Über den Wolken ist der Himmel immer blau - Bruce Kirkby - E-Book
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Über den Wolken ist der Himmel immer blau E-Book

Bruce Kirkby

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Beschreibung

Bruce Kirkby und seine Frau, früher leidenschaftliche Abenteuerreisende, finden sich einige Jahre nach der Geburt ihrer beiden Söhne in einem Alltag wieder, der von Terminen, Arbeit und dem Smartphone diktiert wird. Sie sehnen sich nach mehr Zeit und Aufmerksamkeit füreinander, besonders für ihren autistischen Sohn Bodi. Für die Suche nach einem anderen Leben sind sie bereit, alles hinter sich zu lassen: Zu viert brechen sie zu einer abenteuerlichen Reise in den Himalaya auf, wo sie drei Monate lang in einem abgeschiedenen buddhistischen Kloster leben. Bei den Mönchen in Zanskar finden sie, was ihnen fehlte: ein einfaches, achtsames Leben, unerwarteten Zugang zu Spiritualität und Meditation sowie ein tieferes Verständnis für Bodi.

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Seitenzahl: 550

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Impressum

© eBook: 2021 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2021 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

Die Originalausgabe ist 2020 unter dem Titel „Blue Sky Kingdom: An Epic Family Journey to the Heart of the Himalaya“ bei Douglas&McIntyre LtD. erschienen.

www.douglas-mcintyre.com

POLYGLOTT ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Redaktion und Projektmanagement: Caro Kania, Anne-Katrin Scheiter

Lektorat: Carina Heer, Jörn Rauser

Korrektorat: Renate Nöldeke

Covergestaltung: Independent Medien Design, München, Horst Moser (Artdirection)

eBook-Herstellung: Christina Bodner

ISBN 978-3-8464-0857-5

1. Auflage 2021

Bildnachweis

Fotos: Bruce Kirkby

Zeichnungen: Bodi Kirkby

Kartografie: Stuart Daniel

Syndication: www.seasons.agency

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Für die Novizen des Karsha Gompa, Lama Wangyal, und vor allem für Pitter, Big B und Tiny T.

PROLOG

LEINEN LOS

Kimberley British Columbia

Wie ein Tiger, der sich an seine Beute anpirscht, schlich sich der dreijährige Taj vor Sonnenaufgang in unser Schlafzimmer. Lautlos bewegte er sich über den sonst knarzenden Boden. Dann setzte er zum Sprung an. Christines Schrei weckte Bodi auf, der daraufhin mucksmäuschenstill an der Tür erschien.

„Können wir unsere Fernsehzeit haben?“, bat er dringlich, und bezog sich dabei auf das 30-Minuten-Kontingent der beiden.

„Bi-itte!“, flehte Taj.

„Ihr wisst aber, das ist das letzte Mal, oder?“, fragte Christine. „Wir brechen in ein paar Stunden auf. Und ich will nichts hören, wenn es nachher Zeit ist, den Fernseher auszuschalten.“

„Okay, Mom. Danke.“

Christine schaltete den Fernseher ein, und die beiden machten es sich in unserem Bett bequem – zwischen ihnen erhob sich eine Art Gebirge aus Bettdecken, denn Bodi konnte Tajs Gezappel nur schwer ertragen. Als ich nach unten lief, um Kaffee zu machen, wurde mir klar, dass keiner der beiden eine Vorstellung von dem hatte, was vor uns lag. Wie auch?

Natürlich hatten Christine und ich die bevorstehende Reise mit ihnen besprochen, aber die zeitlichen und räumlichen Dimensionen lagen jenseits ihrer Vorstellungskraft. In den kommenden Monaten würden wir beide ihre einzige Orientierung sein.

Kurze Zeit später tauchte das Fernsehteam auf, mit Kaffee aus Pappbechern bewaffnet und frustriert, dass sie verpasst hatten, wie wir aufgestanden waren. Gemeinsam mit den ersten Rotkehlchen des Frühlings waren sie vor drei Tagen in Kimberley gelandet. Ihr Flug aus Los Angeles fiel mit dem Einsetzen der Schneeschmelze in den nahen Purcell Mountains zusammen. Sie waren jung und enthusiastisch – und zertrampelten die violetten Krokusse hinter unserem Haus, während sie rauchten und Wasser aus Plastikflaschen tranken. Die meisten hatte diese Reise nach Kanada zum ersten Mal ins Ausland geführt.

Die ganze Crew bestand aus für uns schockierend vielen Leuten – nämlich sechzehn an der Zahl: drei Kameramänner, zwei Tontechniker, vier Redakteure, zwei Produktionsassistenten, ein Datenmanager und vier, die weiß Gott was taten. Wes, ein junger Australier, war der Chef.

Obwohl er mit seinem gegelten Haar und dem schneidigen Outfit eher wie der Frontmann einer Boyband aussah, war er mir wirklich sympathisch, denn er strahlte echte Begeisterung aus.

Ich versammelte die Crewmitglieder in unserer Küche und legte jedem eine Khata um den Hals, einen traditionell buddhistischen Seidenschal, der im Himalaja bei Ankunft und Abreise überreicht wird. Die Schals hatten mir vor Jahrzehnten Sherpa-Gefährten auf dem Everest geschenkt. Damit hatten sie mir Glück und ein sicheres Vorankommen gewünscht, und in diesem Sinne gab ich sie nun weiter.

Danach wurden die schweren Kameras aufgestellt. Ein Tontechniker klebte uns schnurlose Mikrofone in die Innenseite unserer Hemden, während draußen eine Drohne wie ein riesiger Moskito von Fenster zu Fenster schwirrte.

„Tut einfach so, als ob wir nicht hier wären“, sagte Wes.

Im Ernst?

Bodi und Taj folgten diesen coolen Fernsehtypen auf Schritt und Tritt, fasziniert von ihren lässigen Mützen und ihren Chucks. Christine und ich waren zu beschäftigt, um dem Ganzen viel Aufmerksamkeit zu schenken. Wir widmeten uns schnell wieder den Listen, mit denen wir unsere Handflächen und Unterarme vollgeschrieben hatten: Es ging um unsere Ausrüstung für die Reise, die an der Hintertür unseres Zuhauses in Kimberley beginnen und uns in den Norden bis in den Polarkreis hinein, durch das subtropische Asien und schließlich hoch in den Himalaja bringen sollte.

Unsere Packstrategie war simpel. Wenn wir alles, was wir brauchten, in zwei riesige Seesäcke stopften, könnte ich beide tragen – einen auf dem Rücken und einen auf den Armen. So hätte Christine ihre Hände für die Kinder frei, und wir könnten uns durch jede Situation navigieren, die auf unserer Reise zu erwarten war: Bahnhöfe, Märkte, geschäftige Straßen und überlaufene Hostels.

Zwei Stunden später, nachdem wir die Füße der Jungs in winzige Wanderschuhe gequetscht hatten, bugsierte Christine sie zur Hintertür hinaus. Bevor ich die Tür abschloss, war meine letzte Tat, das iPhone auszuschalten und es in einer der Küchenschubladen zu versenken.

