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Elisabeth von Heyking

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Beschreibung

Dieses eBook: "Tschun" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "Ja, wie Tschun so auf der hohen, gewölbten Brücke stand und herabblickte auf die Flaggen, die lauter einzelne Nationen repräsentierten, war ihm plötzlich, als überschaue er die ganze Welt, diese Riesenkugel, die durch den Weltenraum kreist. Und er glaubte zu sehen, wie, von allen Seiten, die verschiedenartigsten Menschen an der Kugel emporkrochen, alle nach einem bestimmten Punkte hin. Dieser Punkt aber war sein Land, sein China." Elisabeth von Heyking (1861-1925), war eine deutsche Schriftstellerin. Sie schilderte in ihren Romanen das Leben in höheren Gesellschaftskreisen, das sie als weit gereiste Diplomatenfrau gut kannte.

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Veröffentlichungsjahr: 2018

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Elisabeth von Heyking

Tschun

e-artnow, 2018 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-8217-6

INHALTSVERZEICHNIS

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

KAPITEL 1

Inhaltsverzeichnis

EINE GESCHICHTE AUS DEM VORFRÜHLING CHINAS

Tschun war ein schmutziger kleiner chinesischer Junge. Er war nicht schmutziger als andere kleine chinesische Jungen. Er war im Gegenteil etwas reiner. Denn Tschuns Mutter war Christin. Und Christentum bedeutet in China unter anderem auch gelegentliches Waschen.

Das Häuschen seiner Mutter stand nahe am Petang. Der Petang ist eine große weiße Kirche; sie ist dicht umdrängt von einer Menge kleiner grauer Häuschen, in denen lauter Christen wohnen. So sieht sie aus wie ein stolzer weißer Vogel, unter dessen schneeigem Gefieder kleine graue Vogelbabies Schutz suchen.

Dieser Anblick begeisterte einmal einen Missionar zu einer schwungvollen Rede, in der er den Chinesen sagte: »Die Kirche ist gleich einem schönen weißen Schwan, Ihr alle seid noch häßliche braune Kücken, aber beharrt nur im rechten Glauben, dann werdet Ihr auch einmal schwanengleich zum Himmel fliegen.« Zwecks Heidenbekehrung war diesem Missionar die Gabe beredter Bildersprache verliehen. Auf Logik kommt es dabei weniger an. – Mit Logik ist auch noch nie jemand bekehrt worden. Das sind Gefühlssachen. Manchmal auch Geldsachen.

Der Petang war für Tschun und seine Verwandten und all die Christen rund herum eine Gefühlssache. Er war in ihrem Leben das Schöne. – Sie hätten darüber nicht zu reden vermocht, denn es war ja auch nicht der kleinste Professor der Ästhetik unter ihnen. Aber die ganze Woche freuten sie sich auf den Sonntagmorgen. Da zogen sie sich ihre besten Kleider an und gingen in die große weiße Kirche. Und die Frauen nahmen ihre kleinsten Kinder mit und blieben dort so lange wie nur irgend möglich, bis zum letzten Orgelton. Im Innern der Kirche war es zuerst etwas dämmerig. Tschun kam die Decke der Kirche so weit und hoch vor, als reiche sie hinauf in den Himmel, und oben waren ja auch eine Menge goldener Sterne, ganz wie nachts am wirklichen Himmel, nur daß der schwarz war, und hier standen die goldenen Sterne auf einem blitzblauen Grunde. Es war aber gewiß am schönsten so, denn den ganzen Petang und alles darinnen hatte sich ja der gute Bischof mit dem weißen Bart ausgedacht und dann geschaffen. Der Bischof, meinte Tschun, mußte darum sicher ein naher Verwandter des lieben Gottes sein. Tschun fand den Altar mit den Lichtern und bunten Papierblumen wunderschön, und die Priester trugen so herrliche Kleider; an hohen Festtagen schienen sie von Gold und Silber zu flimmern; Tschun konnte sich gar nicht so viele Kupfermünzen zusammendenken, wie ein solches Kleid kosten mußte. – Im Petang gab es eine Menge Priester. Manche von ihnen waren von fernher über das Wasser gekommen aus fremden Ländern. Klein-Tschun verstand nicht recht, was das heiße; erst allmählich begriff er es und schloß, daß es wohl eine Folge des beklagenswerten Fremdseins sei, daß auf diesen Priestern der Zopf und die chinesische Tracht nie so ganz richtig aussahen. Es gab aber auch ganz echte Chinesen unter den Priestern. Klein-Tschun dachte, es müsse herrlich sein, wie sie zu werden und alle Tage im Petang mitten in den Weihrauchwolken zu stehen. Er vertraute diesen Wunsch seiner Mutter an, aber die antwortete, Priester dürften nicht heiraten und keine Kinder haben. Das stimmte Tschun sehr nachdenklich, denn auch der kleinste Chinesenmensch jeder Konfession weiß ja, daß man nur auf die Welt kommt, um selbst wieder einen Sohn zu haben, der die Verehrung der Ahnen fortsetzt. – An der rechten Seite des Hochaltars, etwas zurück und versteckt, waren Bänke, auf denen die Nonnen des Petang saßen. Sie trugen einfache blaue Kleider und große weiße Hauben. Es war nie der geringste kleine Fleck auf den Hauben, und Tschun wunderte sich, wie man das wohl anfange, denn seine eigenen Sachen wurden immer schmutzig, ohne daß er wußte wie und wo. – Die Nonnen wohnten in einem eigenen Gebäude, das hinter hohen Mauern lag, jenseits des Petang. Das Gebäude war einstöckig, aber sehr groß, mit Höfen und breiten, offenen Säulengängen. Es war alles schneeweiß gestrichen, und die Säulen warfen duftige, bläuliche Schatten auf die Steinfliesen. In der Mitte des einen Hofes stand auf hohem Sockel eine Figur der heiligen Jungfrau mit einem hellblauen Mantel; ringsherum in regelmäßigen Beeten mit Kacheleinfassungen blühten dunkelrote Monatsrosen. – Es war eine stille, friedliche Welt für sich – ganz anders als das übrige Peking. – Es war aber auch eine fleißige Welt, in der jeder sein reichliches Teil Arbeit hatte. Die Nonnen nahmen eine Menge kleiner chinesischer Kinder bei sich auf, von den allerärmsten, allerelendesten, die ohne sie in irgendeinem Winkel, an irgendeinem bitterkalten Wintertage sicher umgekommen wären. Sie hüteten, pflegten und ernährten diese gelben, schlitzäugigen Geschöpfchen, als sei jedes kleine chinesische Menschenleben eine ganz wichtige Sache. Die größeren Kinder unterrichteten sie. Eine Schwester, die Teresa hieß, lehrte die Mädchen, wunderschöne Stickereien zu machen, Priestergewänder und Altardecken; aber auch Wäsche, gestickte Kleider, Tischdecken, sogar Maskenkostüme wurden da angefertigt, für die fremden Damen, die in Peking wohnen. – Eine Schwester war Apothekerin, und jeden Tag kamen eine Menge Kranke und Krüppel zu ihr, um sich verbinden und Arzneien geben zu lassen. Schreckliche Geschwüre, eiternde Beulen, vernachlässigte Wunden und Leiden aller Art bekam die Schwester täglich zu sehen, und auf alles schaute sie mit derselben Güte und lächelnden Milde, als sei ihr das viele Häßliche nie widerlich, sondern nur ein bißchen trauriger als alles übrige. Tschun wurde auch einmal von seiner Mutter zu der Schwester Apothekerin gebracht. Gegen der Mutter Warnung war er nämlich anderen größeren Nachbarkindern nachgelaufen, die einen großen Papierdrachen steigen lassen wollten; dabei hatten sich seine Füße in der Schnur verwickelt, er war gefallen und mit dem Kopf gegen einen großen, spitzen Stein geschlagen. Was weiter geschah, erinnerte er sich nicht genau. Er befand sich plötzlich zu Hause bei seiner Mutter, und bald darauf ging sie mit ihm in das Kloster, und die Schwester Apothekerin verband ihm den Kopf in einem Zimmer, wo es merkwürdig roch, und wo hinter Glasscheiben auf Gefächern an der Wand eine Menge Flaschen, Töpfe, Näpfe und große bunte Glasschalen standen. Tschun konnte sich nicht erinnern, je früher im Hause der Nonnen gewesen zu sein, aber vielleicht blieb ihm dies eine Mal nur wegen des Loches im Kopf so deutlich als erstes Mal im Gedächtnis.

