Über die dunkelste See - Brittainy C. Cherry - E-Book

Über die dunkelste See E-Book

Brittainy C. Cherry

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Beschreibung

Vielleicht brauchte er mich und das Licht in mir, weil er sich sonst vollends in der Dunkelheit verloren hätte

Ich verstehe nicht, warum mich mein Vater in seinem Testament Damian Blackstone versprochen hat. Ich weiß nichts über ihn, nur dass er mit diesem Deal genauso wenig einverstanden ist wie ich. Trotzdem haben wir keine Wahl: Wir müssen heiraten und sechs Monate zusammenleben, oder wir verlieren unser millionenschweres Erbe für immer! Doch wir sind viel zu verschieden, als dass das mit uns gut gehen könnte. Damian ist eiskalt und von einer Dunkelheit umgeben, die jedes Sonnenlicht verschlingt. Aber manchmal sehe ich in seinem Blick, dass er sich nach meiner Leichtigkeit verzehrt. Und dann weiß ich, dass ihn zu heiraten vielleicht der Anfang von etwas Wunderschönem sein könnte ...

"Brittainys Geschichten gehen mir jedes Mal tief unter die Haut und direkt ins Herz. Mit ihren Worten schafft sie es, mein Herz zu brechen und es dann behutsam wieder zu heilen. Brittainy erschafft Liebesblitze." READABOOKWITH_ _N

Band 3 der emotionalen COMPASS-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Brittainy C. Cherry

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Seitenzahl: 458

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Prolog

1

2

3

4

5

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7

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Epilog

Die Autorin

Die Romane von Brittainy C. Cherry bei LYX

Impressum

Brittainy C. Cherry

Über die dunkelste See

Roman

Ins Deutsche übertragen von Katia Liebig

ZU DIESEM BUCH

Stella Mitchell versteht die Welt nicht mehr, als der letzte Wille ihres Adoptivvaters verlesen wird: Sie soll Damian Blackstone heiraten und mindestens sechs Monate mit ihm unter einem Dach wohnen, oder das millionenschwere Erbe geht an Wohltätigkeitsorganisationen! Erst bei der Beerdigung erfuhr Stella vom leiblichen Sohn ihres Vaters, und als sie Damian das erste Mal gegenübersteht, merkt sie sofort, dass sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Sein Blick ist eiskalt, er lässt niemanden an sich heran und ist umgeben von einer Finsternis, die alles Sonnenlicht um ihn herum verschlingt. Das mit ihnen kann nicht gut gehen, Damian Blackstone wird ihr Untergang sein! Doch je mehr Zeit Stella mit ihm verbringt, desto öfter erhascht sie einen Blick hinter seine steinerne Fassade und erkennt den gütigen und liebenswerten Mann, den er so sehr vor der Welt zu verbergen versucht. Und sie begreift, dass es sich um diesen Mann zu kämpfen lohnt und ihn zu heiraten vielleicht der Beginn von allem ist, was sie sich je gewünscht hat …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle

das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

Für Flavia und Meire, meine guten Feen.

Für alle, denen das Herz gebrochen wurde, und die dennoch an die wahre Liebe glauben.

Dieses Buch ist für euch.

PROLOG

STELLA

Sechs Jahre alt

»Ist doch nicht unser Problem«, sagte Catherine im Innern des Hauses. Ich saß mit Grams in Kevins Hollywoodschaukel auf der hinteren Veranda. Alle außer mir nannten Grams Maple, weil sie so süß war wie Sirup. Mama sagte immer, Grams sei die Großmutter der ganzen Welt, weil sie sich um alles und jeden kümmerte, der sie brauchte. Ich hatte jedoch das Glück, sie Grams nennen zu dürfen, weil sie für mich tatsächlich so etwas wie eine Großmutter war.

Sie hatte sich in den letzten Tagen um mich gekümmert – vermutlich, weil ich sie brauchte.

Wir saßen da und blickten auf die ans Ufer brandenden Wellen. Ich mochte Kevins und Catherines Haus am liebsten von allen und freute mich jedes Mal, wenn Grams mich mit zur Arbeit nahm. Früher war sie Kevins Nanny gewesen, und nun, da er erwachsen war, hatte er sie als Haushälterin angestellt. Meine Mutter hatte er ungefähr um die gleiche Zeit kennengelernt wie Grams. Er und Mama waren etwa gleich alt und sind enge Freunde geworden. Ich kenne Kevin und Grams schon mein ganzes Leben lang. Beide waren sogar dabei, als ich im St. Michael’s Hospital das Licht der Welt erblickte, so hat Mama es mir erzählt. Kevin und Grams waren für mich neben Mama die wichtigsten Menschen der Welt.

Und Grams Spitzname war mein zweiter Vorname.

Stella Maple Mitchell.

»Was soll ich tun, Catherine? Stella gehört zur Familie. Sophie war meine beste Freundin, verdammt!«, brüllte Kevin, was ich bei ihm noch nie erlebt hatte. Ich wusste nicht mal, dass er dazu fähig war.

»Ich sollte es sein, die dir wichtig ist! Deine Frau!«, schrie Catherine zurück, was mich wiederum nicht besonders überraschte. Catherine schrie ständig, wenn sie nicht gerade mit ihrem Make-up beschäftigt war. »Ich fühle mich einfach nicht gut dabei, ein fremdes Kind aufzunehmen.«

»Wir wollten doch immer eine Familie haben«, sagte Kevin.

»Ja, aber eine eigene. Nicht irgendwen, den jemand anders nicht wollte«, maulte Catherine.

»Was für eine blöde Ziege«, murmelte Grams und schüttelte angewidert den Kopf.

»Sagt man nicht«, sagte ich.

Sie lächelte und nickte. »Da hast du recht, Liebes. Aber manchmal braucht man solche Wörter, um auszudrücken, wie schrecklich man etwas findet – oder jemanden.«

»Ist Catherine wütend auf mich?«, fragte ich und spielte mit der Muschelkette, die Grams für mich gemacht hatte. Sie sammelte alle Arten von Muscheln, und seit ich laufen konnte, wanderten wir auf Kevins Grundstück auf und ab und suchten schöne Exemplare, während Grams mir Geschichten über das Meer erzählte.

Sie wusste alles über Götter und Göttinnen – die Götter der Erde und die Götter des Windes und die Götter des Feuers. Ich mochte ihre Geschichten, am liebsten die über Yemayá, die Göttin des Meeres.

Grams und Mama glaubten an Götter und Göttinnen. Jedes Mal, wenn sie sich sahen, unterhielten sie sich darüber. Sie lehrten mich schon als kleines Mädchen die Lieder und Tänze, die von Yemayá erzählten, und oft brachten wir der Göttin Opfergaben der Liebe und des Lichts ans Meer.

Grams meinte, dass ich Yemayá am liebsten von allen mochte, weil ich selbst ein Wasserzeichen war, so wie sie und Mama. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete, außer dass Grams bei Vollmond und Neumond seltsame Dinge veranstaltete. Aber mein Geburtstag war im März, und Grams sagte, deswegen hätte ich so eine enge Verbindung zum Wasser.

Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass ich so gerne im Meer planschte.

Grams schüttelte den Kopf. »Nein, Liebes, sie ist nicht wütend auf dich. Sie ist nur …« Sie verengte die Augen, während Catherine im Haus herumschrie. »Sie ist nur …«

»Eine blöde Ziege?«, fragte ich.

Grams schüttelte lachend den Kopf. »Ja, aber das bleibt unter uns.«

Ich senkte den Kopf und sah auf meine Kette. »Ich wünschte, Mama wäre hier.«

»Ich weiß. Ich auch.«

»Denkst du, sie vermisst uns?«

»Oh Liebes, mehr als du dir vorstellen kannst.« Grams griff in ihre Handtasche und zog eine riesige Muschel daraus hervor. »Hör mal«, sagte sie und hielt mir die Muschel ans Ohr. »Hörst du das?«

»Das rauscht wie das Meer!«, rief ich.

»Ja, das tut es. Und dort ist auch deine Mutter jetzt. Sie ist ein Teil des Ozeans, des anderen Reiches.«

Ich runzelte nachdenklich die Stirn. »Kann sie wieder zurückkommen?«

»Nicht körperlich, aber wenn du ins Wasser gehst, kannst du sie spüren. Erinnerst du dich, was ich dir von Yemayá erzählt habe? Dass sie uns alle beschützt?«

Ich nickte.