Jeder, der mir in den nächsten sechs Monaten eine E-Mail schreiben würde, bekäme diese automatische Antwort: Im November zurück. Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten.

Unter unseren Füßen knirschte der Frost, und eine dünne Decke aus spätem Schnee bedeckte die beiden auf unseren rostigen Pick-up geschnallten Kanus. Nach einer Stunde Autofahrt erreichten wir den Oberlauf des Columbia River, wo ich aus zwei jungen Bäumchen Spieren machte, um damit die beiden Kanus zu einem stabilen Katamaran zu verbinden. Als wir die Kanus beladen und unsere Schwimmwesten angezogen hatten, brannte die junge Maisonne auf uns herunter.

„Indien, zehn Kilometer!“, verkündete Taj und reckte seinen Arm gen Himmel.

„Gibt es da unten auch Fische?“, fragte Bodi und schielte über das Dollbord, während ich versuchte, Sonnencreme auf seinen Wangen zu verteilen.

„Regenbogenforellen?“, mutmaßte Christine.

„Oh, ja!“, rief Bodi, sprang auf und schnappte sich seine Angel. „Heute Abend essen wir Regenbogenforelle.“

Wir paddelten gen Norden, dem trägen Fluss durch sumpfige Gebiete folgend. Akustisch wurden wir von dem Gesang der Rotschulterstärlinge begleitet, hier und da unterbrochen von dem knallartigen Aufklatschen eines Biberschwanzes. Die Fernsehcrew umkreiste uns in Motorbooten. Wie Hunde, die einen Park zum ersten Mal betraten, beschnupperten wir uns noch und loteten unsere Grenzen aus.

Christine wühlte in ihrer Tasche, reichte den Kindern Wasserflaschen und forderte sie zum Trinken auf. Ihren Wunsch ignorierend, nahm Bodi sein kleines Paddel und spritzte damit im Wasser herum. Taj schwang seine Angel hin und her und zog den Köder – ohne Haken – rasselnd über Bootsrumpf und Köpfe.

Nach der Mittagspause tauchten am Horizont Gewitterwolken auf und die Motorboote kamen schnell zu uns herangefahren. Kameras wurden geschultert, und eine der TV-Redakteurinnen setzte zu einem Spontaninterview an, wie es beim Fernsehen so schön heißt.

„Blitze!“, stieg sie in besorgtem Ton ein. „Sind die Kinder in Gefahr?“

Ich tat mich schwer damit, ernsthaft beunruhigt zu sein – wegen einer Handvoll dunkler Wolken in der Ferne –, aber die offensichtliche Besorgnis der Redakteurin löste bei Bodi Panik aus. Christine versuchte, ihn zu beruhigen. Taj schwang seine Angel, und ich paddelte schweigend voran. Unterdessen liefen die Kameras weiter.

An diesem Abend schlugen wir unser Zelt auf einem langen Sandstrand auf, den der Fluss bei niedrigem Wasserstrand freigab. Nachdem sie uns dabei gefilmt hatten, wie wir uns über einem Feuer aus Treibholz Pasta zum Abendessen kochten, machte sich die Filmcrew mit ihren Motorbooten in Richtung eines Motels davon. In der plötzlichen Stille – nachdem sie weg waren – bauten Christine und ich das Zelt auf. Vom indigoblauen Himmel hörten wir die Sterne flüstern. Wir putzten den Jungen gerade die Zähne, als es in der Nähe aufheulte.

„Wölfe!“, flüsterte Christine. „Sie segnen unsere Reise.“

„Scheiße!“, rief Bodi.

„Scheiße sagt man nicht, Bodi“, sagte Taj, fest an Christines Bein geklammert.

Das Rudel lief nah an unserem Zelt vorbei, wie Geister glitten sie zwischen den Erlen hindurch. Das flüchtige Auftauchen eines canis lupus hatte ich schon immer als gutes Omen betrachtet, etwa so, wie wenn man einen herzförmigen Stein findet oder das Nordlicht sieht. Also nickte ich dankbar in Richtung der vorbeiziehenden Schatten.

Nach fünf Tagen auf dem Columbia River erreichten wir die Holzfällerstadt Golden, wo wir die Kanus einlagerten, unsere Seesäcke zur transkanadischen Bahn schleppten und einen Zug in Richtung Küste bestiegen.

In Vancouver brachte uns ein Taxi zum Industriehafen, wir reihten uns ein in eine Schlange aus 18-rädrigen Lastwagen, die Frachtcontainer transportierten. Christine schluckte, als sie den schwarzen Rumpf der „Hanjin Ottawa“ erblickte – drei Fußballfelder lang und mehr als zehn Stockwerke hoch – und trotzdem war sie nach heutigen Maßstäben recht klein. Dieses Schiff würde 5000 Container – und uns – über den Pazifik bringen.

Am anderen Ende einer beängstigend langen Gangway wartete ein kleiner Mann in hellbrauner Uniform und mit orangefarbenem Schutzhelm auf uns. Vier goldene Balken zierten seine Schulterklappen.

„Gott sei Dank sind Sie keine Schweizer“, bellte er. „Heutzutage sind es meistens Schweizer, die per Containerschiff reisen. Aber Kanadier sind nicht ganz so pingelig, oder?“

Über seine Lesebrille hinweg schaute er uns prüfend an und stellte sich als Kapitän Huth vor, bestand aber im selben Atemzug darauf, dass wir ihn stattdessen mit dem deutschen Titel „Kapitän Klugscheißer“ anreden sollten. Er hielt inne, um unseren Söhnen die Hand zu schütteln, und fügte hinzu: „Ich glaube, hier haben wir noch zwei Klugscheißer, oder?“ Dann winkte er uns mit einer knappen Willkommensgeste die Gangway hinauf.

Nur vier Mitglieder der Fernsehcrew (zwei Kameramänner, ein Tontechniker und ein Redakteur) würden uns begleiten. Wes und die anderen wollten mit dem Flugzeug über den Pazifik fliegen und uns in zwei Wochen in Busan, Südkorea, treffen.

Als wir an Bord gingen, stieß einer der Kameramänner einen Pfiff aus, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Klugscheißer war außer sich. „Die einzigen Dinge, die an Bord dieses Schiffes pfeifen dürfen, sind der Wind und ich“, schimpfte er. Unter Seeleuten gilt Pfeifen als unheilvoll, denn es soll den Wind drehen, und außerdem munkelt man, es sei das Signal gewesen, mit dem die Meuterei auf der Bounty ihren Anfang nahm. Der Kameramann versprach also, nicht mehr zu pfeifen, solange er sich auf dem Boot befand.

„Das ist kein Boot“, brüllte Klugscheißer. „Es ist ein Schiff!“

Ein Aufzug brachte uns auf Ebene 6 des Überbaus, an eine Tür, auf der „Kajüte des Eigentümers“ stand. Christines Augen leuchteten, als sich die Tür öffnete und eine Suite mit Teppichboden, Sofas, Holzvertäfelung und gedämpftem Licht zu sehen war.