Er mußte noch mehrmals zurückkehren, um den Verband erneuern zu lassen, und bei diesen Besuchen lernte er das ganze Kloster kennen. Seine Mutter begleitete ihn jedesmal, obschon der Weg von ihrem Häuschen ganz kurz war und er recht gut hätte allein gehen können. Aber er erfuhr, daß seine Mutter früher, vor vielen Jahren, als sie noch jung war und unverheiratet, ganz bei den Nonnen gelebt hatte; er sah dort andere Frauen, die auch in dem Kloster erzogen worden waren und immer wieder gern auf ein Stündchen hingingen, und die den Schwestern erzählten, das Leben sei nie mehr so schön geworden, wie es damals bei ihnen gewesen. Sie litten alle am Vergangenheitsheimweh, ohne es selbst zu wissen. Tschun hätte das noch gar nicht verstehen können, denn seine Welt war noch ganz Gegenwart.

Eines Tages, als Tschun wieder mit seiner Mutter nach dem Petang gegangen war, sah er ein paar grüne Sänften vor dem Eingangstor stehen. Träger hockten herum und rauchten aus kleinen Pfeifen, und Reitknechte in bunten seidenen Röcken führten Pferde auf und ab, die in der frischen Herbstluft dampften, wie Schüsseln schönen warmen Reises. Die Pferde trugen kleine Ledersättel auf dem Rücken, wie Tschun sie damals noch nicht kannte. Die Schwester Apothekerin erzählte, einige Herren und Damen von den fremden Gesandtschaften hätten den Bischof besucht und seien nun herübergekommen, um auch die Schule der Nonnen zu besehen. Als Tschun mit seiner Mutter in die weiße Veranda heraustrat, standen die Fremden gerade da und verabschiedeten sich von der alten Oberin. Die Herren trugen hohe Stiefel aus gelbem Leder, das wie Spiegel glänzte, und Tschun wunderte sich sehr darob, denn er dachte, alle Menschen trügen sommers kleine chinesische Zeugschuhe mit dicken Filzsohlen und winters zum Reiten hohe Samtstiefel. Tschun war so beschäftigt mit den gelben Stiefeln, daß er die fremden Menschen selbst gar nicht sehr beachtete. Nur eine Dame fiel ihm auf, weil sie sich zu ihm beugte und sein Gesicht streichelte: und obschon es Spätherbst war, und alle Blüten längst erfroren waren, kam es Tschun vor, als dufte es plötzlich um ihn nach Blumen; daß die freundliche Dame aber statt glattem, schwarzem Haar krause rötliche Löckchen bis nahe an die Augen hängen hatte, empfand Tschun als etwas sehr Häßliches, und sie tat ihm darum sehr leid.