»Deine Mutter ist zu der Göttin ins Meer gegangen, und wenn du sie spüren möchtest, brauchst du nur ins Wasser zu gehen und ihre Liebe in dich aufzunehmen. Und wenn du im Meer bist, kannst du dir etwas wünschen, und sie werden dir helfen, deine Wünsche wahr werden zu lassen.«

Ich kniff die Augen zusammen. »Ich kann sie im Ozean spüren und mir etwas wünschen, wann immer ich will?«

»Wann immer du willst.«

»Also auch jetzt?«

Grams sprang von der Schaukel und reichte mir ihre Hand. »Auch jetzt.« Ich nahm sie, und Grams zog mich auf die Füße. Dann beugte sie sich hinunter, bis sie mir in die Augen sehen konnte. »Wetten, dass ich schneller am Wasser bin als du? Die Siegerin darf entscheiden, was es heute Abend zum Nachtisch gibt.«

»Was ist dein Lieblingsnachtisch?«

»Leber mit Zwiebeln.«

Ich verzog das Gesicht. »Bäh! Das will ich nicht!«

»Dann solltest du besser Gas geben. Eins … zwei … drei … los!«, rief sie.

Ich rannte Richtung Wasser. Die Sonne wurde langsam schläfrig, und der Himmel sah aus wie bunte Zuckerwatte. Meine Arme ruderten durch die Luft, und ich lief, so schnell meine Beine mich trugen. Das Wasser umspülte meine Zehen, dann meine Knöchel, schließlich meine Knie. Als die Wellen gegen mich klatschten, drehte ich mich um. Grams war nur wenige Schritte hinter mir. Wir lachten und tanzten, und ich spürte Mamas Liebe, während das Wasser sich mit uns bewegte.

Vielleicht hatte Grams recht. Vielleicht war Mama wirklich ein Teil des Ozeans geworden. Das machte mich froh, denn es bedeutete, dass ich jederzeit mit ihr sprechen konnte. Ich brauchte bloß ins Wasser zu gehen. Und Grams hatte gesagt, dass ich Mama in mir selbst sehen könne, denn ich sah aus wie sie, von den Locken bis zu meiner braunen Haut, sogar meine Augen und meine Nase.

Wir blieben lange im Wasser. Erst als Kevin zu uns ans Ufer trat, hörten wir auf zu planschen und zu toben. Er wirkte müde und ein wenig traurig, doch er sah schon länger so aus – seit Mama ein Teil des Ozeans geworden war.

Grams sagte, er sei traurig, weil er mit meiner Mutter seine Seelenverwandte verloren hatte, auch wenn sie nicht verheiratet gewesen waren, so wie Kevin und Catherine. Grams war davon überzeugt, dass ein Seelenverwandter auch ein bester Freund oder eine beste Freundin sein konnte. Und wenn man seine beste Freundin verlor, fühlte es sich so an, als würde das eigene Herz für eine Weile zu schlagen aufhören.

Ich hoffte sehr, dass Kevins Herz wieder anfangen würde zu schlagen.

Es tat mir weh, ihn so traurig zu sehen.

Kevin war barfuß. Die Ärmel seines weißen Button-down-Hemds hatte er aufgekrempelt und die Hände in den Taschen seiner blauen Hose vergraben. Er schenkte mir ein halbes Lächeln. Ein halbes Lächeln ist, wenn man versucht, seine Mundwinkel zu einem richtigen Lächeln zu verziehen, aber auf halbem Weg aufgibt, sodass es eher aussieht wie ein breiter Strich.

Grams und ich standen im Wasser, als Kevin halb in unsere Richtung lächelte.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Grams.

Er nickte.

Sie zog eine Augenbraue hoch. »Und Catherine?«

Jetzt sackten seine Mundwinkel ganz nach unten. »Macht keine Probleme mehr.«

»Das tut mir leid«, sagte Grams.

»Mir nicht«, antwortete Kevin. Er sah mich an, und seine Mundwinkel hoben sich zu einem richtigen Lächeln. »Hey Kiddo. Ich hab da mal ’ne Frage.«

»Nur raus damit!«, rief ich, während die Wellen mich hin und her warfen.

»Was hältst du davon, für immer bei mir zu bleiben?«

Ich riss die Augen auf, und mein Herz fühlte sich an, als wollte es zerspringen. »Wirklich?«

»Ja. Ich denke, wir beide wären ein gutes Team, meinst du nicht? Mit Grams, natürlich, im Gästehaus?«

Grams nickte. »Wenn du möchtest, dass ich bleibe, dann werde ich bleiben, Kevin.«

»Das wäre großartig«, antwortete er. »Ich brauche dich.«

»Wir werden alle hier wohnen?«, fragte ich. »Wie eine Familie?«

»Ja. Eine Familie. Was sagst du dazu?«, fragte Kevin.

»Für immer?«

Er nickte. »Für immer.«

Ich hatte gar keine Zeit, noch mehr dazu zu sagen, denn ich rannte los und sprang in seine Arme. Grams kam ebenfalls dazu. Wir umarmten uns alle drei, und ich hielt sie beide so fest, wie ich nur konnte.

»Danke, Mama«, flüsterte ich, während ich Kevin an mich zog.

Grams und Kevin konnten es nicht wissen, aber im Wasser hatte ich mir wieder eine Familie gewünscht. Jetzt wusste ich, dass das Meer wirklich magische Kräfte hatte – denn gerade war mein größter Wunsch in Erfüllung gegangen.

1

STELLA

Gegenwart

»Soll das ein Witz sein?«, schnaubte ich leise, als ich mich in die endlose Schlange vor Jerry’s Bakery einreihte.

Ich gehörte nicht zu den Menschen, die gerne in einer Schlange standen und warteten, weder für Konzerttickets noch für Essen oder Black-Friday-Angebote. Tatsächlich gab ich mir alle Mühe, jegliche Arten von Warteschlangen zu vermeiden. Wenn mehr als zehn Leute vor mir standen, standen die Chancen gut, dass ich das neue beliebte Chicken Sandwich erst mal nicht probieren würde. Oh, und die Sneakers, die ich unbedingt haben wollte? Göttlich! Fünfundzwanzig Leute in der Schlange? Ich besorg sie mir in der nächsten Saison, vielen Dank.

Doch an diesem Samstagmorgen fand ich mich sogar in einer extrem langen Schlange wieder, denn ich benötigte genau zwei Dinge, die ich ausschließlich bei Jerry’s bekam: einen Blaubeerscone und schwarzen Kaffee mit zwei Stück Zucker. Das und nichts anderes. Aber offenbar schien die ganze Welt samstagmorgens zu Jerry’s zu rennen, denn um acht Uhr wand sich die Schlange bereits einmal um das Gebäude, und ich brauchte bis 8 Uhr 35, um bis zum Eingang zu gelangen.

Normalerweise kam ich unter der Woche während meiner Pause her, wenn der größte Andrang vorbei war, und vermied es, samstagmorgens hier aufzutauchen, doch diesmal hatte ich keine andere Wahl.

Im Schneckentempo näherte ich mich meinem Ziel, bis mich nur noch ein großer Mann in Designerklamotten von ihm trennte. Ich war der Erfüllung meiner Mission so nah, dass ich die Blaubeeren beinahe schmecken konnte. So nah, dass der Kaffee nur Sekunden davon entfernt war, mir die Zunge zu verbrennen. Ich sah ihn bereits vor mir in der Vitrine: einen wunderschönen, prallen Blaubeerscone. Der Letzte. Ich fühlte mich, als hätte das Universum auf mich herabgeschaut und mir liebevoll die Wange geküsst.

Leider hatte das Universum einen ziemlich fiesen Sinn für Humor, denn es verpasste mir eine schallende Ohrfeige, als der Kerl vor mir den letzten Scone bestellte.

»Nein!«, rief ich und stürzte nach vorne, als wollte ich eine Bombe am Explodieren hindern. Ich schob mich zwischen ihn und die Vitrine, als wäre es der einzige Sinn meines Lebens. Mein Herz trommelte gegen meine Rippen, und mir sprangen fast die Augen aus dem Gesicht. Die Kassiererin und der große Mann starrten mich an, als hätte ich den Verstand verloren – nicht ganz zu Unrecht, wie ich zugeben musste, aber das war mir in dem Augenblick egal.

Alles, was ich wollte, war dieser verflixte Scone.

»Tut mir leid, ich will Ihnen nichts tun oder so«, sagte ich zu dem schockierten Mädchen hinter der Kasse. Sie konnte kaum älter als siebzehn sein. Achtzehn mit viel Make-up. Ich wandte mich zu dem Mann hinter mir um, und als unsere Blicke sich trafen, fiel ich beinahe in Ohnmacht. Er sah aus wie …

Nein.

Konzentrier dich, Stella.

Ich schenkte ihm das freundlichste Lächeln in meinem Repertoire und zwang meine Nerven, sich wieder zu beruhigen, während ich in die kältesten blauen Augen blickte, die ich je gesehen hatte. Sie sahen aus wie der Ozean – wenn er sich abweisend und eisig gab. Und sie jagten mir einen eisigen Schauer über den Rücken, als sie mich ansahen.