„Einen solchen Luxus habe ich nicht erwartet“, gab sie zu. „Ich dachte irgendwie immer, dass wir auf harten Pritschen schlafen würden. In einem feuchten Kielraum oder so. Voller Ratten.“

Am nächsten Morgen legte die „Hanjin Ottawa“ ab. Bugstrahlruder stießen den turmhohen Rumpf von der Anlegestelle ab, dann schwang sich der riesige Zehnzylindermotor des Schiffes – der eine Kleinstadt mit Strom hätte versorgen können – in einen tiefen, donnernden Rhythmus ein, der bis zu unserer Ankunft in Asien unverändert bleiben würde.

Ein paar Stunden später pflügten wir an der Stadt Victoria vorbei, und ein kleines Schnellboot legte längs der „Hanjin“ an. Eine Strickleiter wurde heruntergelassen und ein Mann in Marineuniform, der Hafenlotse, tauchte neben uns auf dem Deck auf. Nachdem er unseren Söhnen zum Abschied die Haare verwuschelt hatte, schwang er sich über die Reling, kletterte ein Stück herunter und federte sich mit den Füßen am Rumpf ab, während das Schiff weiterstampfte. Schließlich sprang er mit einem Manöver, das eines James Bond würdig gewesen wäre, in das wartende Schnellboot und jagte davon.

Kurz darauf verschwand das Land hinter uns. Und es wurde kälter. Meer, Himmel, Nebel und Wellen verschmolzen ineinander, und wir tauchten in ein Kaleidoskop von Grün und Blau ein.

Zehn Jahre zuvor waren Christine und ich nach Kimberley gezogen, eine schläfrige Kleinstadt mit nur einer Ampel, im Herzen der Interior Mountains in der Provinz British Columbia, wo man noch mit Kaminholz heizt und Gefrierschränke mit Elchfleisch befüllt. Wir kauften ein heruntergekommenes Bergarbeiterhaus, fuhren einen rostigen Pick-up und sorgten nicht für das Alter vor. Geld spielte in unserem Leben keine zentrale Rolle, und ganz bestimmt waren wir nicht reich – zumindest nicht in den Augen unseres Steuerberaters.

Nachdem ich, noch ein paar Jahre zuvor, 1990 meinen Abschluss in Technischer Physik gemacht hatte, kündigte ich nach nur vier Monaten meinen Job als Datenbankprogrammierer. Es war ungleich befriedigender, Schlauchboote durch die wilden Untiefen des nahen Ottawa River zu lenken. Dass ich auf diese Weise 95 Prozent meines Einkommens einbüßte, kümmerte mich nicht.

Es folgten herrliche, sorgenfreie Sommer in der Arktis, in denen ich Kanuausflüge und Raftingtouren auf den Flüssen des hohen Nordens leitete. Im Winter paddelte ich an den Küsten der Karibik entlang, fuhr Ski in den Alpen und radelte durch Asien. Nach und nach nahmen meine Expeditionen dann immer größere Ausmaße an: Auf einem Kamel durchquerte ich die arabische Wüste, fuhr in einem Raft durch die Schlucht des Blauen Nils in Äthiopien und begleitete ein kanadisches Team auf den Everest, wobei ich dafür zuständig war, Satelliten-Updates an die Sponsoren zu senden.

Als ich beschloss, ein Buch über diese Reisen zu schreiben, schien das ein zweifelhaftes Unterfangen zu sein, da ich in der Schule nicht nur in Englisch, sondern auch im Maschinenschreiben eher schlecht gewesen war. Doch ein Verlag kaufte das Manuskript, Lektoren feilten mit mir an meinen Sätzen, Kritiker lobten das Buch, und zu meiner Überraschung wurde es tatsächlich gelesen. Ein paar Jahre später schrieb ich ein zweites. Schon bald schickten mich Zeitschriften ins Ausland. Ich begann, eine wöchentliche Reisekolumne für die Tageszeitung „The Globe and Mail“ zu schreiben. Jeden Sommer kehrte ich als Guide in die Arktis zurück, ansonsten floss nur in unregelmäßigen Abständen Geld, mein Einkommen war unsicher. Selten wusste ich, woher das Geld zum Leben als Nächstes kommen würde – und es war mir, ehrlich gesagt, auch egal. Ich war glücklich.

1999 traf ich Christine in einem Fitnessstudio in Calgary, wo sie als Personal Trainer arbeitete. In einer kleinen Präriestadt, von einem Schweißer und einer Rodeo-Queen aufgezogen, war sie eine außergewöhnlich talentierte Athletin, was sie auch bei unseren ersten Dates unter Beweis stellte, indem sie mich in Grund und Boden joggte. Trotz gänzlich unterschiedlicher Kindheiten – in ihrer hatte es Schneemobilrennen, Muscle Cars, Industriebrot und Frühstücksfleisch gegeben, in meiner dagegen eine Mutter, die Alfalfasprossen auf der Fensterbank zog und einen Vater, der als Nuklearphysiker arbeitete – war es klar, dass uns beiden Erfahrungen wichtiger waren als Geld. Von Anfang an war es einfach, mit ihr zusammen zu sein.

Bevor wir uns trafen, war Christine viel gereist, als Backpackerin durch Australien, auf die Fidschi-Inseln, nach Europa und Nepal. Und obwohl sie noch nie in einem Zelt geschlafen hatte, ließ sie sich von unserem ersten Ausflug nicht abschrecken: eine 24-tägige Seekajaktour entlang der Westküste Kanadas. Es folgten immer abenteuerlichere Reisen: Wir wanderten vierzig Tage von einer Küste Islands zur anderen, ritten zwei Monate durch die mongolische Steppe (für uns beide das erste Mal auf einem Pferd), schipperten in einem Faltkajak entlang der Nordküste Borneos, erforschten die Regenwaldinseln in Myanmars Mergui-Archipel (wo man uns für kurze Zeit sogar ins Gefängnis warf) und paddelten drei Monate lang durch die mit majestätischen Eisbergen übersäten Fjorde der schroffen Ostküste Grönlands.

Viele bezeichneten es als unfair von mir, Christine auf solche Reisen mitzuschleppen.

Oder sie haben mir zu verstehen gegeben, was ich doch für ein Glückspilz sei, eine Partnerin gefunden zu haben, die meine „Urlaube“ aushielt. Dahinter steckte die ziemlich beleidigende Unterstellung, dass Christine sich niemals aus freien Stücken in die Wildnis aufgemacht hätte.

Sie ging mit einer bemerkenswerten Bescheidenheit an unsere Reisen heran. Ganz im Gegensatz zu der Angeberei und dem Gehabe, das Outdoorsportler heutzutage oft an den Tag legen, schienen unsere Touren für Christine keine große Sache zu sein. Wenn ich mitbekam, wie sie ihren Freunden von einer Reise erzählte, klang es eher so, als hätten wir im Garten gezeltet. Für mich war klar, dass sie sich aus einem ganz simplen Grund in die Wildnis wagte: Sie liebte es einfach, dort draußen zu sein.