Als die Fremden fort waren, erzählte die Oberin, der eine kleine, ältliche Herr sei derjenige Gesandte, der den Bischof, die Priester, die Nonnen und den ganzen Petang beschütze. Tschun konnte das nicht begreifen. Der Bischof, mit dem goldenen Kleid und der hohen glänzenden Mütze, von dem grauen, unscheinbaren Männchen beschützt? Wahrscheinlich hatte sich die Oberin geirrt, und es war gerade umgekehrt.

Aber Tschun hatte nicht Zeit, sich lange bei den verwickelten Beziehungen zwischen Kirche und Staat aufzuhalten. Er stand in dem Lebensalter, da jeder Tag neue, erstaunliche Entdeckungen bringt – der erste Schnee, der im Gedächtnis weißer und glitzernder zurückbleibt als alle später erlebten Schneefälle, die langen Karawanen zottig-brauner Kamele, die allherbstlich aus der Mongolei kommen, und denen er sich doch nicht erinnern konnte je früher in den Straßen ausgewichen zu sein; dann die langausgedehnten Neujahrsfeste, vor deren Beginn er Verwandte und Nachbarn immerzu von Geld reden hörte und von der Notwendigkeit, Schulden zu bezahlen; und dann die Festzeit selbst, in der die Welt auf einmal mit bunten Bildern, Glückssprüchen und Laternen angefüllt zu sein schien, wo von einem Haus zum anderen Bretter mit Geschenken getragen wurden, köstliche Süßigkeiten und große rosa Klatschrosen, oder künstlich verkrüppelte, blühende Pflaumenbäumchen, die rote Visitenkarte des Gebers auf all den Herrlichkeiten obenauf liegend; eine Zeit, in der Feuerwerk abgebrannt und die ganzen Nächte hindurch geschossen wurde, während tagsüber geputzte Leute durch die Straßen gingen und Besuche austauschten, bei denen man sich über zahllosen Tassen Tee und unter vielen Verbeugungen nach gegenseitigem Befinden erkundigte und sich Gutes wünschte. Es gab unendlich viel zu sehen für Tschun, der sich so gern draußen herumtrieb; aber in der ganzen festlichen Welt erschienen ihm als begünstigtste Wesen ein paar Nachbarskinder, die für einige Kupfermünzen Knallerbsen gekauft hatten und damit in der Straße um sich warfen. Ob der Knallerbsen, und besonders, weil diese Kinder schon in die Schule gingen, erschienen sie Tschun als in der menschlichen Hierarchie weit über ihm stehend. Bald aber war er ihnen zu ebensolcher Höhe nachgewachsen, und als er sechs Jahre alt war, begann auch er eine vom Petang abhängige Schule zu besuchen. Er war stolz darauf, denn abergläubische Ehrfurcht vor den Wissenschaften war ihm, wie jedem Chinesen, angeboren. Alle Morgen, nachdem zu Hause von der ganzen Familie der Frühtee und die beim vorüberziehenden Straßenhändler gekauften Kuchen verzehrt worden waren, wobei Tschun als Jüngster, wie sich’s schickt, zuletzt an die Reihe kam, wanderte er nun brav durch die schmutzigen Straßen zur Schule, ohne sich durch die Lockungen all dessen, was es unterwegs zu begaffen gab, verleiten zu lassen. »Der Weg zur Gelehrsamkeit ist lang,« hatte Tschun sagen hören, da durfte man nicht gleich bei den ersten Schritten säumen.

In dem Schulzimmer kauerte Tschun mit den kleinsten Schülern auf dem Kang, während die größeren auf Bänken an Tischen saßen. Chinesische Lehrer, die selbst von den fremden Priestern ausgebildet worden waren, unterrichteten die Knaben im Lesen und Schreiben der, ach so schwierigen, chinesischen Schriftzüge, vor allem aber im Katechismus und der biblischen Geschichte. Den Methoden des chinesischen klassischen Unterrichts sich weise anpassend, bestanden die Aufgaben auch hier hauptsächlich nur im mechanischen Auswendiglernen. Dabei ging es aber sehr lebhaft her, denn all die Kinder lernten gleichzeitig und mit möglichst laut erhobener Stimme ihr Pensum und überhörten sich gegenseitig, ehe sie dem Lehrer aufsagten; gegen den verwirrenden Lärm, der hierdurch auf der langen Straße zur Gelehrsamkeit herrschte, waren Lehrer und Schüler gleich unempfindlich.

Am besten gefielen Tschun die Stunden in der biblischen Geschichte. Die Patriarchen erschienen ihm bald wie alte Bekannte, chinesischen Familienchefs gleichend, waren sie Hohepriester und Herrscher zugleich. Abraham, den Isaak schlachtend, war Tschun ein geläufiger Begriff, denn Väter waren ja nun mal allgewaltige Wesen, Herren über Tod und Leben, auch in China – besonders in China. Und ebenso erschien es ihm nichts gar zu Absonderliches, daß sich Brüder fanden, die einen der Ihren, den jungen Joseph, wie ein kleines, lästig gewordenes Haustier verkauften. Denn wenn zwar das Christentum seiner eigenen Familie Kindertötung oder Verkauf ausschloß, so war es doch eben nur ein Christentum weniger Jahre. Dahinter aber lagen die Jahrtausende chinesischer Vergangenheit mit all ihren aufgespeicherten Anschauungen und Sitten. Und das hatte ja Tschun häufig erwähnen hören, daß bei den stets wiederkehrenden Hungersnöten noch heute alljährlich Tausende von Kindern in dem einen oder anderen Teil Chinas ausgesetzt, verkauft oder gar von den Ihrigen getötet wurden. – Wenn Isaak statt eines Sohnes eine Tochter gewesen wäre, so hätte Tschun den Vorgang freilich für noch viel begreiflicher gefunden, und dann wäre der Tientschu auch wohl schwerlich dem Abraham noch im letzten Augenblick hindernd in den Arm gefallen, denn das weiß ja ein jeder, daß kleine Mädchen minderwertige Geschöpfe sind, um deren Rettung sich sicher kein Himmelsherr sonderlich bemühen würde, und daß Väter sie als »Besitz, an dem Geld verloren wird« bezeichnen, da sie ihnen ja zur Heirat eine Aussteuer geben müssen, die dann samt ihrer Arbeitskraft an die Familie des Ehemannes verloren geht.