Ich zitterte am ganzen Körper, während ich in seine blauen Augen starrte. Sein Körper dagegen wirkte ruhig und stark.

Meine Augen hatten also offenbar nicht den gleichen Effekt auf ihn wie seine auf mich.

»Ich wollte diesen Blaubeerscone haben«, erklärte ich. »Nur deswegen habe ich die ganze Zeit angestanden.«

»Interessiert mich nicht«, knurrte er. Seine Stimme war rauchig und tief. Hörte ich da einen vagen New Yorker Einschlag? Queens vielleicht? Oder Brooklyn? Als Kind hatte ich mir immer vorgestellt, ich käme aus New York City. Ich inhalierte alle Folgen von Sex and the City und übte die unterschiedlichen Akzente, die ich mir auf YouTube anhörte.

Manche Kinder hingen mit anderen Leuten rum; andere hockten in ihrem Zimmer und übten Akzente.

Der Fremde hielt der Kassiererin seine Karte hin, doch ich schlug sie ihm aus der Hand, sodass sie zu Boden segelte. Sein Blick wanderte nach unten zu seiner Karte, dann wieder hoch zu meinen Augen, zurück zu seiner Karte und wieder zu mir. Mir wurde ein wenig flau.

»Entschuldigung«, murmelte ich.

»Wollen Sie mich verarschen?«, fuhr er mich an.

Das arme Mädchen hinter der Kasse blickte nervös nach hinten, als hoffte sie, jemand würde kommen und sie aus ihrer unangenehmen Lage befreien. »Äh, Ma’am, ich muss Sie leider bitten …«

»Ich gebe Ihnen Geld!« Ich ignorierte das Mädchen und sah den Mann an, während ich meine Geldbörse aus der Handtasche fischte. »Wie viel wollen Sie für den Scone haben?«

»Hören Sie auf, mich vollzuquatschen.« Er bückte sich, um seine Karte aufzuheben und sie abermals der Kassiererin zu geben, doch ich schlug sie ihm wieder aus der Hand. Jetzt senkte sich seine Stimme zu einem tiefen Knurren. Ich spürte die Hitze seines Zorns auf meiner Haut und wich einen Schritt zurück. »Hören Sie zu, Lady«, grollte er.

»Nein, Sie hören mir zu! Ich brauche diesen Scone. Ich wollte ihn zuerst!«

»Sie sind aber nicht dran«, erklärte die Kassiererin.

»Halten Sie sich da raus, Julie!«, fuhr ich sie an. Dann beugte ich mich vor und flüsterte: »Tut mir leid, das klang bestimmt ziemlich unfreundlich. Entschuldigen Sie bitte meinen Ton. Ich schreie normalerweise niemanden an, ich schwöre es. Ich bin nur …«

»… nicht ganz bei Sinnen«, brummte der Mann.

Ich funkelte ihn böse an. »Das war sehr unhöflich.«

»Interessiert mich nicht«, erwiderte er.

»Auch gut. Es interessiert mich nämlich nicht, dass es Sie nicht interessiert. Alles, was mich interessiert, ist dieser Scone.«

»Dann hätten Sie früher kommen müssen«, gab er zurück.

»Wollte ich ja, aber auf den Straßen war so viel los, und …«

»Und niemand hat Sie um Ihr Gejammer gebeten.«

»Sie verstehen das nicht. Ich …«

»Wie gesagt, das interessiert hier keinen«, erklärte er kalt und bückte sich erneut nach seiner Karte.

»Er hat recht, Sie halten nur den Betrieb auf!«, rief ein Kerl aus der wachsenden Schlange hinter mir.

Ich drehte mich um und sagte: »Das hier ist eine Privatangelegenheit zwischen mir und …«

»Ihr selbst«, erklärte der kaltherzige Mensch, nachdem er für seinen Blaubeerscone, der eigentlich für mich bestimmt gewesen war, bezahlt hatte. Er nahm seinen Kaffee und seinen Scone und näherte sich dem Ausgang.

Meine Brust brannte, als hätte jemand sie in Brand gesetzt, während ich zusah, wie der letzte Blaubeerscone die Bäckerei verließ. Hatte sich Romeo so gefühlt, nachdem er Julia verloren hatte? Jetzt verstand ich, was er meinte, wenn er sagte: »Dies meiner Lieben! Oh wackrer Apotheker. Dein Trank wirkt schnell. Und so im Kusse sterbe ich.«

Was hätte ich darum gegeben, diesen verflixten Scone mit meinen Lippen zu küssen.

Ich hätte gerne behauptet, dass dies meine letzte Begegnung mit diesem Mann war, aber nein. Ich war viel zu instabil, um es damit bewenden zu lassen. Wie die Verrückte, in die ich mich zunehmend verwandelte, rannte ich dem Fremden hinterher und brüllte: »Hey! Hey! Warten Sie!«

Er sah über die Schulter, und ich erkannte deutlich, wie genervt er war. Dann blickte er wieder nach vorn und ging ungerührt weiter. Ich musste beinahe joggen, um zu ihm aufzuschließen. Wie groß war dieser Kerl? Ein einziger seiner Schritte war doppelt so lang wie mein staksiger Dauerlauf.

»Entschuldigen Sie bitte!«, rief ich, als er die hintere Tür seines Wagens öffnete – eines extrem kostspieligen Wagens samt Chauffeur. Noch bevor die Tür ganz geöffnet wurde, sprang ich ihm in den Weg. »Entschuldigen Sie, ich habe ein paarmal nach Ihnen gerufen.«

»Ich habe keine Zeit für Ihre kalifornischen Verrücktheiten, Lady.«

Ah, Sie stammen also schon mal nicht aus Kalifornien. Schon klar, Mr Accent.

Ich lächelte mein liebenswürdigstes Lächeln. »Mein Name ist Stella.«

»Wollte ich gar nicht wissen.«

Okay, vielleicht gelang es ihm tatsächlich, mich nicht zu lieben, aber was soll’s.

Eigentlich wollte ich weiter die Durchgeknallte mimen, aber ich entschied mich, auf etwas normaler und zugänglicher umzuschalten, denn schließlich war ich noch immer scharf auf diesen verflixten Scone. »Stimmt, aber ich dachte, es macht alles ein wenig einfacher, wenn wir uns beim Vornamen anreden. So wäre dieses Gespräch ein wenig persönlicher.«

»Ich werde nicht persönlich mit Ihnen.«

»Nun, dann freut es mich, Ihnen mitteilen zu können, dass ich ein Profi darin bin, persönlich zu werden. Ich kann also die Leitung übernehmen, und Sie machen es mir einfach nach. Wir könnten einen kleinen Eins-zwei-Cha-Cha-Cha-Gesprächstango hinlegen.« Ich vollführte ein paar Cha-Cha-Cha-Schritte. Aber er fand mich nicht sonderlich amüsant.

Stattdessen blinzelte er ganze sechsmal hintereinander. »Treten Sie zur Seite.«

»Aber …«

»Ich habe noch einen Termin, okay?«, fuhr er mich an. »Also gehen Sie mir aus dem Weg.«

»Das werde ich, versprochen. Sobald Sie mir den Blaubeerscone gegeben haben.«

»Sie sind ja vollkommen irre.«

»Ja, ja, meinetwegen. Nennen Sie mich, wie Sie wollen. Solange Sie mir den Scone geben.«

Er verzog das Gesicht und knurrte mit zusammengekniffenen Augen: »Sie meinen diesen hier?« Er sah auf seine Tüte hinunter, zog langsam den Scone heraus und rieb sorgfältig mit seinen Fingern darüber.

War mir egal. Ich hatte eine öffentliche Schule besucht und hatte die Spiele in der Grundschule überlebt, bei denen man nach Äpfeln tauchen musste. Irgendwelche Bazillen machten mir keine Angst.

»Ja, genau den.«

»Oh, okay.« Er hielt ihn mir hin. Doch als ich danach greifen wollte, zog er seine Hand zurück und stopfte ihn sich mit drei Bissen in den Mund. Ein, zwei, drei. Krümel rieselten zu Boden, während er mir aggressiv ins Gesicht kaute. Ganz ehrlich, der größte Teil des Scones schaffte es nicht mal bis in seinen Mund. Die armen, süßen Blaubeeren fielen auf den Bürgersteig, und ich fühlte mich, als hätte er mir in die Weichteile getreten. Was für ein Höhlenmensch.

»Würden Sie jetzt endlich zur Seite treten?«, fragte er mit vollem Mund, wobei er Krümel in meine Richtung spuckte. Mit der Hand fegte er die letzten Reste von seinem maßgeschneiderten schwarzen Anzug und zog arrogant eine Augenbraue hoch.

