Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen - Axel Hacke - E-Book

Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen E-Book

Axel Hacke

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Beschreibung

Wir leben in aufgewühlten und aufwühlenden Zeiten, die Grundlagen unseres bisherigen Zusammenlebens sind bedroht: Zeit, sich wieder einmal ein paar wichtige Fragen zu stellen. Was bedeutet es eigentlich für jeden Einzelnen, wenn Lüge, Rücksichtslosigkeit und Niedertracht an die Macht drängen oder sie schon errungen haben? Wenn so erfolgreich in der Öffentlichkeit gegen alle bekannten Regeln des Anstands verstoßen wird? Was heißt unter diesen Bedingungen genau: ein anständiges Leben zu führen? Axel Hackes Buch ist kein Pamphlet, denn Pamphlete gibt es genug; es ist vielmehr ein assoziatives Nachdenken über das Zusammenleben der Menschen und die schon von Anton Tschechow gestellte Frage: »Warum leben wir nicht so, wie wir leben könnten?« Es ist ein Plädoyer dafür, die Antwort erst einmal nicht bei anderen, sondern bei sich selbst zu suchen – und dabei vielleicht am Ende ein wenig Demut, auch etwas Neugier auf andere zu entdecken. Denn vermutlich geht es in unserer komplizierten Welt zuallererst nicht um die Lösung aller Probleme. Die hat ohnehin keiner, und wer so tut, als hätte er sie, dem sollte man misstrauen. Sondern es gilt, eben diese Tatsache mit Anstand zu ertragen und sich dabei mit der großen und immer neu zu stellenden Frage zu beschäftigen: Wie wollen wir eigentlich miteinander umgehen?

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Zum Buch

Was bedeutet es für jeden Einzelnen, wenn Lüge, Rücksichtslosigkeit und Niedertracht an die Macht drängen, im Wirtschaftsleben erfolgreich sind, sich im Alltag durchsetzen? Wenn erfolgreich in der Öffentlichkeit gegen alle Regeln des Anstands verstoßen wird? Was heißt unter diesen Bedingungen genau: ein anständiges Leben zu führen?

Axel Hacke erkundet in diesem Buch einen schillernden, für manche von uns vielleicht auch verstaubten, nichtsdestoweniger sehr aktuellen Begriff: Was versteht man heute unter Anstand? Assoziativ, mit vielen Bezügen auf Literatur und Philosophie (von Kästner, Fallada, Camus, Knigge, Kant, Marc Aurel bis zu David Foster Wallace), in beispielhaften Dialogen mit einem Freund, in aufmerksamen Beobachtungen privaten und politischen Geschehens wird klar, dass, wer von Anstand redet, von einem alltagsmoralischen Ideal des Menschen spricht. Es geht um ein Nachdenken über das Zusammenleben der Menschen und die schon von Anton Tschechow gestellte Frage: »Warum leben wir nicht so, wie wir leben könnten?«

Über den Anstand in schwierigen Zeiten ist ein Plädoyer dafür, die Antwort zuerst nicht bei anderen, sondern bei sich selbst zu suchen – und dabei am Ende Demut, auch Neugier auf andere zu entwickeln.

Über den Autor

AXEL HACKE lebt als Schriftsteller und Kolumnist des Süddeutsche Zeitung Magazins in München. Er gehört zu den bekanntesten Autoren Deutschlands, seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien Die Tage, die ich mit Gott verbrachte (Kunstmann 2016).

AXEL HACKE

Über den Anstandin schwierigen Zeitenund die Frage,wie wir miteinanderumgehen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

 

 

 

 

 

FÜR MEINE KINDER

 

 

 

 

Ich sitze mit einem Freund abends in der Kneipe, der Wirt kommt an den Tisch, wir hätten gerne zwei Bier, der Wirt zählt seine Biersorten auf, ich entscheide mich für ein Bier aus den bayerischen Bergen.

Okay, sagt der Freund, das nehmen wir, und der Wirt dreht ab zum Zapfhahn, da sagt der Freund zu mir, sein Okay einschränkend: »Obwohl man das ja eigentlich auch nicht mehr trinken kann …«

»Wieso das jetzt?«, frage ich.

