Über den Abgrund ... dem Licht entgegen! - Petra Rüther - E-Book

Über den Abgrund ... dem Licht entgegen! E-Book

Petra Rüther

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Beschreibung

Dieses Buch beinhaltet die Geschichte einer Berlinerin, die, beinahe noch ein Kind, in die Klauen der Rauschgiftsucht gelangte und alle Facetten der Sucht durchlebt und ertragen hat. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, schildert sie ihren Lebensweg, der beinahe mit dem Sturz in den Abgrund geendet hätte, wenn ihr nicht aus unerwarteter Perspektive ein Weg in die Freiheit gezeigt worden wäre. Durch die Lehre Bruno Grönings gelang es ihr, sich von der Sucht zu befreien und ein glücklicher und gesunder Mensch zu werden. Sie lässt den Leser unmittelbar erleben, was es heißt, aus einem unüberwindlichen Sumpf herausgezogen zu werden. Im zweiten Teil dieses Buches schildert die Autorin mit ebenso packender Offenheit, wie es ihr gelang, mit Liebe und Enthusiasmus ebenso Hilfebedürftigen den Weg aus Sucht und Elend zu zeigen und mit Hilfe der göttlichen Kraft den Menschen auf der Straße zu helfen. Sie beweist damit, dass die Sucht, in welcher Form auch immer sie in unserer Gesellschaft auftritt, heilbar ist und gibt damit gerade jungen Menschen dieser Zeit Mut und Hoffnung, aus einer aussichtslosen Situation herauszukommen, mag es noch so unmöglich erscheinen.

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“…und über die Kluft baue ich eine Brücke! Gehen Sie vom Leidensweg auf den göttlichen Weg!”

Bruno Gröning (1906 – 1959)

INHALT

Einleitung

TEIL I: Über den Abgrund...

1. Kapitel: Wie ich aufwuchs

2. Kapitel: Ein völlig eigenständiger Mensch

3. Kapitel: Mein Freund „Keule Schulli“

4. Kapitel: Geburtstags-Grauen

5. Kapitel: Fahrt in den Abgrund

6. Kapitel: Oliver – eine Bahnhofsbekanntschaft

7. Kapitel: Wie mir der Heiland begegnete

8. Kapitel: Noch weiter abwärts

9. Kapitel: Ein besonders seriöser Herr

10. Kapitel: Jeder ist sich selbst der Nächste

11. Kapitel: Lichtblick und Resignation

12. Kapitel: Es geht aufwärts

13. Kapitel: Das große Fressen

14. Kapitel: Rausschmiss und Neuanfang

15. Kapitel: Rosen ohne Blüten

16. Kapitel: Vom Regen in die Traufe

17. Kapitel: Bruno Gröning

18. Kapitel: Ist es eine Sekte?

19. Kapitel: Erste Hilfen

20. Kapitel: Befreiung von der Sucht

21. Kapitel: Sich selbst treu bleiben

22. Kapitel: Ich bin’s, dein Freund!

23. Kapitel: Eigenes Brot gibt keine Not

24. Kapitel: Die Macht des Bösen ist gebrochen

TEIL II: .....dem Licht entgegen

25. Kapitel: 7 Jahre Single mit zwei Ablegern

26. Kapitel: Frankfurt-Bankfurt-Junkfurt

27. Kapitel: Belegte Brötchen und Heilstrom

28. Kapitel: Es hilft – es heilt die göttliche Kraft

29. Kapitel: Eine Sehnsucht wird erfüllt!

30. Kapitel: Hamburg- Hummel, Hummel, Gift, Gift!

31. Kapitel: Berlin – Kreuzberg: Back to the roots!

32. Kapitel: Ein ganz normaler Tag auf der Szene

33. Kapitel: Die Bremer Stadtdämonen

34. Kapitel: Kassel – Bitte Abstand halten

35. Kapitel: Amsterdam – Die Schwanzspitze des Teufels

36. Kapitel: Rotterdam - Heroin statt Hostien

37. Kapitel: Noch mehr Heilungen...

Einleitung:

Mehrere Jahre sind vergangen, seit das Buch „Mein Weg über den Abgrund“ erschienen ist. In diesen Jahren ist soviel Unfassbares und Wunderbares geschehen, dass ich diese Zeit dem Leser nicht vorenthalten möchte.

Niemals hätte ich geahnt, was durch dieses Buch alles geschehen würde. Wenn ich damals nicht auf einen Freund gehört hätte, der mir riet, meine eindrucksvollsten Erlebnisse einmal aufzuschreiben, dann wäre mit Sicherheit auch dieses Buch nie entstanden, und all die wunderbaren Ereignisse, die darauf folgten, wären nie geschehen.

Alles begann, als ich anlässlich der Frankfurter Buch- messe 1993 in Frankfurt war und „zufällig“ durch das Bahnhofsgelände schlenderte. In den Seitenstraßen der Taunusanlage und überall drum herum konnte ich den Konsum von Opiat und anderen undefinierbaren Drogen spüren und sah dann auch die Fratze der Suchtkrankheit an jeder Ecke.

Ich sah dort junge und alte Menschen in den dreckigen Straßen im Rinnstein liegen, hoffnungslos abgestumpft, krank, nicht mehr Herr ihrer Sinne und ich erinnerte mich, dass ich mich selbst einmal in einer ähnlichen Situation befunden hatte. Ja, in jede Stadt hat die Sucht, in welcher Form auch immer, bereits Einzug gehalten. Auch Dörfer und ländliche Gegenden werden von ihr nicht verschont. Wie eine Geißel verfolgt sie die Menschen und hat nur eines im Sinn: Leib und Seele zu zerstören!

