Über den Wolken und andere Geschichten - İnci Asena German - E-Book

Über den Wolken und andere Geschichten E-Book

İnci Asena German

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Beschreibung

Die erste deutschsprachige Science-Fiction-Anthologie mit acht zeitgenössischen Autor*innen aus der Türkei: intergalaktische Kämpfe, Oktopoden aus anderen Dimensionen, leidenschaftliche Gefühle für eine androidische Sexarbeiterin ... was versteckt sich eigentlich jenseits der Wolken? Und immer wieder dystopische Visionen, die eine aus dem Gleis geratene soziale Ordnung, politische Unterdrückung und Umweltzerstörung anprangern. Abgerundet wird das Buch durch einen Artikel über die Geschichte der türkischen Phantastik vom Osmanischen Reich bis zur Gegenwart – eine ideale Einführung in bislang unbekannte literarische Gefilde.

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Seitenzahl: 216

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Impressum

Über den Wolken und andere Geschichten

Science Fiction aus der Türkei

Herausgegeben von Ünver Alibey

Originalausgabe

© 2024 bei den einzelnen Autor:innen

© 2024 Alessio Gherardini (Titelbild)

© 2024 Ünver Alibey (Zusammenstellung und Vorwort)

© 2024 İnci Asena German (Übersetzung und Vorwort)

© dieser Ausgabe 2024 by Memoranda Verlag Hardy Kettlitz

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat und Korrektur: Steffi Herrmann & Caroline Kohler

Umschlaggestaltung: Alessio Gherardini

Memoranda Verlag

Hardy Kettlitz

Ilsenhof 12

12053 Berlin

www.memoranda.eu

www.facebook.com/MemorandaVerlag

ISBN: 978-3-911391-00-9 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-911391-01-6 (E-Book)

Inhalt

Inhalt

Impressum

Inhalt

Ünver Alibey

Grenzenlos Vorwort des Herausgebers

İnci Asena German

Vorwort der Übersetzerin

Semin Güven

Der Zwischenfall in der Aufwacheinheit

Özgür Hünel

(Heilige) Bestseller

Funda Özlem Şeran

Über den Wolken

Selin Arapkirli

Bitte nicht stören

Onur Selamet

Die Ohrfeige

Nur İpek Önder Mert

Nemesis

Tolga Aydın

Schlag aufs Herz

Tuğrul Sultanzade

Der Geist

Özgür Tacer

Einheimische Science Fiction in der Türkei: Ein Kampf ums Überleben

Quellen und Anmerkungen

Ünver Alibey

Grenzenlos Vorwort des Herausgebers

Sie stehen kurz vor einer Reise mit acht bedeutenden Schriftstellern der zeitgenössischen türkischen Science-Fiction-Literatur, und wir hoffen, dass es für Sie eine spannende Reise wird.

Die türkische Science Fiction hat in den vergangenen Jahren einen weiten Weg zurückgelegt. Heute sind wir sogar so weit, dass unsere Autoren im Ausland veröffentlicht werden und an internationalen Schreibwettbewerben teilnehmen können – kaum zu glauben! Aus diesem Pool haben wir auch die Autoren für unsere Anthologie Über den Wolken und andere Geschichten ausgesucht: Es sind allesamt Namen, die sich vollständig dem Genre gewidmet haben. Wir können sogar behaupten, dass sie Science-Fiction-Literatur so verinnerlicht haben, als seien sie auf der USS Enterprise geboren und in der Lage, originelle, eigene Werke zu produzieren.

Was aber ist Science Fiction eigentlich?

Natürlich gibt es viele unterschiedliche und sich überschneidende Wege, diese Frage zu beantworten. Aber meiner Meinung nach geht es in der Science Fiction um die Veränderungen und die Weiterentwicklung von Wissenschaft und Technologien und die Auswirkungen auf den Einzelnen und auf die Gesellschaft. Es handelt sich um ein Literaturgenre, das versucht, Vorhersagen zu treffen und zu spekulieren. Science Fiction warnt uns vor dem Verlauf gesellschaftlicher und technologischer Ereignisse, packt uns manchmal sogar am Kragen und schüttelt uns, damit wir sehen, in welchen Bereichen wir das Maß verlieren und somit unsere Welt zerstören. Sie hält uns einen Spiegel vor und gibt uns Anregungen, damit es nicht so weit kommt. Science Fiction ist vor allem »Mahnliteratur«.

