Tübinger Totentanz - Ulrike Mundorff - E-Book

Tübinger Totentanz E-Book

Ulrike Mundorff

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Beschreibung

Beim internationalen orientalischen Tanzfest in Tübingen mit Livemusik und glitzernden Kleidern stört nur ein kleiner Farbklecks: das rote Blut des Trommlers Amir, der erschlagen in seiner Garderobe liegt. Gut, er hat kurz vor seinem Tod absichtlich den Starauftritt seiner Ehefrau Tahani vermasselt. Aber reicht das für einen Mord? Und ist Amirs ägyptischer Landsmann Farouk wirklich so cool, wie er tut? Immerhin geht er seit einiger Zeit regelmäßig mit Tahani ins Bett. Oder hat Amirs Geliebte Maike etwas mit dem Mord zu tun? Aber welches Motiv sollte sie haben? Nur gut, dass Birgit Wahl, eine der beiden ermittelnden Kommissarinnen, selbst orientalischen Tanz als Hobby betreibt. Zusammen mit ihrer Kollegin Carolynn Baumann durchforstet sie das Dickicht von Künstlereitelkeiten, orientalischem Macho- Gehabe und Beziehungsstreitigkeiten, um dem Mörder auf die Spur zu kommen.

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Ulrike Mundorff Tübinger Totentanz

Ulrike Mundorff

TübingerTotentanz

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Ulrike Mundorff, geboren in Göppingen, verbrachte Studien- und Forschungsaufenthalte an Neckar, Euphrat und Themse. Am Bodensee sattelte sie auf Computersprachen um und zog mit ihrem Mann Michael Wanner an den Neckar.

Tagsüber hilft sie verzweifelten Usern als Administratorin und ist Expertin für Warenwirtschaft und Psychologie. Aus ihrem Hang zur Keilschrift, der Vorliebe für Gärten und Orientalischen Tanz sprießen Ideen für ihre Krimis, Kurzkrimis, Drehbücher und Theaterstücke.

www.storystore.de

 

1. Auflage 2016

© 2016 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © Carlush – Fotolia.com.

E-Book im EPUB-Format: eISBN 978-3-8425-1720-2E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1721-9Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1460-7

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Inhalt

Über die Autorin

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Sonntag

Nachwort und Dank

Personenliste

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Samstag

Vor der Tübinger Hermann-Hepper-Halle wehten Fahnen mit dem Aufdruck »Happy Hips – Orientalische Tanzgala« träge in der Nachtluft. Blütendüfte mischten sich mit Zigarettenrauch, zogen ins Foyer, wo dichtes Gedränge herrschte. Der erste Teil der Aufführung war ein Rausch aus Farben und Musik gewesen. Nun kommentierte das vorwiegend weibliche Publikum aller Altersstufen ausgiebig Tänze und Kostüme und tauschte den neuesten Klatsch der Bauchtanzszene aus. Die Frauen stellten sich gegenseitig ihre Männer vor und beachteten sie nach kurzem Smalltalk nicht weiter. Bald trödelten die Vernachlässigten mit einem Getränk an der Bar herum und hofften auf den erlösenden Gong zum zweiten Teil der Gala. Derweil summten die Frauen um die Stände des Basars. Die einen begutachteten Hüfttücher und Schleier. Andere suchten nach Dekoartikeln, Musik-CDs oder Schmuck. Und alle spähten aus dem Augenwinkel nach dem preisgekrönten Regisseur und Drehbuchautor Tobias Schell, der eine Hauptdarstellerin und eventuell weitere Mitwirkende für sein Tanzfilmprojekt suchte. Wie man munkelte, sollte der Streifen in den Kinos laufen und mindestens eine Wirkung wie Carlos Sauras »Carmen« hervorrufen. Schells Drehbuch handelte von einer talentierten Bauchtänzerin, die sich gegen alle Widerstände ihre Karriere erkämpfte. Und wie man weiter hörte, sollte die Favoritin dafür Tahani sein, eine bildhübsche Frau und Meisterin ihres Fachs, die ihn beim Schreiben beraten hatte.

An einem der Stände flüsterte eine Frau mit Strasscollier einer anderen zu: »Der dahinten muss es sein. Der an der Bar mit der Baseballkappe. Er wird mit Tahani zufrieden sein. Die Rolle ist ihr ja wie auf den Leib geschneidert.«

»Würde mich nicht wundern, wenn sie die selbst geschrieben hätte«, ätzte ihre Gesprächspartnerin und hielt der Verkäuferin Geldscheine für ein Bündel aus Schleiern und Röcken hin. »Gut, sie tanzt ganz hübsch. Solange sie im Lorettoviertel bleibt, ist es okay.«

»Sie tanzt eben wie im letzten Jahrhundert üblich.«

»Na, na. Wie im letzten Jahrtausend.«

Lachend hakten sie sich unter und verschwanden in Richtung der Bar.