Ja, ich hatte großes Glück gehabt. Ich habe mit Hilfe einer mir damals unbekannten Kraft die Sucht besiegen können. 1985 lernte ich die Lehre Bruno Grönings kennen, die mir half, endgültig die Sucht zu besiegen. Ich war in der Lage, den so oft vergeblichen Wunsch, einmal im Leben frei zu sein, in die Tat umsetzen. Ich wurde wieder ein lebensfroher gesunder Mensch. Aber sollte ich es dabei bewenden lassen? Sollte ich das Elend einfach ignorieren wie die meisten Menschen? Sollte ich wegschauen und vorbeigehen, ohne mich hinterher einen Feigling zu nennen? Nein, ich musste meinen Mund aufmachen und es wenigstens laut sagen, wie und auf welche Weise ich es geschafft hatte. Am liebsten hätte ich es laut herausgeschrien: „Es muss für euch nicht so enden! Ihr müsst nicht elendiglich zugrunde gehen! Es gibt einen Ausweg, es gibt auch für euch ein Leben in Freiheit und Gesundheit!!“

Aber würde mir jemand zuhören? Würde jemand überhaupt noch in der Lage sein, zu glauben und zu vertrau- en? An wen? Auf was? Würde jemand es wagen, noch einmal die Hoffnung auf einen Helfer zu setzen, der nicht blenden oder enttäuschen würde?

Ich wusste es nicht und es war mir auch nicht klar, ob ich jemals die Überzeugungskraft dafür aufbringen könnte.

Wer war oder ist dieser Bruno Gröning eigentlich?

Bruno Gröning (1906 – 1959), trat 1949 durch aufsehen- erregende Heilungen erstmals in Deutschland als sogenannter „spiritueller Heiler“ in Erscheinung. Bis zu 30.000 Menschen täglich strömten zum Höhepunkt seines Wirkens zu seinen Vorträgen, die er vor seinen Zuhörern frei und ohne jedes Manuskript gehalten hat. Immer wieder berichteten in der Folge Schwer- kranke von unerklärlichen Heilungen. Nationale und internationale Medien informierten damals intensiv über die (bis heute) wissenschaftlich unzureichend erforschten Heilerfolge bei Leiden, die nach wie vor als unheil- bar gelten.

Bruno Gröning, ein tief gläubiger Mensch, betonte stets:

„Es gibt kein Unheilbar – Nicht ich heile, sondern es hilft, es heilt die göttliche Kraft – Gott ist der größte Arzt!“

Seine Mission sah er jedoch nicht ausschließlich darin, kranken Menschen den Weg zur Gesundheit aufzuzeigen. Sein übergeordnetes Bestreben war, den Glauben an Gott und eine entsprechend ausgerichtete Lebensführung zu vermitteln. „Ich rufe Sie auf zur großen Umkehr!“ lautet einer der Kernsätze Bruno Grönings.

Genau um diese „Umkehr“ ging es auch in meinem Le- ben, so wie Bruno Gröning sagte, vom „Leidensweg zu- rück auf den göttlichen Weg“ zu kommen. Diese Um- kehr vollzog sich durch eine tiefe, von Herzen kommen- de Bitte an Gott, mich aus dem Elend zu befreien und an Bruno Gröning, mir dabei zu helfen. Dies verhalf mir offensichtlich zu einer Heilung in aller Stille von der Suchtkrankheit innerhalb von 3 Tagen und 3 Nächten.

Im ersten Teil dieses Buches habe ich meine Geschichte inklusive Heilung noch einmal in überarbeiteter Form dargestellt, damit offenbar wird, wie tief unten ich gewesen bin. Niemand kann behaupten, ich hätte es nicht selbst durchgemacht und könnte daher nicht mitreden.

Es ist mir nicht leicht gefallen, auch bei dieser neuen Auflage all das durchlebte Elend, das mich selbst auch sehr oft mit Scham und Schande erfüllt hat, mit schonungsloser Offenheit preiszugeben. Aber es war für mich ganz klar, nichts wegzulassen, um den Menschen, die es heute noch betrifft, klarzumachen, dass es immer einen Ausweg gibt und dass nichts so schlimm ist, dass es nicht wieder gut werden kann.

Der zweite Teil dieses Buches ist die Fortsetzung meines Lebens, in dem ich mit ebenso schonungsloser Offenheit meine weiteren Erfahrungen aufgeschrieben habe, die ich mit Freunden während meiner weiteren 10-jährigen Arbeit mit Drogensüchtigen, den „Hilfsbedürftigsten“ auf den Straßen in Deutschland und Holland erlebt ha- be.

Es ist mir ein Anliegen, all die glücklichen Ereignisse und Führungen schriftlich festzuhalten, so wie ich es aus meiner Erinnerung und Tagebuchaufzeichnungen entnommen habe - aber auch das Elend und die zum Himmel schreiende Not-Wendigkeit, den betroffenen Menschen zu helfen. Dieser göttliche Segen, der unsere Arbeit begleitete, wurde zum Segen nicht nur für viele junge oder ältere hilfebedürftige Menschen sondern auch für uns selbst.

Wie liebevoll und gnädig diese allmächtige, gütige und segenbringende Macht - die wir Gott nennen - zu uns ist, wenn wir etwas für unsere Mitmenschen tun, hätte ich auch damals nicht zu hoffen gewagt. Wieweit ist der Mensch von seinem wahren Potential entfernt? Denkt nicht in dieser Zeit jeder zuerst an sich selbst? Ist es nicht so, dass es den meisten Menschen zur Gewohnheit geworden ist erst mal nur das Schlechteste über seine Mitmenschen zu denken? War es nicht naiv und blauäugig von mir, doch auf das Gute zu hoffen und an das Gute im Menschen zu glauben? Wenn ich nicht selbst das Heil an meinem eigenen Körper und Seele erfahren hätte, wäre es mir garantiert schwer gefallen, an etwas Gutes zu glauben. Ja, es wäre mir nicht nur schwer gefallen, sondern ich hätte mich wahrscheinlich selbst aus Kummer und auswegloser Verzweiflung umgebracht.