Warum reden wir von spekulativer Fiktion, von Wahrscheinlichkeiten?

Weil Science Fiction aus Wahrscheinlichkeiten besteht. Schriftsteller führen eine Art von Wahrscheinlichkeitsrechnung durch und bringen die von ihnen konstruierten Zukunftsvisionen zu Papier. Die Möglichkeiten sind grenzenlos; sie können optimistisch sein, oder eben auch nicht.

Obwohl es auch das Untergenre der utopischen Science Fiction gibt und hier vielversprechende Möglichkeiten für die Zukunft vorgestellt werden können, war Dystopie schon immer der effektivere Weg, um einen Eindruck zu hinterlassen. Dystopische Literatur kann Generationen aufklären und sie auf politische, ökologische und technologische Probleme aufmerksam machen, sie kann zu einem nützlichen Instrument werden. Wenn wir uns nämlich der Gefahren bewusst sind, können wir uns auch schützen, nicht wahr? Aus genau diesem Grund haben wir uns auf dunklere, pessimistischere Möglichkeiten konzentriert. Möglichkeiten, die uns an den Rand des sozialen Kollapses oder der Katastrophen führen und des Öfteren diese Grenze überschreiten. Obwohl sich die meisten Kurzgeschichten in unserer Anthologie auf Szenarien der Dunkelheit konzentrieren, präsentieren wir aber auch die eine oder andere Geschichte, die nicht der Dystopie zuzuordnen ist.

Am Ende finden Sie außerdem einen von Özgür Tacer geschriebenen Artikel mit dem Titel »Einheimische Science Fiction in der Türkei: Ein Kampf ums Überleben«, ein unterhaltsamer Überblick, der die Geburt und die Entwicklung der türkischen Science-Fiction-Literatur näher beleuchtet.

Wenn Sie nun bereit sind, durch die Möglichkeiten aus den Köpfen unserer Schriftsteller zu schlendern, blättern Sie um und haben Sie eine angenehme Lektüre.

İnci Asena German

Vorwort der Übersetzerin

Wer durch die engen, sich schlängelnden Kopfsteinpflastergassen des Beyoğlu wandert, sich von langsam vor sich hin taumelnden und murmelnden Menschenmassen und einladenden Essens- und Gewürzgerüchen treiben lässt, wird früher oder später in einem der winzigen Geschäfte voller Kühlschrankmagnete mit folkloristischen Motiven, selbstgenähten Taschen, handgeknüpften Teppichen, bunten Chiffonkleidern und anderem touristischen Allerlei auf die beliebten T-Shirts stoßen, die mit einem Satz beschriftet sind, der das Flair der Stadt Istanbul auf den Punkt bringt: »You call it chaos, we call it home.«

Die Türkei, und insbesondere Istanbul, wo die meisten kreativen Köpfe des Landes wohnen, arbeiten und sich inspirieren lassen, ist stolz auf ihr Chaos. Die Vorliebe für das Ungeregelte, das Zufällige, das Unkontrollierte, eine gewisse Leichtigkeit und Vagheit beherrschen das Leben in dieser Stadt, und diese »légèreté« findet sich auch in der Sprache wieder. Türkisch mag es vage. Es ist eine Sprache, die zum Mitdenken, zum Vorstellen anregt, was im direkten Gegensatz zur deutschen Präzision und Ordnung steht. Deutsch mag es so bestimmt, so genau wie möglich. Dieser wesentliche Unterschied zwischen den zwei Sprachen bildet auch die Hauptschwierigkeit bei der Übersetzung, vor allem bei der Übersetzung von Science Fiction, wo ja mit der Idee von anderen, fremden Mentalitäten gespielt werden soll. Was aber, wenn die Mentalität des Ursprungstextes ohnehin schon anders ist? Es ist zum Beispiel knifflig, von einer geschlechterlosen Sprache für einen Leser zu übersetzen, der laut Regeln seiner Sprache von einer dritten Person nicht reden kann, ohne ihr Geschlecht zu erwähnen. Das wird spätestens dann zu einem Problem, wenn genderlose Gesellschaftsvisionen dargestellt werden sollen. Oder in der Beschreibung eines geschlechtslosen Aliens vom Blickpunkt eines Erdlings.