Birgit Wahl sah den beiden konsterniert nach. Seit gut einem Jahr besuchte sie den Anfängerinnenkurs im Tanzstudio »Salaam« und kannte die Collier-Trägerin flüchtig von einem Workshop, den eine externe Dozentin dort gegeben hatte. Die anderen Schülerinnen behaupteten, dass die Lästernde Tahani hinsichtlich des Ehrgeizes nicht nachstand, aber sehr wohl hinsichtlich des Könnens. Birgit zupfte an ihrer ärmellosen Bluse, damit sie nicht mehr am Leib klebte. Wohlweislich hatte sie diese zu einer bequemen Leinenhose gewählt, trotzdem schwitzte sie in der Menschenmenge. Sie kramte in ihrer Handtasche vergeblich nach einem Fächer. Lag es an den Wechseljahren oder am Sommer, fragte sie sich. Wahrscheinlich an beidem, dachte sie und wandte sich wieder den Auslagen zu. Sie breitete ein leuchtend orangefarbenes Hüfttuch mit langen Fransen vor sich aus.

Ihre Kollegin und Freundin Carolynn Baumann schien den Wortwechsel nicht gehört zu haben. Konzentriert prüfte sie die Anrufliste des Bereitschaftshandys und vergewisserte sich, dass sie keine Nachricht verpasst hatte. In letzter Minute hatten sie und Birgit den Dienst übernehmen müssen, da ihren Kollegen, Kriminalhauptkommissar Friedrich Holzwarth, die Sommergrippe erwischt hatte. »Alles okay. Der Abend gehört uns.« Sie verstaute das Telefon in ihrer mit Perlen bestickten Handtasche. Dabei verrutschte die hauchdünne Stola, die sie im Stil einer Inderin über die Schultern drapiert hatte.

Caro sticht Giselle Bündchen locker aus, dachte Birgit. Ob in diesem Trägerkleid oder einem Sack.

»Zufrieden mit deinem Geschenk?«, fragte Caro.

»Und wie!« Birgit strahlte. Die Eintrittskarte zur Gala hatte sie von ihrer Tochter Wally und Carolynn zum Geburtstag bekommen. Sie begeisterte sich von Woche zu Woche mehr für den urweiblichen Tanz und hatte unbedingt sehen wollen, wie Profis ihn auf die Bühne brachten. »Und wie findest du die Vorstellung?«

»Beeindruckend.«

»Schau mal!« Wally drängelte sich neben ihre Mutter und streckte ihr ein Paar in Silber gefasste Ohrringe mit kobaltblauen Swarovski-Steinen hin. »Sind die nicht toll?« Das letzte Wort der Siebzehnjährigen ging fast in Husten unter.

»Wow! Sie passen auch prima zu deinen Augen.«

Wally klemmte das Kochbuch über orientalische Vorspeisen fester unter den Arm. Als angehende Hauswirtschafterin kochte sie leidenschaftlich gerne und probierte ständig neue Rezepte aus. »Sie sind bloß ziemlich teuer.« Ihr Blick schwankte zwischen Hoffnung und Enttäuschung.

»Wie teuer?«

»Zwanzig.« Sie nieste.

Birgit steckte ihr einen Geldschein zu.

»Danke!«

»Gefällt dir die Show?«

»Die Frauen sind so schön, mit ihren Figuren könnten sie alle bei Germany’s next Topmodel mitmachen.« Wally seufzte und stopfte ihr Taschentuch in die hautenge Jeans.

»So wie du«, konterte Caro.

Diese verdammten Modelsendungen, dachte Birgit. Verbreiten ein Schönheitsideal, das sich an Röntgenbildern orientiert. Wally wurde immer dünner, aber wehe, sie würde was sagen. Besorgt musterte sie das Gesicht ihrer Tochter. »Du glühst richtig. Soll ich dich nicht lieber heimfahren?«

»Geht schon.« Wally verschwand im Trubel.

Am Stand tauchte eine junge Frau auf. »Haben Sie auch Hüfttücher für Kinder?«, fragte sie die Verkäuferin.

Birgit bemerkte, wie ein Schatten über Caros Gesicht huschte. Die deutete auf das Fransentuch vor Birgit. »Nimmst du das?«

»Die Farbe ist klasse – aber bei meinem Hüftumfang.«

Caro verdrehte die Augen. »Nicht schon wieder die Brauereigaul-Nummer.«

Birgit kaufte das Tuch.

***

Das Licht im Saal verlosch, Raunen und Rascheln verstummte. Die Ansagerin, eine stattliche Dame im perlenbestickten Abendkleid, trat ins Scheinwerferlicht. »Sehr verehrtes Publikum, als Auftakt für die zweite Hälfte unserer Gala präsentieren wir Ihnen einen besonderen Leckerbissen: Einen Baladi. Dargeboten wie in einem Kairoer Kaffeehaus. Live.« Sie hob die Stimme etwas. »Heute am Akkordeon und der Duff-Trommel ein echter Könner! Allen im In- und Ausland bestens bekannt: Farouk al-Gharieb.«

Applaus brandete auf.

»Der Tablaspieler feierte dieses Jahr einen Triumph beim bedeutendsten Festival Ägyptens, dem Ahlan wa Sahlan in Kairo. Und heute ist er bei uns: Amir al-Banna.«

Das Publikum klatschte begeistert.