Im Petang dachte man über solche Dinge freilich anders. Unter den kleinen Waisenmädchen, die dort von den Nonnen aufgezogen und unterwiesen wurden, gab es manche, die verlassen und hungernd von Missionaren in Überschwemmungsgebieten aufgefunden und dann gerettet worden waren. »Gerettet« an Körper und Seele, denn außer der leiblichen Nahrung hatte man ihnen vor allem gleich die Taufe gespendet. – Ja, was taten diese fremden Menschen nicht alles, um solch armes Seelchen aus dem großen Meere des Verderbens herauszufischen und für ein seliges Jenseits zu gewinnen! um »den Himmel zu bevölkern«, wie sie es nannten! Allmählich erfuhr Tschun mehr darüber. Es sollte Nonnen geben, die ihnen völlig fremde Pest- und Cholerakranke pflegten, andere, die es sich sogar zur Aufgabe gestellt hatten, die doch unrettbar verlorenen Aussätzigen aus ihren jämmerlichen Schlupfwinkeln hervorzuholen und diesen Allerelendesten und Allereinsamsten, deren schwärende Körper wie morsches Zeug auseinander fielen, in besonderen Anstalten wenigstens das Lebensende zu erleichtern. Von einem Priester hörte Tschun erzählen, der in einer fernen chinesischen Stadt lebte, wo ein besonders böser Mandarin die ihm unbequemen Leute, falls sie zu arm waren, um sich durch Lösegeld freizukaufen, ins Hungergefängnis werfen ließ. Alle Morgen ging der Priester zu dieser Stätte des Grauens. Sobald die Gefangenen ihn draußen an der stark vergitterten Tür erblickten, durch die allein Licht und Luft in ihr niederes, finsteres Gelaß drang, krochen und wankten sie zu ihm heran. Halb nackte, skeletthafte Gestalten, alle an eine Kette angeschlossen. Und durch das Gitter, in den von verpesteter Fäulnis angefüllten Raum hinein, beim unheimlichen Stöhnen der vor Hunger Verschmachtenden und dem Röcheln der Sterbenden sprach ihnen der Priester von einem lichten Jenseits, von Auferstehung und Leben. Durch das Gitter auch taufte er sie, und da gab es keinen dieser in Finsternis und dem Schatten des Todes Sitzenden, der nicht allzugern einen Glauben angenommen hätte, der ihm für die hier erduldeten Qualen eine die Ewigkeit währende Seligkeit im Himmel verhieß.

Es dünkte Tschun sehr seltsam, daß die fremden Männer und Frauen, die doch ruhig daheim hätten bleiben können, über das große Meer gefahren waren, um sich hier gerade solche Aufgaben zu suchen. Und wenn sie denn schon durchaus Armen und Kranken helfen wollten, was dem Chinesentum in Tschun durchaus nicht als ein unabweisbares angeborenes Bedürfnis begreiflich erschien, so frug er sich, warum sie sich nicht lieber zu Hause so betätigten? Vielleicht gar, weil es dort keine so Arme und Kranke gab? Das war ein ganz neuer Gedanke, und er eröffnete Tschun merkwürdige Ausblicke. Sehr wunderliche Vorstellungen begann er sich von der fernen, unbekannten Welt zu machen, aus der die fremden Priester und Nonnen stammten. Es zog ihn immer mehr zu diesen Ländern hin, wo der wahre liebe Gott seine eigentliche Heimat hatte, und wo die Menschen offenbar so viel, viel besser waren.

Nachdem Tschun die nötige Zeit mit der Erlernung von Katechismus und der biblischen Geschichte verbracht hatte, ward er samt seinen Mitschülern zur ersten Kommunion im Petang zugelassen. Auf der einen Seite des Altars unter dem blauen Sternenhimmel knieten die Knaben mit frisch rasierter Stirn und wohlgeflochtenem Zopf, der ihnen glatt am Rücken herabhing. Auf der anderen Seite knieten die von den Nonnen geführten kleinen Mädchen in ihren buntesten, schönsten Kleidern. Und sie alle empfanden sich an dem Morgen als sehr wichtige junge Wesen, sowohl wegen ihrer Zerknirschung ob der vorher bei der Beichte eingestandenen Sünden, als weil ja der ganze Gottesdienst samt dem Gesang und Orgelspiel ihnen und ihrem Eintritt in die Gemeinde zu Ehren abgehalten wurde.