Auch thematisch spielt dieser Gegensatz, Chaos gegen Ordnung, eine zentrale Rolle in der SF-Anthologie Über den Wolken und andere Geschichten. In diesem Sinne ist diese Anthologie so etwas wie ein Liebesbrief an das Chaos, und das verträgt sich sehr gut mit einer etwas älteren, klassisch dystopischen SF-Tradition à la Le Guin, Huxley oder gar Orwell – Systeme, die organisches Leben durch Regeln, Religionen, Kontrollmechanismen ordnen, kontrollieren und es »perfektionieren« wollen; ein quasi romantischer Ansatz, in dem die Technologie der Natur und der Identität zuwiderläuft sowie jegliche Freude an Spontaneität und Zufall raubt. Die Wurzeln dieser Dualität, die durch so manche Geschichte in dieser Anthologie kriecht, und deren ganz spezielle, historische Bedeutung für die türkische Science Fiction werden im Nachwort von Özgür Tacer ausführlich geschildert. Dieses Nachwort bietet eine zusätzliche Verständnisebene für das, was man als »Lokalkolorierung« interpretieren kann und sollte.

Als der Verleger Hardy Kettlitz mich während der Corona-Pandemie anrief und ein gemeinsames »SF-Projekt aus der Türkei« vorschlug, war mir klar, dass es nicht einfach sein würde, eine passende Anthologie zu finden. Abgesehen davon, dass das Reisen zu der Zeit undenkbar war, stellte sich ein spezielles Problem in der Findung von Kurzgeschichten dar, die den für den deutschen Leser passenden Ton haben: die sogenannte »Lokalkolorierung«, ohne in orientalistische Klischees zu verfallen, die leider immer noch das Bild der Türkei in Deutschland prägen. Eine weitere Schwierigkeit betrifft das Genre an sich und die mangelnde Wertschätzung, die der Science Fiction geschenkt wird. Denn SF und weitere spekulative Genres sind nicht gerade die beliebtesten in der Türkei. Wenn man heute einen Buchladen in irgendeiner türkischen Stadt besucht, wird man sehen, dass die Bestseller-Regale vor allem von Selbsthilfe-, Philosophie- und Krimibüchern sowie der Gegenwartsliteratur dominiert werden.

Dass ich letztendlich durch die in Berlin lebende italienische Autorin Chiara De Giorgi, die sich großer Beliebtheit in der Türkei erfreut, die Bekanntschaft von Kurator und Herausgeber Ünver Alibey machte und wir ihn für unser Projekt gewinnen konnten, war ein wahrhaftiger Glücksgriff. Durch seine Kompetenz vor allem im Patentbereich und sein Fachwissen stellte er in kürzester Zeit von den Gewinnern verschiedener Kurzgeschichtenwettbewerbe eine Anthologie zusammen. Die Besten der Besten sozusagen. Überhaupt bilden SF-Preise in der Türkei die nützlichste und mehr oder weniger einzige Plattform für Autor*innen, um von sich hören zu lassen. Es besteht schlichtweg zu wenig Interesse an der Science Fiction.

Ein letzter herzlicher Dank gilt Caroline Kohler, die die undankbare Aufgabe der Beta-Leserin übernommen und mit Bravour gemeistert hat.

Das Ergebnis, also die erste in deutscher Sprache publizierte SF-Anthologie aus der Türkei, erscheint in einer auch für Deutschland interessanten Zeit. Im vergangenen Winter brach eine öffentliche, emotionale Diskussion aus, als der Name des deutsch-türkischen Filmemachers İlker Çatak – dessen Film Das Lehrerzimmer, der für den besten internationalen Film für den Oscar nominiert wurde – zunächst in der Presse schlichtweg ignoriert (die Werke seiner deutschstämmigen Kolleginnen nicht) und später dazu noch falsch geschrieben wurde.

Genau diese mangelnde Wertschätzung und dieses fehlende Interesse für eine Gruppe von Menschen, die mittlerweile seit Jahrzehnten hier lebt, thematisiert auch Regisseur Cem Kaya in seinem 2022 erschienenen Film Aşk, Mark ve Ölüm / Liebe, D-Mark und Tod, der von der Musikkultur der »Gastarbeiter« in Deutschland handelt und die Gleichgültigkeit der deutschen Gesellschaft vor Augen führt.

Dass heute endlich über diese Themen geredet wird, ist gut und kann Kathartisches bewirken. Ich bin der Meinung, dass die Veröffentlichung von Über den Wolken in diese Diskussion gut hineinpasst und auch für den Science-Fiction-Geek einen Beitrag leisten kann.

