Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl - Charles Darwin - E-Book

Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl E-Book

Charles Darwin.

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Beschreibung

Die Erstauflage wurde von den ursprünglich geplanten 500 auf 1250 erhöht. Am 22. November 1859 ging die vollständig vorbestellte Auflage von On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (Die Entstehung der Arten) an den Handel und kam am 24. November in den Verkauf. Im Buch legte Darwin im Wesentlichen fünf voneinander unabhängige Theorien dar:die Evolution als solche, die Veränderlichkeit der Arten; die gemeinsame Abstammung aller Lebewesen; den Gradualismus, die Änderung durch kleinste Schritte; Vermehrung der Arten beziehungsweise Artbildung in Populationen und die natürliche Selektion als wichtigsten, wenn auch nicht einzigen Mechanismus der Evolution. Die Tatsache der Evolution wurde in den nächsten Jahren in Wissenschaftskreisen praktisch universell akzeptiert, sehr viel weniger allerdings die natürliche Selektion, mit der sich selbst Darwins Freunde nicht anfreunden konnten.

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Charles Darwin

Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl

Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl

Illustrierte Ausgabe

Charles Darwin

Impressum

Texte: © Copyright by Charles Darwin

Umschlag:© Copyright by Walter Brendel

Illustrationen: © Copyright by Walter Brendel

Übersetzer: © Copyright by Unbekannt

Verlag:Das historische Buch, 2023

Mail: [email protected]

Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Inhalt

Einleitung

Erstes Capitel: Abänderung im Zustande der Domestication

Zweites Capitel: Abänderung im Naturzustande

Drittes Capitel: Der Kampf um's Dasein

Viertes Capitel: Natürliche Zuchtwahl oder Überleben des Passendsten

Fünftes Capitel: Gesetze der Abänderung

Sechstes Capitel: Schwierigkeiten der Theorie

Achtes Capitel: Instinct

Neuntes Capitel: Bastardbildung

Zehntes Capitel: Unvollständigkeit der geologischen Urkunden

Elftes Capitel: Geologische Aufeinanderfolge organischer Wesen

Zwölftes Capitel: Geographische Verbreitung

Dreizehntes Capitel: Geographische Verbreitung. (Fortsetzung.)

Vierzehntes Capitel: Gegenseitige Verwandtschaft organischer Wesen; Morphologie; Embryologie; Rudimentäre Organe

Fünfzehntes Capitel: Allgemeine Wiederholung und Schluss

Einleitung

Als ich an Bord des »Beagle« als Naturforscher Süd-America erreichte, überraschten mich gewisse Thatsachen in hohem Grade, die sich mir in Bezug auf die Verbreitung der Bewohner und die geologischen Beziehungen der jetzigen zu der frühern Bevölkerung dieses Welttheils darboten. Diese Thatsachen schienen mir, wie sich aus dem letzten Capitel dieses Bandes ergeben wird, einiges Licht auf den Ursprung der Arten zu werfen, dies Geheimnis der Geheimnisse, wie es einer unserer grössten Philosophen genannt hat. Nach meiner Heimkehr im Jahre 1837 kam ich auf den Gedanken, dass sich etwas über diese Frage müsse ermitteln lassen durch ein geduldiges Sammeln und Erwägen aller Arten von Thatsachen, welche möglicherweise in irgend einer Beziehung zu ihr stehen konnten. Nachdem ich fünf Jahre lang in diesem Sinne gearbeitet hatte, glaubte ich eingehender über die Sache nachdenken zu dürfen und schrieb nun einige kurze Bemerkungen darüber nieder; diese führte ich im Jahre 1844 weiter aus und fügte der Skizze die Schlussfolgerungen hinzu, welche sich mir als wahrscheinlich ergaben. Von dieser Zeit an bis jetzt bin ich mit beharrlicher Verfolgung des Gegenstandes beschäftigt gewesen. Ich hoffe, dass man die Anführung dieser auf meine Person bezüglichen Einzelnheiten entschuldigen wird: sie sollen zeigen, dass ich nicht übereilt zu einem Abschlusse gelangt bin.

Mein Werk ist nun (1859) nahezu beendigt; da es aber noch viele weitere Jahre bedürfen wird, um es zu vollenden, und da meine Gesundheit keineswegs fest ist, so hat man mich zur Veröffentlichung dieses Auszugs gedrängt. Ich sah mich noch um so mehr dazu veranlasst, als Herr WALLACE beim Studium der Naturgeschichte der Malayischen Inselwelt zu fast genau denselben allgemeinen Schlussfolgerungen über den Ursprung der Arten gelangt ist, wie ich. Im Jahre 1858 sandte er mir eine Abhandlung darüber mit der Bitte zu, sie Sir CHARLES LYELL zuzustellen, welcher sie der LINNÉ'schen Gesellschaft übersandte, in deren Journal sie nun im dritten Bande abgedruckt worden ist. Sir CH. LYELL sowohl als Dr. HOOKER, welche beide meine Arbeit kannten (der letzte hatte meinen Entwurf von 1844 gelesen), hielten es in ehrender Rücksicht auf mich für rathsam, einige kurze Auszüge aus meinen Niederschriften zugleich mit WALLACE'S Abhandlung zu veröffentlichen.