Tschun begriff immerhin so viel von der Feier, daß er von nun an, aus eigenem freien Willen, zu dem wahren lieben Gott gehöre und sich hüten müsse, an gar manchem, was zum Leben der großen Mehrzahl der Chinesen gehört, teilzunehmen. Ja, das Christentum errichtete doch eine Art Scheidewand. Man war eigentlich kein so ganz echter Chinese mehr. Wenigstens meinten das die anderen, wenn sie sagten: »Ihr gehört zu den Fremden, laßt Euch von denen beschützen.« Die Priester, und an ihrer Spitze der mächtige Herr Bischof, traten ja auch wirklich bei allen Gelegenheiten für ihre Gemeindemitglieder ein und suchten sie davor zu bewahren, von den Mandarinen ihres Glaubens halber ganz besonders übervorteilt und ausgebeutet zu werden. Die Hauptschützerin aber blieb doch immer die Madonna, und ihr mußte man dafür treu bleiben. Das sagte auch der Herr Bischof, als die Kinder nach der Kommunion die Kirche verlassen hatten, und er im sonnigen Hof, wo große Fliederbüsche blühten, noch eine besondere Ansprache an sie richtete. Dabei schenkte er jedem ein Bild der Madonna, deren Statue im Garten der Nonnen zwischen roten Rosenbeeten steht, und sprach: »Es können noch schlimme Zeiten für uns alle kommen, denn die Madonna und wir, ihre Diener, haben starke Widersacher, drum müssen wir wachen und beten, daß uns die Stunde nicht unvorbereitet finde, wo vielleicht auch an uns der Ruf ergeht, für unseren Glauben alles einzusetzen.« Und Tschun dachte, in der frommen Erregung der Stunde, daß es schön sein müsse, für die Madonna zu kämpfen und zu sterben, wie er vernommen, daß so manche Heilige und Märtyrer es getan.

Zu Hause heftete er dann das Bild an die Wand, wie die echten Chinesen es mit dem Bildnis Pussas, der Göttin des Kindersegens, tun. Dabei ging es ihm plötzlich durch den Sinn, daß zwischen den beiden der Unterschied eigentlich gar nicht so groß sei, denn auch Pussa wurde stets mit einem Kinde dargestellt. Etwas Ähnlichkeit bestand auch zwischen Thiän lao yeh, dem chinesischen Himmelsgroßvater, und Tientschu, dem wirklichen christlichen Gottvater. Vielleicht waren die alle untereinander doch ein bißchen verwandt? Dann mochten die chinesischen wohl die minderwertigeren sein, wie sie in allen Familien vorkommen.

Nach einigen Tagen religiöser Exaltation, wo der Himmel so viel näher und wichtiger schien als die Dinge dieser Erde, lenkten sich die Gedanken indessen bald wieder mit praktischer Nüchternheit auf das diesseitige Alltagsleben. Denn es galt nunmehr, Tschuns künftigen Beruf zu bestimmen. Darüber aber hegte er selbst seit langem schon einen geheimen Wunsch.

Tschun besaß nämlich einen Onkel, der in einer der fremden Gesandtschaften angestellt war und ihm oftmals von dort erzählt hatte. Es klang alles so geheimnisvoll und lockend, und Tschun riß die kleinen Schlitzäugelchen so weit auf als es ging, wenn Onkel Kuang yin von all den kostbaren ausländischen Dingen sprach, die die Häuser der Fremden füllten, von den Öfen, die winters in allen Zimmern geheizt wurden, von den vielen Lampen, die abends brannten. Am merkwürdigsten erschien ihm die Beschreibung der großen Mahlzeiten, bei denen Herren und Damen zusammenkämen und die Damen Kleider trügen, aus denen ihre nackten Arme und Schultern herausschauten. Also angetan, sprängen sie nachher wie wild zusammen durch das Zimmer; das daure bis tief in die Nacht hinein, beim Klang einer seltsam unverständlichen fremden Musik. Aber aus all den Erzählungen klang eines immer wieder deutlich heraus, daß nämlich die Fremden alle schrecklich reich sein mußten. Ganze Vermögen stiegen als Rauch durch die Schornsteine in die Lüfte. Es schien kaum glaublich, daß man so mutwillig verschwenden könne. Wieviel verständiger waren da doch die Chinesen, die winters einen wattierten Rock über den anderen ziehen, sich die Hände am Kohlenbecken wärmen, auf dem Wasser zum Tee gekocht wird, und nachts auf dem Kang nahe aneinanderrücken.

Ja, diese Fremden in dem Gesandtschaftsviertel mußten nach des Onkels Erzählungen ganz rätselhafte Wesen sein! Es hieß, daß sie Dinge könnten, die beinahe wie Hexerei klangen, und daneben waren sie doch offenbar erstaunlich dumm und unbeholfen! Die wenigsten von ihnen verstanden auch nur die einfachsten chinesischen Worte, und von keiner Sache, meinte Kuang yin, wüßten sie den richtigen Preis und ließen sich betrügen, daß man sich für sie ob ihrer Torheit schämte.

Tschun hätte diese fremde Welt gar zu gern auch gesehen, und er sagte darum seiner Mutter, daß er, wie Kuang yin, Diener in einer der Gesandtschaften werden möchte. Aber da kam er schlecht an. »Die einzigen guten Fremden sind die Priester und Nonnen des Petang,« antwortete sie ihm, »die hat uns der liebe Gott gesandt, aber die anderen sind sicher alle schlecht, und ihre Frauen wissen offenbar nichts von Zucht und guter Sitte. Da gehörst Du nicht hin.«

Die Mutter hatte einen alten Vetter, Yang hung, der Uhrmacher und Händler chinesischen Schmuckes war, zu dem wollte sie Tschun in die Lehre geben. Es ward in der Verwandtschaft viel darüber hin und hergeredet, denn da Tschuns Vater lange schon tot war, fand man dies eine passende Gelegenheit, der Witwe gute Ratschläge zu geben. Mit echt chinesischer Geringschätzung der Zeit wurden über etlichen Schalen Tee und zwischen ein paar Zügen aus den kleinen Pfeifen endlose Gespräche geführt. Denn sprechen kostet nichts und ist daher eine Freude, die sich auch der ärmste Chinese mit oder ohne Veranlassung gern gestattet.