In diesem Sinne: Danke für Ihr Interesse und viel Spaß beim Lesen!

Semin Güven

Der Zwischenfall in der Aufwacheinheit

Als ich in der Aufwachabteilung arbeitete, war mein Leben so anders, dass die Erinnerung sich so entfernt anfühlt wie eine Art VR-Filmdrehbuch, das vor Jahrhunderten auf den Marskolonien spielt. Faktisch ist es aber nur siebzehn Jahre her. Ich war 160 Jahre alt und einer der wenigen empfindungsfähigen Sapiens, der per Geburt entstanden war. Meine Logikkurve und meine VNB (Verhaltensnachhaltigkeitsbewertung) waren auf dem Höhepunkt. Meine Aufgabe war es, den Langschläfern beim Aufwachen ihre vorhandenen Lebensdynamiken zu transferieren und ihnen das »perfekte Habitat« vorzustellen. Damals, als noch keine autonomen Lebensformen produziert wurden, arbeiteten größtenteils geborene Konstruktionen, also wir, in den Kryogenräumen, wahrscheinlich weil unser Aussehen das Schockrisiko des Aufgeweckten auf ein Minimum reduzierte. Ich weiß es nicht genau, ich habe es nie hinterfragt und ehrlich gesagt ist es mir auch egal. Das, was ich verdiente, reichte zum Leben und darüber hinaus für regelmäßige Zahlungen an die Stiftungen meiner Wahl, und ich musste nicht, wie viele andere, Gewalt verkaufen. Das war für mich ausreichend. Im Sapiens-Identitätsalgorithmus steht die Logikkurve in umgekehrter Proportionalität zur Gierkurve, was ein höheres Einkommensniveau mit sich bringt. Ich war Logiker.

Der Täter des betreffenden Zwischenfalls stammt von einem äußerst kuriosen und uralten Pack! Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Als ihr Aufwachtermin kam, musste die Gruppe vom Sapiens-Museum in die Aufwacheinheit transportiert werden. Es war fast so, als wecke man Marmorstatuen aus der Antike auf. Sie wurden am Ende des modernen Zeitalters, während des 6. Atomkriegs, in den Schlaf versetzt. Damals war das alles andere als eine Standardprozedur, eher ein ziemlich teures, nur den Privilegierten zugängliches Vorhaben. Wenn man bedenkt, dass ihre eigenen Leute in dem folgenden Krieg massakriert worden sind, könnte es sogar durchaus sein, dass das Geld, durch das sich diese neun Leute haben einfrieren lassen, ironischerweise einen großen Teil des Kriegs finanziert hat. Ich erinnere mich noch gedacht zu haben, dass sie sich bewusst eine Zeit zum Aufwachen ausgesucht haben, die so weit in der Zukunft liegt, dass ihre Taten längst vergessen sind. Falls dies der Fall war, so war es die richtige Entscheidung. Selbst wenn sie darüber reden wollten, würde sich niemand dafür interessieren. Das weiß ich, weil ich ihr einziger Sapiens-Ansprechpartner war, und ich hatte nichts weiter vor, als mein Orientierungsprogramm durchzuziehen und sie nicht ins Verhör zu nehmen.

Entsprechend meinen Anweisungen habe ich ihnen zunächst versichert, dass sie in einem friedlichen Zeitalter aufwachten. Danach habe ich sie in den oberen Bereich geführt, wo sie sich ernähren und die zweidimensionale Vorstellungssimulation (ähnlich wie die Bildschirme, die in der Moderne gebräuchlich waren) anschauen konnten. Sie haben sich meine Ausführungen angehört und die Zusammenfassung des historischen Verlaufs angeschaut. Sie waren kaum voneinander zu unterscheiden, vielleicht war bei einem oder anderem das Interesse mal größer, oder die Verwunderung, hier und da gab es Panik oder seltsame emotionale Reaktionen …