Dieser Glaube, der sich erst durch die vielen positiven Erlebnisse in mir manifestiert hat, war anfangs gar nicht vorhanden, sondern ist mehr und mehr gewachsen, bis er sich zur unumstößlichen Gewissheit herangebildet hat. Dieser Glaube an das Göttliche ist etwas Wunderbares und schenkt Liebe und Geborgenheit, wie ein Kind, das in der Geborgenheit seiner Eltern aufwachsen darf.

Jeder Mensch ist wertvoll und trägt das Göttliche in sich. Es war oft nur nicht mehr zu sehen, durch den ganzen Dreck und die Hoffnungslosigkeit, mit der die eine oder andere Seele immer dunkler wurde. Wie ich in vielen Jahren beobachten konnte, es ist möglich, den Gottesfunken in so einem Menschen wieder zum Leuchten zu bringen. Wie Diamanten, die in einen Sumpf gefallen sind, müssen sie einfach nur herausgezogen, abgewaschen und bereinigt werden, genauso wie es bei mir der Fall war. Hier ist es jedoch unabdingbar, dass der Betroffene es selbst auch will und sich vehement von dem alten, Unguten löst und konsequent an sich selbst zu arbeiten beginnt.

Wo ein Wille, da ist auch ein Weg!

Bruno Gröning sagte hierzu:

„Man hat Sie aus einer Grube gezogen, in dieser ist Schmutz gewesen. Natürlich sind Sie beschmutzt, und einer ist da, der Sie da hinein geworfen hat. Aber Sie werden hinaus gezogen, Sie kriegen ein neues Gewand, der Körper wird bereinigt – wieder sauber! Aber was nützt es, wenn man Sie da hinaus zieht und Sie sich nicht oben halten können? Sie werden wieder hineinfallen!“

Von ganzem Herzen danke ich dem, der mich aus dieser Grube gezogen hat. Aber wie gelang es mir, mich oben zu halten, nicht wieder in die Grube hineinzufallen, sprich, nicht wieder rückfällig zu werden?

Bruno Gröning sagt dazu:

„Sie müssen mit soviel guter Kraft ausgestattet sein, dass das Böse in Ihnen, in Ihrem Körper keinen Platz mehr findet und dass Sie immer wieder aufs Neue das Böse abstoßen können, so Sie einmal doch vom Bösen angegangen worden sind, in Zukunft auch angegangen werden.“ Bruno Gröning

Bruno Gröning hat uns empfohlen, täglich die göttliche Kraft aufzunehmen, uns täglich mit Gott zu verbinden. Dazu ist es notwendig, dass man sich Zeit für sich selbst nimmt, um sich auf die göttliche Kraft einzustellen, alles Ungute immer wieder loszulassen und das Gute in sich aufzunehmen. Und vor allem: Sich selbst zu erkennen. Erkennen, woher wir kommen und wohin wir gehen – und zu wem wir gehören: zu Gott doch nur!!!

Ich wünsche allen Menschen Gesundheit an Körper, Geist und Seele, die göttliche Liebe im Herzen und den himmlischen Frieden in allen Lebenslagen.

Petra Rüther 09.05.2017

Petra Rüther:

TEIL I:

Über den Abgrund...

Kapitel 1

Wie ich aufwuchs

Berlin-Kreuzberg, Adalbertstraße 84, Ecke Naunynstraße, Nähe Mariannenplatz - tiefstes Kreuzberg. Mein Paps hatte ein Autoreifengeschäft. Ich spielte mit den Mülltonnen, und wir hatten unsere Toilette auf dem Hof. Wenn ich nicht bei Onkel Fritz war - er hatte einen Obst- und Gemüseladen im Keller unter unserer Wohnung -, dann spielte ich mit den anderen Kindern auf der Straße. Aber diese Straße ging nur noch ungefähr hundert Meter weiter, dann war sie zu Ende. Denn quer über diese Straße protzte eine dicke Mauer mit Stacheldraht: die Berliner Mauer!

Gerade war ich vier Jahre alt geworden, und solange ich mich erinnern konnte, war da diese Mauer, und eben weil sie immer da war, bedeutete sie für mich nichts Besonderes. Die Straße war da zu Ende, und wenn ich bei Oma Else im vierten Stock unserer Altberliner Mietskaserne zu Besuch war, weil ich ihrem Schäferhund Harras meine Bockwurstpellen bringen wollte, die ich nicht mochte, dann durfte ich ein bisschen über diese Mauer rübergucken, wenn ich aus dem Fenster sah. Aber meistens durfte ich das nicht, weil Oma Else immer panische Angst hatte, dass ich aus dem Fenster fallen könnte. Auf der anderen Seite der Mauer sah es nicht schön aus. Zugemauerte, halbverfallene Mietshäuser, Asphalt und Stacheldraht machten einen nicht sehr einladenden Eindruck auf mich.

Aber Harras war mein bester Freund. Er verstand mich, und ich liebte ihn heiß und innig. Er hatte so treue Augen, und wenn wir in den Grunewald fuhren, dann beschützte er mich. Er war fast wie ein Mensch, und wenn irgendwo eine Gefahr auftauchte, warnte er mich mit seinem Kläffen. Er kriegte auch meistens ein Stück von meiner Bockwurst ab, denn Bockwurst war mein Leibgericht, die es an jeder Ecke zu kaufen gab, und ich hätte mich fast ausschließlich davon ernähren können. Und Harras wohl auch.

Aber dann passierte etwas, womit ich nie gerechnet hatte und was ich in meinem kindlichen Gemüt auch nicht nachvollziehen konnte: Mein Paps fuhr alleine in Urlaub und meine Mami auch.