Der Freund erklärt, dass die Brauerei an ihrem Firmensitz für allerhand Umweltsünden verantwortlich sei, dass sie ohne Rücksicht auf Landschaft und Bürgersinn expandiere, dass viele Leute dort das eigene Bier deshalb schon boykottierten und es daher die Frage sei, ob man sich da nicht solidarisieren sollte. »Aber ist ja auch wurscht jetzt«, sagt er dann. »Nicht so wichtig.«

Der Wirt kommt, wir trinken das Bier, reden eine Weile über dies und jenes, leeren die Gläser, der Wirt steht wieder da, wir bestellen noch zwei, ich habe die Geschichte mit den Sünden der Brauerei schon vergessen, halte also einfach mein Glas hoch und nicke, merke jedoch, wie mein Freund nun kein bayerisches Bier bestellt, sondern eines aus Berlin. Oder war es ein westfälisches? Ich weiß es nicht mehr.

Es war ihm also doch wichtig. Hat ihm keine Ruhe gelassen. Er ist, finde ich, ein anständiger Kerl, er will nicht sein Bier auf Kosten der Welt trinken oder jedenfalls der Umwelt in den Bergen, er will ein anständiger Kerl sein, und er zieht es durch, auch bei einem Bier zieht er es durch, das Anständigsein.

Jedenfalls beim zweiten Bier.

Das gefällt mir, denke ich.

Über das Anständigsein habe ich, ehrlich gesagt, nie besonders nachgedacht, es war mir immer etwas selbstverständlich Gutes. Anständig zu sein bedeutet, so fand ich, Rücksicht auf andere zu nehmen, und zwar auch dann, wenn einem gerade nicht unbedingt danach zumute ist, also: in der Trambahn für ältere Menschen aufzustehen, auch wenn man selbst ein wenig müde ist; einen kranken Freund zu besuchen, auch wenn man eigentlich keine Zeit hat; sich in einer Schlange nicht vorzudrängeln, auch wenn man es eilig hat; eine Beerdigung zu besuchen, um den Hinterbliebenen beizustehen, auch wenn man dazu gerade keine Lust hat …

Einfache Dinge, zunächst einmal, zum Beispiel.

Sich nicht selbst in den Vordergrund zu stellen, sondern zu bedenken, dass andere Menschen nicht weniger Rechte im Alltag und im Leben haben als ich. Nicht zu vergessen, dass vieles, was ich tue, Rückwirkungen auf andere hat. Deshalb gehören der Freund und sein Bier auch mitten in dieses Thema hinein: Weil es für mich zum Begriff des Anstands gehört, nach Möglichkeit zu bedenken, welche Folgen das eigene Verhalten für andere haben kann.

Nicht, dass ich diesen Ansprüchen genügt hätte, davon kann keine Rede sein. Kein Mensch ist immer auf der Höhe seiner eigenen Leitlinien, ich schon gar nicht. Manchmal erreicht man nie das Niveau, auf dem man gerne wäre. Darum geht es hier auch gar nicht.

Aber ich empfand es doch als großes Lob, wenn man über einen anderen sagte: ein anständiger Kerl. Offen gestanden glaubte ich, dass die meisten Menschen ein Gefühl dafür in sich tragen: einen Sinn dafür, wie es ist, nicht allein auf der Welt zu sein, und was man dafür tun muss, dass man vernünftig mit anderen zusammenlebt.

Ich glaube es immer noch.

Aber es gibt ein paar Zweifel.

Denn es schwappt ja seit einer Weile nicht nur eine Woge von Anstandslosigkeit um die Welt, sondern ein ganzer Ozean tobt. Wir leben, dies nur mal als erstes Beispiel, in einer Welt, in der ein Verlust jedes menschlichen Anstands einen Mann nicht daran gehindert hat, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika zu werden. Sondern in der gerade diese Zurschaustellung der eigenen Niedertracht ihm den Weg in dieses Amt sogar geebnet zu haben scheint.

Man muss nicht all die Widerwärtigkeiten wiederholen, die Donald Trump schon von sich gegeben hat, das sind ein paar zu viele, und es reicht vielleicht, ja, es reicht ganz sicher, wie Meryl Streep es gleich zu Beginn des Jahres 2017 bei der Verleihung der Golden Globes in Los Angeles getan hat, eine einzige in Erinnerung zu rufen, die für alle anderen steht: wie Mister Trump vor Publikum einen kranken und deshalb körperlich behinderten Journalisten nachäffte. Es habe ihr Herz gebrochen, als sie das gesehen habe, sagte Streep, »und ich kann es immer noch nicht aus meinem Kopf bekommen«.