»Die Tänzerin ist nicht nur die Lokalmatadorin, sondern auch die amtierende Deutsche Meisterin im Solo klassisch: Tahani. Dass sie auch Baladi beherrscht, beweist sie uns jetzt. Seien Sie gespannt, staunen Sie und lassen Sie sich verzaubern! Applaus!«

Der Saal tobte, erwartungsvolle Blicke flogen hin und her. Birgit beugte sich mit glänzenden Augen zu Wally. »Sie ist einfach super. Ich möchte einmal im Leben so tanzen können wie sie.«

Carolynn lächelte amüsiert vor sich hin. Seit Tagen redete Birgit kaum von etwas anderem als von ihrer verehrten Lehrerin.

Der Vorhang ging auf. Birgit reckte sich, erkannte im Halbdunkel die Männer in dunkelblauen Hemden und Anzugshosen. Farouk al-Gharieb griff in die Tasten seines Akkordeons, Amir al-Banna trommelte auf der taillierten Tabla, die er sich auf den Schenkel gelegt hatte. Die Musiker legten mit einer schwungvollen Einleitung los, lachten und feuerten das Publikum mit Blicken und Rufen an. Es ließ sich sofort anstecken und klatschte den Rhythmus mit. Aiwah- und Jallah-Rufe schallten durch die Halle, einige Frauen trillerten den schrillen Zagareth.

Unwillkürlich hielt Birgit die Luft an, als Tahani plötzlich auf der Bühne erschien und im Scheinwerferlicht alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Die junge Frau zwinkerte Musikern und Publikum zu und trippelte kleine Kreise und Achten, dazu klapperten die goldfarbenen Münzen des Hüfttuchs im Rhythmus der Bewegungen. Tahani hielt mal den einen, mal den anderen Arm an den Kopf, als ob sie einen Krug stützte. Dabei rutschten die smaragdgrünen Ärmel zurück und gaben den Blick auf Armreifen frei. Der fließende Stoff ihres schmal geschnittenen Kleides schillerte in allen Farbnuancen, wenn er den Schwung sich schüttelnder Hüften aufnahm. Rhythmische und butterweiche Hüftbewegungen wechselten sich ab, gingen über in Drehungen. Dabei flogen die Enden des goldfarbenen Bandes hoch, das keck über mehrere Kopftücher geschlungen war. Tahani trat auf ein Steinchen. Sie zuckte kurz zusammen, wischte es mit der nackten Sohle schwungvoll von der Tanzfläche. Dann warf sie sich lässig einen Zipfel ihrer Kopftücher über die Schulter. Wellen stiegen vom Becken auf, flossen hoch zum Oberkörper. Eine Drehung, ein letzter Trommelschlag, Tahani blieb mit erhobenem Arm stehen. Beifall brandete auf. Sie freute sich sichtlich darüber. Farouk vertauschte sein Akkordeon mit der tief klingenden Duff-Trommel.

Genau das ist es, dachte Birgit. Die Verbindung zwischen Powerfrau und Anmut. So muss das aussehen.

»Jetzt kommt der Höhepunkt ihres Tanzes, das Trommelsolo!«, wisperte sie Caro und Wally zu.

Vier helle Trommelschläge, zwei rasche Viervierteltakte und Birgit saß kerzengerade und sah gespannt nach vorn. Kein Mucks war im Publikum zu hören. Amir und Farouk trommelten wie wild. Tahani lächelte, schob ihre Kopftücher etwas aus dem Gesicht und wippte ein wenig mit den Hüften.

Birgit glaubte, dass alle Zuschauer wie sie selbst Mund und Augen aufrissen, als Tahani loslegte. Man wusste nie, ob sie die Akzente betonte oder sie in eine fließende Bewegung umsetzte.

Sie lässt sich von der Musik nicht hetzen, dachte Birgit. Tahani predigte immer und immer wieder, dass man das nicht durfte. Viele wurden hektisch und glaubten, sie müssten auf jeden einzelnen Trommelschlag etwas machen. Aber sie!

Tahani tanzte eine Schrittkombination, betonte deren Ende mit Hüftakzenten, wiederholte alles spiegelverkehrt, kehrte zum ersten Muster zurück und setzte zur Wiederholung der zweiten Variante an. Doch nun passte ihr Tanz nicht mehr zum Rhythmus der Musik. Tahanis Augen flatterten kurz zu Amir. Er sah nur auf sein Instrument.

Nanu, was war das, fragte sich Birgit.

Mit koketten Blicken trippelte Tahani über die Bühne, streute Arabesken und Drehungen ein.

Man muss die Musiker arbeiten lassen, erklärte Tahani immer. Tja, so ging’s: die Pose halten, dann sparsame Bewegungen wie unterkühlte Kommentare zur Musik abgeben.

Tahani tanzte Akzente, die Amir nicht spielte.

Ein Raunen ging durch den Zuschauerraum. Aha, dachte Birgit, ist sie doch nicht so cool, wie sie immer tut.