Und dafür liebte ich sie umso mehr.

Die Vorstellung, mit unseren Söhnen in einem buddhistischen Kloster im Himalaja zu leben, hatte schon seit Jahren in unseren Köpfen herumgespukt – das war ein vager Plan, ein Luftschloss, das Christine und ich aus verschiedenen Perspektiven betrachteten.

Christine war eine von Natur aus spirituelle Frau – schon seit Langem meditierte sie und machte Yoga. Ihr Interesse reichte von Parapsychologie und Wahrsagerei über Schamanen und Auren bis hin zu den gesundheitsschädlichen Folgen eines rückläufigen Merkur – alles Konzepte, die mein wissenschaftliches Gemüt eher beunruhigten. Hermann Hesses „Siddhartha“ war in der Mittelstufe ihr Lieblingsbuch gewesen. Ihren Nachttisch zierten Kristalle und Traumfänger. Nicht selten besuchte sie Aschrams und Yoga-Schweige-Retreats. Wenn die Wochenendausgabe der Zeitung kam, blätterte sie als Erstes auf die Seite mit den Horoskopen.

Ich wiederum war schon immer ein Skeptiker gewesen, der sich reflexartig gegen alles stemmte, was Übersinnliches betraf. Meine geistige Nahrung bestand aus datenbasierten Artikeln, die von Fachkollegen geprüft worden und in wissenschaftlichen Fachzeitschriften erschienen waren. Manchmal wünschte ich mir, Christines bedingungslosen Glauben an das Unerklärliche zu teilen, da es mir ein Gefühl von Unzulänglichkeit gab, mich nicht „gehen lassen“ zu können. Aber insgeheim wusste ich, dass ich es einfach nicht verstand. Abgesehen davon, dass mich manchmal das Gefühl von etwas Göttlichem überkam, wenn ich die Wunder der Natur bestaunte, blieb ich ein überzeugter Ungläubiger.

In Sachen Spiritualität tat sich zwischen Christine und mir also ein Abgrund auf, und hin und wieder stritten wir uns auch deswegen. Ich behauptete, Wiedergeburt sei nicht einfach nur unwahrscheinlich, sondern völlig unlogisch. Im letzten Jahrhundert war die Weltbevölkerung um weitere fünf Milliarden Menschen gewachsen. Von wo sollten denn all diese neuen Seelen gekommen sein?

„Oh, Bruce. So funktioniert das nicht. Ich kann es nicht erklären, aber tief in mir drinnen weiß ich einfach, dass es wahr ist.“

Solche Diskussionen konnte man nicht gewinnen, und mit der Zeit lernten wir, die Tatsache zu akzeptieren, dass wir unterschiedlicher Ansicht waren.

Interessanterweise stand ich dem tibetischen Buddhismus jedoch schon immer offen gegenüber. Während meiner zahlreichen Reisen in den Himalaja habe ich mich in der Gesellschaft von Nepals fröhlichen und kameradschaftlichen Sherpas, den berühmten Höhenträgern und Bergsteigern dieser tibetisch-buddhistischen Volksgruppe, immer sehr geborgen gefühlt. Anstatt herumzuschreien oder zu verzweifeln, wenn auf einer Expedition etwas schieflief – was unweigerlich passierte –, lachten die Sherpas und gingen weiter. Selbst angesichts schwierigster Situationen schien ihre Lebensfreude unverwüstlich. Egal mit welchem Geheimrezept sie auch brauten, ich wollte es kennenlernen.

Die Kernlehren des Buddhismus – Toleranz, Mitgefühl, das Streben nach Nichtanhaftung, ein Bewusstsein der Vergänglichkeit aller Dinge – waren für mich im Grunde nichts anderes als gesunder Menschenverstand. Ganz unerwartet fühlte ich mich zum geistigen Oberhaupt des tibetischen Buddhismus hingezogen, dem äußerst populären vierzehnten Dalai Lama, dessen vergnügte Art mich entwaffnete und dessen grenzenloses Mitgefühl Demut in mir auslöste. In seinen Worten schwangen einfache Wahrheiten mit. „Wir brauchen keine Tempel. Wir brauchen keine komplizierte Philosophie. Unser eigenes Gehirn, unser eigenes Herz ist unser Tempel, und Freundlichkeit unsere Philosophie.“

Oft träumte ich davon, dass dieser alternde Mönch für ein politisches Amt kandidieren würde – sein Programm der Liebe und des praktischen Denkens würde ich sofort unterstützen.

Christine und ich waren also gespannt darauf – jeder auf seine Art –, mehr über diese Religion zu erfahren. Oder Philosophie. Oder was auch immer – denn ob es sich beim Buddhismus um eine Religion oder eine Philosophie handelt, ist umstritten. Für beide Sichtweisen gibt es überzeugende Argumente. Beide hatten wir nicht die Absicht, kleine Buddhisten aus unseren Söhnen zu machen. Aber wir glaubten, dass es ihnen nicht schaden könne, in das einfache Leben im Kloster einzutauchen. Möglicherweise würde es ihnen sogar ausgesprochen guttun.

Trotzdem blieb die Idee, alles stehen und liegen zu lassen, um in einem buddhistischen Kloster zu leben, eher ein ferner Traum. Etwas, was wir vielleicht irgendwann mal machen würden.

Bis zum Tag der Cheerio-Offenbarung.

Aber wohin im Himalaja sollten wir denn gehen? Und wie, zum Teufel, wollten wir es hinbekommen, in einem Kloster wohnen zu dürfen?

Christine und mich zog es nach Bhutan, das weithin dafür bekannt ist, das Bruttonationalglück dem Bruttoinlandsprodukt vorzuziehen. Vor einigen Jahren hatte mich eine Fotoreportage in dieses Land geführt, und ich war von seinen sanftmütigen Menschen und ihren fest verankerten Traditionen ganz bezaubert gewesen. Da es sich jedoch im Süden des Himalaja befindet, trifft Bhutan die volle Breitseite des Monsuns. Mein Interesse schwand, als ich von den dichten Wäldern erfuhr, die Trekking und Erkundungstouren erschwerten. Bei Christine genügten die Geschichten über aggressive Blutegel, um sie von Bhutan abzubringen.

Als Nächstes warfen wir unser Auge auf Tibet, den Ursprungsort des Himalaja-Buddhismus. Nach der Invasion Chinas vor etwa fünfzig Jahren werden Reisen in die Region noch immer streng reguliert, und Ausländer benötigen einen von der Regierung zugewiesenen Führer, wenn sie sich außerhalb der Hauptstadt Lhasa bewegen wollen. Es war klar, dass man es uns niemals erlauben würde, ohne Einschränkungen in einem Kloster zu leben.