Der Auszug, welchen ich hiermit der Lesewelt vorlege, muss nothwendig unvollkommen sein. Er kann keine Belege und Autoritäten für meine verschiedenen Angaben beibringen, und ich muss den Leser bitten, einiges Vertrauen in meine Genauigkeit zu setzen. Zweifelsohne mögen Irrthümer mit untergelaufen sein; doch glaube ich mich überall nur auf verlässige Autoritäten berufen zu haben. Ich kann hier überall nur die allgemeinen Schlussfolgerungen anführen, zu welchen ich gelangt bin, unter Mittheilung von nur wenigen erläuternden Thatsachen, die aber, wie ich hoffe, in den meisten Fällen genügen werden. Niemand kann mehr als ich selbst die Nothwendigkeit fühlen, später alle Thatsachen, auf welche meine Schlussfolgerungen sich stützen, mit ihren Einzelnheiten bekannt zu machen, und ich hoffe dies in einem künftigen Werke zu thun, denn ich weiss wohl, dass kaum ein Punkt in diesem Buche zur Sprache kommt, zu welchem man nicht Thatsachen anführen könnte, die oft zu gerade entgegengesetzten Folgerungen zu führen scheinen. Ein richtiges Ergebnis lässt sich aber nur dadurch erlangen, dass man alle Thatsachen und Gründe, welche für und gegen jede einzelne Frage sprechen, zusammenstellt und sorgfältig gegeneinander abwägt, und dies kann unmöglich hier geschehen.

Ich bedauere sehr, aus Mangel an Raum so vielen Naturforschern nicht meine Erkenntlichkeit für die Unterstützung ausdrücken zu können, die sie mir, mitunter ihnen persönlich ganz unbekannt, in uneigennützigster Weise zu Theil werden liessen. Doch kann ich diese Gelegenheit nicht vorüber gehen lassen, ohne wenigstens die grosse Verbindlichkeit anzuerkennen, welche ich Dr. HOOKER dafür schulde, dass er mich in den letzten zwanzig Jahren in jeder möglichen Weise durch seine reichen Kenntnisse und sein ausgezeichnetes Urtheil unterstützt hat.

Wenn ein Naturforscher über den Ursprung der Arten nachdenkt, so ist es wohl begreiflich, dass er in Erwägung der gegenseitigen Verwandtschaftsverhältnisse der Organismen, ihrer embryonalen Beziehungen, ihrer geographischen Verbreitung, ihrer geologischen Aufeinanderfolge und anderer solcher Thatsachen zu dem Schlusse gelangt, die Arten seien nicht selbständig erschaffen, sondern stammen wie Varietäten von anderen Arten ab. Demungeachtet dürfte eine solche Schlussfolgerung, selbst wenn sie wohl gegründet wäre, kein Genüge leisten, solange nicht nachgewiesen werden könnte, auf welche Weise die zahllosen Arten, welche jetzt unsere Erde bewohnen, so abgeändert worden sind, dass sie die jetzige Vollkommenheit des Baues und der gegenseitigen Anpassung erlangten, welche mit Recht unsere Bewunderung erregen. Die Naturforscher verweisen beständig auf die äusseren Bedingungen, wie Clima, Nahrung u.s.w., als die einzigen möglichen Ursachen ihrer Abänderung. In einem beschränkten Sinne mag dies, wie wir später sehen werden, wahr sein. Aber es wäre verkehrt, lediglich äusseren Ursachen z.B. die Organisation des Spechtes, die Bildung seines Fusses, seines Schwanzes, seines Schnabels und seiner Zunge zuschreiben zu wollen, welche ihn so vorzüglich befähigen, Insecten unter der Rinde der Bäume hervorzuholen. Ebenso wäre es verkehrt, bei der Mistelpflanze, welche ihre Nahrung aus gewissen Bäumen zieht und deren Samen von gewissen Vögeln ausgestreut werden müssen, mit ihren Blüthen, welche getrennten Geschlechtes sind und die Thätigkeit gewisser Insecten zur Übertragung des Pollens von der männlichen auf die weibliche Blüthe bedürfen, – es wäre verkehrt, die organische Einrichtung dieses Parasiten mit seinen Beziehungen zu mehreren anderen organischen Wesen als eine Wirkung äusserer Ursachen oder der Gewohnheit oder des Willens der Pflanze selbst anzusehen.

Es ist daher von der grössten Wichtigkeit eine klare Einsicht in die Mittel zu gewinnen, durch welche solche Umänderungen und Anpassungen bewirkt werden. Beim Beginne meiner Beobachtungen schien es mir wahrscheinlich, dass ein sorgfältiges Studium der Hausthiere und Culturpflanzen die beste Aussicht auf Lösung dieser schwierigen Aufgabe gewähren würde. Und ich habe mich nicht getäuscht, sondern habe in diesem wie in allen anderen verwickelten Fällen immer gefunden, dass unsere wenn auch unvollkommene Kenntnisse von der Abänderung der Lebensformen im Zustande der Domestication immer den besten und sichersten Aufschluss gewähren. Ich stehe nicht an, meine Überzeugung von dem hohen Werthe solcher von den Naturforschern gewöhnlich sehr vernachlässigten Studien auszudrücken.

