Über dem Tal - Scott Preston - E-Book

Über dem Tal E-Book

Scott Preston

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Beschreibung

Eigenwillig, brutal und wunderschön: eine raue Liebeserklärung an ein vergessenes England Anfang 2001 bricht auf den Farmen im nordenglischen Lake District eine tödliche Seuche aus, die die Schafe aus den Tälern verschwinden lässt und den Himmel mit dem beißenden Rauch der brennenden Kadaver verdeckt. So beginnt die dunkle Geschichte von Steve Elliman und William Herne. Die beiden Schafzüchter gehören zu denen, die alles verlieren. Im Diebstahl einer Herde im Süden des Landes sehen sie ihre einzige Rettung. Scott Preston erzählt von einem vergessenen England und einer verlorenen Generation, von Bauern, die sich in der brutalen Hingabe an ihre Herden verlieren, von den Folgen eines spektakulären Raubüberfalls und vom Scheitern im Kampf um die eigene Existenz. Scott Prestons »Über dem Tal« ist die Liebeserklärung an eine atemberaubend schöne Landschaft, deren archaische Unerbittlichkeit die Bedingung für die ist, die in ihr leben. Eine wütende und hochpoetische Feier der Größe unserer kleinen Welt.

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Seitenzahl: 406

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Scott Preston

Über dem Tal

Roman

 

Aus dem Englischen von Bernhard Robben

 

Über dieses Buch

 

 

Eigenwillig, brutal und wunderschön: eine raue Liebeserklärung an ein vergessenes England

Anfang 2001 bricht auf den Farmen im nordenglischen Lake District eine tödliche Seuche aus, die die Schafe aus den Tälern verschwinden lässt und den Himmel mit dem beißenden Rauch der brennenden Kadaver verdeckt. So beginnt die dunkle Geschichte von Steve Elliman und William Herne. Die beiden Schafzüchter gehören zu denen, die alles verlieren. Im Diebstahl einer Herde im Süden des Landes sehen sie ihre einzige Rettung. Scott Preston erzählt von einem vergessenen England und einer verlorenen Generation, von Bauern, die sich in der brutalen Hingabe an ihre Herden verlieren, von den Folgen eines spektakulären Raubüberfalls und vom Scheitern im Kampf um die eigene Existenz. »Über dem Tal« ist die Liebeserklärung an eine atemberaubend schöne Landschaft, deren archaische Unerbittlichkeit die Bedingung für die ist, die in ihr leben. Scott Prestons »Über dem Tal« ist eine wütende und hochpoetische Feier der Größe unserer kleinen Welt.

»Fesselnd und furchtlos ... Eine Geschichte über die düstere Schönheit der Fells und der Schafherden Nordenglands.« Kirkus Review

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Scott Preston wuchs in dem Dorf Windermere im englischen Lake District auf. Nach seinem Philosophiestudium und seiner Arbeit als Werbetexter studierte er Kreatives Schreiben. Er lebt mit seiner Frau in London. »Über dem Tal« ist sein erster Roman. 

 

Bernhard Robben, geboren 1955, Übersetzer und Journalist, lebt in Brunne/Brandenburg und übersetzt aus dem Englischen u.a. Ian McEwan, Salman Rushdie, Martin Amis, Patricia Highsmith, Peter Carey und Philip Roth. 2003 wurde er für die Übersetzung des Romans »Abbitte« von Ian McEwan und für sein Lebenswerk mit dem Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis.

Inhalt

Teil I Ein leeres Land

Yan

Taen

Tedderte

Teil II Lamm auf dem Thron

Medderte

Pimp

Hatta

Slaata

Lowra

Teil III Jacks Land

Dowra

Dick

Yan-a-Dick

Taen-a-Dick

Teil IV Das Segnen der Kehlen

Tedder-a-Dick

Medder-a-Dick

Mimph

Teil V Der Alte Norden

Yan-a-Mimph

Taen-a-Mimph

Tedder-a-Mimph

Medder-a-Mimph

Gigget

Teil IEin leeres Land

Yan

Der Hof lag in einer der vierzehn feuchten, grünvioletten Einöden, einer knapp zehn Kilometer breiten Senke, von Geröllhöhen begrenzt, Regenzeit zwölf Monate im Jahr, stets Säure im Wasser, Essig in der Erde. Ein steiles Land, bekannt für seine Seen, wir aber leben in den Hügeln. Wolkenzerfressene Berge, Fells genannt. Keiner groß, alle steil, das Land von Zwerggras überzogen, die Krume dünn wie Teeflecken.

Wir züchten unsere Herden auf den Felshängen und bringen den Schafen bei, sie ratzekahl zu fressen – hat fünftausend Jahre gedauert, aber sie haben es geschafft. Hinterließen nichts als nackten Stein, nass und schwarz, und lernten das Moos lieben. Ein jeder fällt ab bis zum Grund des Curdale Valley, dorthin, wo früher noch Wildblumen auf den Weiden wuchsen und wo es flach genug war, Schafe zu verkaufen. Einige Leute entschieden sich zu bleiben und gründeten ein Dorf namens Bewrith. Anfangs bloß ein Marktplatz, dann fand man Kohle unter den Fells, danach Schiefer, und als der abgebaut war, kamen die Wandervögel, um auf ihren Wegen zum Postkartenland Fritten und Schinken zu futtern.

All das liegt in Cumbria, das Tal, das Dorf, die Farm. Eine am Reißbrett erfundene Grafschaft, die im Norden an England und Schottland grenzt, aber zu keinem so richtig passt. Im Osten liegen Yorkshire und Northumberland, wo uns der Höhenrücken der Pennines vor inzüchtigen Blicken schützt, im Westen die Irische See und die Isle of Man, falls einem nach Schwimmen ist. Im Süden dann der Süden, und der kann nie weit genug weg sein.

Die Menschen in den Fells sind so freundlich, wie man es sich nur wünschen kann. Falls sie dein Haus oben am steilen Felshang sehen, bauen sie ihres so weit weg, dass du sie ganz bestimmt nicht mehr sehen kannst.

Kilometerweites Nichts schafft dicke Mauern.

*

Ich gehe heute nicht mehr oft ins Dorf; damals, vor gut dreißig Jahren, ging ich sogar noch seltener. Es ändert sich nie. Es gibt zwei Waschbetonpubs, einer weiß gestrichen, der andere gelb, also einen Pub auf zwanzig Häuser; Häuser aus Schiefer, schroff anzusehen, an trocknen Tagen sind die Steine grün, an allen anderen grau. Die Leute in Bewrith, um die zweihundert, sagen einem gern, was sie hätten, sei die Aussicht, und das wäre genug. Alles, was fürs Leben nötig sei, sorge für sich selbst, denn hier passe man aufeinander auf. Hole die Wäsche rein, wenn es anfängt zu nieseln, hole die Sandsäcke raus, wenn eine Überschwemmung droht, behalte Oma im Blick oder die Kids oder die verdammte Alte. Bleibe selbst in ihrem Blick. Gibt mehr als eine Möglichkeit, aufeinander aufzupassen. Und will man trockene Füße behalten, muss man wissen, wann wer überkocht.

Das ist meine Art, dir William Herne vorzustellen. Der Einzige von uns, über den irgendwer was hören will. Ein Schafbauer. Wird heute über ihn geredet, heißt es oft, was für ein alter verrückter Hund er war, denn wir haben ihn rumlaufen sehen mit Raubgier in den Augen und mit Mordlust, haben uns bloß nie getraut, ihn zu bitten, es gut sein zu lassen. Nur war das nicht der William, den ich kannte, und ich habe ihn länger gekannt als alle, die noch leben; jetzt, da er tot ist, wohl auch länger, als ihn irgendwer je kennen wird. Wenn ich dir sage, dass er im Grunde ein anständiger Kerl war, dann, weil ich glaube, dass das die Wahrheit ist.