DER KLEINE PROFESSOR

Die „Hanjin Ottawa“ ging nach Mitternacht in Busan, Südkorea, vor Anker. Allmählich ließ die Morgendämmerung eine Armee spinnenähnlicher Kräne in Erscheinung treten, die die Container vom Schiff pflückten und sie auf eine Reihe wartender Lkws setzten. Lichter blinkten und Sirenen heulten auf, aber keine lebendige Seele war zu sehen. Wie alle großen Häfen – früher einmal wuselnde Bienenstöcke aus Opiumhöhlen, Bordellen, Söldnern und Märkten – war auch dieser zu einer industriellen Einöde geworden, blank geputzt durch die Einführung des Containertransports.

Nachdem wir als Einzige in der Messe zum letzten Mal Eier und Würstchen gefrühstückt hatten, trafen wir an Deck auf die versammelte Mannschaft, die schon darauf wartete, sich von uns zu verabschieden. Sogar die Mechaniker hatten den Bauch des Schiffes verlassen, wo der Motor gerade auf die Überfahrt nach Shanghai vorbereitet wurde. Klugscheißer begleitete uns die Gangway herunter und nahm uns in die Arme. Seine Augen waren feucht.

Dann betraten wir Asien.

Wes und die anderen des Fernsehteams warteten am Kai auf uns, sie trugen Schutzhelme und Warnwesten. Nachdem wir uns umarmt und abgeklatscht hatten, unterzogen Christine und ich uns einer Runde Interviews vor der Kamera. Auf Drängen von Wes gaben Bodi und Taj einige kindliche Aussprüche von sich. Nach der Einwanderungskontrolle brachte uns ein Taxi zu unserer Privatunterkunft, die wir schon vor Monaten von Kanada aus organisiert hatten.

Ein Hotel oder Hostel wäre zweifellos einfacher gewesen, aber solche Unterkünfte sind zunehmend an westliche Komfortstandards angepasst. Auf Reisen suchen Christine und ich aber regelmäßig nach dem anderen, und das wollen wir auch unseren Kindern vermitteln: sich an das Fremde anzupassen, anstatt es reflexartig zu etwas Vertrautem zu verbiegen.

Aus dem Taxi heraus erhaschten wir einen Blick auf eine Welt aus Zement, Plastik und Glas, erhellt von Neonlichtern und bevölkert von Menschen, die an ihren Smartphones und Selfiesticks klebten. Reihen von gnadenlos gleichförmigen Apartmenthäusern schossen wie Pilze aus grünen Hängen. Innerhalb von nur einer Generation hatte sich Südkorea aus der Asche eines verheerenden Bürgerkrieges erhoben und zu einer Wirtschaftsmacht aufgeschwungen.

Auf den Straßen staute es sich. Ausgerechnet als wir in der Mitte einer sieben Kilometer langen Hängebrücke standen, sagte Bodi, dass er auf die Toilette müsse – sofort! Er könne keinen Moment länger warten. Christine sah mich an, zuckte mit den Schultern und reichte ihm ihre Wasserflasche. Es pieselte in die Flasche, der Geruch von Urin verteilte sich im Minivan. Unser Fahrer verzog empört das Gesicht und öffnete wortlos sein Fenster.

Eine Teenagerin mit Engelsgesicht wartete vor einem hoch aufragenden, direkt am Wasser gelegenen Apartmenthaus auf uns. Trotz der erdrückende Schwüle trug sie eine Strickjacke und Hello-Kitty-Turnschuhe.

„Hallo, Familie“, gurrte Kim Na Young und verneigte sich tief.

„Annyeong haseyo“, antwortete Taj (ermuntert von Christine), was „Hallo“ bedeutete – oder wörtlich „Sind Sie friedlich?“

An Bord des Containerschiffes hatten wir den beiden die wichtigsten koreanischen Grußformeln beigebracht. Kim Na Young errötete.

Schnell und lautlos brachte ein Aufzug uns und die TV-Crew in den fünfundvierzigsten Stock, wo Kim mit ihren Eltern Sunny und Nikki lebte. Sunny war eine professionelle Windsurferin, Nikki ein Investmentbanker. Kim erklärte, dass ihr Vater heute extra für uns früher von der Arbeit gekommen sei. In einem Land, in dem die 60-Stunden-Woche noch die Norm war, wurde das nicht gern gesehen.

Nachdem wir unsere Seesäcke in einen mit Parkett ausgelegten Raum gebracht hatten, der abgesehen von Schlafmatten und Regalen voller Porzellankatzen leer war, bereitete uns unsere Gastfamilie ein traditionelles Mittagessen mit scharf angebratenem Rindfleisch, Lotuswurzeln und pikantem Kimchi zu.

Später begleiteten sie uns zum nahen Haeundae-Strand, dabei trugen alle drei bierdeckelgroße Sonnenbrillen. Es war drückend heiß. Unsere Söhne zogen sich bis auf die Unterwäsche aus, Christine und ich krempelten die Hosen hoch. Dann tollten wir inmitten einer Schar ausgelassener Einheimischer vergnügt in den aufschlagenden Wellen herum. Irgendwann glaubte ich ein Moskito zu hören, merkte dann allerdings, dass es sich dabei um eine Drohne der Fernsehcrew handelte, die nur wenige Meter über unseren Köpfen schwirrte.

Wir hatten uns an die Anwesenheit der Crew gewöhnt. Und, auch wenn sich das wahrscheinlich schlimm anhört: Von morgens bis abends gefilmt zu werden, war weniger störend als ursprünglich befürchtet. Auf gewisse Weise fühlte es sich so an, als wären wir mit einer Gruppe Studenten – und unseren Kindern – auf einem (gut dokumentierten) Roadtrip.

Sogar Bodi, den fremde Menschen leicht verunsicherten, hatte die Crew mit der Zeit akzeptiert. Aber das hieß nicht, dass er ihnen das Leben leicht machte. Ständig drehte er den Kameras seinen Rücken zu. Und wenn ein Redakteur ihn bat, einen bestimmten Satz noch mal zu wiederholen, weigerte er sich und schnaubte zurück, er habe das schon gesagt. Immer wenn der Akku des Mikrofons, das an seine Hüfte befestigt war, heiß wurde, was ständig der Fall war, riss er ihn ab und warf ihn zur Seite. Dem Tontechniker blieb nichts anderes übrig, als die tausend Dollar teure Ausrüstung so schnell wie möglich wieder vom Boden aufzuklauben. Allerdings war Bodi nicht ein einziges Mal auf die Crewmitglieder selbst wütend, vielmehr konnte ich einen bei Menschen sehr seltenen Vorzug an ihm beobachten: Bösartigkeit schien ihm völlig fremd zu sein.

Auf einem Markt voller beißender Gerüche beobachteten wir, wie Aale bei lebendigem Leib gehäutet wurden, berührten die sandpapierartige Haut von Haien und hielten glibberige Seegurken in den Händen. Bodi und Taj probierten frittierte Mottenlarven, einen Streetfoodsnack, der nach Sportsocken müffelt und genauso schmeckt und vor allem von betrunkenen Männern geschätzt wird. Später blieb Bodi vor einer Auslage mit Perlenarmbändern stehen und fragte Christine leise, ob er ein pinkfarbenes haben könne.