Begleitet von genüsslichen Armbewegungen setzte die Tänzerin Amirs Trommelwirbel in zitternde Hüften oder in Kreise um, als ob sie Becken oder Brust durch Honig zöge. Immer öfter wechselte mittendrin die Musik, worauf Tahani die Bewegung blitzschnell abbrach und in eine andere überging. Vereinzelt hörte man unterdrücktes Gelächter. Birgit und Caro tauschten irritierte Blicke.

Tahani sah über ihre Schulter zu Amir, hob und senkte betont eine Hüfte. Er ignorierte sie. In Farouks Miene spiegelte sich Verblüffung. Er spielte den Grundrhythmus deutlicher, damit sie sich nach ihm richten konnte. Immer mehr Zuschauer flüsterten oder kicherten. Plötzlich klatschte Tahani in die Hände, drehte sich im Sprung. Mit dem Rücken zum Publikum schüttelte sie ihre Hüften immer heftiger. Farouk steigerte gleichmäßig Tempo und Lautstärke. Tahani drehte sich um die eigene Achse, hob dabei langsam einen Arm, senkte ihn, riss ihn auf den letzten Trommelschlag hoch und blieb stehen. Dann verbeugte sie sich knapp vor dem allenfalls höflichen Beifall und rannte beinahe von der Bühne. Farouk und Amir verbeugten sich in aller Ruhe.

Carolynn fragte: »Was war das denn?«

»Keine Ahnung. Im Unterricht hat sie nie Fehler gemacht.«

»Das hättest du besser gekonnt«, meinte Wally und nieste.

Die Ansagerin stellte die nächsten drei Darbietungen vor.

Diese Tänze versöhnten das Publikum wieder. Als die Ansagerin Tahani mit einem klassischen Schleiertanz und zwei darauffolgende Programmpunkte mit anderen Künstlern ankündigte, wurde es totenstill.

Zu verträumter Musik und in mystisches Licht getaucht, glitt sie mit raumgreifenden Schritten über die Bühne. Dabei schwebte die silbrige Seide wie ein Baldachin, senkte sich zur Schleppe, wirbelte in Wellenbewegungen wieder hoch, umflatterte die Tänzerin in einer Spirale, formte sich zu einem Halbmond, der zuerst ihre kreisenden Hüften, dann die Brust und den Kopf umrahmte. Wie von selbst drehte er sich wie ein Mühlrad. Plötzlich umhüllte er ihren Oberkörper, ließ den Kopf und das blutrote Kleid durchschimmern. Wellen und Achten stiegen von den Hüften auf, Lichtreflexe auf den silbrigen Perlen des Gürtels betonten jede Bewegung. Wie ein Mantel legte sich der Stoff über die hinsinkende Tänzerin, wogte hoch, als sie sich wieder aufrichtete, schlang sich um Hals und Schulter, entfaltete sich zu Flügeln einer Windmühle, wurde wieder zum Baldachin.

Birgit verfolgte hypnotisiert wie das übrige Publikum die in sich versunkene Tänzerin und spendete am Ende frenetischen Applaus.

Carolynn ließ sich in ihren Sitz zurückfallen. »Wow!«

»Hab ich doch gesagt, dass sie spitze ist!«, meinte Birgit.

Auch bei den nächsten Tänzen kochte der Saal, die Stimmung gipfelte beim Finale mit allen Künstlern in einem Feuerwerk aus glitzernden Kostümen und mitreißender Musik.

Im Strom der Zuschauer verließen die Freundinnen beschwingt den Saal. Wally gähnte diskret.

»Noch ein Gläschen Wein und dann nach Hause?«, fragte Caro.

»Wenn ich meine Tochter so ansehe – nach Hause und dann ein Gläschen.« Birgit legte Wally die Hand auf die Stirn. »Hast du Fieber?«

»Bin bloß müde.« Sie putzte sich die Nase und hustete.

»Meine Güte«, sagte Caro, »was man mit den Hüften alles machen kann! Und der Typ, der vor den Stocktänzern aufgetreten ist … der hat einen Gang wie ein Panther. Hey, auf so eine Veranstaltung darfst du mich wieder mitnehmen.«

Birgit lachte. »Und dich, Wally?«

Ihre Tochter zuckte mit den Achseln. »Die Musik ist echt nicht mein Fall. Aber wenn du auftrittst, schaue ich zu.«

»Oje! Bis ich mich so bewegen kann … wenn ich das überhaupt jemals schaffe.«

»So wie der Typ nach dem Tablasolo. Der im Seemannskostüm.« Carolynns Augen leuchteten. »Der mit den Löffeln getanzt hat.«

»Hisham. Du meinst Hisham. Na, wieder empfänglich fürs andere Geschlecht?« Grinsend erinnerte sie sich an die leichtfüßig gehüpften Schrittfolgen, die er mit Arbeitsbewegungen von Ruderern und keckem Gesichtsausdruck kombiniert hatte.

Carolynn machte eine unbestimmte Handbewegung.

»Mir hat er auch gefallen«, sagte Wally.

»Bist du für den nicht zu jung?«, fragte Birgit.