Er war ein Bauer, ein Schäfer, besser als manch anderer, aber so besonders nun auch wieder nicht. Sohn eines Bauern, Vater eines Bauern, Mann einer Bäuerin. Er redete nicht viel, weshalb wir ihn für einen Mann mit Prinzipien hielten, und wenn er den Mund aufmachte, kam er immer gleich zum Punkt, als hätte er zu viel Zeitung gelesen. Wenn möglich, blieb er für sich oder bei seiner Familie. Obwohl er stolz war auf sein Haus, machte er nie sauber. Dass er in meinem Alter sein musste, sah man ihm nicht an. Am Kinn erste graue Haare, aber er wurde nie älter, war immer schon verdammt alt. Den Wachsmantel trug er die letzten sieben Jahre seines Lebens, lang wie eine Robe und immer zugeknöpft, weshalb er wie ein Mann Gottes aussah. Helen, seine Frau, ließ ihn nicht ins Haus, diesen Mantel, weil er so dermaßen nach Mist stank und nach wildem Senf.

Wie die meisten Hügelbewohner bekam ihn das Dorf nicht oft zu Gesicht. Man wusste, er war da draußen, machte seine Arbeit, und dass man ihm über den Weg laufen konnte, wenn man sich in den Fells verirrte oder seinen Hocker im The Crown im Auge behielt. Er war durchaus beliebt, wurde sogar respektiert – stets jemand, den man nicht mit Kleinigkeiten behelligte – auch wenn man wusste, man konnte, falls Not am Mann war. Nahm seine Rolle als Touristenattraktion einen Tick zu ernst. Gab mehr als nur ein paar Wandervögel, die von einem Bauern erzählten, der sie, das würden sie schwören, quer über einen Acker hinweg angestiert hatte; oder sie hatten erlebt, wie er auf ein Schild deutete, auf dem stand: Nicht angeleinte Hunde werden erschossen. Wenn sie lachten, begann er selbst wie ein Hund zu kläffen.

Soll heißen, er ist schon immer ein verrückter Bastard gewesen. Ehrlich gesagt, das waren wir alle. Nur im Kopf, was um uns ist. Die Schafe, die Hunde, die Weiden. Und wenn um uns nur Leere ist, glaub ich, man könnte uns leer im Kopf nennen.

Lasst mich damit anfangen, dir von Maul und Klauen zu erzählen. Die meisten wollen nicht darüber reden, weil sie Angst haben, sie kommt zurück. Ohne aber bliebe nur, was William getan hat, nicht jedoch, warum er es getan hat. Sie begann 2001 in den ersten Frühlingstagen, die Seuche. Zumindest für uns hier in Cumbria. Ich glaube, sie hatte schon Monate vorher mit irgend so einem Schwachkopf in Northumberland angefangen, der an seine Schweine Reste von anderen Schweinen aus jenen Gegenden der Welt verfütterte, wo man sich nicht gut um Tiere kümmert. Schweine fressen alles, heißt es, sogar Krankes.

Damals habe ich bei meinem Dad gelebt, auf Montgarth, einem kleinen Hof; gleich von der Straße aus stieg die Weide an, ein Daumenabdruck im Curale Valley, kaum mehr. Das Haus, in dem wir wohnten, und die Scheune nebenan, sackten seit einer Ewigkeit ab, Zentimeter um Zentimeter, Jahr um Jahr, drückten den durchlässigen Boden hoch, bis der zurückdrückte und eine Art Wall drum herum aufwarf. So wie mein Vater die Farm führte, wäre es verzeihlich gewesen, hätte man geglaubt, sie stünde leer, bis man näher kam und den Hund bellen hörte. Ließ die Feldmauern verfallen, stopfte Holzpaletten und Drahtrollen in die Lücken.

Ich war damals seit ungefähr sechs Monaten bei ihm, half so gut es eben ging. Er war in allem dermaßen kraftlos, dass ich vergessen hatte, wieso ich ihn verlassen hatte. Typisch für ihn, dass er auf ganz eigene Weise schwach wurde. Ging auf Ende sechzig zu, Jahre, die er die Achtziger eines arbeitenden Mannes nannte. Konnte ein Mutterschaf stemmen, aber wenn er pinkeln musste, brauchte er zehn Minuten die Treppe rauf. Drei Finger an der Rechten für immer nach innen gekrümmt, trotzdem hielt er die Schere mit nichts als Knöcheln und Daumen. Hat nie um Hilfe gebeten, schrie einen trotzdem an, wenn man sie nicht gab. Ich erzähl dir nur, wie es mit ihm war. Jahrelang war ich weg, war Lastwagenfahrer. Hab während der Saatsaison auf Getreidefeldern gearbeitet, die gesamte Ostküste lang Wolken von Kalk hinter mir hergezogen. Der Boden so flach, dass man zehn Meilen weit laufen und immer noch sehen konnte, wie sich der Staub vom Morgen legte. Hatte viel zu tun, aber er rief an, keine Ahnung, woher er die Nummer hatte, und sagte: »Wann kommst du nach Hause?«

»Hab ich nicht vor«, habe ich gesagt. »Ich verdiene Geld, besorge mir meinen eigenen Hof. Schon mal davon gehört? Verdiene mir mein Leben so, wie du es immer gewollt hast.«

»Klingt aber anders.«

»Wirst du taub?«

»Ich höre besser, als du glaubst.«

Eine Woche später war ich wieder in meinem alten Zimmer.

Als wir zum ersten Mal davon hörten, im neuen Jahr, warteten wir darauf, dass das Gras grün wurde. Hörten es nicht in den Lokalnachrichten. Schon gar nicht am Radio. Hörten nur ein Flüstern: Maul und Klauen sind zurück. Für Leute, die den ganzen Tag bloß mit Schafen zusammen waren, konnten wir verdammt gut tratschen.

Maul und Klauen. Nur Leute so alt wie mein Dad erinnerten sich daran.

Ein Brief kam. Lag den ganzen Morgen rum, ehe wir klein beigaben und einen Blick riskierten. Er war voll mit Bildern, ein Katalog mit wundmäuligem Vieh, um uns zu zeigen, worauf wir achten sollten. Die Schafe wurden träge, wurden mager. Lagen da, als wären ihre Knochen Nester. Beine rührten sich nicht, Kopf und Augen rührten sich nicht. Blasen an den Füßen, die Füße weiß, die Füße verfault. Blasen am Maul, am Gaumen oder auf der Zunge. Heiß. Wie gekocht. Lämmer werden totgeboren, als wären sie klüger als der Rest der Herde. All das stand in dem Brief, und dass man die Herde im Stall lassen oder zumindest so eng zusammenhalten sollte wie nur möglich. Würde verhindern, dass es sich über die Fells ausbreitete. Mein Dad blickte auf den Brief und sagte, ihr könnt mich mal. »Tu ich nicht.«

»Klingt, als wollten sie genau das von uns. Das wir nichts tun.«

»Dann tun wir das. Nichts. Ich lass die Herde grasen, wo sie will. Meine Schafe haben ihren eigenen Kopf.«

»Die behaupten, sie krepieren, wenn sie’s kriegen.«

»Klar doch, und um ein paar wenige nicht krepieren zu lassen, bringt man lieber gleich alle um. Ergibt das für dich irgendeinen Sinn?«

»Hat noch mehr damit auf sich.«

Er riet mir, mich zu verpissen.