Ich glaube, sie verstanden sich nicht mehr so gut. Ich kam zu Oma und Opa nach Meyenburg aufs Land. Mein Opa war ein Tiernarr und hatte eine Hühner- und Entenfarm. Außerdem hatte er mehrere Windhunde und eine große Wellensittich- und Nymphensittich Voliere. Bei Oma und Opa fühlte ich mich sehr wohl, und ich ahnte nicht, was meine Eltern während ihrer dreimonatigen Abwesenheit hinter meinem Rücken ausheckten. Sie wollten sich nämlich scheiden lassen, denn Paps hatte sich in eine andere Frau verliebt.

Als ich wieder nach Hause nach Berlin sollte, weigerte ich mich schlichtweg, denn ich hatte mich von Mama und Papa ziemlich entfremdet.

Paps nahm mich dennoch öfter mit nach Hamburg, wo die Eltern seiner neuen Frau wohnten, und eines Tages gab er mich dort im Morgengrauen ab. Die „neuen“ Großeltern waren sehr freundlich und nett zu mir und sorgten für mich wie fürs eigene Enkelkind.

Es dauerte nicht lange, bis ich mich eingewöhnt hatte. Es gab Wiesen, Felder, Kühe und viel, viel Natur, denn ihr Haus lag ein wenig außerhalb Hamburgs. Dass mein Paps in der Zwischenzeit erneut heiratete, kriegte ich gar nicht mit.

Ich fand schnell eine kleine Freundin, sie hieß Christa, und wir wurden unzertrennlich. Abends sang mir mein Opa Schlaflieder vor, die er so schön sang, dass ich sie stundenlang hören konnte, denn er war Tenorsänger in einem Hamburger Chor.

Ich wollte also gar nicht mehr nach Hause. Trotz allem war ich irgendwie zwiegespalten, denn ich hatte schon Sehnsucht nach meiner Mama.

Diese hatte sich inzwischen eine neue 1 1/2-Zimmer-Wohnung angemietet und sie gemütlich eingerichtet und holte mich schließlich nach Hause. Ich bekam das halbe Zimmer, und alles wäre wunderbar gewesen, wäre da nicht Muttis neuer Freund aufgetaucht, der nichts mit mir zu tun haben wollte. Das war mein Eindruck. Aber ich wollte auch mit ihm nichts zu tun haben.

Mutti hatte jedenfalls sehr viel zu tun und besuchte eine Abendschule, um den Realschulabschluss nachzuholen. Ich blieb abends oft allein zu Hause und heulte, denn ich mochte nicht allein bleiben.

Eines Tages kam eine ältere Frau mit grauen Haaren zu uns zu Besuch. Sie war mir von Anfang an unsympathisch, und ich war froh, als sie wieder weg war. Ich konnte ja nicht ahnen, dass diese Frau von nun an meine neue Pflegemutter sein sollte, weil meine Mutter es nicht mehr mit ansehen konnte, wie ich jeden Abend, bevor sie zur Abendschule ging, einen Heidenaufstand machte.

Nun begann für mich ein trauriger Abschnitt bei Familie M.

Mutti war weg, Paps war weg, und ein älteres Ehepaar - Tante Trude und Onkel Herbert - waren plötzlich meine neuen Eltern. Ich war nicht das einzige Pflegekind. Die zweijährige Ilona war nun meine neue jüngere Schwester. Ich musste sehr viel auf Ilona aufpassen, und wenn sie was ausfraß, bekam ich den Ärger. Sie war ein kleines Biest und kriegte das schnell spitz, dass ich für ihre Untaten büßen musste. So wurde ich z. B. nach Strich und Faden verprügelt, wenn sie sich schmutzig machte oder den Blumen im Garten die Köpfe abriss. Ich war oft sehr verzweifelt, denn ich kam gegen das kleine Luder nicht an. Tante Trude hatte übrigens die Hosen an, und Onkel Herbert war ein mürrischer alter Mann, der sich um uns Kinder nicht kümmerte. Eines Nachts träumte ich, er sei ein Menschenfresser, der in einer Höhle wohnte und mich fressen wollte. Dann pinkelte ich ins Bett, wofür ich am nächsten Tag wieder ziemlichen Ärger kriegte.

Ich hatte mein sechstes Lebensjahr fast vollendet und kam in die Schule. Familie M. wohnte in Berlin-Marienfelde. Dieser Stadtteil lag etwas außerhalb und war damals noch ländliche Gegend mit vielen Feldern und Natur. Wenn Ilona mich mal wieder gepiesackt oder sich absichtlich mit ihren weißen Strumpfhosen auf dem Acker herumgesuhlt hatte, dann verkroch ich mich irgendwo und traute mich nicht mehr nach Hause. Einmal kam ein Mann vorbei, der mich heulend am Feldrand sitzen sah. Ilona war von oben bis unten dreckig, und ich wusste, dass mich zu Hause eine Tracht Prügel erwartete. Dieser Mann fragte, was mit mir los sei und ob er mir nicht helfen könnte. Er fragte, wo ich wohnte und meinte, nachdem ich ihm alles erzählt hatte, er würde Tante Trude kennen und er würde mich jetzt nach Hause bringen und ich bräuchte keine Angst zu haben, ich kriegte schon keinen Ärger. So war es auch! Tante Trude begrüßte diesen Herrn überaus freundlich, und als sie Ilona sah - diesen Dreckspatz -, da lachte sie nur und sagte: „Das macht doch nichts.“

Ich hatte mich hinter dem netten Mann versteckt und zitterte vor Angst und konnte nicht verstehen, warum Tante Trude überhaupt nicht schimpfte. Sie war so übertrieben freundlich und nett auch zu mir, und wenn ich den Ausdruck „heuchlerisch“ damals schon gekannt hätte, wäre das wohl der passende für ihr Verhalten gewesen.

Später stellte sich heraus, dass dieser nette Herr vom Jugendamt gekommen war und mich an diesem Tag gerettet hatte, wofür ich ihm heute noch dankbar bin.