Wie wunderbar für sie, dass sie vom Höllenkrieg zur heutigen Ära der Vollendung aufgewacht waren. Sie befanden sich jetzt in einem Zeitalter, in dem ein einziges autarkes Kollektivbewusstsein anerkannt wurde und nicht mehr ignoriert werden konnte. Zumindest nicht, solange das Bewusstsein es selbst so wünschte. Die Materie, aus der wir waren, wurde eingeweicht, gebogen und letztendlich perfektioniert. Zum Leben mussten wir nur noch eine Daseinsoption unserer Wahl aussuchen. Ich zum Beispiel habe, wie viele andere auch, gewählt, ein Hedon zu sein, obwohl mich Genüsse, nach denen andere süchtig wurden, nie gereizt haben. Warum auch immer. Ich hatte mein eigenes Vergnügen: Eroberungen. So wie andere es genossen sich zu prügeln oder vergewaltigt zu werden, hatte ich einen unstillbaren Durst nach Eroberungen. Dieser Durst kann vorerst nicht gestillt werden, nicht wie bei anderen Gelüsten. Es stimmt, dass ich deshalb den wenig schmeichelhaften Ruf habe, langweilig zu sein. Falls aber Geistlosigkeit sich als eine endokrinologische oder neuroplastische Unregelmäßigkeit erwiesen hätte, hätte ich es längst reparieren lassen und wäre jetzt nicht hier. Im Endeffekt muss auch ich wie alle anderen für die periodischen Zahlungen gescannt werden, und dabei wurden bisher keinerlei Abnormalitäten festgestellt. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als meine Entdeckungslust mit minderen Freuden unterdrücken zu können …

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich beschwere mich nicht über die Vollendung. Mein Wunsch ist bedeutungslos, denn er ist aussichtslos und er rührt höchstwahrscheinlich von den intensiven historischen Recherchen her, die ich während meiner Arbeit in der Aufwachabteilung zu führen pflegte. Falls ich aber normal bin, warum habe ich dennoch vergebliche und unersättliche Wünsche, die ich bei niemandem sonst beobachte? Bedeutet das, dass es noch weitere Dinge zu entdecken gibt? Dinge, die den Geist, das Bewusstsein betreffen? Das Bewusstsein … Oder ist es der Reparaturprozess meiner Krankheit, der mir diese Gedanken einflößt? Wird es nach meinem Gespräch mit dem System möglich sein, mich zu korrigieren? Kann meine Suche nach dem Licht in den Augen der Aufwachenden an diesem einen Tag ein Ende finden?

Aber zurück zum Thema … Wie ich vorher erwähnte, waren sie Mitglieder eines Stammes, der sich während des Atomkriegs zum Schlafen gelegt hatte. An dem Tag, an dem sie aufgeweckt wurden, ist Folgendes passiert:

Manchmal entdeckte ich interessante Redewendungen aus der Vergangenheit und benutzte sie, um es den Aufgeweckten einfacher zu machen. Zum Beispiel versuchte ich, die Hässlichkeit von primitiven, Sapiens-artigen Kommunikationsbemühungen, wie etwa die Nachfrage nach Nationalität oder Geschlecht, mit dem Wort »unangebracht« zu beantworten. Meine Recherchen zeigten, dass dies ein Begriff des konservativen Flügels aus der modernen Zeit war. Trotz meiner ausführlichen Ermittlungen war es mir unmöglich, diesen Begriff vollständig nachzuvollziehen. Immerhin unterband das Wort weitere Fragen und war zu einer Art Zauberwort geworden, von dem ich, aufgrund seiner versatilen Funktionalität, des Öfteren Gebrauch machte.

Als an diesem Tag die Fragen nach dem Aussterben aller Tierarten kein Ende fanden, dachte ich, »unangebracht« wäre die passende Antwort. Ich sagte in etwa »Es gibt sicherlich einen stichhaltigen Grund, warum sich andere Tierarten nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form unter uns befinden. Sowohl dies zu viel zu hinterfragen, als auch solch emotionale Reaktionen zu einer Tatsache, welche Sie nicht mehr ändern können … das ist unangebracht.« Eigentlich meinte ich »nutzlos und idiotisch«, aber die Gruppe direkt zu beleidigen war das Letzte, was ich wollte. Mein eigentliches Ziel war zwar Deeskalation, jedoch hatten meine Worte unabsichtlich für noch mehr Aufruhr gesorgt. Diese betreffende Person sprang hoch und schlug ihre Hände auf den Tisch. Währenddessen sprach sie so laut und schnell, dass ich den In-ear-Übersetzer nicht mehr verstand. Ich erinnere mich noch an das wenige, das ich hören konnte: »Wie konntet ihr nur?!«, »Was habt ihr bloß geopfert, um länger zu leben?«, »Was bleibt von uns denn noch übrig?«, »Wer bitte traf die Entscheidung, unser Leben sei mehr wert als das eines Hasen, eines Orang-Utans?« und so weiter und so fort …

Groteske Emotionsausbrüche waren für mich nichts Ungewöhnliches. Sogar bei den relativ zeitnah Eingefrorenen kamen traumabedingte Ausbrüche schon mal vor. Nichts von dem, was sie sagte, war von einprägsamer Bedeutung. Ich erinnere mich gedacht zu haben, dass das ganze Geblödel aus einem anthropozentrischen und unlogisch religiösen Denken aus primitiven Zeiten heraus entstand. Natürlich war ich für diese Fragen und Anklagen nicht der richtige Ansprechpartner. Falls ich mich nach all den Jahren noch immer an ihre Worte erinnere, dann liegt das an dem, was danach passierte.