Die Großbauern mit ihren Höfen, auf denen man eine Karte brauchte, wenn man zum Klo wollte, und deren lange Scheunen sich ewig über den Acker zogen, die konnten es sich leisten, ihre Schafe im Stall zu lassen. Nachtlicht zur Beruhigung der Lämmer und selbstschließende Schlagtore für die Hotelzimmer von Aulamm, Erstlammin, Zutreter, Hammel oder Altschaf. Täglich der Spaziergang an der Leine zum Futterplatz und auf dem Schlafstroh weniger Getümmel als auf dem Postamt. Für uns war das nichts. Wir nannten Montgarth einen Kleinhof, andere uns vermutlich Hobbybauern. Damals kaum noch zweihundert Schafe in der Herde. Man sollte meinen, dass machte es einfacher, aber das Lammen stand an. Und man konnte die Mamsells schließlich kaum bitten, ihre dicken Bäuche noch einige Monate länger zu tragen, bis wir sie dann auf zwei Feldern nah am Haus eingesperrt hatten.

Unsere Herde lebte wild auf den freien Fells tausend Fuß überm Tal. Wir überließen die Tiere sich selbst, so dass sie auf den Hängen und Klippen jenseits der letzten Trockensteinmauern stromern konnten. Zu futtern fanden sie, was sich auf Steinen kringelte oder klumpig am Baum wuchs, Flechtkruste auf Felsvorsprüngen; manches davon glühte grüner als die Abwasser von Sellafield. Segge, Riedgras und Schachtelhalmfarn, versteckt in Felsspalten auch Schneeheide, die rosig austreibt und sich mit der Kälte rötlich färbt. Statt der Herde schloss mein griesgrämiger Dad sich selbst ein, sah fern und hielt die Frostbeulen ins Rotlicht, an seiner Seite der einzige Hund, den wir hatten.

Es war noch Nacht, als ich mich aufmachte. Die Schafe schliefen an Orten, höher als die Nistplätze der Fliegenschnäpper und Tauben in den Felsspalten, höher als die Nester der Falken, aus denen sie ihr Futter tief unten beäugten; und die Tiere lagen auf kahlem Grund, steile Abgründe im Rücken, pressten die Ohren an den Boden und lauschten auf polterndes Gestein. Kein Ort für Quad Bikes und auch, ehrlich gesagt, keiner für Menschen. Ich kletterte über das Gatter, eine Übung für das, was kommen sollte, und da waren die beiden Felskuppeln, die einen wissen ließen, dass man die Weiden von Montgarth hinter sich gelassen hatte. Den ersten Hang dahinter nennen wir Kau die Krusten. Wind klebte daran wie an einem Fluss, und wenn man sich den Sand aus den Augen rieb, wusste man, es war bald geschafft. War man drübergestiefelt, kam man zu einem breiten Kamm, jeder Windstoß frisch, auf dem Rücken dahinter ein langgezogener Grat bis zum Gipfel vom Gum Knott. Ich blieb mit einem Fuß auf dem Geröll, mit dem anderen auf schwammigem Torf. Steter Schritt. Erst wenn der Tag anbricht, bekommt man eine Ahnung, wie allein man hier draußen ist. Der Boden hat keinen Rand, jeder Huckel könnte ein Fels sein, und es gibt Brocken so groß, man könnte sie für den Himmel halten; trotzdem ist der Weg nicht schwer zu finden, wenn der einzige Pfad der ist, den die eigene Familie die letzten sechzig Jahre ausgetreten hat.

Ich entdeckte die Herde, als sich auf dem breiten Farnsims der Schein meiner Lampe in den Augen der Tiere verfing. Sie lagen auf einem Haufen, waren sich selbst Windbrecher und wechselten sich als Decken ab. Musste sie wecken. Schrie laut genug, um die eigene Kehle zu schmecken und hörte zur Antwort ihr Blöken. Wartete, während die Tiere zu mir trotteten, zählte Schaf um Schaf, das vom Sims sprang: Yan, Taen, Tedderte, Medderte, Pimp. Um eine Herde in Bewegung zu setzen, braucht es einen Anführer, einen Leithammel, dem alle folgen. Ist nicht ohne Grund, dass wir sie Schafe nennen. Normalerweise wäre ich dieser Anführer, und sie folgen so dichtauf, dass sie sich, würde ich von einer Klippe springen, mit mir runterstürzen würden. Nur waren sie an meinen Dad gewöhnt, und auch ein Eimer mit Pellets hielt sie nur eine begrenzte Zeit davon ab, mir den Rücken zuzukehren. Blieb also bloß die verdammte Hundearbeit. Schlug ihnen unter die Brust, was sie durch meine Arme springen ließ, schrie, damit sie meine Rufe lernten, fuhr mit dem Stab über ihre Rippen, schob sie an, wie ihre Mams es getan hatten. Hielt meinen Krummstab mit beiden Händen, um die Springer am Wickel zu packen und vom Berg zu leiten. Trächtige Schafe sind auch nicht folgsamer als sonst irgendwelche Schwangeren. Wieder bei den Felskuppeln trug ich eines der Biester auf den Schultern.

*

Sie auf zwei Felder einpferchen, war erst der Anfang. Wer Cumbria kennt, der weiß, dass es da gern regnet. Und wer es nicht kennt: An manchen Tagen ist das Land so grün, dass einem die Augen davon weh tun, so grün, wie es nicht allein vom blauen Himmel wird. In der Woche hat es geschüttet, und bei zweihundert Schafen dicht an dicht auf einem Feld für gerade mal fünfzig wird die Erde zu Schlamm. Tier für Tier trottet den ganzen Tag drin rum – schmiert sich von Kopf bis Fuß damit ein, verdreckt und verklumpt die Wolle. Jedes Mal, wenn ich zurückkam, war der Schmodder noch schlimmer, bis die fülligeren Zibben, Mutterschafe mit überm Boden schleifenden Bäuchen, lieber den ganzen Tag am selben Fleck liegen blieben, statt sich zu bewegen.

Nach drei Tagen kam mein Dad nachsehen, ging zum ersten Mal vor die Tür. »Ist zwanzig Zentimeter tief«, sagte er mit beiden Beinen im Dreck. »Nur vom Hingucken bleiben meine Stiefel drin stecken. Wir können sie nicht da draußen lassen, Steve.«

»Nimmst du sie mit zu dir ins Haus? Bist schon in schlechterer Gesellschaft aufgewacht.«

»Leck mich!«

»Du weißt, die können sonst nirgendwohin.«

»Wenn da ein Lamm reinfällt, kommt es nie mehr raus.«

»Dann behalte ich sie im Auge. Halt es hier sauber, so gut es geht.«

»Ein Auge auf alle sechzig Frühschafe gleichzeitig? Wurden schon Hymnen über geringere Großtaten geschrieben.«

»Wir arbeiten in Schichten.«

»Schichten, ach ja? Ich sag dir was. Übernimm du die erste, und ich sag Bescheid, wenn ich für meine bereit bin.« Dann hörte ich noch, wie er mich einen Volltrottel nannte, ehe er davonstapfte.