Kuang yin, der immer schöne seidene Kleider trug und statt der Pfeifchen lieber Zigaretten rauchte, hätte Tschun gern zu einer Anstellung in einer Gesandtschaft verholfen, denn er hielt nicht viel vom Uhrmacherberuf. Er ging so weit, zu behaupten, das Importieren der einzelnen Uhrenteile aus Europa und nachherige Zusammensetzen durch die chinesischen Uhrmacher würde bald keinen Profit mehr abwerfen, denn die fertigen europäischen Uhren würden alljährlich zu immer niedrigeren Preisen in den fremden Ländern ausgeboten. Reparaturen würden schließlich die einzigen Arbeiten sein, die übrig blieben. »Ja,« meinte Kuang yin, »wenn wir die einzelnen Uhrenteilchen hier in China selbst fabrizierten mittels Maschinen und Dampf, wie die Fremden es bei sich zu Hause machen, dann könnten wir sie sicherlich unterbieten, denn die fremden Arbeiter sollen verwöhnte, anspruchsvolle Leute sein, die sich nie mit kleinem Gewinn begnügen – das hat mir der alte Wey erzählt, der ja in Europa gewesen ist.«

Die anderen schüttelten die Köpfe. Kuang yin war doch einer der Ihrigen, den sie von klein auf kannten, aber er schien ihnen manchmal recht absonderlich mit seinen neuen Ideen – doch was kann man von einem erwarten, den sein Broterwerb zwingt, tagaus tagein mit den unheimlichen Ausländern zusammen zu sein. Nur der fortschrittlich gesonnene Vetter Wang pao hielt es mit ihm und meinte: »Wenn diese Fremden wirklich so viel mehr wissen als wir, sollte man es ihnen auf allen Gebieten ablernen.« »Gewiß,« stimmte Kuang yin eifrig bei, »so wie es die Japaner gemacht haben. Die sollen uns ja mit ihren neuen Waffen vor einigen Jahren sogar sehr geschlagen haben – wenigstens erzählt man es so in den Gesandtschaften – und daß die Japaner uns viel Land fortgenommen haben würden, wenn uns die Fremden beim Friedensschluß damals nicht geholfen hätten.«

Ein ungläubiges Gemurmel entstand. Der Japanische Krieg und seine Ergebnisse waren durch die Regierung stets als eine Strafexpedition gegen die zwerghaften Inselrebellen dargestellt worden und der Bevölkerung nie recht zum Bewußtsein gekommen.

»Am besten wäre es schon, man verjagte sie samt und sonders wieder,« murmelte der ob seiner Fremdenfeindschaft bekannte greise Großonkel Lin te i. »Gar so schwer könnte es doch nicht sein, denn es sind ihrer ja nicht viele.«

»Trotz aller Ehrfurcht, die ich der Weisheit Eurer verehrungswürdigen Jahre schulde, Lin Lao yeh,« erwiderte Kuang yin, »möchte ich doch bemerken, daß das nicht so leicht sein würde. Auch sagt Wey, in Europa sei jeder Mann Soldat, da könnten immer neue hergeschickt werden.«

»Sei doch nicht zu sicher, daß die Fremden für ewig hier sind, Kuang yin,« sagte mit hämischer Miene der Vetter Sin schen, den allerhand dunkle Handelsgeschäfte bis tief nach Schantung geführt hatten und der Kuang yin ob seiner sicheren Einnahmen und seines behaglichen Lebens in der Gesandtschaft eigentlich beneidete, »gerade Ihr hier in Peking wißt am wenigsten, was im Lande vorgeht. Weitgereiste Leute wie ich hören mehr davon. Und wenn es auch richtig ist, daß uns die fremden Teufel damals beim Friedensschluß gegen die Inselzwerge geholfen haben, so hat nachher doch jeder von ihnen ein Stück unseres Leibes für sich begehrt. Darob herrscht allerwärts wachsende Erbitterung. Wer weiß, was wir noch erleben werden!«

Zu solch fernabschweifenden Erörterungen höchster politischer Probleme führte die belanglose Frage, welchen Beruf eines der Millionen chinesischer Menschenstäubchen ergreifen solle!

Dies Menschenstäubchen selbst wurde dabei von niemand um seine Meinung befragt, und Tschun wußte, daß das so in der Ordnung sei, aber es ärgerte ihn doch im stillen, denn er mußte wohl von irgendwoher ein Körnchen Unabhängigkeitsgefühl geerbt haben, das geeignet sein mochte, ihn noch in Konflikte mit dem Althergebrachten zu führen. Zum erstenmal entstanden allerhand verworrene Gedanken in ihm, für die er keine Worte gewußt hätte, und die vielleicht mit dem »Recht auf Selbstbestimmung« zu tun hatten, das sich gelegentlich in Einzelnen und in Völkern ganz unerwartet regt – wenn das, auf einen der Millionen kleiner Chinesenjungen angewandt, nicht gar so lächerlich großklingende Worte wären.