„Natürlich“, antwortete sie.

Allerdings hatten wir kein koreanisches Geld, und der Automat in der Nähe akzeptierte meine kanadische Bankkarte nicht. Ich probierte es an fünf weiteren Geldautomaten, jedoch ohne Erfolg. Als ich mit leeren Händen zurückkam, liefen die Tränen in Strömen über Bodis Wangen. Schließlich warf er sich schreiend und nach Atem ringend auf den Bürgersteig. Während Christine unseren aufgebrachten Sohn beruhigte, versuchte ich instinktiv, den Kameras, die uns umschwebten, die Sicht zu verstellen.

Die Situation ließ sich schnell lösen. Sunny lieh uns zweitausend Won (ungefähr zwei US-Dollar), und wir kauften das pinkfarbene Armband. Bodi rieb sich die geröteten Augen, und der Gefühlssturm legte sich. Schließlich fand ich einen Bankautomaten, der meine Karte akzeptierte und ein Bündel an Scheinen ausspuckte, das so dick wie ein Taschenbuch war. Doch während wir uns vom Feierabendtrubel in Richtung eines Restaurants mitreißen ließen, das bulgogi, Feuerfleisch, servierte, erwischte ich mich dabei, wie ich wieder mit der Entscheidung haderte, die Christine und ich vor einigen Monaten getroffen hatten.

An einem Abend im tiefsten Winter hatten bei Christine die Wehen eingesetzt. Unser erstes Kind ließ schon zwei Wochen auf sich warten, und die Hebamme hatte geplant, am nächsten Morgen die Geburt mithilfe eines übelriechenden Gebräus aus Rizinusöl und Zitronenverbene einzuleiten. Aber bei einer Frau aus der Prärie, die in den Sportarenen kanadischer Kleinstädte groß geworden war, reichte schon die Aufregung während der Eishockeysendung „Hockey Night in Canada“.

Die ersten Wehen setzten während des letzten Drittels ein, und gegen Mitternacht war klar, dass es sich nicht um falschen Alarm handelte. Wir machten uns auf den Weg zum Krankenhaus im benachbarten Cranbrook. Während der rostige Toyota durch die Dunkelheit jagte und Schneeflocken gegen seine Windschutzscheibe flogen, fühlte es sich so an, als reisten wir mit Lichtgeschwindigkeit in eine ferne Galaxie. Auf gewisse Weise taten wir das vielleicht auch wirklich.

Achtzehn verschwommene Stunden, viele Schreie und den Einsatz all ihrer Kräfte später, wollte sich Christines Muttermund partout nicht weiter als acht Zentimeter öffnen. Irgendwann waren sich Hebamme und Entbindungsarzt dann einig: Das riesige Baby in Christines Bauch würde da nicht durchpassen.

„Sie brauchen einen Kaiserschnitt“, erklärte der Arzt. „Sofort, okay?“

Christine sah mich an. Ihr muskulöser Körper war erschöpft, ihr Haar zerzaust. Sie konnte keine Entscheidungen mehr treffen. Wir hatten im Vorhinein einen „Geburtsplan“ besprochen und waren uns beide einig gewesen, dass ein gesundes Baby das Wichtigste war. Die Art, wie unser Kind auf die Welt kommen würde, war nicht wichtig. Trotzdem zögerte ich. Der Arzt sah mich über seine Brillengläser hinweg an und wartete.

Ich nickte. Sofort setzte eine rege Betriebsamkeit ein. Ein Anästhesist, dessen fleischige Hände eher wie die eines Mechanikers als die eines Chirurgen aussahen, setzte Christine gekonnt eine PDA-Spritze. Dann wurde sie in einen OP geschoben, wo ihr der schockierende Anblick des Geburtsvorgangs durch ein aufgespanntes Laken erspart blieb.

Ich beobachtete, wie ein Ärzteteam Christines ausgedehnten Bauch mit Fäusten und Unterarmen bearbeitete, als drückten sie einen gigantischen Pickel aus. Eine Ewigkeit lang passierte gar nichts. Dann brach ein winziges Köpfchen hervor – dunkles Haar glitzerte im Licht, Augen starrten mich offen an. Abgesehen von dem Ticken einer Wanduhr war nichts zu hören. Dann zerriss ein lauter Schrei die Stille.

Es folgten die Schultern, und schließlich glitt der gesamte glänzende Körper wie ein Fohlen aus ihr heraus.

„Es ist ein Junge!“, rief jemand. „Ein gesunder Junge.“

Hinter der Abtrennung strömten Tränen aus Christines geröteten Augen.

Das erste Jahr verging in einem Nebel aus Baumwollwindeln, zarter Haut, neugierigen blauen Augen, Staunen und Liebe. Und Erschöpfung. Und Zeiten der Langeweile.

Nachbarn und Freunde hatten uns lange dazu ermutigt, Kinder zu bekommen. Ihr werdet großartige Eltern sein. Die Freude und Liebe, die ein Kind schenkt, hat man vorher noch nicht erlebt. Jetzt schlugen sie plötzlich andere Töne an. Eine Nacht durchschlafen? Ein entspanntes Abendessen? Sex? Hahaha! Manchmal fragte ich mich, ob diese Fieslinge ihr Leid nicht einfach nur mit jemandem hatten teilen wollen.

Die Geburt hatte unser Leben wie ein Erdbeben auf den Kopf gestellt. Und nach und nach erkannten Christine und ich, dass Elternschaft dem viel beworbenen Bild von weichen Decken, krähenden Babys und Einhörnern nicht ganz entsprach. Trotz dieser Herausforderungen fühlten sich diese ersten Jahre aber normal für uns an, und alles schien sich so zu entwickeln, wie es sollte – bis Bodi mit zweieinhalb Jahren urplötzlich begann, einerseits ein ungewöhnliches Verhalten an den Tag zu legen und andererseits außergewöhnliche Fähigkeiten zu entwickeln.

Während andere Kinder seines Alters Zeichentrickserien ansahen, arbeitete er sich durch Lego-Anleitungen im Internet und überflog schematische Skizzen für Modelle, die er nicht einmal besaß.

Manchmal saß er auch allein in einer Ecke und reihte Spielzeugzüge auf, schnurgerade ausgerichtet, und tat das immer und immer wieder. Er war ungewöhnlich geräuschempfindlich und schrie jedes Mal auf, wenn das Gefrierfach beim Öffnen quietschte. Er reagierte extrem sensibel auf Berührungen und weigerte sich, kurze Hosen oder kurzärmelige Oberteile anzuziehen. Und er bestand darauf, dass Christine jedes Schildchen aus seinen Klamotten entfernte. Je nach Wochentag trug er ein bestimmtes Shirt („mein Montagsshirt“) und weigerte sich vehement, ein anderes anzuziehen. Als Christine damit begann, seine Sandwiches in der Mitte durchzuschneiden, flehte er sie an, damit aufzuhören. Als sie nach dem Grund fragte, erklärte er schluchzend, dass er sich dann nicht entscheiden könne, welche Hälfte er zuerst essen solle.