Es sind kräftige Tiere und gebärstarke Zibben, aber sogar in trocknen Jahren ertrinken Lämmer. Auf unserer Farm gab es nur Herdwicks. Die hält man sonst nirgendwo auf der Welt, worauf wir stolz sind und was wir nicht als Warnung verstehen. Sie sind wie dafür geschaffen, auf den Fells zu leben, wo der Regen schräg heranfegt, von der Seite kommt oder vom Boden aufschießt. Hätte mich vor der Seuche wer gefragt, hätte ich gesagt, die überstehen alles. Zäher als Bergziegen und sahen einen nur komisch an, wenn man wegen schlechtem Wetter eine Flunsch zog. Weiße Köpfe wie Ziegel, eckiger und dicker als die Steinbrocken in den Felsmauern. Wir kümmerten uns nicht um ihr Fell, hielten sie wild und ließen sie monatelang frei laufen. Kamen sie aus dem Winter zurück, hatten sie sich schwabbelnde Mäntel doppelt so groß wie ihre nackten Leiber wachsen lassen. Dichte graue Wolle durchsetzt mit blauen oder roten Brunstklecksen und mit getrockneten wochenalten Kötteln.

Mir blieb nur, sie Tag und Nacht zu beobachten, bereit für den ersten Wurf. In meinem Kopf trug ich eine Karte mit den Zibben, die am weitesten weg waren, und drehte meine Runden durch die Herde, um reihum nach ihnen zu sehen. Grub so tief Schlamm aus, ich hätte auf Schwefel stoßen können und musste Halt suchen, falls ein Schaf eine helfende Hand brauchte. Legte Laufstege aus umgedrehten Trögen. Trampelte Flächen aus Holzspänen. Nickte im Land Rover ein, sobald ich hielt, oder legte mich wie eines der Tiere an eine der Mauern, wenn mir das Stehen zu viel wurde. In der vierten Nacht des Rumstapfens im bodenlosen Morast war unsere größte Au so weit, hörte auf zu fressen, ein Fastentag, ehe sie allein in eine Ecke wankte, die Hüfte eingesunken, die Euter geschwollen. Mein Dad tauchte auf, als wüsste er, dass es an der Zeit war. Trug einen halb über die Ohren gezogenen, breitkrempigen Fischerhut und hockte sich mit einer Thermoskanne neben mich. »Haben sich eine gute Nacht ausgesucht.«

»Würde ich auch sagen, wenn ich den ganzen Tag gepennt hätte«, erwiderte ich.

»Verachte nie ein gutes Nickerchen.« Er nahm einen Schluck aus der Kanne. »Weißt du, für deine Mum war dies die beste Zeit des Jahres. Das Lammen. Fürchte, sie hat dann auch nie viel Schlaf gehabt.«

»Ich weiß.«

»Natürlich weißt du das.«

»Was würde sie von dem hier halten?«

»Hat schon Schlimmeres gegeben. Du bist zu jung, um dich dran zu erinnern, aber wir hatten ein Jahr, in dem die Herde krank wurde, richtig übel. Haben die Hälfte der Lämmer verloren. Die Mams torkelten im Zickzack durch die Gegend und liefen mit milchigen Augen gegen Mauern.«

»Alles in allem sind sie jetzt gar nicht so schlecht dran.«

»Sollte man meinen. Ich weiß, du denkst wie alle anderen. Hältst mich für einen blöden Trottel, weil ich zuließ, dass die Herde so klein wurde, aber von denen da ist jedes Tier zehnmal mehr wert wie irgendeins von einem der anderen Höfe.«

»Kriegst deshalb auch wohl zehnmal so viel dafür.«

»Sollte so sein, wäre die Welt bei Verstand.«

»Wären zum halben Preis noch günstig.«

»Red keinen Stuss.« Er stand auf und griff sich eines der Geschorenen. »Sag mir, dass das nicht das schönste Schaf ist, das du je gesehen hast.« Fuhr mit den Händen drüber, um mir zu zeigen, wie gerade der Rücken war. Drückte die Muskeln an Schultern und Hüfte, zog die Lippen hoch, die Zähne gerade übereinander. »In ein paar von ihnen stecken dreihundert Jahre Schaf. Alles Nachfahren von Admiral Rust. Wurden schon Bücher über den geschrieben.« Er ließ das Schaf zurück zur Herde laufen. »Sieht man nicht, oder?«, sagte er und lachte vor sich hin. »Ich jedenfalls nicht.«

Ich saß still da, wie immer, wenn er so war.

»Du musst ihnen alles geben, damit hat mein Dad mir ewig in den Ohren gelegen. Und jedes Mal, wenn es mir wieder einfällt, kommt es mir wahrer vor. Eigentlich sollen die Schafe uns ernähren, bloß vergisst man schnell, wie viel man gibt und nie zurückkriegt. Jedes Jahr heilt man ein bisschen schlechter als im Jahr davor, doch erst, wenn man das meiste gegeben hat, spürt man, was fehlt, und ahnt, welchen Tausch man eingegangen ist.«

»Tja, und jetzt?«, frage ich.

»Sie werden es uns schon wissen lassen.«

Die dicke Zibbe fand den letzten Flecken trocknes Gras und blieb liegen, bis es hell wurde, dann platzte die Fruchtblase. Kopf im Matsch. Die Rippen zitterten, als müsste sie speien, lag auf der Seite und presste eine Stunde lang. Das schwarze Lamm schaffte es selbst aus der Blase, und seine Mutter drehte sich um, leckte ihm den Schleim von Nase und Augen, bis es blinzeln konnte. Dann legte sich die nächste Aue hin, eine bucklige mit schiefem Lächeln. Drei Lämmer schossen aus ihr raus wie eine Kette Würstchen, und die Mam verschlang die Eihaut, bevor ich es verhindern konnte. Das war der Startschuss für den Rest. Keuchend auf der Seite oder nur gebeugt, die Beine angewinkelt, einige standen noch oder liefen herum, bekamen ihre Lämmer und hielten dabei beide Augen offen, keine Zeit zum Pressen, keine Zeit zum Zittern.

Mein Dad kam nach dieser Nacht zurück, blieb bis zum letzten Lamm, rackerte wie nie zuvor. Einen Schafskopf unter jedem Arm, das Gesicht rot vor Kälte, röter vor Schweiß. Er nahm ihre Tritte hin, ihre Stöße, rutschte nach hinten weg, rammte die Hacken in den Boden, dann die Zehen, lag auf Händen und Knien, zog die Zibben mit sich durch den Schlamm. Dass er das war, in diesem Morast, erkannte man nur an den aufgeblähten Wangen. »Mach mal halblang«, sagte ich. »Sonst kriegst du noch einen Herzinfarkt.« Antwortete, der drohe ihm schon seit dem Zweiten Weltkrieg. Was mich dazu brachte, es ihm nachzutun, ackerte, bis ich wieder wusste, wofür der Rotz in der Nase war. Gönnte mir nicht mal einen Schluck, damit der Körper nicht glaubte, es sei Zeit für eine Pause. Fast, als könnte man sie uns nie mehr wegnehmen, wenn wir alles gaben.

Da war diese Zibbe mit Häschenohren, eine Zweijährige, das Fell rot wie ein Fliegenpilz. Sie war so weit, aber völlig schlaff – wollte pressen und konnte nur husten. Roch wie ein Abfalleimer, der geleert werden musste. Die Vorderfüße des Lamms ragten raus, und sie versuchte aufzustehen oder in die Hocke zu gehen, aber ich rollte sie auf die Seite, stützte mich auf sie, erste Milch spritzte auf mein Hemd. Fasste rein. Sie mit allen vieren in der Luft, ich, höflich gesagt, mit der Hand tief in ihr drinnen. Band die Vorderläufe mit einer Schnur zusammen und schlenkerte sie hin und her, um etwas Platz zu schaffen. Dann versuchte ich, das Ganze wieder in Gang zu bringen.