Und wir leben auch sonst inzwischen mit vielem, das eigentlich unerträglich ist.

Der sogenannte Shitstorm, den mancher Prominente nach vielleicht nicht besonders klugen und jedenfalls voreiligen Äußerungen über sich ergehen lassen muss, ist ein Ereignis, das uns noch vor gar nicht langer Zeit geradezu sprachlos vor Entsetzen machte. Der Ton, der in vielen Internetforen herrscht, die Beleidigungen und Lügen, die dort Alltag geworden sind – man hat sich schon daran gewöhnt. Jeder, der auch nur ein wenig älter ist, erinnert sich an heftigste, rabiateste politische Diskussionen aller Art, in denen auch die Grenzen dessen überschritten wurden, was ich Anstand zu nennen mir angewöhnt hatte.

Aber niemals, nicht einmal annäherungsweise, in diesem Maß.

Und was ist mit diesem unbegreiflichen Ausmaß von Schäbigkeit, das wir auf unseren Straßen sehen, mit den Leuten zum Beispiel, die im Jahr 2015 ungestraft einen Galgen für Angela Merkel und Sigmar Gabriel durch Dresden trugen?

Was ist mit dieser Geschichte hier?

Als im Frühjahr 2016 das Auto einer Familie aus Baden-Württemberg kurz vor dem Autobahnkreuz Nürnberg-Ost von einem Lkw mehr oder weniger zerquetscht wurde, waren die Mutter und drei kleine Kinder sofort tot, der Vater wurde schwer verletzt aus dem Wrack geschnitten. Die Autobahn war vier Stunden lang gesperrt, und als der Verkehr auf einer Spur wieder freigegeben wurde, beobachtete die Polizei, wie viele Fahrer äußerst langsam an der Unfallstelle vorbeifuhren, um mit ihren Handys zu filmen. Ganz Ähnliches geschah im Mai 2017 auf der A6 nach einer Unfallserie: Autofahrer stiegen auf der Autobahn aus ihren Autos, schlossen sie ab und gingen zur Unfallstelle, um dort zu filmen. Ihre verschlossenen Wagen versperrten derweil Rettern den Weg.

Oder was ist mit dem jüngeren, gut angezogenen Mann, der mit seinem großen Auto um die Ecke biegt, haarscharf an einer Mutter (eine gute Bekannte von mir) mit ihren zwei Kindern vorbei, die an einem Zebrastreifen bei Grün über die Straße gehen – und der, als die Mutter auf die für sie grüne Ampel zeigt, die Scheibe herunterlässt und sagt: »Halt’s Maul, Schlampe!«

Gewiss, das kann man nicht alles in einen Topf werfen, Menschen mit miserablen Umgangsformen und Rohlinge aller Art hat es schon immer gegeben, wird es auch immer geben.

Aber es ist doch im Moment so, dass fast jeder eine solche Geschichte zu erzählen hat, und das könnten am Ende zu viele Geschichten dieser Art sein, nicht wahr? Und die Frage wäre: Warum brechen sich solche Dinge Bahn in einer so reichen Gesellschaft wie unserer? Würde man solchen Zivilisationsverlust nicht in Zeiten der Not und des Überlebenskampfes erwarten? Was drängt da nach oben, ausgerechnet in unserer Zeit?

Das ist alles erst mal nur so ein Gefühl, mit dem wir uns näher beschäftigen wollen.

Ein Leser schrieb mir, der Verlust des Anstandes beschäftige ihn sehr: »Wenn man heute sagt: ›Das tut man doch nicht!‹, dann kommt die Antwort: ›Wieso, das ist doch legal.‹ Meiner Meinung nach wird es Zeit, diese weichen Werte näher zu beleuchten. Sie sind es, die unser Leben lebenswert machen, nicht die Gesetze.«

Er fügte hinzu, er habe gerade im Radio ein Gespräch mit Georg Stefan Troller gehört, dem Journalisten, Schriftsteller und Dokumentarfilmer, der als Jude 1938 mit knapp siebzehn Jahren aus Wien vor den Nazis fliehen musste. (Heute würde man ihn einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling nennen.) Troller wurde gefragt, wann er den Nationalsozialismus im Alltag zum ersten Mal zu spüren bekommen habe, und er schilderte Szenen wie diese: Gassenjungen hätten ihm, weil er Jude war, die Mütze entrissen und auf einen Baum geworfen, unerreichbar für ihn – immer öfter habe es solche Dinge gegeben. Der Leser schrieb dazu: »So etwas Ähnliches sehen wir heute auch. Zunächst verschwinden die zivilen Konventionen, der Ton wird rauer und unverschämter. Anstand, Moral, Ethik sind sehr weitgehend auf der Strecke geblieben. Dann folgen Taten.«