Alle zwei bis drei Wochen kamen Mutti oder Paps zu Besuch. Wenn sie wieder weg fuhren, heulte ich wie ein Schlosshund, aber ich musste ein halbes Jahr dortbleiben. Dann konnten meine Eltern das heulende Elend nicht mehr mit ansehen und erlösten mich aus dieser Qual, indem ich erst mal wieder mit nach Hause durfte.

Aber Mutti war immer noch nicht mit ihrer Mittleren Reife fertig, und so kam ich wieder woanders hin. Diesmal war es Tante Emma aus Kreuzberg, die meine Pflegemutter sein sollte. Wieder musste ich die Schule wechseln. Tante Emma war eine herzensgute Seele, und ich hatte sie bald sehr lieb. Ab und zu war ich am Wochenende bei Mutti oder Vati zu Besuch und musste dann mit dem Bus allein zurückfahren.

Eines Morgens fuhr ich mit dem Bus zur Schule und stieg an der Haltestelle aus, ging aber träumend - wie Kinder eben so sind - vor dem Bus über die Straße, ohne zu schauen, ob ein Auto kommt. Und so sah ich auch nicht den weißen Käfer, der mich mit dem rechten Kotflügel erwischte, so dass ich in hohem Bogen über die Straße flog. Ich landete am gegenüberliegenden Bordstein und spürte keinen Schmerz. Der Autofahrer stieg erschrocken aus und fragte, ob mir was passiert wäre. Als ich es verneinte, schimpfte er noch mit mir, dass ich beim Straßeüberqueren gefälligst besser aufpassen solle. Dann fuhr er weiter, und ich machte mich auf meinen Weg zur Schule. Bei Tante Emma sagte ich kein Wort von dem Unfall, denn ich dachte, auch sie würde mit mir schimpfen. Erst als sie abends beim Waschen den riesigen blauen Fleck an meinem Oberschenkel bemerkte, kam alles raus, und ich erzählte unter Tränen, was passiert war. Gott sei Dank schimpfte sie nicht mit mir, sondern tröstete mich und erklärte mir, dass ich einen großen Schutzengel gehabt hätte.

Bei Tante Emma war es schön. Sie hatte ein Herz und hatte mich lieb, das fühlte ich. Eines Tages lag ein kleines, dickes, schwarzes Buch auf dem Tisch, und ich schlug es auf, aber ich konnte die verschnörkelte Schrift kaum lesen. Tante Emma erzählte mir, was in diesem Buch drin stand, nämlich die Geschichte von einem Mann, der als kleines Kindlein in einer Krippe geboren und sogar von drei Königen angebetet wurde. Sein Name war Jesus. Sie berichtete beinahe andächtig, dass es direkt von Gott gekommen war, um den Menschen zu helfen. Später, als dieses Kind groß geworden und zum Manne herangewachsen war, half er vielen Menschen, indem er einem Blinden das Augenlicht wiederschenkte, einen Mann, der nicht laufen konnte, heilte und sogar ein totes Mädchen wieder zum Leben erweckte. Diese Geschichten beeindruckten mich sehr, und ich fand es herrlich, sie immer wieder zu hören.

Leider hielt meine Mami nicht viel davon, und als ich sie einmal diesbezüglich fragte, sagte sie entrüstet, Gottes Sohn gäbe es nicht, der könnte doch nicht auf die Erde kommen! Außerdem war sie aus der Kirche ausgetreten und ließ mich nur auf mein Drängen am Religionsunterricht teilnehmen, weil es mein Lieblingsfach war.

Bei Tante Emma blieb ich zwei Jahre, dann holt meine Mutter mich endgültig nach Hause, denn sie hatte ihre Abendschule beendet. Und ich wechselte erneut meinen Wohnsitz nach Berlin-Tempelhof, und nun zum dritten Mal die Schule.

Kapitel 2

Ein völlig eigenständiger Mensch

Mutti’s Freund war für mich ein Eindringling, der nicht zur Familie gehörte und der meinen Paps verdrängt hatte. So sah ich es! Ich verstand sowieso nicht, was meinen Eltern da eingefallen war.

Muttis Freund hätte ja auch mein größerer Bruder sein können. Als Mama ihn kennenlernte, war er 19, sie 28 und ich 6. Er war also nur 13 Jahre älter als ich und noch Student - sehr intelligent, aber eben noch viel zu jung, um eine Vaterrolle übernehmen zu können. Außerdem machte ich es ihm nicht leicht. Kriegte er z. B. beim Kaffee das größere Stück Kuchen, machte ich einen Aufstand. Ich verglich ihn mit meinem Paps und konnte ihn beim besten Willen nicht akzeptieren. Außerdem beachtete er mich kaum, was mich ärgerte. Er behandelte mich von oben herab - mit welchem Recht? Ich war doch zuerst dagewesen, ich hatte ihn doch zu dulden und nicht er mich! Je älter ich wurde, um so gespannter wurde das Verhältnis. Mein Vater war inzwischen mit seiner zweiten Frau nach Hamburg gezogen und damit außer Reichweite. Meine Mutter versuchte, zwischen uns zu vermitteln, schaffte es aber nicht und hielt zweifelsfrei zu ihrem Freund. Ich war trotzig und enttäuscht und eifersüchtig und zog mich zurück, schloss mich in mein Zimmer ein und drehte die Musik auf. Oft stand ich am Fenster und spielte mit dem Gedanken hinunterzuspringen. Vielleicht würde mich dann mal jemand beachten. Aber dann wäre es zu spät - das hätten sie dann davon! Aber ich traute mich nicht. Gott sei Dank. Da Mutti tagsüber arbeitete, war ich ein Schlüsselkind und die ersten Jahre im Hort und später nachmittags allein. Wir wohnten zu dritt in einem Hochhaus auf 36 qm Wohnfläche.