Dampfend kam das Lamm raus, und ich schob es beiseite, um zu sehen, ob es sich bewegte. Sah zur Zibbe, aber jeder ihrer Atemzüge war kürzer als der vorhergegangene, also blieb mir nichts weiter übrig, als mich um das Kleine zu kümmern, bis es auf eigenen Füßen stand. Dann war sie tot. »Der Winzling braucht einen Namen«, sagte mein Dad über die Schulter hinweg.

»Seit wann gibst du Schafen Namen? Und dann noch einem Widder.«

»Werde im Alter wohl gefühlig.«

»Ich dachte, gerade wegen der Gefühle durften wir das nie.«

»Konnte bloß keine Namen behalten.«

»Nun, von mir aus«, sagte ich und sah zum Lamm. »Wie wär’s mit Rusty?«

»Mit dem Namen tritt er in große Fußstapfen.«

»Wie alt bist du noch mal?«

Da musste er lachen und schulterte die Mam, um sie wegzubringen.

*

Das Lammen beanspruchte meine gesamte Zeit, also hörte ich keine Nachrichten, und mein Dad mied das Telefon, als könnte es die Seuche übertragen.

Dass wir auf uns allein gestellt waren, meinte mehr als sonst. Kein Mensch ging das Risiko ein, zu einem Bauern auf den Hof zu kommen. Man schickte uns Essen. Fleisch, Kartoffelkuchen, Früchtebrot, eingepackt und auf Strömen von Desinfektionsmittel zu uns gesandt. Bald aber bedeutete auch das zu große Nähe. Man konnte die Seuche in der Nase haben, im Haar oder im Augennass – wer einen Hof auch nur ansah, dem drohte Gefahr. Selbst die Wandervögel waren nicht so blöd, zu uns rauszulaufen.

Eine erste Ahnung davon bekam ich, als der Abdecker eintraf, um das tote Schaf zu holen. Konnte kaum einen Termin mit ihm ausmachen, so viel hatte er zu tun. »War ein ganz normaler Tod«, sagte ich. »So wie es sein sollte.«

»Glaub ich ja«, sagte er, band eine Kette um die Beine und zog das Schaf zum Van.

»Beim Lammen. War eine zähe alte Dame.«

»Sind sie doch immer.«

»Heute noch viel zu tun?«

»Das hier ist meine Mittagspause.«

Bis er abfuhr, sah er mir nicht in die Augen.

Dass man Anzeichen in der Herde fand, schien unvermeidlich. Die Lämmer waren auf der Welt, aber irgendwas schien mir anders – manche hatten weniger Energie als ihre Mams. Köpfe hingen wie an zu langen Sehnen herab. Mein Dad musterte sie. »Liegt am Schlamm, der macht sie zu langsam.« Als sie nicht lebendiger wurden, fand er andere Gründe. Sagte, es sei kalt in diesem Jahr. Schnee auf den Weiden. Offene Eimer mit Chemikalien. Dämpfe im Wind. Der Sturzflug der Bussarde. Knochige Krähen auf dem Zaun. Das mächtige Summen der Fells. Der große Stress. Hier und da Flecken von Wahnsinnskraut, Kermesbeeren, Röhrkohl. Ein wilder Mischlingsköter. Kein Lammblut an der Tür. Milchfieber. Blauzungenkrankheit. Scrapie. Lippengrind. Pockenseuche. Lungenwurmbefall. Krätze. Bradsot. Wassersucht.

Jeden Tag eine neue Theorie. Von mir nicht mal die Andeutung einer Frage. Maul und Klauen, mir wurde schon schlecht, wenn ich die Worte nur hörte.

*

Der Tierarzt kam auf Visite. Er hieß Robbie Slater – ein guter Junge, und zudem einer aus der Gegend. Sah aus wie ein weißer Gummiastronaut, als er aus dem Wagen stieg und uns übers Viehrost zurief. Ich ging, um Hallo zu sagen; aber er redete, als hätten wir uns noch nie gesehen. Roch nach Krankenhausbleiche, dabei hätte es Kuhdung sein müssen.

Ich ging mit ihm auf die Weide zu den Mutterschafen. Lagen wie aufgeschnürt entlang der Mauer. Ich führte ihm eines der Schafe zu, die Hand am Nacken, als würde ich es bei einem Wettbewerb präsentieren. Er zog das Tier zu sich, pflanzte es auf den Hintern, fuhr mit behandschuhtem Daumen die Zähne lang und schlenkerte die Beine, musterte es genau, dann ließ er es laufen. Sagte mir, ich solle noch ein Schaf holen, dann noch eins, bis er sich vier, fünf angesehen hatte. »Bisschen langsam, oder?«, sagte er.

»Was hast du erwartet? Die werden stinkfaul, seit sie hier unten festsitzen.«

»Ihr habt es also gemacht? Sie isoliert?«

»Natürlich. Habt ihr uns doch gesagt.«

»Du wirst nicht glauben, was man hier so alles hört.« Er ging zu einem der Lämmer, hob es auf, untersuchte es aber kaum und ließ es gleich wieder laufen. Stand da und sah zu, wie es sich hinlegte. »Hast du dir die Tiere in letzter Zeit mal genauer angesehen?«

»Ich laufe hier doch nicht jeden Tag mit geschlossenen Augen durch die Gegend.«

»Auch ihre Mäuler, Steve?«

»Was ist mit ihren Mäulern?«

»Einige haben Läsionen am Gaumen.«

»Läsionen? Natürlich haben sie Läsionen am Gaumen. Versuch du doch mal, die verdammten Fells abzugrasen, ohne hinterher Schnitte zwischen den Zähnen zu haben.«

»Aber das sind Läsionen.«

»Du meinst, die haben sie sich eingefangen?«

»Schwer zu sagen.«

»Beginn mit dem, was leicht zu sagen ist. Wie viele von den Getesteten waren positiv?«

»Zurzeit machen wir keine Tests.«

»Ihr bringt sie um, ohne sie vorher zu testen?«

»Bei einem Ausbruch werden sie in drei Meilen Umkreis gekeult, da wird nicht gefackelt. Ich bin nur gekommen, um zu sehen, wie weit die Seuche sich bereits ausgebreitet hat.«

»Ein Ausbruch? Wo?«

»Caldhithe. William Hernes Farm.«

*

Ein Van tauchte auf, dahinter ein zweiter. Sie strömten aus der Hecktür – Soldaten auf unserem Hof, weiße Overalls, in den Händen Besen, Eimer und Gewehr. Stellten die Stiefel auf die Stoßstange und sprühten sie mit Desinfektionsmitteln ein.

Klopften an unsere Tür. Höflich. Sacht. Gaben Befehle. Die Verantwortliche wusste, was zu tun war. »Wir brauchen einen Schlauchanschluss. Wir brauchen die Tiere hier. Wo sind die Verladerampen?« Setzte all ihre mitgebrachten Leute ein. Ließ sie antreten. »Wir kriegen das hin.« Das sagte sie mehrere Male. »Wir kriegen das hin.« Bei alldem blieb sie freundlich. Erinnert uns an ihren Auftrag mit nichts in der Stimme, woran ich Anstoß nehmen konnte.