Aus diesem Grunde widme ich denn auch das erste Capitel dieses Auszugs der Abänderung im Zustande der Domestication. Wir werden daraus ersehen, dass ein hoher Grad erblicher Abänderung wenigstens möglich ist, und, was nicht minder wichtig oder noch wichtiger ist, dass das Vermögen des Menschen, geringe Abänderungen durch deren ausschliessliche Auswahl zur Nachzucht, d.h. durch Zuchtwahl, zu häufen, sehr beträchtlich ist. Ich werde dann zur Veränderlichkeit der Arten im Naturzustande übergehen; doch bin ich unglücklicher Weise genöthigt diesen Gegenstand viel zu kurz abzuthun, da er eingehend eigentlich nur durch Mittheilung langer Listen von Thatsachen behandelt werden kann. Wir werden demungeachtet im Stande sein zu erörtern, was für Umstände die Abänderung am meisten begünstigen. Im nächsten Abschnitte soll der Kampf um's Dasein unter den organischen Wesen der ganzen Welt abgehandelt werden, welcher unvermeidlich aus dem hohen geometrischen Verhältnisse ihrer Vermehrung hervorgeht. Es ist dies die Lehre von MALTHUS auf das ganze Thier- und Pflanzenreich angewendet. Da viel mehr Individuen jeder Art geboren werden, als möglicherweise fortleben können, und demzufolge das Ringen um Existenz beständig wiederkehren muss, so folgt daraus, dass ein Wesen, welches in irgend einer für dasselbe vortheilhaften Weise von den übrigen, so wenig es auch sei, abweicht, unter den zusammengesetzten und zuweilen abändernden Lebensbedingungen mehr Aussicht auf Fortdauer hat und demnach von der Natur zur Nachzucht gewählt werden wird. Eine solche zur Nachzucht ausgewählte Varietät ist dann nach dem strengen Erblichkeitsgesetze jedesmal bestrebt, seine neue und abgeänderte Form fortzupflanzen.

Diese natürliche Zuchtwahl ist ein Hauptpunkt, welcher im vierten Capitel ausführlicher abgehandelt werden soll; und wir werden dann finden, wie die natürliche Zuchtwahl gewöhnlich die unvermeidliche Veranlassung zum Erlöschen minder geeigneter Lebensformen wird und das herbeiführt, was ich Divergenz des Characters genannt habe. Im nächsten Abschnitte werden die verwickelten und wenig bekannten Gesetze der Abänderung besprochen. In den fünf folgenden Capiteln sollen die auffälligsten und bedeutendsten Schwierigkeiten, welche der Annahme der Theorie entgegenstehen, angegeben werden, und zwar erstens die Schwierigkeiten der Übergänge oder wie es zu begreifen ist, dass ein einfaches Wesen oder ein einfaches Organ umgeändert und in ein höher entwickeltes Wesen oder ein höher ausgebildetes Organ umgestaltet werden kann; zweitens der Instinct oder die geistigen Fähigkeiten der Thiere; drittens die Bastardbildung oder die Unfruchtbarkeit der gekreuzten Species und die Fruchtbarkeit der gekreuzten Varietäten; und viertens die Unvollkommenheit der geologischen Urkunden. Im nächsten Capitel werde ich die geologische Aufeinanderfolge der Organismen in der Zeit betrachten; im zwölften und dreizehnten deren geographische Verbreitung im Raume; im vierzehnten ihre Classification oder ihre gegenseitigen Verwandtschaften im reifen wie im Embryonal-Zustande. Im letzten Abschnitte endlich werde ich eine kurze Zusammenfassung des Inhaltes des ganzen Werkes mit einigen Schlussbemerkungen geben.

Darüber, dass noch so vieles über den Ursprung der Arten und Varietäten unerklärt bleibt, wird sich niemand wundern, wenn er unsere tiefe Unwissenheit hinsichtlich der Wechselbeziehungen der vielen um uns her lebenden Wesen in Betracht zieht. Wer kann erklären, warum eine Art in grosser Anzahl und weiter Verbreitung vorkommt, während eine andere ihr nahe verwandte Art selten und auf engen Raum beschränkt ist? Und doch sind diese Beziehungen von der höchsten Wichtigkeit, insofern sie die gegenwärtige Wohlfahrt und, wie ich glaube, das künftige Gedeihen und die Modificationen eines jeden Bewohners der Welt bedingen. Aber noch viel weniger wissen wir von den Wechselbeziehungen der unzähligen Bewohner dieser Erde während der vielen vergangenen geologischen Perioden ihrer Geschichte. Wenn daher auch noch so Vieles dunkel ist und noch lange dunkel bleiben wird, so zweifle ich nach den sorgfältigsten Studien und dem unbefangensten Urtheile, dessen ich fähig bin, doch nicht daran, dass die Meinung, welche die meisten Naturforscher hegen und auch ich lange gehegt habe, als wäre nämlich jede Species unabhängig von den übrigen erschaffen worden, eine irrthümliche ist. Ich bin vollkommen überzeugt, dass die Arten nicht unveränderlich sind; dass die zu einer sogenannten Gattung zusammengehörigen Arten in directer Linie von einer andern gewöhnlich erloschenen Art abstammen, in der nämlichen Weise, wie die anerkannten Varietäten irgend einer Art Abkömmlinge dieser Art sind. Endlich bin ich überzeugt, dass die natürliche Zuchtwahl das wichtigste, wenn auch nicht das ausschliessliche Mittel zur Abänderung der Lebensformen gewesen ist.

Erstes Capitel: Abänderung im Zustande der Domestication

Ursachen der Veränderlichkeit

Wenn wir die Individuen einer Varietät oder Untervarietät unserer älteren Culturpflanzen und Thiere vergleichen, so ist einer der Punkte, die uns zuerst auffallen, dass sie im Allgemeinen mehr von einander abweichen, als die Individuen irgend einer Art oder Varietät im Naturzustande. Erwägen wir nun die ungeheure Verschiedenartigkeit der Pflanzen und Thiere, welche cultiviert und domesticiert worden sind und welche zu allen Zeiten unter den verschiedensten Climaten und Behandlungsweisen abgeändert haben, so werden wir zum Schlusse gedrängt, dass diese grosse Veränderlichkeit unserer Culturerzeugnisse die Wirkung davon ist, dass die Lebensbedingungen minder einförmig und von denen der natürlichen Stammarten etwas abweichend gewesen sind. Auch hat, wie mir scheint, ANDREW KNIGHT'S Meinung, dass diese Veränderlichkeit zum Theil mit Überfluss an Nahrung zusammenhänge, einige Wahrscheinlichkeit für sich. Es scheint ferner klar zu sein, dass die organischen Wesen einige Generationen hindurch den neuen Lebensbedingungen ausgesetzt sein müssen, um ein merkliches Mass von Veränderung an ihnen auftreten zu lassen, und dass, wenn ihre Organisation einmal abzuändern begonnen hat, sie gewöhnlich durch viele Generationen abzuändern fortfährt. Man kennt keinen Fall, dass ein veränderlicher Organismus im Culturzustande aufgehört hätte zu variieren. Unsere ältesten Culturpflanzen, wie der Weizen z.B., geben noch immer neue Varietäten, und unsere ältesten Hausthiere sind noch immer rascher Umänderung und Veredelung fähig.