Immer wieder dachte Tschun, wie herrlich es doch gewesen wäre, mit Kuang yin in der Gesandtschaft leben zu dürfen. Denn alles, was er von den Verwandten über die Fremden gehört, auch das, was diese als Grund zur Geringschätzung gegen sie anführten, hatte seinen Wunsch, sie kennen zu lernen, nur noch erhöht. Es mußten doch fabelhafte Wesen voll geheimer Macht sein, daß sie es vermochten, sich, ein Häuflein nur, im Riesenreich China zu halten, wo ihnen offenbar niemand wohlgesonnen war. Und nicht nur sich zu halten, sondern gelegentlich sogar als Schützer Chinas aufzutreten – als Schützer freilich, die nachher reichen Lohn für ihre Hilfe einzutreiben wußten. Aber Tschun fand, daß man ihnen dies letztere doch eigentlich nicht verargen könne, denn wo wäre der Mensch, so dumm, Dienste umsonst zu leisten? – Eher sollte man fragen: was taten denn indessen die chinesischen Soldaten, die an der hohen Stadtmauer das Bogenschießen üben, und die anderen, die doch so große Flinten haben, daß immer zwei Mann an einer schleppen mußten? Und die Kriegsdschunken, denen am Bug riesige Augen aufgemalt sind, damit sie die Räuber an den Küsten erspähen können? Was taten die vielen, vielen Mandarine, die so gelehrt waren und die höchsten Examen in der klassischen Weisheit bestanden hatten? Was taten der großmächtige Himmelssohn und die sagenhafte Kaiserin, die hinter den purpurnen Mauern der verbotenen Stadt unter goldenen Dächern wohnten? Waren sie etwa alle alt und schwach im Vergleich zu diesen neuen starken Menschen?

Ja, wie er mißmutig also nachsann, war Tschun zum erstenmal, und ohne es selbst zu wissen, dem Geist der Nörgelei an der eigenen Regierung wohl bedenklich nahe gekommen. Und, wie so oft in diesen Fällen, hatte das Scheitern eines kleinen persönlichen Wunsches den ersten Anlaß zu solcher Gedankenrichtung gegeben.

Doch kurz ehe Tschun in das Haus seines neuen Lehrmeisters, des alten Vetters Yang hung übersiedelte, kam der Onkel Kuang yin eines Morgens zu Tschuns Mutter und bat, sie möge doch erlauben, daß Tschun gleich mit ihm komme, in der Gesandtschaft, wo er diene, sei abends ein großes Fest, und dazu brauche die Frau seines Herrn einen Jungen von Tschuns Alter und Größe.

»Was kann denn die fremde Taitai mit meinem Kinde wollen?« fragte die Mutter sehr mißtrauisch.

»Es ist heute etwas ganz Besonderes,« antwortete Kuang yin wichtig, »eine Vorstellung ähnlich wie ein Theater, nur daß die Menschen sich dabei gar nicht bewegen dürfen, sondern regungslos dastehen und nicht sprechen, sie nennen das lebende Bilder.«

»Da ist sicher eine Hexerei dabei,« unterbrach ihn die Mutter, »und nachher kann Tschun sich womöglich gar nicht mehr rühren.«

»Aber nein doch!« entgegnete Kuang yin überlegen. »Ich habe seit Tagen schon die Proben dazu gesehen, da ist nichts von Hexerei dabei, sie können nachher alle schwatzen und springen wie zuvor.«

»Aber wenn schon alles ausprobiert ist, warum brauchen sie nun plötzlich noch mein Kind?«

»Es ist für ein Bild, wo die Taitai selbst steht,« antwortete Kuang yin, »da sollte der kleine Sohn eines der anderen fremden Gesandten dabei sein, aber er ist krank geworden. Die Taitai hat befohlen, ich solle mit größter Eile einen chinesischen Jungen als Ersatz schaffen, und ich habe es versprochen. Ihr wollt doch nicht, daß ich vor ihr mein Gesicht verliere, indem Ihr mich hindert, mein Versprechen zu halten?«

»Ich hab’ aber doch so Angst, daß es für Tschun schlimme Folgen haben könnte,« sagte die Mutter noch immer eigensinnig und voll bösester Ahnungen, und als schwersten Einwand setzte sie hinzu: »Was glaubt Ihr wohl, daß die guten Nonnen im Petang zu solchen Dingen sagen würden?«

»Nun, da kann ich Euch beruhigen,« fiel Kuang yin rasch ein, »gerade die Nonnen haben ja das Kleid der Taitai für das Fest gestickt.«

Er fühlte, daß er nun gewonnen hatte, und nachdem Tee getrunken und geraucht worden war, wobei Kuang yin die anbefohlene »größte Eile« ganz vergessen zu haben schien, gab Tschuns Mutter wirklich ihre Einwilligung.

»Ich bin nur ein wertloses Bündel,« sagte sie zu Kuang yin, »Ihr dagegen seid der Bruder von Tschuns seligem Vater und müßt wissen, ob dies seinem Geist genehm ist.«

Als sich dann Kuang yin empfahl und Tschun zum Abschied sich vor der Mutter niederwarf und den Boden mit der Stirn berührte, stellte sie noch die Bedingung, daß er am nächsten Tage ganz bestimmt heimkehren müsse.

So trabte denn nun Tschun neben dem Onkel durch die Straßen, mit klopfendem Herzen und kaum an sein Glück zu glauben wagend, daß er nun wirklich all das sehen solle, was ihn so lang schon geheimnisvoll anlockte. Unterwegs frug er den Onkel, ob er vor der Taitai Kowtow zu machen habe. Doch Kuang yin antwortete: »Es genügt völlig, wenn Du bei der ersten Begrüßung Dich verneigst und den Boden scheinbar mit der Hand berührst. Höflichkeit wie wir kennen ja all diese Fremden gar nicht – das wirst Du bald merken – warum also an sie verschwenden, was sie doch nicht verstehen. Ein paar von ihnen wissen ein bißchen mehr, das sind ihre Gelehrten, die übersetzen für sie und schreiben ihnen ihre chinesischen Briefe.«

Die Gesandtschaft war von einer hohen Mauer umgeben, und nachdem der Pförtner auf Kuang yins Pochen die kleinere der Eingangstüren geöffnet hatte, fand Tschun, daß es drinnen eigentlich recht chinesisch aussähe. Sie schritten durch eine große offene Eingangshalle, deren geschweiftes, mit Himmelshunden besetztes Dach auf bemaltem Gebälk und hohen roten Säulen ruhte und an buddhistische Tempel erinnerte. Nur auffallend gepflegt war alles, und in den Wegen des Gartens lag nicht der geringste Unrat. Ganz wie im Petang. Sauberkeit war also offenbar eine Eigenschaft der Europäer.