»Sie sind ein … ein … ein Riesenarschloch!«, platzte es voller Wut, Abscheu und Trauer aus mir heraus. Vor allem Trauer.

Unendliche Trauer.

»Ich bin kein Arschloch. Ich habe nur gelegentlich Arschloch-Anwandlungen«, knurrte er und seufzte. »Warum tun Sie das?«

»Was?«

»Weinen.«

»Tu ich nicht.«

»Ihre Tränendrüsen sondern Flüssigkeit ab. Das nennt man Weinen.«

Ich berührte meine Wangen und schüttelte den Kopf. Da sieh mal einer an. Ich weinte tatsächlich. »Sie hätten meinen Scone nicht essen dürfen«, schluchzte ich. Was war nur los mit mir? Sicher, ich war immer schon nah am Wasser gebaut gewesen, aber das hier war sogar für mich ein wenig übertrieben.

Er wirkte eher besorgt als verärgert. Sein Mund öffnete sich, als wollte er mich trösten, doch dann schloss er ihn wieder, griff in seine Tasche und reichte mir sein perfekt gefaltetes Taschentuch.

»Danke«, murmelte ich, schniefte hinein und gab es ihm zurück.

Er verzog das Gesicht. »Behalten Sie es. Und jetzt zum letzten Mal, würden Sie bitte von meinem Wagen zurücktreten?«

Ich trat zur Seite.

Er stieg ein und schlug die Tür hinter sich zu. Das Fenster glitt nach unten, und er sah mich an. »Falls es Sie tröstet, er war nicht besonders gut«, sagte er und ließ das Fenster wieder hochfahren.

Sein Fahrer gab Gas und ließ mich mit nichts als Krümeln als Erinnerung an diese seltsame Begegnung stehen. Die zweifellos ich so seltsam gemacht hatte.

Ich versuchte mich ein wenig zusammenzureißen, auch wenn meine Nerven nach wie vor blank lagen. Dann stieg ich in mein Auto und machte mich auf den Weg zu meinem nächsten Ziel – dem Teil meines Tages, vor dem ich am meisten Angst hatte. Ich wünschte, ich hätte wieder ins Bett kriechen und die nächsten Stunden einfach überspringen können, doch das Leben hatte keine Pausentaste, wie sehr man eine Auszeit auch gebraucht hätte.

2

STELLA

Ich hasse es.

Und Kevin hätte es auch gehasst.

»Werft mich ins Meer und überlasst mich den Meerjungfrauen«, hatte er einmal zu mir gesagt, als ich noch klein war. Es war kurz nach der Beerdigung meiner Mutter gewesen, und die Trauer um sie schien ihn zu überwältigen. Kevin war kein Mensch, der viele Emotionen zeigte, doch ich hatte nie etwas Traurigeres erlebt als seinen Zusammenbruch nach dem Tod meiner Mutter.

Da sie einander so nahegestanden hatten, musste es sich für ihn angefühlt haben, wie eine Familienangehörige zu verlieren. Und nun, da beide von mir gegangen waren, fühlte ich mich ein wenig heimatlos und wusste nicht recht, was ich ohne die beiden Menschen, die mich großgezogen hatten, anfangen sollte. Wenigstens hatte ich Grams.

Ich war mir nicht sicher, ob ich die Tage nach Kevins Tod ohne sie überstanden hätte. Jedes Aufwachen war eine Qual gewesen. Es war, als führte das Licht jeden neuen Tages zu noch dunkleren Nächten.

Habt ihr euch jemals so gefühlt, als würde etwas in eure Brust greifen, euer Herz herausreißen, es immer wieder auf den Boden schlagen, es mit einem Presslufthammer bearbeiten und es anschließend durch einen Reißwolf ziehen? Nur um es einem danach irreparabel zerstört wieder in die Brust zu setzen? So fühlte sich meine Trauer an – wie ein geschundenes, zerbeultes, durch den Reißwolf gezogenes Herz.

Erst Mama, und jetzt Kevin.

Kevin Michaels war wie ein Vater für mich gewesen. Er war immer für mich da gewesen, und jetzt war er fort. Ich konnte es einfach nicht begreifen. Die meiste Zeit fühlte ich mich, als würde ich es verdrängen und verzweifelt nach einem Silberstreifen am Horizont Ausschau halten. Und an manchen Tagen war es noch schlimmer als an den anderen.

»Atme, mein Schatz«, sagte Grams und legte mir eine Hand auf den Rücken. Den winzigen Trost, den ihre Hand mir spendete, hatte ich dringend nötig, denn ich stand kurz davor, einfach zusammenzuklappen.

»Du hörst mir nicht zu«, wiederholte Grams und beschrieb Kreise auf meinem Rücken. »Ich sagte, du sollst atmen.«

Ich ließ die Luft aus meinen Lungen entweichen.

Obwohl ich Kevin sehr geliebt hatte, wusste ich, dass Grams’ Liebe für ihn noch tiefer ging. Sie hatte ihn sein ganzes Leben lang gekannt. Sie war seine zweite Liebe gewesen, nach seiner eigenen Mutter, denn sie war von den ersten Monaten seines Lebens an seine Nanny gewesen. Als Kevin so alt war, dass er keine Nanny mehr brauchte, stellte seine Familie Grams als Haushälterin ein. Grams sagte, der Begriff sei nur ein anderes Wort für Dienstmädchen, wusste jedoch, dass Kevins Familie sie aus Respekt so genannt hatte.

Und alle wussten, dass Grams genau das gewesen war – der Familienvorstand. Der Ort des Zen. Der Schutzengel, der hinabgesandt worden war, um uns zu begleiten und dafür zu sorgen, dass wir nicht zu atmen vergaßen. Das war sie für Kevin, für meine Mutter, und für mich.

»Ich verstehe es einfach nicht. Am einen Tag war er noch da, und am nächsten …«, flüsterte ich, als wir an seinem Sarg standen. Meine Finger umfassten die Kette an meinem Hals. Sie bestand aus drei Muscheln. Nach Mamas Tod hatte ich ihre Muschel auf meine Kette gefädelt, um sie immer bei mir zu haben, wenn ich meine Hände an die Muschel legte. Es hatte mir das Herz gebrochen, nun auch Kevins Muschel hinzufügen zu müssen.

»Das Leben geht oft schneller, als uns lieb ist«, sagte Grams. »Wenigstens hat er nun keine Schmerzen mehr.« Sie legte beide Hände an den Sarg und sprach das gleiche Gebet, das sie auch an Mamas Sarg gesprochen hatte: »Eins mit der Erde, eins mit dem Meer, mögen die Wogen des Ozeans dich segnen. Mögest du auf deiner nächsten Reise Frieden finden, Kevin. Und ewigen Segen.«

»Und ewigen Segen«, flüsterte ich einvernehmlich, denn wenn zwei oder mehr Menschen in Gebeten oder Manifestationen übereinstimmten, bekamen diese umso mehr Macht. Das hatte Grams mich gelehrt, und so hatte ich »und ewigen Segen« wiederholt, um dafür zu sorgen, dass Kevins Seele im nächsten Leben Frieden fand.

»Ich habe seine Windeln so viele Jahre vor deinen gewechselt«, sagte Grams und senkte den Kopf. Ihre Hand blieb noch einige Sekunden lang auf seinem Sarg liegen. Ihre Schultern waren gerundet, und es sah aus, als läge das Gewicht der ganzen Welt auf ihnen. »Und jetzt ist er fort.«

Die Traurigkeit, die sie stets vor mir zu verbergen bemühte, trat langsam in ihren Blick.

»Grams«, flüsterte ich mit einem Kloß im Hals, während ich zusah, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten. Sie gab sich immer alle Mühe, nicht vor mir zu weinen, denn sie hatte sich immer als Oberhaupt unserer einzigartigen Familie betrachtet, dessen Aufgabe es war, stark zu sein. Doch einen Menschen zu verlieren, der ihr wie ein Sohn gewesen war, ging auch über ihre Kraft.

Sie schniefte leise und zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche, um sich damit die Augen abzutupfen. »Es geht schon, Liebes. Ich gehe mal ein paar Minuten an die frische Luft.« Sie wandte sich zum Gehen, doch als ich ihr folgen wollte, hob sie, ohne sich zu mir umzudrehen, die Hand. »Lass mir ein wenig Zeit, Liebes. Es geht schon.«

Sie ging weiter, und ich legte meine Hand an den Sarg, schloss die Augen und flüsterte den gleichen Segen, den Grams zuvor gesprochen hatte. »Eins mit der Erde, eins mit dem Meer, mögen die Wogen des Ozeans dich segnen.« Er existierte in unserer Familie, seit ich denken konnte. Wir sprachen ihn nicht nur in traurigen Momenten, sondern auch wenn es etwas zu feiern gab. Es war ein Segen für alle, die wir liebten, und es bedeutete, dass der Segen der Erde und des Wassers uns begleitete, wohin wir auch gingen. Die Natur beschützte uns, und dieser Segen würde immer mit uns sein, in guten wie in schlechten Zeiten.