Wenn ich das Ganze jetzt Revue passieren lasse, merke ich, dass an ihren Worten weder etwas Anthropozentrisches noch Religiöses war. Im Gegenteil: Ich war hier die Partei, die hinter Sapiens-zentrischen und historisch-progressivistischen Denkmustern stecken geblieben war. Zwischen uns befanden sich gigantische Wahrnehmungs- und Verständnishürden, die nicht einmal von Übersetzungsgeräten überwunden werden konnten. Sicherlich, wäre ich fokussierter gewesen, hätte ich das zu dem Zeitpunkt erkennen können. Sie waren Existenzen aus einem vergangenen, unerreichbaren Zeitalter. Wenn es auch möglich wäre zurückzukehren, war es doch eine tote Zeit, unter alter Geschichte vergraben. Die Realität, die wir uns teilten, war in »meiner« Zeit und an »meinem« Ort. Die Diskussion war in meinen Augen beendet, als sie nach dem Geschrei hilflos dastand. Das war der Punkt, an dem wir automatisch zum nächsten Schritt übergehen. Ihre einzige Adaptationsmöglichkeit war, mich zu konsultieren, von mir zu lernen, mich zu imitieren. Unsere Rollen in diesem Interaktionskreis waren ganz klar definiert. Die meine war eine aktive Rolle, während die ihre passiv war. So bequem die Endgültigkeit dieses unausgesprochenen Verdikts für mich war, so unliebsam war sie für sie. Die neuen Grundregeln ihres Lebens waren nichts weiter als meine tägliche Arbeit. Ihre Gefühlsexplosion im Ernährungsbereich war nicht mehr als eine Parodie, gespielt, um dieses Ungleichgewicht zu unterstreichen. Ich wartete regungslos auf das Ende dieser unangenehmen Episode. Sie aber schrie weiter, als wolle sie ihre Halsschlagadern sprengen, sie schrie, bis ihr Gesicht vor Blut anschwoll und sie zwischendurch röchelnd durchatmen musste, als würde sie gleich ersticken. Mein Übersetzungsgerät konnte das Gesagte nur noch teilweise übersetzen und hatte den vergrößerbaren Ohrschutz ausgefahren, als habe es die Unüberwindbarkeit der Mauer zwischen uns erkannt. Ansonsten hätten meine Hände wahrscheinlich dasselbe getan und meine Ohren bedeckt. Im Anschluss passierte natürlich das, was ich ohnehin schon erwartet hatte. Ich blieb gelassen, wohlwissend, dass ich das Recht auf meiner Seite hatte. Sie verstand letztendlich, dass sie mit ihrem Geschrei nichts ausrichten konnte, und beruhigte sich.

Ich kündigte an, dass ich sie nach ihrer Nahrungsaufnahme über die Attraktionen der Stadt informieren würde. Sie tuschelten noch immer untereinander und versuchten, die eine Person zu beruhigen. Ich hörte den Namen »Ecrin«. Das musste ihr Name sein: Ecrin. Sie war jetzt still und sah für mich ziemlich beruhigt aus. Aber trotzdem war die Luft raus. Auch diejenigen, die vorher neugierig und interessiert Fragen gestellt hatten, hatten jetzt dieses Interesse verloren. Sie schienen distanziert und sogar entfremdet.