Ich ging raus aufs Feld, mischte mich unter die Tiere, und jeder Krankheit, die in ihnen steckte, gelang es, sich zu verbergen. Die Schafe strichen mir um die Stiefel und sammelten sich an meiner Seite, folgten meiner Hand. Molly, unser Hund, schlich geduckt von Mauer zu Mauer und verfolgte mich aufmerksamer als die Herdwicks. »Weiter!« Hielt meine Trillerpfeife an den Mund. »Weiter!« Molly scheuchte die Herde zusammen und brachte sie ungerührt zum Sammelplatz, wo sie einzeln durch den Treibgang liefen. Die Soldaten in Killeruniform sahen zu. Hände im Rücken, Handschuhe über die Ärmel hochgezogen, Kondome an den Füßen. Sie hatten einen Schlachthänger aufgestellt. Wollten die Schafe so, dass sie sich nicht bewegen konnten, ein sauberer Schuss, dann die Kadaver auf einem Haufen gesammelt. Eine freie Standfläche für jedes Tier, die Überreste dann in Desinfektionsmitteln getränkt; sie frisch halten, bis sie verbrannt werden konnten.

Mit den ersten Tötungen lief alles glatt, soweit man das über Tötungen sagen kann, ein Knall, ein Fall, manchmal ein Blöken, der Hütehund an der Seite, damit die Tiere Ruhe gaben. Die Mündung zwischen den Ohren, ein Schuss Richtung Rücken, so blieb die Kugel in den Köpfen. Den Gewehren war nicht anzukreiden, was geschah. Das Chaos fing auf den Planken an, glatt vom Schlamm, tropfende Scheißrutschen, leidvergossenes Blut, das sich bald bis auf die Rampe zog, einer hölzernen, und wenn wir die Tiere nicht beruhigten, taumelten sie runter, fielen auf den Kopf oder sprangen hoch, weil sie zurück auf die Weide wollten. Wir hatten kein Gehege, das groß genug war, und wenn ein Tier aus der Herde ausbrach, dann zwei, und dann gleich alle, drängelten und drückten. Schulter an Schulter. Unmöglich, sie aufzuhalten, wollte man nicht zertrampelt werden. Die Widder vorn rammten gegen Mauern, bis die Decksteine wackelten, und von hinten schoben die Auen, stiegen übereinander, nutzten die anderen als Stufen. Eine wand sich so hoch, dass sie sich am Draht den Bauch aufschlitzte, auf die andere Seite fiel und dabei eine Lücke in die Mauer riss, durch die dann der Rest strömte. »Hierher«, rief ich zu Molly. Sie wollte die ersten verbellen, wollte sie zurückscheuchen. »Hierher!« Sie bekam einen Huf ins Auge und rannte selbst weg, rollte sich um die Wurzel von einem Weißdorn, verhakte sich mit dem Fell in den Dornen und im Baumwollgras, schiss sich auf die Hinterläufe.

Man sollte meinen, Soldaten hätten mehr Verstand als Schafe, aber sie drehten völlig durch. Rannten hinterher und schossen, wo sie welche sahen, vor Mauern, Futtertrögen oder anderen Tieren. Hieben Messer in Rücken, bis Blut floss, zogen es beidhändig wieder raus, wenn es feststeckte, rammten Rohre in Schädel, nutzten Widderhörner als Haltegriffe. Standen rittlings über den Todeszuckungen, dann weiter zum nächsten Opfer.

Ich gab Fersengeld. Sprang übers Gatter und rannte übers Feld, tat, als wollte ich die Hüpfer fangen und umklammerte mit den Händen die Vorderbeine eines Schafs. Warf das Tier zu Boden. Andere Zibben duckten sich, wenn sie mich kommen sahen. Ich rannte weiter. Hörte die Soldaten brüllen. »Holt den Bauern zurück. Beruhigt die Tiere.« Die halbe Herde war tot, das Hirn weggepustet, oder Schusslöcher prangten nach und nach auf dichten Fellen. Die Soldaten trieben eine kleine Gruppe zur Scheune. Die Schafe leisteten letzten Widerstand – schwangen die Köpfe, um Platz für einen Angriff zu haben und stürzten sich wie Füchse auf jeden, der ihnen zu nahe kam. Ein großer Soldat fiel auf den Arsch, und vom Boden erschoss er das schuldige Schaf auf seiner Brust. Brauchten jetzt drei oder vier Kugeln für jedes Tier. »Wo ist der Idiot?« Die Verantwortliche sah mich auf der Weide. »Sie müssen sie im Pferch halten.« Ich hatte keine Ahnung, mit wem sie redete. Ein dreckiger Fluch, dann ging sie zu Molly, hob sie auf und wartete, bis ich zurückkam. »Nehmen Sie den Hund und gehen Sie ins Haus.«

»Sie brauchen mich nicht?«

»War Ihre Entscheidung, hier draußen zu sein.«

»Das sind meine Schafe.«

»Rein mit Ihnen.«

Musste Molly festhalten, um sie zu beruhigen. Bellte in mein Ohr, und ihre Krallen kratzten mich sanft. Presste ihr Gesicht an meinen Hals, und ich konnte ihre Rippen spüren. Ich weiß noch, sie roch nach Keksen. Sie würde mir im Haus nicht von der Seite weichen – ich musste sie auf den Rücken rollen und in ihr Körbchen tragen. Ich ging in die Küche und brachte das Wasser immer aufs Neue zum Kochen; vor mir eine leere Tasse. War mir nicht sicher, ob ich je wieder ein Schaf sehen konnte, ohne mir vorzustellen, dass Blut aus einem Loch im Schädel rann. Ich machte den Fernseher an, glotzte stundenlang, als wäre ich der Kranke. Konnte die Schüsse hören, egal, wie laut ich aufdrehte, aber die Abstände wurden größer, bis es irgendwann vorbei war.

Wieder klopfte es an die Tür. Die Verantwortliche kam, um mir zu sagen, dass sie wieder abrückten. »Wann werden Sie die Kadaver verbrennen«, fragte ich.

»Sie haben nur einen kleinen Hof«, sagte sie. »Caldhithe, ein Stück die Straße runter, verliert über tausend Tiere. Womöglich mehr. Könnte morgen sein. Vielleicht auch nächste Woche oder erst übernächste.«

»Können Sie die nicht woanders hinbringen? Damit sie nicht gleich vor der Tür liegen?«

»Dürfen Sie gern selbst tun. Ich würde es Ihnen aber nicht raten.«

»Wir sehen sie aus dem Küchenfenster. Sogar aus dem verdammten Klofenster, wenn wir nach draußen gucken.«

»Rausgucken würde ich Ihnen auch nicht empfehlen«, sagte sie. Also hielt ich die Vorhänge geschlossen.

Trotz ihres Geredes wurden die Kadaver am nächsten Tag abgeholt und zu einem Graben gefahren, den man drei Kilometer von hier ins Tal gezogen hatte. Das war schnell, da konnte man sagen, was man wollte. Bei einigen Höfen lagen sie ewig auf den Feldern, bis man schon Wolle im Wasser schmecken konnte. Dass sie in Montgarth gewesen waren, verriet allein das viele Blut, das sie beim Abtransport auf der Straße verspritzten.

Taen

Am Morgen, nachdem sie abgeholt worden waren, schlief ich zum ersten Mal in meinem Leben aus, oder wie immer man das nennen will, wenn man um fünf Uhr früh bereits so lange in die Schatten um sein Bett gestiert hat, dass man im Dunkeln sehen kann. Ich stand auf, zog die Gummistiefel an und wollte mich nützlich machen. Würde schon wissen, was ich tun sollte, wenn ich erst auf der Weide war.

