgereiz aus. Ab jetzt heißt es, fünf Meter Abstand halten.

»Warum ist dein Gesicht so lang? Ist die Uni schlecht gelaufen?« Evren setzt sich mir gegenüber und greift nach der Tüte. Ähnlich wie Talhah zeichnet sich die Übermüdung in ihrem Gesicht ab. Wie beide das aushalten, ist mir ein Rätsel. Ich stoße bei Lehramt schon an meine Grenzen.

»Alles gut. Nur lustlos«, sage ich seufzend.

»Davon kann ich ein verdammtes Lied singen«, murmelte sie. Sie rutscht ein ganzes Stück im Stuhl nach unten und reibt sich die Schulter.

»Ich verstehe gar nicht, warum du dich mit einem Job quälst. Talhah kriegt genug an der Uniklinik, sogar in Ausbildung. Er sollte dich einfach durchfüttern.« Würde mein Freund im mittleren vierstelligen Bereich verdienen, dann würde ich mich zurücklehnen und versuchen, mein Studium zu überstehen. Der Feminismus würde meinen Körper verlassen, wenn ich einfach weniger arbeiten könnte.

Evren verengt die Augen. »Gut, dass meine Schwester nicht hier ist, sonst hätte sie dir bei diesen Worten den Arsch aufgerissen.«

»Deswegen ist einer meiner besten Freunde Assistenzarzt in der Chirurgie«, antworte ich schulterzuckend.

»Seit zwei Monaten.« Evren schnalzt mit der Zunge. »Sicher, dass er dir helfen kann, oder hält er einfach irgendwelche Werkzeuge und hofft ängstlich darauf, keins fallen zu lassen?«

Bei diesen Worten kann ich nicht anders und muss auflachen. »Du hast recht. Gut, dass deine Schwester nicht hier ist.«

»Die liegt mir sowieso in den Ohren, und könnte sie, würde sie mich dauerhaft in eure WG schicken, damit sie aus unserem Zimmer ihr eigenes machen kann.« Sie rollt mit den Augen, und irgendetwas Kleines zerbricht in meiner Brust. Die Beziehung, die die zwei miteinander haben, ist rein und liebevoll. Meine Schwester Ena und ich halten es keine Sekunde zusammen aus, ohne dass alles in Geschrei untergeht.

Ohne dass alles in ihrem Geschrei untergeht.

Sie ist genauso wie mein Vater: narzisstisch und egozentrisch. Einmal habe ich mich mit siebzehn auf eine Party geschlichen und mich dort mit meinem Ex so stark betrunken, dass ich Ena am Telefon anbetteln musste, mich abzuholen. Heute bin ich mir sicher, dass er mir irgendetwas in das Getränk gemischt hat. Sie hat widerwillig ihr Zimmer verlassen und mich gezwungen, mich bei unserem Vater für mein Verhalten zu entschuldigen, weil sie das Geheimnis nicht für sich behalten wollte. Egal wie sehr ich sie angefleht habe, das nicht zu tun, hat sie ihm von meiner Beziehung erzählt.

Statt mich aus dieser missbräuchlichen Situation zu holen, hat er mich niedergemacht. Wie kannst du nur? Du schadest unserem Familiennamen! Ist dir nichts peinlich? Du Schlampe. Ihm war das Bild unserer Familie immer wichtiger als das Wohlergehen seiner Töchter. Solange der Damm intakt war, hat es ihn nicht interessiert, ob der Fluss dahinter gewütet hat.

»Talhah würde sofort zustimmen, das weißt du.«

»Er würde eine neue Wohnung suchen, wenn ich ihn lieb fragen würde«, sagt Evren leise, aber die Röte in ihren Wangen verrät sie. Diese Art von Liebe und Zuneigung, wie sie sie bekommt, ist selten. Talhah nimmt sich konstant Zeit für Evren, egal was bei ihm los ist. Sie weiß, sie muss nur fragen, und er macht. Weil er sie glücklich sehen will. Die ersten zwei Monate ihrer Beziehung hat er nonstop von ihr geredet. Die Jungs und ich hatten die Nase voll. Trotzdem möchte ich Evren nicht missen – sie ist über die Zeit zu einer sehr guten Freundin geworden.

Manche Menschen haben einfach viel Glück und müssen nicht lange suchen, um die richtige Person zu finden. Bei Evren hat eine schlecht gelaufene Beziehung mit fünfzehn gereicht, bevor sie Talhah kennengelernt hat. Ich habe als Jugendliche ältere Männer gedatet. Mit meinem Ex habe ich meine einzige richtige Beziehung geführt, und er hat mich nach Strich und Faden ausgenutzt. Aus heutiger Sicht würde ich das nicht einmal Beziehung nennen, denn ich war siebzehn und er fünfunddreißig. Danach habe ich mich quasi aus der Datingszene zurückgezogen, bis auf die wenigen Treffen, nach denen mein Interesse nie für mehrere Dates ausgereicht hat, sondern nur für das ein oder andere Mal semiguten Sex. Ich war zu traumatisiert und verängstigt.

»Was soll ich sagen, ich habe eine echt gute Wahl getroffen.« Sie schlägt mir gegen die Hand, als ich mit den Augen rolle. »Warum meldest du dich nicht bei Felix? Wir wissen doch alle, dass er auf dich steht. Vielleicht ist er dein Ticket in eine tolle Beziehung.«

Ich bereue es, ihr je von dieser Vermutung erzählt zu haben. Nachdem seine Freundin mit ihm Schluss gemacht hatte, haben Safiya und ich ihn unterstützt, wo wir konnten. Umzug, Einzug, abendliche Cafétreffen. Sogar seine Freunde haben wir kennengelernt, weil sie sich Sorgen um ihn gemacht haben und wir sie beruhigen wollten.