»Seid ihr für den nicht zu alt?«

Alle brachen in Gelächter aus und verließen das Gebäude. Überrascht bemerkten sie Rettungs-, Notarzt- und mehrere Streifenwagen vor dem Künstlereingang. Das Bereitschaftshandy meldete sich.

»Baumann.« Nach einem knappen Wortwechsel beendete Caro das Telefonat mit der Zusicherung, dass sie und Birgit sich sofort um die Sache kümmern würden.

»Was ist los?«, fragte Birgit.

»Einer der Musiker wurde tot aufgefunden.«

***

Autotüren schlugen zu, Motoren starteten, zu Fuß und auf dem Fahrrad verschwanden die Zuschauer zügig in alle Richtungen. Vor der Halle tauchte ein Streifenbeamter auf. Laut bat er die Zuschauer zurück in die Halle. Es hätte sich ein Todesfall ereignet und die Polizei wollte mit allen sprechen. Teils schimpfend, teils neugierig befolgte eine Reihe von Leuten die Aufforderung. Andere schienen sie nicht gehört zu haben oder wollten ihr nicht Folge leisten und strebten schnell davon. Die Kommissarinnen drängelten sich zu dem Streifenbeamten durch. Von ihm erfuhren sie, dass er Verstärkung und die Spurensicherung angefordert hatte und die Notärztin sich um die Witwe kümmerte.

Auf dem Rückweg zum Parkplatz bestellte Birgit ein Taxi für ihre Tochter. Die hatte sich unter einem der Kastanienbäume ins Gras gesetzt. »Es kommt in zwei Minuten. Warte bitte hier. Es tut mir leid, ich muss los.«

»Passt schon.« Sie feixte. »Wir sollen doch alle wieder rein.«

»Deine Personalien kenne ich.«

Die Kommissarinnen eilten zum Rettungswagen. Durch die offen stehende Tür sah Birgit Tahani darin sitzen. Sie lehnte im Polster, wirkte mit den geschlossenen Augen apathisch. Die Beleuchtung betonte das grelle Bühnen-Make-up und das Blutrot ihres Kostüms. Die schlanke Ärztin legte der Patientin eine Infusion, bemerkte aus dem Augenwinkel die Zuschauerinnen.

»Gehen Sie bitte weiter. Hier gibt es nichts zu sehen.«

Birgit wies sich aus. »Was hat sie?«

»Sie hat einen Schock erlitten. Ihr Mann ist gestorben.«

Amir ist das Opfer, dachte Birgit bestürzt. Sie hatte ihn gelegentlich im »Salaam« gesehen, wenn er Trommelunterricht gab oder Tahani abgeholt hatte. »Ich muss mit ihr sprechen.«

Die Ärztin schüttelte ihre dunkle Mähne. »Keine Chance. Wir haben ihr ein Beruhigungsmittel gegeben und nehmen sie mit in die Klinik.«

»Okay«, sagte Caro. »Was können Sie uns über den Toten sagen?«

Nach Einschätzung der Ärztin hatte es einen Kampf gegeben, bei dem der Tote vermutlich Schädelfrakturen erlitten hatte. Eine Reanimation war erfolglos geblieben. Die Todesursache müsste ein Obduzent klären. Sie hätten die Position des Toten auf dem Boden ungefähr rekonstruiert. Dann brauste die Medizinerin mit dem Notarztwagen davon, die Assistenten schnallten Tahani an und gaben ebenfalls Gas.

Eine Obduktion, dachte Birgit und lächelte unwillkürlich. Arbeit für Hubert. Ihr Herz klopfte schneller. Hubert … Wir sollten unser vermasseltes Rendezvous bald nachholen. Dann müsste er sein Handy auch ausschalten. Birgit wollte nicht wieder gestört werden, wenn sie sich bei der Vorspeise zuprosteten. Und seine Mutter würde sich hoffentlich nicht gerade in dem Moment wieder verletzen. Birgit riss sich von ihren Phantasien los. Vor der Romantik kam die Pflicht.

***

Eine zierliche Frau rannte dem Rettungswagen ein Stück nach. Als der um die Ecke bog, ging sie langsam zur Halle zurück. Dabei schlang sie ihre Arme um den Oberkörper, als ob sie trotz der Fleecejacke, die sie sich übergezogen hatte, fröre. Sie trug noch ein mit silberfarbenen Münzen besticktes, metallisch glänzendes Hüfttuch über dem roten Kleid, aus dessen Schlitzen die Falten des gleichfarbigen Unterrocks quollen. Ihre zerdrückten, kastanienbraunen Haare fielen offen über Rücken und Brust.

»Hallo Maike«, sprach Birgit sie an. Sie und Maike al-Gharieb kannten sich flüchtig. Sie wechselten nach dem Unterricht einige Worte, wenn Maike ausnahmsweise Tahanis Anfängerinnenkurs übernahm oder wenn sie sich zufällig trafen. Die Themen drehten sich selten um private Angelegenheiten.

Überrascht blieb Maike al-Gharieb stehen. »Hallo.« Die von Tränen verschmierte Wimperntusche betonte ihr blasses Gesicht.