Soviel ich nach langer Beschäftigung mit dem Gegenstande zu urtheilen vermag, scheinen die Lebensbedingungen auf zweierlei Weise zu wirken: direct auf den ganzen Organismus oder nur auf gewisse Theile, und indirect durch Affection der Reproductionsorgane. In Bezug auf die directe Einwirkung müssen wir im Auge behalten, dass in jedem Falle, wie Professor WEISMANN vor Kurzem betont hat und wie ich in meinem Buche, ›das Variiren im Zustande der Domestication‹ gelegentlich gezeigt habe, zwei Factoren thätig sind: nämlich die Natur des Organismus und die Natur der Bedingungen. Das erstere scheint bei weitem das Wichtigere zu sein. Denn nahezu ähnliche Variationen entstehen zuweilen, soviel sich urtheilen lässt, unter unähnlichen Bedingungen; und auf der andern Seite treten unähnliche Abänderungen unter Bedingungen auf, welche nahezu gleichförmig zu sein scheinen. Die Wirkungen auf die Nachkommen sind entweder bestimmte oder unbestimmte. Sie können als bestimmte angesehen werden, wenn alle oder beinahe alle Nachkommen von Individuen, welche während mehrerer Generationen gewissen Bedingungen ausgesetzt gewesen sind, in demselben Masse modificiert werden. Es ist ausserordentlich schwierig, in Bezug auf die Ausdehnung der Veränderungen, welche in dieser Weise bestimmt herbeigeführt worden sind, zu irgend einem Schlusse zu gelangen. Kaum ein Zweifel kann indess über viele unbedeutende Abänderungen bestehen: wie Grösse in Folge der Menge der Nahrung, Farbe in Folge der Art der Nahrung, Dicke der Haut und des Haares in Folge des Clima's u.s.w. Jede der endlosen Varietäten, welche wir im Gefieder unserer Hühner sehen, muss ihre bewirkende Ursache gehabt haben: und wenn eine und dieselbe Ursache gleichmässig eine lange Reihe von Generationen hindurch auf viele Individuen einwirken würde, so würden auch wahrscheinlich alle in derselben Art modificiert werden. Solche Thatsachen, wie die complicierten und ausserordentlichen Auswüchse, welche unveränderlich der Einimpfung eines minutiösen Tröpfchens Gift von einem Gall-Insect folgen, zeigen uns, was für eigenthümliche Modificationen bei Pflanzen aus einer chemischen Änderung in der Natur des Saftes resultieren können.

Unbestimmte Variabilität ist ein viel häufigeres Resultat veränderter Bedingungen als bestimmte Variabilität und hat wahrscheinlich bei der Bildung unserer Culturrassen eine bedeutungsvollere Rolle gespielt. Wir finden unbestimmte Variabilität in den endlosen unbedeutenden Eigenthümlichkeiten, welche die Individuen einer und derselben Art unterscheiden und welche nicht durch Vererbung von einer der beiden elterlichen Formen oder von irgend einem entfernteren Vorfahren erklärt werden können. Selbst stark markierte Verschiedenheiten treten gelegentlich unter den Jungen einer und derselben Brut auf und bei Sämlingen aus derselben Frucht. In langen Zeiträumen erscheinen unter Millionen von Individuen, welche in demselben Lande erzogen und mit beinahe gleichem Futter ernährt wurden, so stark ausgesprochene Structurabweichungen, dass sie Monstrositäten genannt zu werden verdienen; Monstrositäten können aber durch keine bestimmte Trennungslinie von leichteren Abänderungen geschieden werden. Alle derartigen Structurveränderungen, mögen sie nun äusserst unbedeutend oder scharf markiert sein, welche unter vielen zusammenlebenden Individuen erscheinen, können als die unbestimmten Einwirkungen der Lebensbedingungen auf einen jeden individuellen Organismus angesehen werden, in beinahe derselben Weise, wie eine Erkältung verschiedene Menschen nicht in einer bestimmten Weise afficiert, indem sie je nach dem Zustande ihres Körpers oder ihrer Constitution Husten oder Schnupfen, Rheumatismus oder Entzündung verschiedener Organe verursacht.