Man muss nur einmal das im Jahr 2015 eröffnete NS-Dokumentationszentrum in München besuchen, um zu sehen, wie schnell so etwas gehen kann, wie damals, in den Zwanziger- und Dreißigerjahren, plötzlich der Anstand verschwand, ganz normale Bürger der Stadt auf offener Straße attackiert wurden und ihr Leben nicht mehr führen konnten.

Für den, der das für grandios überzeichnet und hysterisch hält, hier einige kurze beunruhigende Nachrichten: Während der Europäischen Makkabiade 2015, der größten jüdischen Sportveranstaltung Europas, sah sich die Jüdische Gemeinde in Berlin veranlasst, den Teilnehmern vom Tragen der Kippa in einigen Berliner Stadtteilen abzuraten, es sei zu gefährlich – ein Umstand, an dem sich bis heute nichts geändert hat. Denn zwei Jahre später las ich in der Süddeutschen Zeitung die Geschichte des jüdischen Schülers Paul, der seine Berliner Schule verlassen musste, weil er dort gemobbt, beschimpft, bedroht und geschlagen worden war – übrigens, dem Artikel zufolge, ohne, dass man ihm von Seiten der Schulleitung und der Lehrer angemessen geholfen hätte. Die Zeitung zählte über diesen einen hinaus eine Reihe Fälle von Gewalt gegen Juden auf (und in allen, auch dem des Schülers Paul, hatten die Täter arabische oder türkische Wurzeln). Oder: In dem Münchner Viertel, in dem ich lebe, wurde im Mai 2017 ein Mann auf offener Straße zusammengeschlagen, weil er schwul ist; auch solche Attacken sind keine Einzelfälle. »Dass man sich Sprüche bis hin zur Androhung von Gewalt gefallen lassen muss«, habe er in letzter Zeit vermehrt festgestellt, sagt Jens Spahn, Bundestagsabgeordneter, Staatssekretär im Finanzministerium und CDU-Präsidiumsmitglied, der mit seinem Partner in Berlin zusammenlebt. Oder: Im Jahr 2016 gab es in Deutschland fast tausend Anschläge auf Flüchtlingsheime. Oder: Im Frühjahr 2017 stellte die Sport-Bild auf zwei Seiten Beispiele für die zunehmende Verrohung von Fußballfans zusammen, alles Ereignisse aus wenigen Tagen. In Kopenhagen wurde ein Spieler mit toten Ratten beworfen; in Norwegen ein Linienrichter mit Pfefferspray angegriffen; in Saint-Étienne ein Stadion von Hooligans gestürmt, in dem ein Spiel unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden musste (zur Strafe für Ausschreitungen Wochen zuvor); in Frankfurt hing ein riesiges Plakat mit der Aufschrift »Für jedes Stadionverbot … Bulle Tod!«; in Eindhoven und Hamburg wurden Spiele wegen der Zündung von Rauchbomben unterbrochen – und das war bei Weitem nicht alles.

Kaum habe ich das hingeschrieben, lese ich – es ist Juni 2017 – im Spiegel über den veränderten Alltag in Großbritannien: »Ohne dass die britischen Medien groß darüber berichten, werden inzwischen täglich muslimische Mädchen bespuckt, Tüten mit Kotze auf Autos von Muslimen geworfen, Schweinefleisch unter deren Scheibenwischer geklemmt.«

Michelle Obama hat, noch als ihr Mann im Amt war, im Herbst 2016 in einer berühmt gewordenen Rede einmal an die grundlegenden Regeln menschlichen Anstands erinnert, the basic standards of human decency.

Aber wie lauten die denn genau?

Machen wir uns an die Arbeit, beleuchten wir mal »diese weichen Werte« genauer, die mit dem Begriff des Anstands keineswegs selbstverständlich, klar und für alle gleich verständlich gefasst zu sein scheinen.

Fast jedem, den ich nach diesem Wort frage, fällt etwas anderes dazu ein.