»Wieso bist du dem Rettungswagen nachgerannt?«

»Ich will wissen, wie es ihr jetzt geht.«

»Tahani hat einen Schock und etwas zur Beruhigung bekommen. Das ist meine Kollegin Carolynn Baumann. Wir untersuchen den Fall.«

»Wie – untersuchen?«

»Wir sind bei der Kripo. Weißt du, wer Amir gefunden hat?«

»Ich.«

»Wann?«

»Die Uhrzeit weiß ich nicht. Kurz vor dem Finale kam Geneviève ins Künstlercafé und scheuchte uns raus.«

»Wer ist das?«, fragte Birgit.

»Geneviève Dulac, die Veranstalterin. Ich wollte meinen Lippenstift nachziehen. Und weil seine Garderobe direkt nebenan liegt, bin ich rein.« Maike presste ihr Taschentuch auf die Lippen, fuhr nach einer Pause fort. »Als ich ihn gesehen habe, habe ich Geneviève gesucht.«

»Wo hast du sie getroffen?«

»Hinter der Bühne. Es war so ein Durcheinander. Die Ersten wurden schon angesagt. Sie ging allein zu Amir.«

»Wann hat Tahani es erfahren?«

»Direkt nach dem Finale habe ich es ihr gesagt. Zuerst war sie wie versteinert, dann ist sie immer kopfloser hin- und hergetigert.«

»Warum haben Sie nicht geprüft, ob Amir noch atmet?«, mischte sich Caro ein.

Maike hob hilflos die Schultern. »So wie er da lag, so still, mit verdrehten Augen. Es war einfach klar. Also, dass er tot ist.«

Birgit verkniff sich die Bemerkung, dass die Ärztin ihm eine Chance auf Reanimation eingeräumt hatte. »Kannst du dir vorstellen, wer das getan hat?«

Maike schüttelte den Kopf, die Tränen flossen wieder.

»Wie lange warst du im Künstlercafé?«

»Die ganze Zeit. Nach meinem Auftritt vor der Pause bis zum Finale. Ich war total ausgehungert. Wir sind gegen vierzehn Uhr hier angekommen. Vor dem Auftritt kann man nichts essen. Warum fragst du?«

»Routine. Wen meinst du alles mit ›wir‹?«

»Mich und meinen Mann Farouk. Tahani und Amir kamen etwas später.«

»Gut. Zeige uns jetzt bitte Amirs Garderobe. Und dann möchten wir mit Madame Dulac reden.«

***

Maike führte sie durchs verwaiste Foyer. Linker Hand lag die Gymnastikhalle, die für die Mitwirkenden der Gala reserviert war. An der Tür hing noch das Plakat mit der Aufschrift »Künstlercafé«. Gedämpftes Stimmengewirr drang heraus. Im Vorbeigehen riss Birgit eine Skizze mit Anordnung der Basarstände und den zugehörigen Händlernamen von der Wand. Im Untergeschoss fotografierte Carolynn den Plan mit Grundrissen und Fluchtwegen. Dann drängelten sich die drei Frauen durch Tänzerinnen und Tänzer, die aufgeregt durcheinanderliefen. Manche trugen noch ihre Kostüme, manche hatten sich einen Bademantel übergeworfen und manche sich umgezogen, aber nicht abgeschminkt. Streifenbeamte schoben alle Künstler durch die offenen Flügeltüren ein Stück den Korridor hinunter, an dem Wasch- und weitere Umkleideräume lagen. Sobald sich die Polizisten umdrehten und Richtung Tatort gingen, kamen die Künstler zurück. Manche tuschelten miteinander, manche betrachteten sich misstrauisch. Deutsche, englische und arabische Gesprächsfetzen mischten sich. Eine Gruppe Araber rief laut »Le?«, »Le?« und schlugen sich die Hände auf die Wangen. Andere fuchtelten mit den Armen und riefen Allah an. Plötzlich brach Geschrei aus. Ein Mann schubste einen anderen immer aggressiver, dann packten sie sich dem Ton nach unter Beschimpfungen am Kragen. Die Uniformierten trennten die Streithähne und zerrten sie in verschiedene Richtungen. Dann fuhren sie fort, die Personalien aller Mitwirkenden aufzunehmen, die sich auf und hinter der Bühne aufgehalten hatten.

Carolynn forderte einen Übersetzer an.

»Da hinter der Absperrung sind unsere Garderoben.« Maike winkte jemandem in der Menge zu. »Geneviève!«

Eine drahtige Frau um die vierzig im edlen Hosenanzug und asymmetrischem Haarschnitt schlängelte sich durch die Gruppe. »Was gibt’s?«

»Die Polizei möchte mit dir sprechen.«

»Gern.«

Die Kommissarinnen baten alle außer der Veranstalterin zurück in den Flur und schlossen die Flügeltüren. Nun hatten sie den Raum zwischen Treppe, Hintereingang, Toiletten und Durchgang zum Tatort für sich.