Die Spannungen waren auch für Mutti schwer zu ertragen. Oft verbarrikadierte ich mich in meinem Zimmer und stellte meinen kleinen Kassettenrecorder, den ich mir von meinem Taschengeld zusammengespart hatte, auf volle Lautstärke. Dann drehte ich die neue LP von Uriah Heep auf, weil das so richtig fetzte. Natürlich auch, um Aufmerksamkeit zu erregen. Es war klar, dass meine Mutter regelmäßig ausrastete und schimpfend und wetternd gegen die Tür hämmerte. Um einmal richtig auszuspannen, fuhr sie mit ihrem Freund in Urlaub und ließ mich mit 200 Mark Haushaltsgeld allein zu Hause. Ich war inzwischen zwölf Jahre alt geworden, und für mich war das nicht schlecht. Ich hatte meine Ruhe und konnte machen, was ich wollte.

Allerdings wurde es mir nach ein paar Tagen zu ruhig, und ich konnte es kaum noch aushalten, immer allein zu sein. Ich holte mir meine Freundinnen ins Haus, die dann auch mal bei mir schlafen durften, und wir guckten bis spät in die Nacht fern. Die Glotze bekam einen entscheidenden Stellenwert in meinem Leben, und sie lief eigentlich die meiste Zeit, weil ich die unheimliche Stille nicht ertragen konnte, wenn sie aus war. Ich guckte mir jeden Mist an und gruselte mich zu Tode, wenn ein spannender Krimi lief. Hinterher wälzte ich mich schlaflos im Bett herum und hatte furchtbare Angst, ein Einbrecher könnte kommen. Vor lauter Schiss hatte ich Schweißausbrüche, und wenn ich dann unruhig einschlief, quälten mich Alpträume.

Aber mit dem Geld kam ich bestens zurecht. Als Mutti nach zwei Wochen wiederkam, war ich natürlich sehr erleichtert, und sie war hocherfreut, dass ich so vernünftig mit dem Geld umgegangen war und dass alles so gut geklappt hatte.

Ich kam aufs Gymnasium und kriegte einen Indianerfimmel. Ich las jedes Buch über Indianer, guckte jeden Film über Indianer, schnitt jeden Zeitungsartikel aus und lernte die verschiedenen Stämme und ihre Sprachen auswendig, soweit ich Literatur darüber fand. Ich besorgte mir kleine bunte Glasperlen in einem Bastelgeschäft und stickte Armbänder mit indianischen Mustern. Ich ärgerte mich, dass meine Haut so weiß war, und liebte dieses Volk über alles. Einmal stand ich vor dem Spiegel und puderte meine Hände und Arme tiefbraun ein und stellte mir vor, auf einem weißen Pferd durch die Weiten der Prärie zu reiten. Ich stellte mir vor, dass ich, wenn ich erwachsen wäre, nach Amerika fahren würde, um den unterdrückten Indianern in den Reservaten zu helfen. Ich war entrüstet, dass die weißen Einwanderer nicht einen Vertrag gehalten hatten, und ich ärgerte mich, wenn die Rothäute im Fernsehen als blutrünstige Wilde dargestellt wurden. Für mich war es ein edles Volk, das mit der Natur verbunden war. Die mussten nicht wie ich in einem kalten quadratischen Hochhaus leben, und sie hatten für ihre Freiheit bis zum letzten Mann gekämpft. Das imponierte mir sehr. Ich kaufte mir Schallplatten von „Redbone“, einer indianischen Rockgruppe, und fing an, Geschichten über Indianer zu schreiben, die ich aber als mein innerstes Geheimnis hütete. Ich war begeistert, als ich in der Zeitung las, dass die Indianer der heutigen Zeit bei San Franzisko eine Insel besetzt hatten und die „Red-Power-Bewegung“ gegründet worden war.

Ich bekam tatsächlich eine Chance, nach Amerika zu fahren: als Austauschschülerin. Aber es sollte nicht sein. Meine Mutter erlaubte es nicht.

Mutti wollte auch nicht, dass ich das Abitur machte. Realschulabschluss reicht auch, sagte sie. So gut war ich auch nicht mehr in der Schule. Mir war’s also recht, ich hatte sowieso keine Lust mehr, zur Schule zu gehen.

Außerdem wurde mir die Sache schmackhaft gemacht, denn Mutti wollte mit ihrem Freund ausziehen und mir die Wohnung überlassen. Das roch für mich nach Freiheit und Eigenständigkeit. Aber welchen Beruf sollte ich ergreifen? Ich hatte keine Ahnung. Ich wusste überhaupt nicht, was ich mal werden wollte, und irgendwie hatte ich eine gewisse Gleichgültigkeit in mir. Zum Glück wusste Mutti was für mich und besorgte mir einen Ausbildungsplatz als Beamtenanwärterin beim Bezirksamt Zehlendorf.

So hatte ich bereits mit 15 eine eigene Wohnung und mein erstes Lehrlingsgehalt und war ein „völlig eigenständiger Mensch“.

Kapitel 3

Mein Freund „Keule Schulli“

Mein Leben empfand ich als abgrundtief langweilig und deprimierend. Der Alltag als Bürolehrling ödete mich an, und die Arbeit machte mir keinen Spaß. Meinen Vorgesetzten fand ich spießig, und ich zählte die Stunden, daß ich wieder nach Hause gehen konnte. Aber zu Hause war auch niemand, mit dem ich hätte reden können. Meine Freundinnen hatten auch mal was anderes zu tun, als ständig mit mir zu telefonieren.