Ich lebte in den Fells und fühlte mich klein vor all dem, was ich am Horizont sah. Die Weide schlammiger als zuvor, und es war still. Man sollte meinen, dass es immer still ist, wo die Leute hinkommen, um allem zu entfliehen. Aber ich habe gelernt, was Stille ist. Dann hört man ein Klingeln in den Ohren, von dem man nicht wusste, dass es das gibt. Dohlen, Krähen und Elstern bleiben still, wenn der Tod so deutlich zu riechen ist.

Ich blickte auf unsere leeren Weiden und überlegte, wie wir wieder anfangen konnten. Ich hatte von Leuten gehört, Obst anbeuten, Äpfel für Cidre oder was weiß ich, und die damit klarkamen. Einen Apfel muss man nicht zum Schindanger bringen. Erdbeeren. Könnte man versuchen. Könnte sie in Haufen Hundescheiße pflanzen, die würden schon angehen. Nicht, dass sie hier draußen größer als Stachelbeeren werden würden. Kohlköpfe. Kein Schwein kann einem sagen, ob die innen verfault sind oder nicht.

Ich stand da, wo die Schafe lammten, und dachte über diese Lügen nach, als ich eine Stimme hörte.

Nee. Nee. Nee.

Jeder Laut wie abgeschnitten, hingestammelt, hallte lang in meinen Ohren nach. Nee.

Da draußen tragen Geräusche weit. Ich sah mich um, suchte nach meinem Dad. Kein Mensch. Fing an und hörte wieder auf, diese Stimme, dumpf, wie irgendwo in meinem Hirn in eine Dose gestopft. Klatschte mir an den Kopf, um sie rauszuschütteln, und drehte mich um, weil ich sehen wollte, ob sie sich zwischen meinen Schultern versteckte. Dachte, vielleicht bin ich verrückt geworden, was mich erstaunlich wenig beunruhigte.

Wenn ich mich bewegte, wurde sie lauter oder leiser. Stapfte wahllos hierhin und dorthin, suchte wie mit einer Wünschelrute für Geräusche und tat, was höflich war – ich gab Rede und Frage. Nee was denn? Was verdammt willst du nicht?

Aber alles, was kam, war noch ein Nee.

Ging hin, wo es am lautesten war und blieb reglos stehen, sobald das Geräusch aufhörte. Nichts als Schlamm zu meinen Füßen, und immer noch schloss ich den Gedanken nicht aus, dass jemand versuchte, mit mir zu reden.

Der Schlamm bewegte sich. Ein Beben, das ich nicht zuordnen konnte. Nee, hörte ich.

Ich kam näher. Schluss damit. Was soll ich nicht?

Es blökte. Ein Lamm blökte. Ich wusste, das musste es sein. Junge Herdwicks sind schwarz wie Ruß, sogar die Augen, ging in die Knie und begann zu suchen, wühlte im Schlamm. Kroch herum, bis ich sah, wo sich der kleine Scheißer rührte, mit dem ganzen Körper atmete und mehr Erde als Fleisch auf den Knochen hatte. Fing an zu buddeln. Warf kalte Klumpen hoch. Sah den rötlichen Stich im Fell, sah, dass es Rusty war. Rieb ihn mit dem Mantel ab und wickelte ihn ins Regencape.

Im Haus wurde er nicht warm. Mein Dad heizte nicht, meinte, wir würden hier ja doch nur schlafen. Musste ein Bad einlassen und hab noch dreimal den Kessel gefüllt. Taute ein bisschen Muttermilch auf und öffnete mit zwei Fingern das Maul, um einen Schlauch in den Magen einzuführen, nicht in die Lunge. Die Augen flatterten, dann die Schultern, die Knie. Wurde mit jedem Beben lebendiger. Ich wickelte den Kleinen in eine Decke, und er lag neben mir auf dem Sofa, während wir Fernsehen guckten. Schon bald war er in guter Verfassung, fraß ohne Hilfe alles, was ich ihm vor die Nase hielt und kackte zufrieden auf den Teppich. Konnte nicht aufhören, ihm ins Maul zu schauen, den Gaumen auf Läsionen zu prüfen. Ich saß da, das Lamm im Arm, bis es draußen wieder dunkel wurde. Was von unserer Herde geblieben war, schlief auf meinen Knien.

Wir auf Montgarth gehörten zu den Ersten, denen das Vieh gekeult wurde, und ich würde mal sagen, wir sind besser davongekommen als die meisten, weil unser Fall nicht so tief war. Als ich Kind war, habe ich von meinem Dad, meinem Opa und von anderen Bauern Geschichten über Westmorland gehört. Aus einer Zeit, in der es Cumbria noch gar nicht gegeben hat, fast, als würde man über alte Briefmarken und Dampfloks reden, so haben sie immer erzählt, was für die einzelnen Höfe das Ende bedeutete. Wie Soldaten sich an Kriege erinnern und sich zurückwünschen. Die Seuche gab uns den Rest, so unsere Geschichte, nur dachte ich immer, dass Maul- und Klauenseuche es nicht traf. Ein Name hallte in meinem Kopf wider, genau da, wo vorher das Blöken gewesen war. William Herne. William Herne, dieser Mistkerl.

Ich habe William schon mein Leben lang gekannt. Wir waren Nachbarn, die sich nicht sehen konnten, weil zwischen uns Hügel aufragten. Caldhithe, wo er wohnte, gehörte zu den letzten jener Höfe, die man zu den großen von Westmorland zählte, so groß, dass er auf Karten von Curdale eingetragen war. Wenn ich sage, dass tausend Schafe auf Caldhithe lebten, klingt das vielleicht nicht nach viel, aber man hielt es für viel, und Caldhithe gehörte ihm. Ganz Caldhithe.

Die meisten Bauern bearbeiten Pachtland. Mietbauern. Sagt dir einer, du sollst runter von seinem Land, weil er dich sonst erschießt, spricht er oft nur die halbe Wahrheit. Das sollte man über das Leben in den Fells wissen. Ums Geld geht es dabei nie. Der einzige Grund, hier über die Runden kommen zu wollen, ist der, dass man sich einbilden kann, auf fünf Meilen im Umkreis der Größte zu sein. Besitzen aber bedeutet was anderes. Jede Schlucht, jeder Bach, jedes Fell und jeder Felsvorsprung, jeder Sumpf, jedes Tal und alle verwitterten weißen Felsbrocken gehören dir. Hundsrose und Ginster im Straßengraben, sogar die Straße selbst. Die Erle mit eigener Weide und die Birkensamen in den Bäuchen von Bachstelze und Rohrsänger. Wandern Leute über dein Land, dann nur, weil du es zulässt. Verbringen sie einen Tag damit, sich Berge und Täler anzusehen, dann leihen sie sich deinen Ausblick. Die Fells sind ein leeres Land, weshalb es verzeihlich ist, wenn man es für sein eigenes Reich hält, für uns aber war es das wirklich und erst recht für William.

Ihm gehörte der Grund unter den Füßen, und das galt, egal wo er stand. Wir alle kannten Geschichten über ihn. Dass er Dinge versilberte, auf die er kein Anrecht hatte – Fässer mit rotem Diesel oder unbenutzte Loren aus den Schieferminen. Von seinem Viehfutter würde selbst Preisboxern übel. Was bedeutete, dass seine Lämmer mit einer Extraportion Fleisch, Knochen und Fett auf die Welt kamen. Ertappte man seine Schafe dabei, sich auf der falschen Seite von Bletter Pike herumzutreiben, wo seine Widder unsere Zibben beschnüffelten, sagte er, sie täten uns einen Gefallen. Und wer meinte, seine Tiere sollten sich verpissen, dem erwiderte er, dass müsse er mit seinem Pächter klären.