»Die Tat muss zwischen einundzwanzig Uhr vierzig und zweiundzwanzig Uhr dreiundvierzig passiert sein. Zwischen dem Ende seines letzten Auftritts und dem Beginn des Finales«, sagte sie mit französischem Akzent.

Ein großer, deutlich übergewichtiger Mittvierziger in weißem Schutzanzug polterte die Treppe herunter. Schnaufend setzte er seine Ausrüstung ab.

»Hallo Mädels. Wo kommt ihr denn her? Wie es aussieht, direkt aus dem Theater.«

»Quasi«, antwortete Carolynn. »Das Opfer liegt ganz hinten links.«

»Wart ihr etwa schon drin?«, empörte sich Achim Kolb. Der Chef der Abteilung Kriminaltechnische Untersuchung stauchte jeden zusammen, der einen Tatort betrat, bevor sich Spezialisten darum gekümmert hatten.

»Wir würden nie mehr wagen als einen Blick von außen«, sagte Birgit. »Aber das Notarztteam ist rumgewirbelt.«

Achim brummte etwas und sammelte seine Sachen auf. Hinter ihm erschien ein Mann um die dreißig mit blonden Rastazöpfen und einer Unmenge Sommersprossen. Der Fotograf Julian Mitterer begrüßte die Runde mit einem Kopfnicken, klopfte Achim auf die Schulter. »Rein ins Vergnügen.«

Birgit wandte sich Madame Dulac zu. »Sie hatten vorhin die Tatzeit eingegrenzt. Wie können Sie das so genau sagen?«

Die Veranstalterin setzte eine pikierte Miene auf. »Unsere Shows laufen pünktlich. Der Vorhang ging nach der Pause genau um einundzwanzig Uhr dreißig auf. Amir stand schon auf der Bühne. Sein Auftritt dauerte neun Minuten. Und höchstens zwei Minuten nachdem ich von der Entdeckung seiner Leiche erfahren hatte, begann das Finale um zweiundzwanzig Uhr dreiundvierzig. Aber das können Sie auch anhand der Videoaufzeichnungen prüfen.«

Birgit wandte sich der Veranstalterin zu. »Wann haben Sie Amir zum letzten Mal gesehen?«

»Nach dem Trommelsolo. Er kam von der Bühne.«

»Wo standen Sie genau?«

»Direkt hinter dem Vorhang. Ich hatte Hisham abgeholt und zur Bühne begleitet. Seit Showbeginn scheuche ich die Tänzer auf, damit sie rechtzeitig zur Ansage da sind, und kontrolliere sie, bevor sie rausgehen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich sehe nach, ob die Turbane und Hüftgürtel sitzen, Armbanduhren abgelegt und Socken ausgezogen wurden, Lippenstift nicht verwischt ist und so weiter.«

Carolynn fragte: »Ist heute etwas Ungewöhnliches passiert?«

»Mon Dieu! Den ganzen Tag organisiere ich neue Hotels, weil die gebuchten nicht gefallen, koordiniere Workshops und Beleuchtungsproben, dann geht eine Glühbirne kaputt oder es fehlt ein Bügeleisen oder eine Friseurin – und ah! Stars wollen wie Stars behandelt werden.«

»Sind alle Stars?«, fragte Carolynn harmlos.

»Meine Liebe – Sie befinden sich bei den ›Happy Hips‹. Hier tritt nur auf, wer Rang und Namen hat.«

Caro quittierte die Antwort mit einem leichten Heben der Augenbraue. »Dann kommen die meisten Künstler von auswärts?«

»In Tübingen wohnen nur Amir, Vera, Maike und Farouk. Die anderen kommen aus ganz Deutschland, Österreich, der Schweiz. Die libanesischen Musiker leben in Holland.«

»Wer ist Vera?«, fragte Caro verblüfft.

»Tahani heißt bürgerlich Vera Kreidenweiß«, erklärte Birgit.

Über Caros Lippen glitt ein amüsiertes Lächeln. So reagierte jeder, der den Namen hörte. In der Branche waren Assoziationen, die der Name Kreidenweiß auslöste, bestimmt nicht von Vorteil.

»Warum sagten Sie vorhin ›unsere‹ Show? Ich dachte, nur Sie sind die Veranstalterin.«

»Vera, also Tahani, und ich sind die offiziellen Organisatorinnen. Weil sie auch auftritt und unterrichtet, bin ich während des Festivals die erste Ansprechpartnerin.«

»Aha. Wussten alle Beteiligten, mit wem sie auf der Bühne stehen?«, fragte Caro weiter.

»Im Prinzip ja. Eine Tänzerin aus England hat kurzfristig wegen einer Verletzung abgesagt. Deshalb haben wir Mahinur aus Wien engagiert. Sie ist auf Tournee und hatte zum Glück für heute noch einen Termin frei.« Geneviève Dulac lächelte zufrieden.

»Und die Tänzer kennen sich alle?«

»Eh oui!«

»Gab es Auseinandersetzungen?«, wollte Birgit wissen.