In Bezug auf das, was ich indirecte Wirkung veränderter Bedingungen genannt habe, nämlich Abänderungen durch Affection des Fortpflanzungssystems, können wir folgern, dass hierbei die Variabilität zum Theil Folge der Thatsache ist, dass dieses System äusserst empfindlich gegen jede Veränderung der Bedingungen ist, zum Theil hervorgerufen wird durch die Ähnlichkeit, welche, wie KÖLREUTER und andere bemerkt haben, zwischen der einer Kreuzung bestimmter Arten folgenden und der bei allen unter neuen und unnatürlichen Bedingungen aufgezogenen Pflanzen und Thieren beobachteten Variabilität besteht. Viele Thatsachen beweisen deutlich, wie ausserordentlich empfänglich das Reproductivsystem für sehr geringe Veränderungen in den umgebenden Bedingungen ist. Nichts ist leichter, als ein Thier zu zähmen, und wenige Dinge sind schwieriger, als es in der Gefangenschaft zu einer freiwilligen Fortpflanzung zu bringen, selbst wenn die Männchen und Weibchen bis zur Paarung kommen. Wie viele Thiere wollen sich nicht fortpflanzen, obwohl sie schon lange fast frei in ihrem Heimathlande leben! Man schreibt dies gewöhnlich, aber irrthümlich, einem entarteten Instincte zu. Viele Culturpflanzen gedeihen in der äussersten Kraftfülle, und setzen doch nur sehr selten oder auch nie Samen an! In einigen wenigen solchen Fällen hat man entdeckt, dass eine ganz unbedeutende Veränderung, wie etwas mehr oder weniger Wasser zu einer gewissen Zeit des Wachsthums, für oder gegen die Samenbildung entscheidend wird. Ich kann hier nicht in die zahlreichen Einzelnheiten eingehen, die ich über diese merkwürdige Frage gesammelt und an einem andern Orte veröffentlicht habe; um aber zu zeigen, wie eigenthümlich die Gesetze sind, welche die Fortpflanzung der Thiere in Gefangenschaft bedingen, will ich erwähnen, dass Raubthiere selbst aus den Tropengegenden sich bei uns auch in Gefangenschaft ziemlich gern fortpflanzen, mit Ausnahme jedoch der Sohlengänger oder der Familie der bärenartigen Säugethiere, welche nur selten Junge erzeugen; wogegen fleischfressende Vögel nur in den seltensten Fällen oder fast niemals fruchtbare Eier legen. Viele ausländische Pflanzen haben ganz werthlosen Pollen, genau in demselben Zustande, wie die unfruchtbarsten Bastardpflanzen. Wenn wir auf der einen Seite Hausthiere und Culturpflanzen oft selbst in schwachem und krankem Zustande sich in der Gefangenschaft ganz ordentlich fortpflanzen sehen, während auf der andern Seite jung eingefangene Individuen, vollkommen gezähmt, langlebig und kräftig (wovon ich viele Beispiele anführen kann), aber in ihrem Reproductivsysteme in Folge nicht wahrnehmbarer Ursachen so tief afficiert erscheinen, dass dasselbe nicht fungiert, so dürfen wir uns nicht darüber wundern, dass dieses System, wenn es wirklich in der Gefangenschaft in Thätigkeit tritt, dann in nicht ganz regelmässiger Weise fungiert und eine Nachkommenschaft erzeugt, welche von den Eltern etwas verschieden ist. Ich will noch hinzufügen, dass, wie einige Organismen (wie die in Kästen gehaltenen Kaninchen und Frettchen) sich unter den unnatürlichsten Verhältnissen fortpflanzen (was nur beweist, dass ihre Reproductionsorgane nicht afficiert sind), so auch einige Thiere und Pflanzen der Domestication oder Cultur widerstehen und nur sehr gering, vielleicht kaum stärker als im Naturzustande, variieren.

Mehrere Naturforscher haben behauptet, dass alle Abänderungen mit dem Acte der sexuellen Fortpflanzung zusammenhängen. Dies ist aber sicher ein Irrthum; denn ich habe in einem andern Werke eine lange Liste von Spielpflanzen (Sporting plants) mitgetheilt; Gärtner nennen Pflanzen so, welche plötzlich eine einzelne Knospe producierten, welche einen neuen und von dem der übrigen Knospen derselben Pflanze oft sehr abweichenden Character annehmen. Solche Knospenvariationen wie man sie nennen kann, kann man durch Pfropfen, Senker u.s.w., zuweilen auch mittels Samen fortpflanzen. Sie kommen in der Natur selten, im Culturzustande aber durchaus nicht selten vor. Wie man weiss, dass eine einzelne Knospe unter den vielen tausenden Jahr auf Jahr unter gleichförmigen Bedingungen auf demselben Baume entstehenden plötzlich einen neuen Character annimmt und dass Knospen auf verschiedenen Bäumen, welche unter verschiedenen Bedingungen wachsen, zuweilen beinahe die gleiche Varietät hervorgebracht haben, – z.B. Knospen auf Pfirsichbäumen, welche Nectarinen erzeugen, und Knospen auf gewöhnlichen Rosen, welche Moosrosen hervorbringen, – so sehen wir auch offenbar, dass die Natur der Bedingungen für die Bestimmung der besondern Form der Abänderung von völlig untergeordneter Bedeutung ist im Vergleich zur Natur des Organismus, und vielleicht von nicht mehr Bedeutung als die Natur des Funkens für die Bestimmung der Art der Flammen ist, wenn er eine Masse brennbarer Stoffe entzündet.