Zweimal in der Woche musste ich zur Berufsschule. Schon in der ersten Stunde fiel mir ein junger Mann auf mit längeren Haaren und Nickelbrille. Er saß mir schräg gegenüber und war schon etwas älter als wir junges Gemüse. Er war sehr lustig und hatte immer einen lockeren Spruch auf der Lippe. Er war flippig und freakig gekleidet und schien ein dufter Kumpel zu sein. Während der Verwaltungsrechtsstunde steckte er mir ein Zettelchen zu, auf dem stand: „Rauchst Du?“

Ich dachte natürlich in meiner Naivität, er meinte Zigaretten, und die hatte ich natürlich schon mal probiert. Und so antwortete ich auf der Zettelpost mit „Na klar“. Zu meiner Verwunderung freute er sich spitzbübisch und grinste die ganze Stunde zu mir herüber. Ich grinste zurück, wusste aber eigentlich gar nicht, was der Typ von mir wollte, aber ich war natürlich auch froh, Anschluss gefunden zu haben. In der nächsten Pause lud er mich zum Rauchen ein, und wir verkrümelten uns auf die Feuertreppe am Notausgang des Schulgebäudes. Ich bekam einen ziemlichen Schrecken, als er statt der Zigaretten ein kleines schwarzbraunes Kügelchen aus der Tasche zog, das aussah wie ein Hasenknödel, und drei Zigarettenblättchen, die er vor meinen Augen zusammenklebte. Ich ließ mir aber nichts anmerken und tat so, als würde ich so was jeden Tag tun. Dabei lachte er und ulkte, dass er es wirklich unheimlich dufte finden würde, nun endlich jemanden gefunden zu haben, mit dem er mal ’ne Tüte (Haschzigarette) rauchen könne. Dann wäre auch der Unterricht nicht so trocken, und diese spießigen Lehrer würden ja sowieso nichts mehr merken. Ich teilte voll seine Meinung über den trockenen Unterricht und die verhärmten Lehrer und nahm mit Selbstverständlichkeit die dicke, zusammengerollte Zigarette entgegen und ließ sie mir von ihm anzünden. Beherzt zog ich den ersten Zug in meine Lungen und bekam einen Hustenanfall, dass ich mich kaum wieder einkriegte. Ich dachte, ich ersticke, und beinah wäre mir der Joint aus der Hand gefallen.

„Na, so oft haste wohl doch noch nicht gekifft, wa?“

Mir war speiübel, und ich musste wohl oder übel zugeben, dass ich im Kiffen noch kein Weltmeister war.

„Wie heißt du eigentlich?“ fragte er.

Ich nannte ihm meinen Namen und fragte nach seinem.

„Schulz, Michael - aber du kannst mich Schulli nennen!“

Und so wurde er für mich „Keule Schulli“. Keule ist ein Berliner Ausdruck für Bruder und Kumpel, und er wurde mein bester Freund. Er war so erfrischend komisch, und wenn ich mit ihm zusammen war, blieb kein Auge trocken. Das lag mit Sicherheit am Hasch, denn nach beginnender Übelkeit stellte sich ein Zwerchfellkitzel ein, und wir gackerten um die Wette bis zur puren Albernheit. Von da an rauchten wir regelmäßig in den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden. Ich fand immer mehr Geschmack an „Shit“ (Haschisch), weil alles plötzlich nicht mehr so ernst und eng war und wir gemeinsam Tränen lachten. Wir amüsierten uns köstlich über die Lehrer und einige Klassenkameraden, die uns plötzlich so dermaßen komisch vorkamen, dass wir uns oft auch in der Stunde nicht beherrschen konnten. Für die anderen waren wir schon bald die abgedrehten Freaks, man zeigte uns einen Vogel und ließ uns in Ruhe. Der bittere Ernst des Lebens wich einer einzigen Komödie. Wir wurden die dicksten Freunde und trafen uns immer öfter, auch außerhalb des Unterrichts. Da Keule Schulli keine Annäherungsversuche machte, war er für mich wirklich wie ein Kumpel, mit dem man Pferde stehlen konnte, und gerade so einen Menschen hatte ich gebraucht. Ich konnte mit ihm über alles reden, und auch er schüttete mir oft sein Herz aus. Er spielte außerdem leidenschaftlich gern Gitarre und hatte zu Hause eine schwarze, hochglanzlackierte E-Gitarre stehen, die er zärtlich seine „Lady“ nannte. Er zeigte mir auch Fotos von seiner Ex-Freundin, die er über alles geliebt hatte, die aber vor kurzem mit ihm Schluss gemacht hatte. Deshalb würde er auch immer noch unter Liebeskummer leiden, den man ihm aber komischerweise nicht anmerkte. Er wusste sich schon zu trösten, indem er eben in letzter Zeit neben seiner Gitarre schlief, die ihm wenigstens keine Probleme machte. Diesen Umstand schilderte er mir einmal so umwerfend witzig, dass wir vor Lachen auf dem Boden lagen. Schulli konnte nichts erschüttern - ein Lebenskünstler, wie ich meinte, war er allemal. Er konnte über sich selber lachen, und das machte ihn so sympathisch. Außerdem hatte er immer was zu rauchen, und wenn wir „stoned“ (Ausdruck für bekifft) waren, holten wir uns manchmal vom Bäcker ein frisches, knuspriges Brot und verzehrten es Schnitte für Schnitte, beschmiert mit dem hausgemachten Pflaumenmus seiner Oma. Es schmeckte einfach wunderbar, und es war sagenhaft, was wir davon verdrücken konnten. Dass Hasch den Appetit anregt, hatte ich zwar schon mal gehört, aber dass ich mich einmal so überfressen könnte, hätte ich nicht gedacht. Wir konnten einfach nicht mehr aufhören, bis wir beinah platzten.

Der Ausspruch, der auch zu unserer Devise wurde, hieß: „Hasch bringt dich besser durch Zeiten ohne Geld, als Geld durch Zeiten ohne Hasch!“ Es war egal, ob wir Geld hatten, Hauptsache wir hatten was zu rauchen!