Als ich die Augen wieder öffnete und mich umdrehte, zuckte ich erschrocken zusammen. Neben mir stand ein tiefschwarz gekleideter Mann und starrte mit einem Blick absoluter Losgelöstheit auf den Sarg. Ein überwältigendes Gefühl von Vertrautheit überkam mich. Mein Magen zog sich zusammen, und mein Mund wurde trocken, als ich den Fremden neben mir anstarrte.

Er sah genauso aus wie Kevin.

Von seiner Körpergröße über den perfekt rasierten Bart bis hin zu seinen Augen, die so blau waren wie Kevins. Doch im Unterschied zu Kevin, dessen Augen den Ozean an seinen ruhigsten Tagen widerspiegelten, sah dieser Mann aus, als wäre er in einem gewaltigen Sturm geformt worden. Ein Schauer jagte über meinen Rücken, während ich den Mann anblickte, der mir mein Frühstück versaut hatte. Er hatte sogar noch einen Scone-Krümel im Bart.

»Sie!«, zischte ich.

Er seufzte. »Das darf jetzt nicht wahr sein.«

Ich konnte nicht einmal klar denken. Das ergab einfach keinen Sinn.

»Hat Ihnen niemand beigebracht, dass es unhöflich ist, andere Menschen anzustarren?«, bemerkte er trocken. Seine Stimme war tief und rauchig, ohne die geringste Spur von Freundlichkeit.

Eindeutig nicht Kevins Stimme.

Eindeutig nicht Kevins Sanftheit.

Aber eindeutig, eindeutig Kevins Augen.

»Was tun Sie überhaupt hier?«, blaffte ich ihn an, von seiner bloßen Existenz verärgert. Weil er mich so sehr an Kevin erinnerte. Und weil er meinen verflixten Scone gegessen hatte.

»Was tun Menschen wohl auf einer Beerdigung, Lady?«

»Stella.«

»Wie gesagt, es interessiert mich nicht.«

»Tut mir leid, ich … Sie …« Ich schüttelte den Kopf und versuchte mich zu konzentrieren.

»Er ist ganz schön alt«, sagte er und blickte auf Kevin. »Das habe ich nicht erwartet.«

»Wie meinen Sie das?«

Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Er ist eben … älter, als ich dachte.«

»Man flucht nicht in einer Kirche.«

»Verdammt, da haben Sie recht«, erwiderte er sarkastisch.

Was für ein Arschloch. Aber irgendwie musste ich auch ein wenig lachen.

Ich sah ihn aus schmalen Augen an. »Woher kannten Sie Kevin?«

»Ich kannte ihn nicht.«

»Oh.« Jetzt war ich es, die sarkastisch auflachte. »Es ist auch eines meiner Hobbys, auf fremden Beerdigungen aufzukreuzen.«

Er sah mich ausdruckslos an.

»Das war ein Scherz«, erklärte ich. »Aber offensichtlich kein besonders guter. Vielleicht runzelt man besser die Stirn über Leute, die auf einer Beerdigung Witze reißen. Er allerdings nicht«, sagte ich und wies auf Kevins Sarg. »Er runzelt gar nichts mehr.« Ich lachte. »Das war ebenfalls ein Scherz«, erklärte ich. »Aber auch kein besonders guter. Okay, wie wäre es hiermit: Klopf, klopf.«

Er sah mich nur desinteressiert an.

Ich beendete den Witz alleine, denn wenn eine Situation unbehaglich wurde, neigte ich dazu, sie noch ein wenig unbehaglicher zu machen. »Wer ist da? Nicht Kevin, denn der ist ja tot. Ha, ha. Kapiert? Beerdigungswitze.«

Er blinzelte.

Er verzog das Gesicht.

Er wandte den Blick von mir ab.

»Für jemanden, der auf fremden Beerdigungen auftaucht, haben Sie ziemlich wenig Humor«, bemerkte ich. Du meine Güte, was war nur los mit mir? Hier stand ich und plapperte mit einem Mann, der an der Beerdigung eines Menschen teilnahm, den er nicht mal gekannt hatte.

Und doch sah er ihm erschreckend ähnlich.

Hör auf zu reden, Stella.

Ich räusperte mich und strich mit den Händen über mein Kleid. »Tut mir leid. In unbehaglichen Situationen muss ich immer lachen. Außerdem hatten Kevin und ich einen etwas morbiden Sinn für Humor. Und, nun ja, ich … Wieso haben Sie meinen Scone gegessen?«, platzte es aus mir heraus, weil meine Lippen so schnell arbeiteten wie mein Verstand, was jedes Mal unweigerlich ins Unglück führte.

»Nicht schon wieder.«

»Doch, schon wieder. Sie wollten ihn ja nicht einmal!«

»Wenn ich ihn nicht gewollt hätte, hätte ich ihn mir nicht gekauft.«

»Ja, aber Sie haben ihn nicht mal genossen. Sie haben ihn bei Ihrem Versuch, kleinlich zu sein, einfach verschwendet.«

»Was soll ich dazu sagen? Ich bin eben ein kleinlicher Mensch.«

»Sie sind ein Arschloch. Das sind Sie.«

»Man flucht nicht in einer Kirche«, sagte er spöttisch.

»Verdammt, da haben Sie recht«, erwiderte ich.

Er lachte kurz auf. »Ich bin kein Arschloch, ich …«

»… habe bloß gelegentlich Arschloch-Anwandlungen, ja, schon klar. Sie sind außerdem ziemlich seltsam, wissen Sie das? Auf der Beerdigung eines Menschen zu erscheinen, den Sie überhaupt nicht kannten.« Ich verstummte. Mein Herz begann zu rasen, und ich schlug panisch die Hände vor die Brust. »Du meine Güte, jetzt verstehe ich.«

»Was?«

»Sie sind ein Stalker!«

»Wie bitte?«

»Sie sind ein Stalker! Sind Sie mir hierher gefolgt?«

Er seufzte. »Machen Sie sich nicht wichtiger, als Sie sind.«

»Das ergibt absolut Sinn!«

»Es ergibt Sinn, dass ich Ihnen zu einer Beerdigung folge? Halten Sie sich wirklich für so aufregend?«

»Mir mangelt es nicht an Selbstwertgefühl, wenn Sie das meinen. Tatsächlich bin ich eine sehr stalkenswerte Persönlichkeit. Es gibt Männer, die würden töten, um mir nachstellen zu können. Oder mich töten, während er mir nachstellt. Kann man nie wissen.«

»Sind Sie immer so peinlich?«

»Ja, eigentlich jeden Tag.«

Er zog neugierig eine Augenbraue hoch, und die Falten auf seiner Stirn wurden noch ein wenig tiefer, während er mich betrachtete. Dann blickte er zu Kevin, und wieder zurück zu mir. »Waren Sie schon mal auf einer Beerdigung, auf der der Tote genauso aussah wie Sie selbst?«

»Ich, ähm, nein.«

»Ich erwarte nicht von Ihnen, dass sie Sherlock Holmes spielen, oder Matlock, aber vielleicht sollten Sie mal Ihren Kopf einschalten, Lady.«

»Stella.«

»Interessiert mich nicht.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie Kevins Sohn …«

Bevor ich den Gedanken zu Ende denken konnte, betrachtete der Kerl mich mit einem zutiefst gelangweilten Blick von oben bis unten und marschierte dann davon. Wieder jagte ein Schauer über mich hinweg, und ich rieb mir fröstelnd die Unterarme.

»Nein, das kann nicht sein«, murmelte ich. Wenn Kevin einen Sohn gehabt hätte, hätte ich davon gewusst.

Das ist … Ich meine, er kann nicht …

Konnte es sein? Dass Kevin einen verlorenen Sohn hatte?

Ich fragte mich, wie dieser Scones stehlende, egoistische, auf seine mürrische Art unfassbar gut aussehende Mann wohl hieß.

Kopfschüttelnd wandte ich mich wieder Kevins Sarg zu. »Offenbar hast du versucht, ein paar Dinge mit ins Grab zu nehmen, aber wie es scheint, sind sie gerade wieder ans Ufer gespült worden. Hast du irgendwas dazu zu sagen?« Ich hielt mir eine Hand wie ein Mikrofon vor den Mund. »Sprechen Sie jetzt, oder schweigen Sie für immer.«

Er schwieg. Und mein ohnehin gequältes Herz zerbrach in eine Million Stücke.