Im örtlichen Supermarkt wusste Bodi auswendig, wie viel Gramm Zucker pro Portion in jeder einzelnen Sorte Frühstücksflocken steckten. Das hatte er sich von Christine abgeschaut, die solche Angaben penibel studierte. Als er sah, wie eine Frau gerade eine Schachtel „Kellogg’s Smacks“ in ihren Wagen legte, sprach der kleine Bodi sie an.

„Da drin sind siebzehn Gramm Zucker!“, stieß er hervor. „Das ist nicht gut für Sie!“

Die Frau lief verwirrt davon, was unseren Sohn hysterisch machte.

„Warum hat sie es genommen, Mom? Warum?“, schrie er. „Ich habe ihr doch gesagt, dass es schlecht ist.“

Die kleinste Abweichung vom Gewohnten konnte einen Wutanfall auslösen: falsch angerichtete Apfelscheiben, ein nicht korrekt ins Regal einsortiertes Buch, ein spontaner Plausch mit einem Freund auf der Straße. Unsere Tage verkamen zu einem schrillen Tränenkonzert. Bodi weinte vor dem Frühstück, während des Frühstücks, auf dem Weg in den Kindergarten und wieder zurück, beim Einkaufen, während des Abendessens und beim Einschlafen. Er schluchzte sogar im Schlaf. Es waren eindringliche Schreie, die uns aus dem Bett springen ließen. Kerzengerade aufgerichtet und schweißdurchtränkt fanden wir ihn, die geballten Fäuste gegen die Dunkelheit gerichtet.

Weder Strenge noch Einfühlsamkeit schienen seinen Tränen Einhalt gebieten zu können. Seine Ausbrüche zu ignorieren, machte die Situation nur noch schlimmer, und wir fühlten uns zunehmend machtlos. In den Einkaufszentren und Supermärkten wurden Christine und ich unter den vernichtenden Blicken anderer ganz klein. Bekommen Sie Ihr Kind mal unter Kontrolle.

In meiner jugendlichen Unbekümmertheit hatte ich immer angenommen, dass ich einmal ein toller Vater sein würde. Witzig und weise, jemand, mit dem man Spaß haben kann und der seine Kinder selbst an den grausten aller Tage aufzuheitern versteht. Aber betrachtete man allein diese ersten Jahre, schien ich meine Fähigkeiten deutlich überschätzt zu haben.

Und das Schlimmste war, dass an Christine und mir das vage Gefühl nagte, dass Bodi sich immer mehr von uns entfernte. Wann immer wir es uns neben ihm gemütlich machten, auf dem Sofa oder im Bett, rückte er von uns ab und bestand auf einem Abstand zwischen unseren Körpern. Wenn ich mich für einen Kuss zu ihm herunterneigte, schaute er weg. Wenn ich meine Arme ausstreckte, um ihn zu umarmen, drehte er sich um und schob sich dann langsam rückwärts zu mir hin. Als wenn ihn meine Liebe zu stark blendete, um sie direkt von vorn zu ertragen.

Diese Symptome sind so klassisch – so „lehrbuchmäßig“ –, dass, wer so etwas schon einmal erlebt hat, sofort Bescheid weiß. Ansonsten wirkt dieses Verhalten auf alle anderen wahrscheinlich genauso irritierend und mysteriös wie auf Christine und mich.

Von außen betrachtet, sahen wir vermutlich glücklich aus. Unser Kind war gesund, wir lebten in einer Gemeinde, in der man sich gegenseitig unterstützte, und wir waren mit einem wunderbaren Freundeskreis gesegnet. Wir trieben beide weiter Sport – beim Joggen war Bodi im Kinderwagen mit dabei und beim Skilanglauf in einer Kindertrage. Abends verfolgte Christine nach wie vor ihre akademische Karriere. Der Rundfunksender CBC hatte mir kurz zuvor die Moderation einer Abenteuerserie angeboten, außerdem schrieb ich für immer renommiertere Blätter. Alles lief bestens, hätte man meinen können.

Doch in Wahrheit verloren wir den Boden unter den Füßen. Es war eine Qual, Bodi zu gesellschaftlichen Ereignissen jeglicher Art mitzunehmen. Während die anderen Kleinkinder bei Gartengrillpartys oder Nachbarschaftstreffen in Rudeln umherrannten, klammerte sich der weinerliche Bodi an unsere Beine und wollte sofort nach Hause.

„Nie wieder“, schluchzte Christine, nachdem wir auf der Geburtstagsfeier eines Nachbarn gewesen waren. „Warum rede ich mir immer ein, dass es beim nächsten Mal besser wird?“

Da uns alles soziale Miteinander allmählich zu anstrengend wurde, blieben wir lieber zu Hause, wo sich jeder Tag, den wir schon übermüdet begannen, zwischen dem Kaffee am Morgen und den immer größer werdenden Mengen Wein am Abend wie eine Ewigkeit hinzog. In dieser Zeit lagen Christine und ich uns häufig wegen Kleinigkeiten in den Haaren. Schließlich besuchten wir eine Therapie und stritten doch ständig weiter.

Unsere elterlichen Instinkte prallten aufeinander. Christines Impuls war es, unseren Sohn mit Liebe zu überhäufen, egal, wie er sich verhielt. Ich hingegen antwortete auf Bodis Ausbrüche intuitiv mit Strenge. Keiner der beiden Ansätze funktionierte, und je frustrierter wir wurden, desto eher geriet auch ich in Wut und brachte manchmal die ganze Familie zum Weinen. Gemeinsam besuchten wir dann einen Kurs für Eltern – keine besonders romantische Art, unsere ersten Abende zu zweit seit der Geburt Bodis zu verbringen –, aber es nützte nichts.

Die ersten Jahre als Eltern sollen angeblich zu den glücklichsten Zeiten im Leben gehören, aber je tiefer wir in den Abgrund der Verzweiflung rutschten, desto größer wurde die Diskrepanz zwischen dem, was ich dachte, fühlen zu müssen, und dem, was ich tatsächlich fühlte. Schuldgefühle, Kummer und gelegentlicher Groll waren die Folge.

Ein Rettungsanker blieb uns jedoch noch. Christine und mir waren unsere gemeinsamen Ausflüge in die Wildnis immer sehr wichtig gewesen. Und nachdem Bodi zur Welt gekommen kam, machten wir damit weiter – und nahmen ihn einfach mit.

Rückblickend gebe ich zu, dass ich zumindest teilweise davon getrieben wurde, die Miesmacher eines Besseren zu belehren, ihnen zu zeigen, dass unser abenteuerlicher Lebensstil mit der Geburt der Kinder nicht einfach der Vergangenheit angehörte. Ja, Sicherheit war unsere höchste Priorität, und ja, wir schraubten unsere Ambitionen etwas herunter, aber ohne Zweifel überschritten wir die Grenzen dessen, was als „normal“ betrachtet wird.