Wirkungen der Gewöhnung und des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs der Theile; Correlative Abänderung; Vererbung

Veränderte Gewohnheiten bringen eine erbliche Wirkung hervor, wie z.B. die Versetzung von Pflanzen aus einem Clima in's andere deren Blüthezeit ändert. Bei Thieren hat der vermehrte Gebrauch oder Nichtgebrauch der Theile einen noch bemerkbareren Einfluss gehabt; so habe ich bei der Hausente gefunden, dass die Flügelknochen leichter und die Beinknochen schwerer im Verhältnis zum ganzen Skelette sind als bei der wilden Ente; und diese Veränderung kann man getrost dem Umstande zuschreiben, dass die zahme Ente weniger fliegt und mehr geht, als es diese Entenart im wilden Zustande thut. Die erbliche stärkere Entwicklung der Euter bei Kühen und Ziegen in solchen Gegenden, wo sie regelmässig gemolken werden, im Verhältnisse zu denselben Organen in anderen Ländern, wo dies nicht der Fall ist, ist ein anderer Beleg für die Wirkungen des Gebrauchs. Es gibt keine Art von unseren Haus-Säugethieren, welche nicht in dieser oder jener Gegend hängende Ohren hätte; es ist daher die zu dessen Erklärung vorgebrachte Ansicht, dass dieses Hängendwerden der Ohren vom Nichtgebrauch der Ohrmuskeln herrühre, weil das Thier nur selten durch drohende Gefahren beunruhigt werde, ganz wahrscheinlich.

Viele Gesetze regeln die Abänderung, von welchen einige wenige sich dunkel erkennen lassen, und welche nachher noch kurz erörtert werden sollen. Hier will ich nur auf das hinweisen, was man Correlation des Abänderns nennen kann. Wichtige Veränderungen in Embryo oder Larve werden wahrscheinlich auch Veränderungen im reifen Thiere nach sich ziehen. Bei Monstrositäten sind die Wechselbeziehungen zwischen ganz verschiedenen Theilen des Körpers sehr sonderbar, und ISIDORE GEOFFROY ST.-HILAIRE führt davon viele Belege in seinem grossen Werke an. Züchter glauben, dass lange Beine beinahe immer auch von einem verlängerten Kopfe begleitet werden. Einige Fälle von Correlation erscheinen ganz wunderlicher Art; so, dass ganz weisse Katzen mit blauen Augen gewöhnlich taub sind; Mr. TAIT hat indessen vor Kurzem angegeben, dass dies auf die Männchen beschränkt ist. Farbe und Eigenthümlichkeiten der Constitution stehen miteinander in Verbindung, wovon sich viele merkwürdige Fälle bei Pflanzen und Thieren anführen liessen. Aus den von HEUSINGER gesammelten Thatsachen geht hervor, dass auf weisse Schafe und Schweine gewisse Pflanzen schädlich einwirken, während dunkelfarbige nicht afficiert werden. Professor WYMAN hat mir kürzlich einen sehr belehrenden Fall dieser Art mitgetheilt. Auf seine an einige Farmer in Virginien gerichtete Frage, woher es komme, dass alle ihre Schweine schwarz seien, erhielt er zur Antwort, dass die Schweine die Farbwurzel (Lachnanthes) frässen, diese färbe ihre Knochen rosa und mache, ausser bei den schwarzen Varietäten derselben, die Hufe abfallen; einer der Crackers (d.h. der Virginia-Ansiedler) fügte hinzu: »wir wählen die schwarzen Glieder eines Wurfes zum Aufziehen aus, weil sie allein Aussicht auf Gedeihen geben.« Unbehaarte Hunde haben unvollständiges Gebiss; von lang- oder grobhaarigen Wiederkäuern behauptet man, dass sie gern lange oder viele Hörner bekommen; Tauben mit Federfüssen haben eine Haut zwischen ihren äusseren Zehen; kurz-schnäbelige Tauben haben kleine Füsse, und die mit langen Schnäbeln grosse Füsse. Wenn man daher durch Auswahl geeigneter Individuen von Pflanzen und Thieren für die Nachzucht irgend eine Eigenthümlichkeit derselben steigert, so wird man fast sicher, ohne es zu wollen, diesen geheimnisvollen Gesetzen der Correlation gemäss noch andere Theile der Structur mit abändern.

Die Resultate der mancherlei entweder unbekannten oder nur undeutlich verstandenen Gesetze der Variation sind ausserordentlich verwickelt und vielfältig. Es ist wohl der Mühe werth, die verschiedenen Abhandlungen über unsere alten Culturpflanzen, wie Hyacinthen, Kartoffeln, selbst Dahlien u.s.w., sorgfältig zu studieren, und es ist wirklich überraschend zu sehen, wie endlos die Menge von einzelnen Verschiedenheiten in der Structur und Constitution ist, durch welche alle ihre Varietäten und Subvarietäten unbedeutend von einander abweichen. Ihre ganze Organisation scheint plastisch geworden zu sein, um bald in dieser und bald in jener Richtung sich etwas von dem elterlichen Typus zu entfernen.

Nicht-erbliche Abänderungen sind für uns ohne Bedeutung. Aber schon die Zahl und Mannichfaltigkeit der erblichen Abweichungen in dem Bau des Körpers, sei es von geringer oder von beträchtlicher physiologischer Wichtigkeit, ist endlos. Dr. PROSPER LUCAS' Abhandlung, in zwei starken Bänden, ist das Beste und Vollständigste, was man darüber hat. Kein Züchter ist darüber im Zweifel, wie gross die Neigung zur Vererbung ist; »Gleiches erzeugt Gleiches« ist sein Grundglaube, und nur theoretische Schriftsteller haben dagegen Zweifel erhoben. Wenn irgend eine Abweichung oft zum Vorschein kommt und wir sie in Vater und Kind sehen, so können wir nicht sagen, ob sie nicht etwa von einerlei Grundursache herrühre, die auf beide gewirkt habe. Wenn aber unter Individuen einer Art, welche augenscheinlich denselben Bedingungen ausgesetzt sind, irgend eine sehr seltene Abänderung in Folge eines ausserordentlichen Zusammentreffens von Umständen an einem Individuum zum Vorschein kommt – an einem unter mehreren Millionen – und dann am Kinde wieder erscheint, so nöthigt uns schon die Wahrscheinlichkeitslehre diese Wiederkehr durch Vererbung zu erklären. Jedermann wird ja schon von Fällen gehört haben, wo seltene Erscheinungen, wie Albinismus, Stachelhaut, ganz behaarter Körper u. dgl. bei mehreren Gliedern einer und der nämlichen Familie vorgekommen sind. Wenn aber seltene und fremdartige Abweichungen der Körperbildung sich wirklich vererben, so werden minder fremdartige und ungewöhnliche Abänderungen um so mehr als erblich zugestanden werden müssen. Ja, vielleicht wäre die richtigste Art die Sache anzusehen die, dass man jedweden Character als erblich und die Nichtvererbung als Anomalie betrachtete.