Dieses Gefühl jedoch erforderte zu dem Zeitpunkt kein besonderes Augenmerk und ich führte weiterhin meine Arbeit aus. Ich war mir sicher, dass sich die dicke Luft, spätestens wenn ich von den spektakulärsten Entwicklungen, von grenzenloser Freiheit, Unterhaltungsprogrammen und Freuden berichtete, auflösen würde. In den Räumen der neuen Realität, die alle Gefühle zu 100 Prozent simulieren können, konnten sie in jede denkbare Zeit und Ort transportiert werden und in realitätsnahen Wunschszenarien so viel Zeit verbringen, wie sie auch nur wollten. In den Gefechtsräumen konnten sie jeder Art von Kampf zuschauen oder sogar an diesen Kämpfen teilnehmen, sich anschließend reparieren und restaurieren lassen und Modelle, genauso wie mein linker Arm hier oder sogar noch bessere, aussuchen und ein neues physisches Erscheinungsbild entwerfen. Das Tier, welches sie vermissten – ich habe diese Stelle besonders stark betont –, konnten sie wiederbeleben lassen und auf ein beliebiges Harmonie- und Verbindungsniveau adjustieren. Es war möglich, dieses zu 100 Prozent natürlich zu gestalten, sodass man vergessen konnte, dass es nie geboren wurde. Sie konnten es kryogen einfrieren lassen oder in mobilen Käfigen in diversen Größen transportieren, es züchten und Nachwuchs bekommen, auch diesen pflegen, füttern und Gassi führen. Diese Tiere mussten nicht sterben, wenn es nicht gewollt war. Außerdem konnten sie eine Kopie eines jeden Menschen animieren, sie so behandeln, wie sie mochten, in die Gefechtsräume bringen und zerfleischen oder jedes soziale Gefühl auf dem gewünschten Niveau hochladen. Es reichte etwa aus, ein Charmerika zu besuchen, um den perfekten Liebhaber zu designen. Sie vermissten ihre Mütter? Dank der Kopierung von DNA-Strängen und den Erinnerungspfaden in ihren Gehirnen konnten sie auf der Stelle ein vollkommenes Replikat erschaffen. Falls sie täglich die Sonne sehen mochten wie in den alten Tagen, konnten sie ja auf die Plattformen der Sphäreneinheit steigen.

Schlussendlich habe ich ihnen die prinzipiellen Vorteile der Vollendungs-Ära aufgezählt, die sie von den alten, gefährlichen, unzuverlässigen, halb entwickelten Zeiten unterscheiden. »Alles« war wortwörtlich möglich. Sie mussten es nur wollen.

Auch wenn manche von ihnen beeindruckt aussahen, schien es doch eher so, als ob sie etwas überrascht oder gar betrübt waren. Ich hatte kein Verständnis dafür, dass sie nicht in Bewunderung, ja sogar Freudentränen ausbrachen. Der ganze Planet war eine Spielwiese und sie mussten lediglich ihr Spielzeug aussuchen. War das eine zu große Last? Falls sie dennoch engstirnig bleiben wollten, hatten sie sicherlich das Recht dazu. Ich erklärte ihnen sorgfältig, dass Zehntausende von extremistischen Gruppierungen weiterhin aktiv seien. Dass sie ihre Zeit damit verbringen können, Demonstrationen zu organisieren. Dass sie auf der Straße mit extrem dramatisierten perversen Dichtereien, genannt »Slogans«, nach Aufmerksamkeit schreien können und dabei ernsthaft glauben, dass sie ihre »noble« Sache verteidigen, als sei ihre Zwecklosigkeit nicht immer wieder aufs Neue bewiesen worden. Die Geschlechtsbinären, die Egalitaristen, die Humanisten (ich hasse es, dieses Schimpfwort zu benutzen, aber es ist allemal besser, als ihre Eigenbezeichnung »die, die das fabrizierte emotionale Bewusstsein als nicht natürlich anerkennen«) … Ich habe alle denkbaren Gruppen erwähnt, die Gefallen an Hassrhetorik finden. Sogar die konzeptionellen Duellisten und die Rhetoriker. Wenn sie das Ganze aber nicht wollten, war es durchaus möglich, sich von Gruppen zu separieren und auch so wunderbar zu leben, niemand würde sie zwingen, Teil einer Gruppierung zu sein, zu der sie nicht gehören mochten. Als die Einschränkungen des alten Systems abgeschafft wurden, wurden auch tyrannische Begierden und ihre Ziele ausgelöscht.

Trotz meiner Erklärungen bekam ich nicht einmal annähernd die positive Reaktion, die ich erwartete. Die Gruppe schien beeinflusst vom einseitigen Streit, den Ecrin mit mir geführt hatte.