»Nun – sagen wir Reibereien. Zwischen Hisham und Amir. Jeder wollte zuerst zur Bühnenprobe. Sie haben sich als Schande für Ägypten beschimpft, und als – na ja. Als sie handgreiflich wurden, hat Farouk sie sofort getrennt.«

»Haben die zwei schon öfter gestritten?«

»Sie keifen seit Jahren. Irgendeine alte Geschichte. Tahani hatte es mir mal erzählt, aber wenn ich mir das ganze Gezänk in der Szene merken wollte …« Sie winkte ab. »Ich hatte angenommen, dass sie sich wieder vertragen, weil Hisham zur Gala eingeladen wurde. Bei früheren Shows wurden die Garderoben so eingeteilt, dass sie sich auf dem Weg zur Bühne nicht begegneten. Hier wäre es gar nicht gegangen.« Madame Dulac seufzte. »Wir waren froh, dass wir überhaupt einen Ersatz für die Filderhalle gefunden haben. Und dann noch so kurzfristig. Die musste wegen Wasserschadens vor zwei Wochen geschlossen werden. Vielleicht haben Sie davon in der Zeitung gelesen. Und kein Mensch wusste, für wie lange. Oh, wie viele Kommentare ich mir heute wegen der Garderoben angehört habe.« Sie verdrehte die Augen.

Die Hepper-Halle stammte aus den 1950er-Jahren und wurde intensiv für den Schul- und Vereinssport genutzt. Auch von den Walter Tigers bis zu ihrem Aufstieg in die erste Bundesliga der Basketballer. Die dringend notwendige Komplettsanierung des Gebäudes hatte die Stadt wegen der Kosten immer wieder auf die lange Bank geschoben. Birgit hatte hier vor einigen Monaten an einem Zumba-Schnupperkurs teilgenommen. Daher konnte sie gut nachvollziehen, dass die mit Kritzeleien bedeckten Wände und völlig veralteten sanitären Anlagen wenig Anklang fanden.

»Wer hielt sich während der Vorstellung hinter der Bühne auf?«, wollte Birgit wissen.

»Die Ansagerin, ein Techniker für Ton und Beleuchtung, der Hausmeister, je zwei vom Roten Kreuz und der Feuerwehr, eine Friseurin und ich.«

»Und die Mitwirkenden?«

Madame Dulacs Gesten schlossen das gesamte Gebäude ein.

»Unbefugte?«

Madame Dulac zögerte. »Vor dem Hinterausgang befinden sich Aschenbecher. Viele Teilnehmer rauchen. Die Tür stand praktisch immer offen. Aber ich habe keinen Fremden gesehen.«

Birgit sah auf die Uhr. Sie fragte sich, wo die Kollegen Wagner und Hebestreit blieben. Die sollten die Helfer hinter der Bühne befragen. Birgit forderte Madame Dulac auf, diese Personen ins Künstlercafé zu schicken und ihr eine Liste aller Händler und Kartenvorbesteller mit Namen, Adressen und Telefonnummern zu geben.

»Wo können wir nachher ungestört mit den Künstlern reden?«

»In meiner Garderobe. Das heißt, ich teile sie mit Mahinur und Marianne. So heißt die Ansagerin. Die Namen stehen immer dran.« Die Veranstalterin deutete auf die Flügeltüren. »Da durch und links.«

***

Carolynn und Birgit schlüpften unter dem Absperrband durch und gingen zum Tatort. Bestürzt betrachtete Birgit den Toten von der Schwelle aus. Er lag zwischen Schminktisch und Waschbecken wie ohnmächtig hingesunken. Keine dreißig Jahre alt, dachte sie. Über das Gesicht verliefen teils verwischte Blutspuren von der Nase übers Kinn. Blut besudelte sein weißes Hemd und beide Handflächen. Trommeln standen neben einem der geöffneten Koffer, aus denen glitzernde Tücher quollen. Schräg im Raum stand eine Garderobenstange. An ihr hingen Jeans, Hemden, lange Röcke und Kleider aus schimmernden Stoffen, manche der Kleidungsstücke halb vom Bügel gerissen. Auf dem Schminktisch tropfte Mineralwasser aus einer umgeworfenen, nicht ganz zugeschraubten Flasche auf Kosmetika und falschen Schmuck. Der Fotograf Julian Mitterer beäugte Kostüme, Achim Kolb kroch auf Knien herum und suchte schnaufend nach Spuren. Noch vor einigen Monaten hatte er das problemlos erledigen können, aber mittlerweile hatte er beträchtlich zugenommen.

»Und?«, fragte Carolynn.

Der Minijumbo setzte sich ächzend auf seine Fersen und wischte sich mit dem Ärmel seines Schutzanzugs über die Stirn. »Wenn du mich fragst, hat es hier eine saftige Schlägerei gegeben.«

Julian Mitterer deutete auf die vordere Kante des Beckens. »Rechts und links Blutspritzer, in der Mitte eine verschmierte Stelle.«

Birgit konnte von ihrer Position das Beschriebene schlecht erkennen. Trotzdem nickte sie, da sie seinen Schilderungen und Fotos vertraute.

»Dann suchen wir nach einer kräftigen Person, die vermutlich Blutspritzer abbekommen hat und Schläge einstecken musste.«