Die Gesetze, welche die Vererbung der Charactere regeln, sind zum grössten Theile unbekannt, und niemand vermag zu sagen, woher es kommt, dass dieselbe Eigenthümlichkeit in verschiedenen Individuen einer Art und in verschiedenen Arten zuweilen vererbt wird und zuweilen nicht; woher es kommt, dass das Kind zuweilen zu gewissen Characteren des Grossvaters oder der Grossmutter oder noch früherer Vorfahren zurückkehrt; woher es kommt, dass eine Eigenthümlichkeit sich oft von einem Geschlechte auf beide Geschlechter überträgt, oder sich auf eines und zwar gewöhnlich aber nicht ausschliesslich auf dasselbe Geschlecht beschränkt. Es ist eine Thatsache von einiger Wichtigkeit für uns, dass Eigenthümlichkeiten, welche an den Männchen unserer Hausthiere zum Vorschein kommen, entweder ausschliesslich oder doch in einem viel bedeutenderen Grade wieder nur auf männliche Nachkommen übergehen. Eine noch wichtigere und wie ich glaube verlässige Regel ist die, dass, in welcher Periode des Lebens sich eine Eigenthümlichkeit auch zeigen möge, sie in der Nachkommenschaft auch immer in dem entsprechenden Alter, wenn auch zuweilen wohl früher, zum Vorschein zu kommen strebt. In vielen Fällen ist dies nicht anders möglich, weil die erblichen Eigenthümlichkeiten z.B. an den Hörnern des Rindviehs an den Nachkommen sich erst im nahezu reifen Alter zeigen können; und ebenso gibt es bekanntlich Eigenthümlichkeiten des Seidenwurms, die nur den Raupen-oder Puppenzustand betreffen. Aber erbliche Krankheiten und einige andere Thatsachen veranlassen mich zu glauben, dass die Regel eine weitere Ausdehnung hat, und dass da, wo kein offenbarer Grund für das Erscheinen einer Abänderung in einem bestimmten Alter vorliegt, doch das Streben bei ihr vorhanden ist, auch am Nachkommen in dem gleichen Lebensabschnitte sich zu zeigen, in welchem sie an dem Erzeuger zuerst eingetreten ist. Ich glaube, dass diese Regel von der grössten Wichtigkeit für die Erklärung der Gesetze der Embryologie ist. Diese Bemerkungen beziehen sich übrigens auf das erste Sichtbarwerden der Eigenthümlichkeit, und nicht auf ihre erste Ursache, die vielleicht schon auf den männlichen oder weiblichen Zeugungsstoff eingewirkt haben kann, in derselben Weise etwa, wie der aus der Kreuzung einer kurzhörnigen Kuh und eines langhörnigen Bullen hervorgegangene Sprössling die grössere Länge seiner Hörner, obschon sie sich erst spät im Leben zeigen kann, offenbar dem Zeugungsstoff des Vaters verdankt.

Da ich des Rückschlags zur grosselterlichen Bildung Erwähnung gethan habe, so will ich hier eine von Naturforschern oft gemachte Angabe anführen, dass nämlich unsere Hausthier-Rassen, wenn sie verwildern, zwar nur allmählich, aber doch unabänderlich, den Character ihrer wilden Stammeltern wieder annehmen, woraus man dann geschlossen hat, dass man von zahmen Rassen nicht auf Arten in ihrem Naturzustande folgern könne. Ich habe jedoch vergeblich zu ermitteln gesucht, auf was für entscheidende Thatsachen sich jene so oft und so bestimmt wiederholte Behauptung stützte. Es möchte sehr schwer sein, ihre Richtigkeit nachzuweisen; denn wir können mit Sicherheit sagen, dass sehr viele der ausgeprägtesten zahmen Varietäten im wilden Zustande gar nicht leben könnten. In vielen Fällen kennen wir nicht einmal den Urstamm und vermögen uns daher noch weniger zu vergewissern, ob eine vollständige Rückkehr eingetreten ist oder nicht. Jedenfalls würde es, um die Folgen der Kreuzung zu vermeiden, nöthig sein, dass nur eine einzelne Varietät in ihrer neuen Heimath in die Freiheit zurückversetzt werde. Ungeachtet aber unsere Varietäten gewiss in einzelnen Merkmalen zuweilen zu ihren Urformen zurückkehren, so scheint es mir doch nicht unwahrscheinlich, dass, wenn man die verschiedenen Abarten des Kohls z.B. einige Generationen hindurch in einem ganz armen Boden zu cultivieren fortführe (in welchem Falle dann allerdings ein Theil des Erfolges der bestimmten Wirkung des Bodens zuzuschreiben wäre), dieselben ganz oder fast ganz wieder in ihre wilde Urform zurückfallen würden. Ob der Versuch nun gelinge oder nicht, ist für unsere Folgerungen von keiner grossen Bedeutung, weil durch den Versuch selber die Lebensbedingungen geändert werden. Liesse sich beweisen, dass unsere cultivierten Rassen eine starke Neigung zum Rückschlag, d.h. zur Ablegung der angenommenen Merkmale an den Tag legen, solange sie unter unveränderten Bedingungen und in beträchtlichen Mengen beisammen gehalten werden, so dass die hier mögliche freie Kreuzung etwaige geringe Abweichungen der Structur, die dann eben verschmölzen, verhütete, – in diesem Falle würde ich zugeben, dass sich von den domesticierten Varietäten nichts in Bezug auf die Arten folgern lasse. Aber es ist nicht ein Schatten von Beweis zu Gunsten dieser Meinung vorhanden. Die Behauptung, dass sich unsere Karren- und Rennpferde, unsere lang- und kurzhörnigen Rinder, unsere mannichfaltigen Federviehsorten und Nahrungsgewächse nicht eine fast unbegrenzte Zahl von Generationen hindurch fortpflanzen lassen, wäre aller Erfahrung entgegen.