Nichts davon machte mir was aus. Wenn man hier draußen nicht nach Lust und Laune leben kann, geht das nirgendwo. Solange er mich in Ruhe ließ, würde ich es genauso halten.

*

Eine Woche war vergangen, seit man die Herde meines Dads ausgemerzt hatte. Ohne Arbeit, die mich in Atem hielt, wurde mir vom Fernsehen übel, und wenn ich mich in die Küche setzte und meinen Gedanken nachhing, wurde mir noch übler als vom Fernsehen, also machte ich das Radio an. Ich wollte Stimmen hören und schaltete die Nachrichten ein, als wenn ich nicht wüsste, was sie bringen würden. Das Vieh auf jeder beschissenen Farm in Curdale war gekeult worden, weshalb es diesseits vom Fluss Pishon bis rauf nach Ullswater, aber auch nirgendwo in Eden noch ein einziges Schaf oder eine Kuh gab. Das galt für sämtliche Höfe, einen ausgenommen. In Caldhithe gab es Ärger, schon seit Tagen. Auf William Hernes Hof. »Und wenn ich mit dem rede?«, fragte ich meinen Dad, während ich einen Toast schmierte.

»Wozu?«

»Um herauszufinden, was los ist. Um ihn zu Verstand zu bringen, falls das noch geht.«

»Seit wann hat Reden je geholfen?«

»Und was bringt es, hier herumzusitzen?«

»Die reichsten Typen, die ich kenne, werden dafür bezahlt, den ganzen Tag auf ihrem Hintern zu hocken. Muss also was dran sein.«

Ich hörte ein Gescharre unterm Tisch. Das Lamm knabberte an meiner Hose. Brachte sich selbst das Laufen bei, taumelte herum, mit Augen so schwarz, man konnte meinen, es wäre blind. Hob es hoch und legte es auf meinen Schoß. »Ich bring ihm Rusty.«

»Was soll der mit dem Kümmerling?«

»Ein Widder ist nichts ohne Herde. Und William ist der Einzige, der noch eine hat.«

»Nicht mehr lang, so wie’s aussieht.«

»Ich will, dass dieser Dreckskerl sieht, was er uns angetan hat.«

Ich stand auf, Rusty unterm Arm, und suchte nach meinen Schlüsseln.

»Das war’s?«, fragte mein Dad, der klein in seinem Sessel aussah. »Du haust einfach ab?«

»Ich habe die Nase voll vom Warten.«

Bis Caldhithe waren es zu Fuß nur gut sechs Kilometer, mit dem Wagen aber dauerte es eine halbe Stunde auf Landstraßen, die Einbahnstraßen sind, je nachdem, in welche Richtung man fährt. Williams Farm lag am flachsten Ende des Tals, es ging also tiefer und tiefer hinab, egal, aus welcher Richtung man kam – die Hügel hinter einem, die Straßen kringelten sich im Rückspiegel zu schroffen Bergen. An diesem Tag waren mehr Fasane als Autos unterwegs. Sah ich mich um, war da was, das ich nicht fassen konnte. Ich fuhr Schlangenkurven, die Mauern beidseitig so nah wie eh und je, sanft fielen windige Hänge vor meinen Augen ab. Alles war da. Nur ein Berg fehlte. Zumindest fühlte es sich so an. Weit und breit kein Tier, kein Schaf. Ich würde ja sagen, in den Fells sei alles tot, nur wirkte das Land durch die Schlote lebendig wie nie.

Es gab von der Straße aus eine Zufahrt nach Caldhithe, doch eine Eigenheit der Gegend sorgte dafür, dass man den Abzweig gern übersah, egal, wie nah oder weit man auch davon entfernt war. Diesmal ließ er sich allerdings nicht verfehlen, so viele Autos standen da. Drei, vier schief geparkte Rover, einer hinterm anderen, und wie ein Fangstand für Soldaten blockierte diese Vierradarmee den Weg. Vorn und etwas abseits ein Streifenwagen mit blitzendem Blaulicht. Die Soldaten, junge Burschen mit rasierten Köpfen und polierten Arschtretern, hockten auf klapprigen Kofferräumen und reichten Fluppen oder Wurstbrötchen weiter. Sie bewegten sich keinen Zentimeter, um mich durchzulassen.

Ich hielt, starrte sie an, und sie starrten zurück, während ich ausstieg, die Blicke gelangweilt und verdammt hungrig. Nur ein bekanntes Gesicht. Ein Rothaariger, der sich über eine Karte beugte. Gut einen Kopf größer als der Rest. Stand da, Hände in der Schutzweste, das Haar hinter die Ohren gekämmt, und es leuchtete so rot, dass man Satsumas roch, wenn man ihn nur ansah. War allgemein als Simply Red bekannt. Jahrelang war er Big Red gewesen – ein fetter Brocken. Pubküchen blieben länger geöffnet, wenn er spät abends auftauchte, aber seine Frau hat ihn bei Weight Watchers angemeldet, deshalb der neue Name. »Was soll das hier?«, fragte ich und ging über die Straße zu ihm.

»Tut mir leid, Sir, die Zufahrt zu diesem Gebiet ist bis auf Weiteres eingeschränkt«, sagte er. »Wer weiter will, muss umdrehen und den Weg über Saddlesby nehmen.«

»Mir neu, dass ich geadelt wurde. Was soll dies Gerede mit Sir?«

»Hör mal, Steve, ist gerade keine gute Zeit, kannst du den anderen Weg nehmen?«

»Will nirgendwo anders hin, will mit dem Chef selbst reden.«

»Mit William?«

»Hätte ich mit dir reden wollen, hätte ich vorher angerufen.«

»Hat er denn gesagt, dass du kommen sollst?«

»So gut wie, ja.« Ich sah die Jungs an, die mich umdrängten, die Hände an den Gürteln. »Und worauf wartet ihr hier?«

»Er lässt uns nicht zu sich.«

»Habt ihr’s mal durchs Tor versucht?«

»Reagierte ziemlich gereizt, als wir es gestern probiert haben. Stützte sich auf seine Knarre und meinte, er würde sich eigenhändig ums Vieh kümmern.«

»Sein Bestand wurde noch nicht gekeult?«

»Noch nicht, nein.«

»So ist das also; ihr habt Schiss, er knallt euch alle ab?«

»Hättest ihn sehen sollen. In so einer Lage gehen wir kein Risiko ein. Mindestens einer von denen ist bewaffnet, also sind wir laut Gesetz rein waffentechnisch unterlegen.« Ich stand da und schaute über die ansteigenden Weiden. »Was hast du hier überhaupt verloren, Steve? Solltest du dich nicht um Montgarth kümmern?«

»Ist nicht viel von übrig.«

»Dann waren sie schon bei euch?«

»Aye.«

»Kann nicht lang gedauert haben.«

»Sechzig Jahre, so mein Dad.«

»War sicher gar nichts verglichen mit dem, was bei einigen anderen hier draußen los war.«

»Dann hältst du es mit der MAFF?«, fragte ich. So nannten sie sich, die für Farmen und frische Luft zuständigen Typen vom Landwirtschaftsministerium. MAFF. Haben den Namen zu DEFRA geändert, sobald allgemein bekannt wurde, was die hier angerichtet hatten.

»Ich bin bei der Polizei, falls du das meinst«, sagte Red. »Ich mache nur meinen Job.«

»Muss ich für euch bei William nach dem Rechten sehen?«