»Tut mir leid, dass ich Beerdigungswitze erzählt habe, Kevin. Aber sie waren wirklich gut.«

Ich lächelte ein wenig, denn ich kannte seinen Humor. Er hätte gelacht, wenn er gekonnt hätte. Schon verrückt, wie sehr man das Lachen eines Menschen vermissen konnte. Wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte, hätte ich ihn noch häufiger zum Lachen gebracht, um mich immer daran zu erinnern.

Ich fuhr zurück zu Kevins Haus, wo das Traueressen stattfand, und kümmerte mich darum, dass alle gut versorgt waren. Und natürlich war auch der Mann, der die Hauptrolle meines Tages übernommen hatte – nach Kevin natürlich –, ebenfalls da. Er betrachtete die Fotografien an der Wand neben der Wendeltreppe.

In jüngeren Jahren war Kevin Fotograf gewesen, was ihm seine ersten Millionen eingebracht hatte. Natürlich hatten vor allem sein Erfolg auf dem Aktienmarkt sowie das Geld seiner Familie den Großteil zu seinem Leben als Multimillionär beigetragen, doch er hatte seine Kunst immer mit großer Leidenschaft betrieben.

Vielleicht hatten wir uns deshalb so gut verstanden. Zwar verwendete ich eher Acrylfarben und Pinsel, doch Kreative und Künstler jeder Art schienen immer einen besonderen Draht zueinander zu haben. Wir teilten einfach einen gewissen Stolz.

»Die sind alle von ihm«, erklärte ich.

Er warf mir einen kurzen Blick zu und wandte sich dann wieder schweigend den Bildern zu.

Ich strich mit den Händen über mein Kleid. »Haben Sie einen Namen?«

»Ja.«

Ich wartete darauf, dass er ihn mir mitteilte. Tat er aber nicht. »Und der lautet?«

»Haben Sie ein Problem mit mir?«, fuhr er mich an.

»Nein. Warum fragen Sie?«

»Weil Sie sich alle Mühe geben, mit mir ins Gespräch zu kommen, obwohl es keinen Grund gibt, warum wir beide uns unterhalten sollten. Es dürfte doch offensichtlich sein, dass ich keinerlei Verlangen habe, mit Ihnen zu reden, und doch kommen Sie immer wieder her und versuchen mich in ein Gespräch zu verwickeln. Sie sind ausgesprochen anstrengend.«

»Und Sie sind … mürrisch und unhöflich, und das ohne Grund.«

»Soll ich auf einer Beerdigung etwa glücklich und fröhlich sein?«

»Nein, aber Sie müssen sich auch nicht wie ein Arschloch benehmen.«

Er grinste spöttisch. »Danke für den Tipp.«

»Ach, leck mich doch.«

»Kein Interesse.«

»Ich bin ehrlich froh, Ihnen nie wieder begegnen zu müssen, Mr Ich-gehe-auf-die-Beerdigung-fremder-Leute-weil-ich-kein-eigenes-Leben-habe.«

»Und ich bin froh, Ihnen nie wieder begegnen zu müssen, Ms Ich-reiße-dämliche-Witze-auf-einer-Beerdigung-und-heule-wegen-eines-Blaubeerscones.«

»Arschloch!«

»Wie oft wollen Sie mich noch so nennen, bevor Sie mich endlich in Ruhe lassen?«

»Ich …«

»… rede zu viel? Ja, das tun Sie. Sie reden zu viel.«

»Sind Sie wirklich Kevins Sohn?«, platzte es aus mir heraus.

»Ich weiß es nicht. Wie wäre es, wenn Sie ihn fragen? Oh, warten Sie, das können Sie ja nicht, er ist nämlich tot«, erwiderte er. Ich starrte ihn mit leerem Blick an. Er zuckte die Schultern. »Ich wollte nur einen Witz machen, so wie Sie.«

»Offensichtlich. Aber Ihr Timing als Comedian ist ein wenig daneben.«

»Nun, dann sollte ich meine Karriere als Stand-up wohl besser beenden.«

»Entschuldigen Sie, Mr Blackstone, ich denke, es geht jeden Moment los«, sagte eine Stimme. Der Mann trat zu uns, sah mich an und lächelte breit. »Stella! Wie schön, dich zu sehen.« Joe Tipton war Kevins langjähriger Anwalt und ein enger Freund von ihm gewesen. Ich kannte ihn genauso lange wie Kevin – mein gesamtes Leben.

Joes Umarmung war warm und tröstlich.

»Ich freue mich auch, aber ich will euch beide nicht aufhalten – wobei auch immer«, sagte ich und trat einen Schritt beiseite. »Wir sprechen einfach später.«

»Nein, warte. Hast du meine Mail nicht bekommen?«, fragte er.

»Welche Mail?«

»Wegen Kevins Testament. Deswegen treffen wir uns jetzt in seinem Büro. Maple schickt gerade alle anderen Gäste nach Hause. Tatsächlich wäre es von größter Wichtigkeit, dass du in etwa fünfzehn Minuten dazukommst.«

»Wozu solltet ihr mich brauchen?«, fragte ich.

»Ach, komm schon, Stella.« Joe nahm seine Brille ab und kniff sich in den Nasenrücken. »Hast du wirklich gedacht, Kevin hätte dir gar nichts hinterlassen? Du warst für ihn wie eine Tochter. Seine Familie. Du und Maple, versteht sich.«

»Und du.«

Er lächelte. »Vor allem du.« Er blickte zu der eisigen Nervensäge neben mir. »Damian, wenn du und Stella so weit seid, das Testament zu hören, führe ich euch jetzt ins Arbeitszimmer, wo die anderen bereits warten.«

»Damian«, wiederholte ich und blickte den Fremden an. Er sah auch aus wie ein Damian. Launisch und grüblerisch. Geheimnisvoll und schwermütig. Und auf nervtötende Art gut. Ja, Damian war der perfekte Name für diese Kreatur.

»Ich freue mich, dass ihr beide bereits Bekanntschaft miteinander geschlossen habt. Das wird das Folgende deutlich vereinfachen«, erklärte Joe.

»Was soll das heißen?«, fragten Damian und ich unisono.

Doch Joe lächelte nur und nickte. »Wenn ihr mir bitte folgen würdet.«

Mein Herz schlug schneller, als wir in Kevins Arbeitszimmer traten und ich all die bekannten Gesichter um mich herum erblickte, von denen ich manche seit Jahren, teilweise seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte.

»Was macht ihr denn hier?«, fragte ich verblüfft, als ich die Frauen vor mir stehen sah. Die Einzige, die mir zumindest ein wenig Sicherheit gab, war Grams, die ganz hinten links in der Ecke saß.

»Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass unser Mann uns aus seinem Testament streichen würde?«, fragte Denise höhnisch. Denise Littrell. Ehemals Denise Michaels – jedenfalls für kurze Zeit. Neben ihr standen zwei weitere Damen, ebenfalls Kevins Ehefrauen auf Zeit.

Denise, Rosalina und Catherine.

Oder, wie ich sie zu nennen pflegte, die bösen Stiefmütter meiner Kindheit.

»Er war mit all diesen Frauen verheiratet?«, fragte Damian und zog eine Augenbraue hoch.

»Irgendwann mal, ja«, sagte ich und sah zu Rosalina hinüber. »Auch wenn manche es kaum eine Woche geschafft haben.«

»Und es war eine grandiose Woche, abgesehen von dieser Göre, die einfach nicht verschwinden wollte«, bemerkte Rosalina und kleisterte sich noch ein wenig mehr rote Farbe auf die Lippen. Sie war immer noch genauso dick geschminkt wie früher, und ihr Kleid genauso eng, was ihr jedoch kaum schadete. Rosalina war eine der schönsten Frauen der Welt – mit und ohne Make-up. Kevins ehemalige Frauen sahen sämtlich aus wie Models, und manche von ihnen, wie Catherine, waren sogar echte Supermodels.

»Er scheint auf einen besonderen Typ Frau gestanden zu haben«, bemerkte Damian trocken.

»Wer ist denn der Leckerbissen?«, fragte Denise und musterte Damian von oben bis unten wie eine Verhungernde ein Stück Fleisch. Was bemerkenswert war, denn ich erinnerte mich noch gut daran, wie Denise erklärt hatte, dass sie kein Fleisch esse, und den Hackbraten quer über den Esstisch geschleudert hatte.

Alle Beziehungen zwischen diesen Frauen und Kevin waren aus einem einzigen Grund auseinandergegangen: wegen mir.

Und nun standen wir alle hier zusammen, um der Verlesung seines Testaments beizuwohnen.

»Falls gewünscht, kann ich gerne alle kurz vorstellen. Ansonsten können wir direkt zum Hauptteil des Testaments übergehen«, erklärte Joe.