Als Bodi gerade drei Monate alt war, bestiegen wir mit ihm die Hochgebirgsgipfel der kanadischen Bugaboos. Kurz darauf ging er mit uns einen Monat lang an der windgepeitschten Küste von Vancouver Island campen. Mit sieben Monaten fuhr er mit uns vor der Küste Argentiniens Kayak. Mit acht Monaten hüpfte er auf unseren Rücken mit, als wir durch die Torres del Paine in Südchile trekkten. Mit achtzehn Monaten hatte Bodi bereits ein Viertel seines Lebens in einem Zelt verbracht.

Wenn jemand unsere Entscheidungen in Frage stellte, ließ ich die üblichen Argumente von der Leier: Wie wertvoll frische Luft sei, wie sehr es die Abwehrkräfte stärke, mal ein bisschen Dreck zu sich zu nehmen, und wie wunderbar die Nächte unter dem Sternenhimmel seien. Der wahre Grund, warum wir diese langen, herausfordernden Reisen planten – und Bodi mitnahmen – war jedoch im Rückblick rein egoistischer Natur: Die Wildnis war unsere einzige Rettung.

Was auch immer uns anfangs dazu motiviert hatte – recht schnell wurde deutlich, dass diese Fluchten unserer Familie mehr als guttaten. Denn indem wir uns aus unserem hektischen Leben ausklinkten, konnten wir eine Verbindung zu Bodi (und zu uns) herstellen, wie sie uns zu Hause nie gelang. Auf diesen Reisen erhaschte ich wieder einen Blick auf die Frau, in die mich verliebt hatte: zuversichtlich, selbstbewusst, glücklich. Und vielleicht machte sie bei mir die gleiche Erfahrung. Am auffälligsten war aber, wie beruhigend diese Reisen auf unseren ängstlichen Sohn wirkten. Vielleicht lag es an dem einfachen täglichen Tagesablauf: mit der Sonne aufstehen, Zelte abbauen, Bewegung, Zelte aufbauen, dicht an dicht in einem Zelt schlafen – und alles wieder von vorn.

Also machten wir weiter. Mit dem Rad durch Frankreich, Wandern in Wales, im Kajak die kanadische Westküste entlang, im Kanu durch den Canyonlands-Nationalpark und mit Packziegen sogar hundertsechzig Kilometer lang durch die Uinta Mountains in Utah.

Auch die Geburt von Taj stellte für uns kein Hindernis dar. Als unser Winzling gerade erst acht Monate alt war – und Christine noch heldenhaft stillte –, flogen wir nach Georgien, kauften zwei Packpferde und trekkten sechzig Tage den Kaukasus entlang, wo wir ein Kriegsgebiet umgehen und uns von dem Joghurt, Honig und Brot ernähren mussten, das uns vorbeiziehende Hirten gaben. Vielleicht waren es die Dauer und die Herausforderungen, die diese Reise besonders nachwirken ließen. Denn noch ein Jahr nach unserer Rückkehr blickte ich meinen Jungs in die Augen und freute ich mich an einer zuvor nicht gesehenen Lebendigkeit.

Aber der Glanz solcher Tage verfliegt, und alte Gewohnheiten schleichen sich wieder ein. Ich kaufte ein iPhone. Ich richtete eine Seite auf Facebook ein. Ich begann zu twittern. Bodi schlief immer weniger und flippte immer mehr aus. Wir rutschten immer weiter ab.

In dieser Abwärtsspirale begann ich irgendwann, Bodi als „Stressbiber“ zu bezeichnen.

Dieser Begriff stammte noch aus meinen Tagen als Raftingführer, und Christine hasste ihn. Im hohen arktischen Norden kann einem der tagelang erbarmungslos wehende Wind stark zusetzen. Heftige Böen peitschen die Rafts kreuz und quer über den Fluss. Im Lager purzeln Zelte herum und Hüte werden vom Kopf gerissen. Ein Feuer zu entfachen wird zur echten Herausforderung. Sand und Dreck durchdringen jede Mahlzeit. Teller und Besteck werden von den Serviertischen gefegt. Nachts schlägt der Wind so laut gegen die Zelte, dass Schlaf unmöglich wird. Nach nur wenigen Tagen geht die ganze Mannschaft auf dem Zahnfleisch, zermürbt vom „Stressbiber“.

Ganz so wie diese arktischen Winde schien Bodi, ohne es zu wollen, sogar die einfachsten Dinge zu einer Herausforderung zu machen. Abends wollte er nicht zur Ruhe kommen, er stand schon lange vor Sonnenaufgang auf und schien nur dann fest zu schlafen, wenn er wach sein sollte. Zu den Mahlzeiten nie hungrig, fing er immer gleich an vor Hunger zu weinen, wenn gerade nichts Essbares zu bekommen war. Im Winter weigerte er sich, eine Mütze zu tragen, im Sommer wehrte er sich gegen Oberteile mit kurzen Ärmeln. Die Liste lässt sich noch ewig weiterführen. Einzeln betrachtet wirken diese Sachen trivial – es scheint pingelig, sie überhaupt zu erwähnen –, doch zusammengenommen erdrückten sie uns. Und obwohl wir es nur widerwillig zugaben, etwas fühlte sich einfach nicht richtig an.

Wenn sich Christine den Ärzten anvertraute, bekam sie ausnahmslos die gleiche Antwort: „Sie sind überängstlich. Bodi geht es gut. Machen Sie sich keine Sorgen.“

Jahrelang versuchten wir, diesen Ratschlag zu befolgen, und mühten uns weiter ab. Doch mit Taj hatten wir plötzlich einen neuen Maßstab. Der Kleine brachte viele Dinge in unser Leben – eine spitzbübische und sture Natur, ein ansteckendes Lachen –, aber gleichzeitig verkörperte er unverkennbar das Neurotypische, auch wenn wir diesen Begriff damals noch nicht kannten. Sahen wir in seine Augen, erwiderte er unseren Blick. Anstatt Körperkontakt zu vermeiden, suchte er ihn. Er sagte aus eigenem Antrieb zu Fremden „Hallo“ und „Tschüss“ und wand sich nicht am Boden, wenn man davon sprach, das Haus zu verlassen. Taj forderte nur einen Bruchteil der Energie ein, die wir als Eltern für Bodi aufwenden mussten. In seiner Gegenwart wurde noch deutlicher, dass es mit Bodi „anders“ war.

Stark vereinnahmt von meiner Arbeit, war ich einfach – und ohne Grund – zuversichtlich, dass sich alles schon irgendwie und irgendwann ergeben würde. Aber Christine ließ sich nicht beirren und nahm die Dinge selbst in die Hand: Sie durchforstete das Internet, rief Universitätskollegen an und vertiefte sich in wissenschaftliche Abhandlungen. Nach und nach nahm eine Theorie Form an. Um ihren Verdacht zu überprüfen, glitt Christine eines Tages beim Mittagessen von ihrem Stuhl, krabbelte unter den Küchentisch und war nicht mehr zu sehen – obwohl Bodi gerade mit ihr gesprochen hatte. Als er nicht ins Stocken geriet oder sie fragte, was sie da tat, wusste sie es.