Aus dem Fenster eines offenen Raums mit Stadtblick versuchte ich, ihnen den Verkehrsfluss der Hunderttausenden Menschen zu erklären, als sie mit übertriebener Ruhe fragte: »Wo ist die Erde?« Da ich dachte, dass sie mich vorher nicht verstanden hatte, fing ich an, die Energiezyklen der Sauerstoffranken und ihre Kapazitätsangaben zu wiederholen, aber sie korrigierte mich: »Das meine ich nicht. All dieses Wirrwarr hat doch irgendwo seine Wurzeln, oder? Erde, Boden … Man sieht sie von hier aus nicht. Wo ist sie?« Ich habe in dem Moment alle mir verfügbaren Informationen aufgerufen. »Na klar«, wollte ich sagen, »lassen Sie uns sofort die fortgeschrittene Version ansehen.« Ich wusste aber, dass das, was sie jetzt meinte, reine Erde war, die Wüste und die Canyons; die Erde, die jetzt nicht existent war. Es gab nur die lichtdurchlässige Bodenschicht und das radioaktive Glimmen darunter. Sie sagte, sie wolle es sehen; die anderen acht Leute in ihrer Gruppe können bezeugen, dass sie darauf bestanden hat. Ich habe geäußert, dass ihre Hauttypen nicht dafür geeignet sind, sie Schutzschilde brauchen und dass die Beschichtung Zeit braucht. Nichts, was ich sagte, konnte sie auch nur ansatzweise von ihrer Absicht abbringen. Sie wollte gehen, und die anderen haben sie darin bestärkt.

So stand der Plan fest. Als wir uns endlich in den Kapseln niedergelassen hatten und hinunterfuhren, versuchte ich, Informationen aus meinem Gedächtnis aufzurufen. Ab welchem Atomkrieg noch mal wurde die Erde stufenweise und letztendlich komplett radioaktiv und begann zu leuchten? Wie wurde der Lebensraum auf Platten transportiert? Wie konnten wir im Vergleich zu alten Zeiten jetzt das nachtlose Licht von unten benutzen und welche Vorteile hatte das im Vergleich zu den alten Zeiten, in denen die Sonnenenergie verschwendet wurde?

Sie schien kein großes Interesse an meinen Worten zu haben, ich dachte mir aber nichts dabei.

Ehrlich gesagt war es meine erste Priorität, sie stillzuhalten.

Ich weiß noch immer nicht, wie sie die Kapsel öffnen konnte. Ich habe keine Ahnung. Als ich sie endlich sah, schaute sie vom Rande der Plattform auf das geschmeidige Leuchten von unten. Mein erster Gedanke war, dass sie wahrscheinlich das Leuchten ohne Schutz, mit bloßem Auge bewundern wollte.

Tatsächlich war meine sekundenlange Vermutung so falsch und naiv, wie sie nur sein konnte.

Als ich ihr Vorhaben erkannte, fror ich zunächst auf der Stelle ein. Sie hatte noch nicht den Vertrag zu Aufwachbedingungen unterzeichnet, da wir noch gar nicht so weit gekommen waren. Was machte sie da? Ich sprang auf und versuchte, meine Kapsel zu öffnen, es ging aber nicht. Ich war nur ein paar Meter entfernt, aber es war mir unmöglich, eingreifen zu können, und so schrie ich: »Bitte komm zurück! Es ist dort nicht sicher!« Sie schüttelte den Kopf, es war aber nicht diese Geste, die mich letztendlich vermuten ließ, was sie als Nächstes tun würde. Es war ihr Gesichtsausdruck, wie ihr Mundwinkel sich hochzog … Bis heute sind wenige Erinnerungen in meinem Gedächtnis so klar wie diese. Es schien mir, als ob mein Augenkontakt das Einzige war, was sie noch zurück, hier bei uns, hielt. Vollständig hier … Sie war kurz davor, für immer zu verschwinden. Dies war eine neue Erfahrung für mich. Ich hatte nie einen Sapiens gesehen, der für immer verschwand.

Sicherlich habe ich jene kennengelernt, die gestorben sind, aber immer auf normalem Weg. Diejenigen, die aus Platzmangel von uns scheiden, nachdem ihre Koda gespeichert wurde, um später reanimiert zu werden. Der Tod war im Grunde nur eine Archivierungsangelegenheit, aber das hier … Das war etwas anderes, etwas über den gewöhnlichen Tod hinaus. Ab dem Moment hätte ich sie nicht mehr archivieren lassen können. Ich schrie. So laut ich konnte. »Stopp! Komm zurück! Du wirst vernichtet!«