Doch da kam ihnen schon vom Hause her ein anderer Diener entgegen, der ebensolch schöne seidene Kleider trug wie der Onkel.

»Die Taitai ist mal wieder schrecklich ungeduldig«, sagte er, »und frägt beständig, ob Ihr noch immer nicht mit Eurem Neffen da wärt. Ich sollte sogar schon gehen nach einem anderen Knaben zu suchen, aber ich habe es hinausgeschoben, denn ich wollte doch nicht, daß Ihr Euer Gesicht verlört.«

»Wie die Kinder sind sie doch alle,« murmelte Kuang yin, »wenn sie etwas wollen, strecken sie die Hände aus und schreien, um es rascher zu bekommen.«

Durch ein Vorzimmer und andere Räume gingen sie nun, und Tschun glaubte in einem chinesischen Kuriositätenladen zu sein, so viel Bronzetiere, Cloisonné-Vasen, Lackkästen und Nephritschalen standen da allerwärts herum. Daneben freilich gab es vergoldete Möbel, riesige Spiegel, Teppiche, Kronleuchter und Bilder, die nicht gerollt wurden, sondern in breiten Rahmen hingen. Lauter Dinge, die Tschun noch nie gesehen hatte. Er war doch sehr verwundert über alles, aber er zeigte äußerlich nichts von seiner Erregung, sondern bewahrte völligen Gleichmut, wie es sich für den Abkömmling einer uralten Rasse ziemt, die das Erstaunen der Neulinge auf Erden seit Jahrtausenden nicht mehr kennt.

Nun traten sie in den großen Saal, wo das Fest stattfinden sollte. »Die Taitai,« flüsterte Kuang yin, und Tschun machte, wie der Onkel, einen kleinen Knix und streifte mit der Hand den Boden. Die Taitai hatte leider auch das seltsame Haar, dem die Fremden ihren Namen der rothaarigen Teufel verdanken, aber im übrigen gefiel sie Tschun eigentlich sehr gut. Sie sah ihn so freundlich an, nur schade, daß ihre Augen statt dunkel so merkwürdig blau waren, und sie gab Tschun auch gleich ein großes Stück Kuchen. Sie selbst aß aber sicher sehr wenig, denn um den Magen herum war sie schrecklich dünn und trug einen festen Ledergürtel. Tschun, der bisher nur Chinesinnen und Mandschufrauen in dicken, abstehenden Jacken und weiten Gewändern gesehen hatte, fand es sehr merkwürdig, daß das Kleid der Taitai so eng wie eine zweite Haut auf ihr lag. Es mußte sehr unbequem sein! Die Taitai sprach furchtbar rasch in ihrer fremden Sprache mit Kuang yin, der zu Tschuns großer Bewunderung es offenbar alles verstand und ebenso antwortete. Dann kam ein fremder Herr, der Chinesisch konnte. Der redete Tschun an und erklärte der Taitai, sein ganzer Name heiße Tschun fung, was Frühlingswind bedeute. Das schien der Taitai ganz besondere Freude zu machen, denn sie lachte ganz laut. Und Tschun dachte: Was ist dabei nur so komisch?

Der Tag verging nur allzu rasch mit allerhand Vorbereitungen. Tschun mußte einen merkwürdigen Anzug anprobieren, den er in dem Bild tragen sollte; er saß ihm nicht ganz richtig, und eine alte fremde Dienerin der Taitai, die man Madame Angèle nannte, änderte ihn auf ihm. Sie kniete dabei vor Tschun auf dem Boden, tat eine Anzahl Stecknadeln in den Mund, als wolle sie sie verschlucken, nahm sie dann aber eine nach der anderen wieder heraus und steckte damit den Anzug zurecht. Es war sehr unheimlich. Die Taitai stand dabei und trieb zur Eile an. Als Tschun dann fertig war, nahm ihn die Taitai bei der Hand und lief mit ihm in das Zimmer ihres Mannes, des Ta-jens. Tschun begriff aus den Gesten der Taitai, daß der Ta-jen ihn und seinen Anzug bewundern sollte, doch der saß vertieft in große Zeitungen da und wehrte nur mit der Hand ab, als seien Tschun und die Taitai lästige Mücken. Tschun fand das ganz in der Ordnung, denn wie sollte so ein großmächtiger Herr, dem die Massen kostbarer Dinge in dem Hause gehörten, Gedanken für einen kleinen chinesischen Jungen haben. Aber für die Taitai tat es ihm leid, denn sie sah darauf ganz verstimmt aus. Und Tschun dachte: sie hätte nicht so hereinlaufen sollen, während der Ta-jen arbeitete, lehrt doch Konfuzius, daß die tugendhafte Frau vor dem Mann sein soll gleich einer schüchternen Maus. – Das ganze Fest schien plötzlich der Taitai keinen Spaß mehr zu machen; als sei sie schrecklich müde, warf sie sich im Salon der Länge lang auf eines der weichen, bettartigen Möbel, die Tschun früher nie gesehen hatte, und rauchte eine Zigarette nach der anderen, und wie Madame Angèle hereinkam und etwas frug, gab sie keine Antwort, sondern machte nun ihrerseits eine Gebärde, als wolle sie eine lästige Mücke abwehren. Madame Angèle verschwand auch ganz rasch, und Tschun sah, wie sie erschreckt die Augenbrauen und die Schultern in die Höhe zog.