Ein Freund, der die Zeugnisse seines Sohnes an einem bayerischen Gymnasium betrachtete, fand darin den Satz: »Er hat sich immer anständig verhalten.« Was das nun wieder solle, fragte er, so ein verstaubtes, muffiges Wort. Es klinge nach den Fünfzigerjahren, nach einem Satz, den er als Kind zu oft gehört habe: »Benimm dich anständig! Setz dich anständig hin!« Es stehe für all das Spießige jener Generation seiner Eltern, die so oft vor allem um keinen Preis auffallen wollte und deshalb über so vieles nicht mehr nachdachte, sondern nur noch an erstarrten Regeln klebte.

Ein anderer erregt sich sofort darüber, dass Uli Hoeneß wieder Präsident des FC Bayern geworden sei, ein Krimineller, der sich nicht schäme, wieder ein solches Amt zu bekleiden. Auf meinen Einwand, er habe doch seine Strafe verbüßt und sei ein Mensch, der sich vielen gegenüber sehr anständig verhalten habe, höre ich: Gut und schön, dennoch hätte er wissen müssen, dass man sich nach einer solchen Tat aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen habe; ein Fußballfunktionär sei ein Vorbild für viele junge Menschen auf den Sportplätzen.

Ein Dritter erzählt von seiner Frau, die, in Gegenwart ihres vierjährigen Kindes, von einem Vater mit unflätigen Beleidigungen überschüttet wurde, als sie ihn im Kindergarten darauf aufmerksam machte, dass sein Sohn ganz offensichtlich an einer ansteckenden Krankheit leide, und ihn höflich fragte, ob es für alle Beteiligten nicht besser wäre, wenn das Kind zu Hause bliebe.

Was ist das denn nun tatsächlich: Anstand?

Oder: Was könnte es sein?

Jeder, der sich näher mit diesem Begriff beschäftigt, erlebt einen Schock: Es war nämlich Heinrich Himmler, der seiner Tochter 1941 ins Poesiealbum schrieb: »Man muss im Leben immer anständig und tapfer sein und gütig.« Und der in einer seiner beiden Posener Reden im Oktober 1943 über die Vernichtung der europäischen Juden vor nationalsozialistischen Funktionären und SS-Offizieren sagte:

»›Das jüdische Volk wird ausgerottet‹, sagt ein jeder Parteigenosse, ›ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.‹ Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammenliegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.«

Was meinte er?

Man versteht das besser, wenn man ein weiteres Zitat aus der Rede ganz liest, auch wenn es schwerfällt, weil es tatsächlich monströs ist.

»Ein Grundsatz muss für den SS-Mann absolut gelten: ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und zu sonst niemandem. Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10 000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird. Wir werden niemals roh und herzlos sein, wo es nicht sein muss; das ist klar. Wir Deutsche, die wir als Einzige auf der Welt eine anständige Einstellung zum Tier haben, werden ja auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung einnehmen, aber es ist ein Verbrechen gegen unser eigenes Blut, uns um sie Sorge zu machen und ihnen Ideale zu bringen, damit unsere Söhne und Enkel es noch schwerer haben mit ihnen.«

Dies gelesen habend, könnte man den Begriff auf der Stelle für in jeder Hinsicht untauglich erklären: Wenn selbst einer der größten Massenmörder der Weltgeschichte sich selbst und seine Kumpane für anständig hält und ihnen den Anstand predigt – was soll man dann noch mit einem solchen Wort? Und tatsächlich haben viele den Anstand zu einer jener Sekundärtugenden erklärt, mit denen man auch ein Konzentrationslager führen könne, haben ihn kontaminiert genannt, vergiftet, untauglich für jede moralische Diskussion. Ein Terminus, der so schwammig und relativ sei, dass selbst die größten Menschheitsverbrecher ihn für sich in Anspruch nehmen könnten: sinnlos.

Das kann man so sehen.

Andererseits: Ich möchte doch darauf aufmerksam machen, dass es immer zu den wesentlichen strategischen Grundsätzen der Feinde von Freiheit, Wahrheit und Gerechtigkeit gehörte, sich Begriffe, die nicht ihre waren, zu eigen zu machen, sie einfach umzudrehen, ihnen so ihren eigentlichen Sinn zu nehmen – und ihren Kampf mithilfe dieses Wortraubs erfolgreich zu führen. In George Orwells berühmtem Roman 1984 heißt das Propagandaministerium Ministerium für Wahrheit, die Parolen der herrschenden Partei und ihres Vorsitzenden, des Großen Bruders, lauten Freiheit ist Sklaverei, Krieg ist Frieden, Unwissenheit ist Stärke, und die Folterlager des Systems werden Lustlager genannt. Das heißt: Wörter bekommen einfach neue, gegenteilige Bedeutungen, sodass sie am Ende nichts mehr aussagen. Sie werden für jene, denen diese Wörter eigentlich gehörten, unbenutzbar. Die Gegner des Großen Bruders haben schlicht und einfach keine Sprache mehr.