»Lass uns einfach anfangen«, erklärte Damian und ignorierte die Blicke der Frauen, die auf ihm lagen. »Ich habe noch andere Termine.«

»Natürlich. Nun, dann lasst uns anfangen.« Joe legte seine Aktentasche auf den Schreibtisch und öffnete sie. Zu sehen, wie er sich auf Kevins Stuhl setzte, versetzte mir einen Stich ins Herz. Trauer war ein seltsames Gefühl. Sie zeigte sich in den ungewöhnlichsten Momenten. Einen anderen Mann auf Kevins Platz zu sehen, erfüllte mich mit einer Traurigkeit, die ich nicht erwartet hatte. Bei dem Gedanken, dass er selbst nie wieder dort Platz nehmen würde, schossen mir Tränen in die Augen.

Ich griff in die Tasche und zog das Taschentuch heraus, das Damian mir gegeben hatte, um mir die Tränen von den Wangen zu wischen.

»Da ist sie, Little Miss Perfect mit ihren Krokodilstränen«, bemerkte Catherine.

»Ach, halt die Klappe, Catherine. Dich konnte ohnehin nie jemand leiden.« Grams trat zu mir und nahm meine Hand. Ihr tröstender Druck erinnerte mich daran, dass ich nicht die Einzige war, die um Kevin trauerte.

»Wie ihr alle wisst, habt ihr Kevin sehr viel bedeutet«, begann Joe nun. »Daher hat er sich die Mühe gemacht, allen von euch einen persönlichen Brief zu schreiben, in dem steht, was er euch hinterlassen hat.« Er reichte jedem von uns einen Brief. Die Frauen rissen ihre sogleich auf, um zu sehen, was sie bekommen würden, und sie zischten und jammerten, als es nicht ihren Erwartungen entsprach.

»Seine Plattensammlung? Was um alles in der Welt soll ich denn mit seiner Plattensammlung?«, beschwerte sich Denise.

»Nun, Kevin sagte, ihr hättet euch in einem Plattenladen kennengelernt. Er meinte, ihr hättet immer zu diesen Songs getanzt, und die Sammlung wäre eine schöne Erinnerung für dich.«

»Wie viel ist sie wohl wert?«, fragte sie mit gesenkten Brauen.

»Genug«, erklärte Joe mit einem leicht geringschätzigen Unterton in der Stimme.

»Er hinterlässt mir wirklich sein Penthouse in New York?«, fragte Rosalina überrascht.

»Was? Aber das wollte ich haben!«, rief Denise.

»Offenbar hast du immer noch nicht gelernt, einfach mal den Mund zu halten«, sagte Grams.

»Ach, hau ab und leg deine scheiß Tarotkarten, Maple.« Denise zeigte Grams den Mittelfinger, und Grams grinste sie dafür an.

»Ja, Rosalina. Er sagte, du hättest die Broadway-Shows immer geliebt«, erklärte Joe.

»Das habe ich.« Sie nickte, und ihre Augen wurden feucht.

Ehrlich gesagt, mochte ich Rosalina von Kevins Ex-Frauen am liebsten. Sie konnte sehr gütig sein, trug jedoch unendlich viel seelischen Ballast mit sich herum, der sie teilweise extrem reagieren ließ. In guten Zeiten aber war sie sanft und gutmütig. Wenn ich mir unter diesen Frauen eine Stiefmutter hätte aussuchen müssen, dann wäre meine Wahl auf Rosalina gefallen. Aber das bedeutete nicht viel. Sie war einfach nur das geringere Übel.

»Das war unser erstes Date«, sagte sie jetzt. »Im New York Theatre.«

»Er hat dir auch seine Dauerkarte fürs Ballett hinterlassen. Bezahlt für die nächsten zehn Jahre«, informierte Joe sie.

»Und ich habe seinen Schmuck geerbt.« Rosalina kicherte erfreut und blickte mit einem bösen Lächeln zu Denise hinüber. »Offenbar hat er mich mehr geliebt als dich.« Dann sah sie Catherine an. »Was hast du bekommen?«

»Hoffentlich mehr als ihr beide. Immerhin hat er mich zweimal geheiratet«, antwortete sie.

»Und sich zweimal scheiden lassen«, erwiderte Denise. »Doppelfehlschlag, wenn du mich fragst. Du hast ja auch zweimal bei Miss America verloren.«

»Fick dich, Denise«, fuhr Catherine sie an.

»Meine Damen, bitte. Lasst uns aufhören, uns miteinander zu vergleichen. Er hat euch allen einen persönlichen Brief geschrieben, weil er nicht wollte, dass sein Nachlass öffentlich diskutiert wird«, erklärte Joe.

»Da wir gerade davon sprechen: Wieso bekommt Catherine eigentlich überhaupt etwas? Schließlich war sie für das Ende meiner Ehe verantwortlich«, beschwerte sich Denise.

»Oh, bitte. Er hatte schon mit dir abgeschlossen, bevor er dich geheiratet hat. Schon auf der Feier war klar, dass du wieder ausziehen würdest. Da kannst du mir doch nicht vorwerfen, dass ich wieder eingezogen bin«, spottete Catherine.

»Das kann alles nicht wahr sein«, murmelte Damian leise und kniff sich in den Nasenrücken, während die drei darüber stritten, wen von ihnen Kevin am meisten geliebt hatte. Der Raum war erfüllt mit den lauten Stimmen von Frauen, die eine Bestätigung suchten, die sie nie bekommen würden, denn Kevin war tot.

Er ist immer noch tot.

»Könnt ihr alle jetzt verdammt noch mal die Klappe halten, damit Joe endlich vortragen kann, was auch immer es hier vorzutragen gibt?«, donnerte Damian. Seine Stimme erfüllte den Raum und ließ das Geschrei augenblicklich verstummen. Beim Ton seiner tiefen, dröhnenden Stimme sträubten sich mir die Härchen auf meinen Armen.

Er strich sich den Anzug glatt, und Denise sah ihn herausfordernd an. »Wer zur Hölle bist du überhaupt?« Sie wandte sich an Joe. »Und wenn er uns sowieso bloß einen Brief aushändigen lassen wollte, warum mussten wir dann alle heute herkommen? Das hättest du auch per E-Mail erledigen können. Ich hasse es, wenn Leute Meetings einberufen, obwohl man das Ganze auch mit einer Mail erledigen könnte.«

Da konnte ich ihr nicht widersprechen. Vermutlich waren wir über alles auf dieser Welt unterschiedlicher Meinung, außer über unsere Abneigung gegenüber unnötigen Meetings.

Ich hielt meinen Brief noch in der Hand, denn bisher hatte ich nicht die Kraft gefunden, ihn zu öffnen. Ich war einfach noch nicht bereit, seine letzten Worte an mich zu lesen. Es fühlte sich zu sehr nach einem endgültigen Abschied an.

»Um auf deine Frage zurückzukommen, Denise«, erklärte Joe und entrollte ein Blatt Papier. »Dies hier sind Kevins letzte Wünsche, in seinen eigenen Worten. Er hat mich gebeten, sie euch vorzulesen.« Er räusperte sich und las dann die Worte, die alles verändern sollten: »Wenn ihr das hier hört, bin ich bereits auf der anderen Seite der Ewigkeit und hoffe, dass mir niemand von euch sobald hierher folgt. Ich habe euch alle hergebeten, um meine letzten Wünsche zu hören. An meine Ex-Frauen: Hi, wie geht es euch? Ihr seht großartig aus.«

Die Frauen kicherten, als hätte er ihnen tatsächlich ein Kompliment gemacht.

Joe fuhr fort: »Wie ihr alle wisst, glaube ich fest an die Ehe – so fest, dass ich viermal geheiratet habe. Jede von euch hat mir etwas Besonderes gegeben. Rosalina, du hast mich mit deiner Fähigkeit, zu staunen und deiner Abenteuerlust beschenkt. Catherine, du mit deiner sturen und doch so starken Persönlichkeit, und Denise, dir verdanke ich so manches graue Haar.«

Ich lachte leise, während Denise die Augen verdrehte und Joe weiterlas.

»Wenn man euch alle drei zusammen betrachtet, könnte man sagen, ich hatte die perfekte Ehe. Und das wünsche ich auch Damian und Stella.«

»Was soll das denn heißen?«, knurrte Damian.

Joe hob den Zeigefinger, damit alle zuhörten. »Mein letzter Wunsch ist es, Damian und Stella mein restliches Vermögen zu hinterlassen, einschließlich aller Aktien und Anleihen, des Hauses und mehr als fünf Millionen Dollar, von denen jeder die Hälfte bekommen soll.«

Die drei Frauen waren fassungslos, als sie das hörten, und ich hatte den dicksten Kloß meines Lebens im Hals.

Er hatte das alles mir hinterlassen?

Und Damian Blackstone?

Aber wieso?