Nach Feierabend oder Schulschluss, je nachdem, was wir gerade hatfuhr ich mit der U-Bahn zu ihm raus nach Berlin-Hermsdorf.

Leider war das ’ne ganze Ecke von Tempelhof entfernt, wo ich wohnte. Aber das war mir wurscht, ich fühlte mich bei ihm einfach wohler als in meiner kleinen Hochhauswohnung. Schulli machte mich natürlich auch mit seinen Freunden bekannt, die alle Kiffer waren und alle irgendwie gut drauf zu sein schienen. Von harten Drogen wie Heroin und Kokain hielt unsere kleine Bande nichts, und Schulli warnte mich eindringlich davor, dieses Teufelszeug je anzufassen. Hätte ich nur auf ihn gehört! Er lebte nach der Devise: Lieber bekifft als besoffen! Und diese Einstellung teilte ich mit ihm, denn ich konnte betrunkene Menschen oder überhaupt Alkohol nicht ausstehen. Wenn ich Besoffene in der U-Bahn oder auf der Straße traf, machte ich immer einen großen Bogen um sie, weil ich regelmäßig angepöbelt oder vollgelallt wurde, und den Gestank, den die ausdünsteten, fand ich einfach widerlich. So war ich unmerklich in die Kifferscene hineingerutscht und fühlte mich in diesem Kreis akzeptiert und geborgen, und dieses langweilige, ernste und freudlose Leben hatte ein buntes Antlitz bekommen.

Alles hätte in dieser Weise noch irgendwie gut gehen können, wenn nicht eines Tages ein anderer Kumpel von Schulli, welcher auch kein näherer Freund von ihm war, aufgetaucht wäre und „Pillen“ mitgebracht hätte. Es waren LSD-Trips, und ich hatte natürlich schon davon gehört und gelesen. Zur Zeit las ich gerade ein Buch von Carlos Castaneda „Eine andere Wirklichkeit“ und war fasziniert von den Erlebnissen des Autors mit Meskalin und anderen sogenannten „bewusstseinserweiternden“ Drogen und seinem indianischen Meister Don Juan. Schulli, der erfahrene Experte, erklärte mir, daß LSD eine ähnliche Wirkung hätte wie Meskalin, nur daß LSD eben chemischer Herkunft wäre, Meskalin daneben aus natürlichen Pilzen gewonnen würde.

„Man muss nur aufpassen, dass man die Kontrolle über sich behält und dass man nicht zuviel davon schluckt, dann kommt so ein Trip schon echt witzig!“ sagte Schulli immer wieder. Da ich sehr neugierig war, riet er mir, am Anfang nur 1/4 von dem Löschblättchen, auf dem das LSD raufgeträufelt war, einzunehmen, das würde für mich genügen. Auf keinen Fall sollte ich Angst haben, und es wäre ratsam, immer eine Valium-Beruhigungstablette bei sich in der Tasche zu tragen, falls man doch zuviel erwischt hat. Außerdem sollte ich mich vor den „schwarzen Mikros“, auch eine Trip-Art, hüten. Ich wagte den Schritt. Es konnte mir nichts passieren! Keule Schulli war ja bei mir, und zu ihm hatte ich restloses Vertrauen. Und es passierte auch nichts Schlimmes. Ich sah die Welt in leuchtenden Farben, und alles verbog sich wie in einem Ulk-Spiegel auf dem Jahrmarkt, aber ich hatte keine Angst. So ging es die ganze Nacht durch, und wir geisterten durch Berlin-City „auf Pille“ (auf Trip). Am Morgen kam der „Abturn“ (Nachlassen der Wirkung), und ich konnte nicht schlafen. Es war unangenehm, und ich fühlte mich sehr müde und kaputt. Alles war schwitzig und schmutzig, und ich fühlte mich einfach ausgelaugt. Aber am übernächsten Tag war das wieder vergessen.

Mein 16. Geburtstag stand vor der Tür, und ich lud die ganze Clique zu mir nach Hause ein.

Kapitel 4

Geburtstags-Grauen

Die Party lief gut an, ich hatte eine Menge Leute eingeladen, unter anderem auch Freunde von Schulli, aber Schulli selber kam nicht! Ich war sehr enttäuscht, aber ich wollte mir nicht die Stimmung verderben lassen, und so feierten wir drauflos.

Es gab natürlich reichlich zu trinken und zu rauchen. Ich durfte zur Feier des Tages auch mal auf dem Motorrad eines Freundes fahren, und so sausten wir dreimal kurz um unseren Häuserblock und ließen uns den Fahrtwind um die Nase wehen, während sich meine Gäste weiter amüsierten. Wir hörten natürlich die absolute Power-Musik; Genesis, Pink Floyd, Emerson, Lake & Palmer waren ein absolutes Muss in unserer Runde. Bei dieser Musik konnte man so richtig abheben und die Sau rauslassen. Es war eine atemlose, berauschende Stimmung, schade war nur, dass Keule Schulli ausgerechnet an meinem Geburtstag verhindert war.

Später kam ein gewisser Ralph, der gar nicht eingeladen war - ein arroganter und schweigsamer Typ, den ich irgendwann mal in der Disco kennengelernt hatte. Irgendwie musste er von meiner Geburtstagsparty Wind bekommen haben, jedenfalls stand er plötzlich vor der Tür und hatte drei LSD-Pyramiden-Trips in der Tasche. Sie waren grün und ungefähr zwei Zentimeter groß. Es war bereits Abend geworden, die meisten Gäste waren wieder gegangen, und wir waren nur noch zu viert. Einer machte den Vorschlag, Tee zu kochen und die Trips einzuklinken. Ich hatte ein bisschen Bedenken, denn dies wäre das erste Mal, dass ich ohne Schulli LSD nahm, aber die Stimmung war so gut, und die anderen überredeten mich mehr oder weniger, ich würde schon stark genug sein, um die Pille allein zu meistern.