In China, habe ich mal gelesen, gibt es dafür ein bekanntes Sprichwort. Es lautet »einen Hirsch für ein Pferd ausgeben« und geht auf einen Mann namens Zhao Gao zurück, Obereunuch und Premierminister am Hof des chinesischen Kaisers vor mehr als zweitausend Jahren. Er ließ eines Tages den vor dem Kaiser versammelten Ministern einen Hirsch vorführen: »Eure Majestät!«, sagte er. »Ein Pferd für Euch.« Jene unter den Ministern, die nun darauf beharrten, es handele sich nicht um ein Pferd, sondern um einen Hirsch, aber auch jene, die einfach nur erschrocken schwiegen, wurden hingerichtet. Die anderen hatten sich unterworfen, sie durften bleiben.

So funktionieren Diktaturen noch heute, auch das China unserer Zeit, dessen Präsident die globale Vernetzung preist, während es in seinem Land keinen freien Zugang zum Internet gibt, auch die Türkei Recep Tayyip Erdoğans, in der fast jeder ein Terrorist ist, der gegen ihn auftritt, und ebenso das Denken Donald Trumps, der im Wahlkampf seine Gegnerin Hillary Clinton so lange als Betrügerin verleumdete, bis viele tatsächlich glaubten, irgendetwas werde schon dran sein an seiner Behauptung.

Ich würde also einen Begriff, der mir etwas bedeutet, nicht einfach aufgeben, das wäre vielleicht schon der Beginn der Kapitulation vor jenen, deren Verhalten ich als unanständig empfinde. (Was ich von Autokraten, Diktatoren und Verbrechern halte, geht natürlich über den Begriff unanständig weit hinaus.)

Doch die eingangs aufgeworfene Frage war ja, ob der Verlust des Anstands nicht solchen Leuten den Weg zur Macht ebnet. Ob also die Tatsache, dass jedes Gefühl für Anstand verloren geht, eben auch schlimmstenfalls das sein kann: die erste Stufe auf dem Weg in die Diktatur.

Aber hat übrigens (um darauf noch mal zurückzukommen) dieses Bier, das ich mit meinem Freund trank, eigentlich wirklich mit Anstand zu tun?

Um darauf zu antworten, bräuchten wir jetzt doch mal fürs Erste eine halbwegs tragfähige Definition dessen, was wir unter Anstand verstehen. Oder wenigstens einige weitere Assoziationen zu dem Begriff.

Vielleicht fangen wir so an, hilfsweise, alles Weitere soll sich ja erst noch erweisen: Unter Anstand würde ich einen Sinn für Gerechtigkeit verstehen, auch ein grundsätzliches Gefühl der Solidarität mit anderen Menschen, für Fairness, also für den Gedanken, dass man sich an die Regeln auch dann hält, wenn mal gerade keiner guckt, für Ehrlichkeit also und Offenheit, auch sich selbst gegenüber. Und Aufrichtigkeit: zu handeln und zu reden ohne Hintergedanken. Fähig zu sein, das eigene Reden und Handeln kritisch zu sehen. Und den Willen zu haben, sich an diese Gebote zu halten, so gut es geht.

Dazu eine einfache Geschichte.

Bei der Tour de France 2003 führte die 15. Etappe zu einer Berg-Ankunft in Luz Ardiden, einem Skigebiet in den französischen Pyrenäen. An der Spitze fuhren der Amerikaner Lance Armstrong, der Deutsche Jan Ullrich und der Baske Iban Mayo. In einer Rechtskurve fuhr Armstrong zu nah an das Spalier der Zuschauer, verhakte sich mit dem Bremshebel in der Plastiktüte eines Mannes aus dem Publikum, stürzte und riss Mayo mit.

Ullrich hatte zu diesem Zeitpunkt in der Gesamtwertung nur 15 Sekunden Rückstand auf den führenden Armstrong. Er hätte, wäre er einfach weitergefahren, diesen Rückstand verkürzen, möglicherweise aufholen können.

Aber er blieb stehen.