»Das ist noch nicht alles«, sagte Joe und sprach nun lauter, um die Aufmerksamkeit wiederzuerlangen. »Doch um das zu bekommen, müssen Damian und Stella mindestens sechs Monate lang verheiratet sein. Innerhalb dieser Zeit müssen sie im selben Haushalt leben und mindestens fünf Tage pro Woche unter demselben Dach verbringen. Sie dürfen das Haus nicht länger als achtundvierzig Stunden ohne den anderen verlassen. Ohne Ausnahme. Das Ganze beginnt spätestens fünf Tage nach dieser Testamentseröffnung.«

»Auf keinen Fall«, erklärten Damian und ich einstimmig. Wieso sagten wir beide immer wieder dasselbe zur selben Zeit?

»Das ist nicht fair!«, beschwerte sich Denise. »Warum kriegen sie die guten Sachen?«

»Sei still, Denise«, sagte Grams.

»Was? Ist doch wahr! Wir kennen den Typen nicht mal und sollen glauben, dass er es wert ist, auch nur einen Cent von Kevins Vermögen zu erben? Er hat ja wohl am wenigsten Recht auf das Geld.«

»Das stimmt«, mischte sich jetzt auch Catherine ein. »Er hat kein Recht auf einen einzigen Cent von Kevins Geld.«

»Damian ist Kevins Sohn und hat somit sehr wohl ein Recht auf Kevins Vermögen«, antwortete Joe.

Die Frauen sahen Damian an, und der Schock in ihren Gesichtern war der gleiche, der mich zuvor getroffen hatte.

Damian erwiderte ihre Blicke und nickte ihnen zu. »Hallo Stiefmütter.«

»Von wem ist er?«, fragte Denise und sah die anderen beiden an.

»Mich brauchst du nicht anzustarren«, erklärte Catherine. »Sieht dieser Körper aus, als hätte er ein Kind zur Welt gebracht?«

»Honey, es gibt hier in Kalifornien einen guten Chirurgen, der wahre Wunder vollbringt. Frag bloß mal Rosalina mit ihrer Nase«, erwiderte Denise hinterhältig.

»Das sagt die Richtige, Ms-Booty-von-Dr.-Kent«, entgegnete Rosalina. »Wie es aussieht, können Hüften sehr wohl lügen.«

Als wäre man live bei The Real Ex-Housewives of Los Angelesdabei.

»Wie alt bist du?«, fragte Rosalina Damian.

»Einundzwanzig.«

Er war sieben Jahre jünger als ich, auch wenn er sich deutlich älter gab. Seiner Persönlichkeit nach zu urteilen, hätte ich ihn auf vierundneunzig geschätzt.

Joe räusperte sich. »Das ist doch jetzt nicht wichtig, Ladys. Wichtig ist nur, wenn Damian und Stella den Deal erfüllen, erhalten sie das gesamte Vermögen. Gemeinsam mit einer der Ex-Frauen, die dann noch einmal zwanzig Millionen Dollar erhält. Damian und Stella werden darüber entscheiden, wer sich dieses Geldes würdig erweist.«

»Ein Preisgeld?«, fragte Rosalina und setzte sich ein wenig auf. »Für die beste Ehefrau?«

»Ja.« Joe zeigte auf seine Unterlagen. »Hier steht, jede seiner Ex-Frauen soll innerhalb dieser sechs Monate einen Abend mit Damian verbringen und ihm deutlich machen, warum sie das Geld bekommen sollte. Da ihr alle Stella ja bereits gekannt habt, als sie jünger war, ist Kevin der Ansicht, dass es wichtig wäre, wenn ihr Damian allein kennenlernt.«

»Das ist vollkommen verrückt«, murmelte ich.

»Weswegen ich auch nicht mitmachen werde«, erklärte Damian und wandte sich an Joe. »Sei mir nicht böse, Joe, aber du kannst dem toten Kevin sagen, er kann sich sein Geld sonst wohin stecken. Ich will es nicht. Dafür bin ich nicht hergekommen.«

»Was passiert, wenn Damian das Geld nicht will?«, fragte Denise eifrig. »Wenn die beiden sich weigern mitzumachen oder die Regeln brechen?«

»Dann wird das Vermögen unter den drei Ex-Frauen aufgeteilt«, erklärte Joe.

Ich sage euch, ihre Augen leuchteten auf, als wäre Weihnachten.

»Ich denke, so wäre es am besten«, erklärte Rosalina.

»Nur zu«, sagte Damian. »Nehmt es!«

Er drehte sich um und verließ das Zimmer, und die Tür fiel mit einem lauten Knall hinter ihm ins Schloss.

»Das ist die richtige Entscheidung.« Catherine lächelte zufrieden. »Wir haben es uns schließlich verdient, nachdem wir sein Balg großziehen mussten. Ich verdiene es am ehesten, schließlich musste ich mich am längsten mit ihr herumschlagen.«

Sie redete über mich, als wäre ich gar nicht da.

»Alles, worum es euch geht, ist das Geld?« Ich fühlte mich, als hätte jemand mein Hirn in die Waschmaschine gesteckt und meine Gedanken gezwungen, sich im Kreis zu drehen. Ich bekam nicht einmal mehr alles zusammen, was zuvor gesagt worden war, geschweige denn, dass Kevin wollte, dass ich Damian heiratete.

Wieso hatte er das getan?

Zumal er genau gewusst hatte, dass ich seit Langem liiert war.

»Es spielt keine Rolle, worum es uns geht«, sagte Denise. »Es ist Kevins letzter Wunsch. Willst du ihn wirklich anfechten? Er wollte, dass ich das Geld bekomme.«

»Wir«, korrigierte Rosalina.

Mir wurde übel.

Grams sah mich lächelnd an. »Du schuldest dieser Welt gar nichts, Liebes, nicht einmal Kevin.«

Es war lieb von ihr, mich zu trösten, aber ich glaubte ihr kein Wort. Tatsächlich verdankte ich Kevin alles. Er hatte mir eine Welt geschenkt, als ich nichts hatte. Und auch wenn ich nicht verstand, warum er das hier getan hatte, musste er doch einen Grund gehabt haben.

»Er wollte es so, Grams«, flüsterte ich mit zitternder Stimme.

»Ja«, stimmte sie mir zu. »Aber was willst du?«

Ich möchte, dass er stolz auf mich ist.

Ohne weiter nachzudenken, rannte ich aus dem Zimmer und fand Damian an der Haustür.

»Damian, warte!«

»Warum sollte ich? Hier gibt es nichts mehr für mich.«

»Doch, das Testament …«

»Ist vollkommener Blödsinn. Ich hätte es besser wissen müssen, als mein gesamtes Leben umzukrempeln und in diesen verfluchten Staat zu ziehen, und all das wegen eines dämlichen Briefes von einem Mann, der sich einen Scheiß für mich interessiert hat. Ich verschwinde.«

»Nein, das kannst du nicht«, sagte ich und schob mich zwischen ihn und die Tür.

»Himmel, nicht das schon wieder.«

»Stella.«

»Interessiert …«

»… dich nicht. Ich weiß, aber wir sollten darüber reden. Kevin würde so etwas nie ohne einen guten Grund tun. Seine Entscheidung muss einen tieferen Sinn gehabt haben.«

»Was genau verstehst du nicht an interessiert mich nicht? Denn es interessiert mich ganz ehrlich einen Scheiß, ob es einen tieferen Sinn gibt oder nicht.«

»Mich aber.«

»Ich weiß, und ich verstehe, du bist eine moderne Cinderella, die die Asche hinter sich lassen und reich werden will, aber auch das interessiert mich nicht.«

»Was? Nein. Das Geld ist mir egal. Ich bin keine Cinderella.«

»Befindest du dich nicht gerade mit einer Horde scheinbar böswilliger Stiefmütter im Haus des Mannes, den du als deinen Vater betrachtet hast?«

»Ja, meinetwegen, aber …«

»Cinderstella.«

Argh! Ich hasste diesen Kerl. Und ich hasste es, wie clever die Namensgebung war.

»Das ist nicht besonders clever«, log ich.

»Ist mir egal, Cinderstella. Und jetzt geh zur Seite.«

Ich verschränkte die Arme. »Nein. Nicht bevor wir miteinander gesprochen haben.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Geh zur Seite, sonst sorge ich eigenhändig dafür, dass du mir aus dem Weg gehst.«

»Ich wiege über hundert Kilo und bezweifle, dass du die bewegt bekommst.«

»Ich bewege das Doppelte beim Bankdrücken im Schlaf. Glaub mir, du willst es nicht drauf ankommen lassen. Und jetzt geh zur Seite, bevor ich richtig wütend werde, Cinderstella.«

»Hör auf, mich so zu nennen.«

»Dann hör auf, so zu sein.«

»Du bist … du bist … du bist das verflixte Biest aus Die Schöne und das Biest!