Charactere domesticierter Varietäten; Schwierigkeiten der Unterscheidung zwischen Varietäten und Arten; Ursprung der Culturvarietäten von einer oder mehreren Arten

Wenn wir die erblichen Varietäten oder Rassen unserer domesticierten Pflanzen und Thiere betrachten und dieselben mit nahe verwandten Arten vergleichen, so finden wir meist, wie schon bemerkt wurde, in jeder solchen Rasse eine geringere Übereinstimmung des Characters als bei echten Arten. Auch haben domesticierte Rassen oft einen etwas monströsen Character, womit ich sagen will, dass, wenn sie sich auch von einander und von den übrigen Arten derselben Gattung in mehreren unwichtigen Punkten unterscheiden, sie doch oft im äussersten Grade in irgend einem einzelnen Theile sowohl von den anderen Varietäten als insbesondere von den übrigen nächstverwandten Arten im Naturzustande abweichen. Diese Fälle (und die der vollkommenen Fruchtbarkeit gekreuzter Varietäten, wovon nachher die Rede sein soll) ausgenommen, weichen die cultivierten Rassen einer und derselben Species in gleicher Weise von einander ab, wie die einander nächst verwandten Arten derselben Gattung im Naturzustande, nur sind die Verschiedenheiten dem Grade nach geringer. Man muss dies als richtig zugeben, denn die domesticierten Rassen vieler Thiere und Pflanzen sind von competenten Richtern für Abkömmlinge ursprünglich verschiedener Arten, von anderen competenten Beurtheilern für blosse Varietäten erklärt worden. Gäbe es irgend einen scharf bestimmten Unterschied zwischen einer cultivierten Rasse und einer Art, so könnten dergleichen Zweifel nicht so oft wiederkehren. Oft hat man versichert, dass domesticierte Rassen nicht in Merkmalen von generischem Werthe von einander abweichen. Diese Behauptung lässt sich als nicht correct erweisen; doch gehen die Meinungen der Naturforscher weit auseinander, wenn sie sagen sollen, worin Gattungscharactere bestehen, da alle solche Schätzungen für jetzt nur empirisch sind. Wenn erklärt ist, wie Gattungen in der Natur entstehen, wird sich zeigen, dass wir kein Recht haben zu erwarten, bei unseren domesticierten Rassen oft auf Verschiedenheiten zu stossen, welche Gattungswerth haben.

Wenn wir die Grösse der Structurverschiedenheiten zwischen verwandten domesticierten Rassen zu schätzen versuchen, so werden wir bald dadurch in Zweifel verwickelt, dass wir nicht wissen, ob dieselben von einer oder mehreren Stammarten abstammen. Es wäre von Interesse, wenn sich diese Frage aufklären liesse. Wenn z.B. nachgewiesen werden könnte, dass das Windspiel, der Schweisshund, der Pinscher, der Jagdhund und der Bullenbeisser, welche ihre Form so streng fortpflanzen, Abkömmlinge von nur einer Stammart sind, dann würden solche Thatsachen sehr geeignet sein, uns an der Unveränderlichkeit der vielen einander sehr nahestehenden natürlichen Arten, der Füchse z.B., die so ganz verschiedene Weltgegenden bewohnen, zweifeln zu lassen. Ich glaube nicht, wie wir gleich sehen werden, dass die ganze Verschiedenheit zwischen den Hunderassen im Zustande der Domestication entstanden ist; ich glaube, dass ein gewisser kleiner Theil ihrer Verschiedenheit auf ihre Abkunft von besonderen Arten zurückzuführen ist. Bei scharf markierten Rassen einiger anderer domesticierten Arten ist es anzunehmen oder entschieden zu beweisen, dass alle Rassen von einer einzigen wilden Stammform abstammen.

Es ist oft angenommen worden, der Mensch habe sich solche Pflanzen- und Thierarten zur Domestication ausgewählt, welche ein angeborenes ausserordentlich starkes Vermögen abzuändern und in verschiedenen Climaten auszudauern besitzen. Ich bestreite nicht, dass diese Fähigkeiten den Werth unserer meisten Culturerzeugnisse beträchtlich erhöht haben. Aber wie vermochte ein Wilder zu wissen, als er ein Thier zu zähmen begann, ob dasselbe in folgenden Generationen zu variieren geneigt und in anderen Climaten auszudauern vermögend sein werde? oder hat die geringe Variabilität des Esels und der Gans, das geringe Ausdauerungsvermögen des Renthiers in der Wärme und des Kamels in der Kälte es verhindert, dass sie Hausthiere wurden? Daran kann ich nicht zweifeln, dass, wenn man andere Pflanzen- und Thierarten in gleicher Anzahl wie unsere domesticierten Rassen und aus eben so verschiedenen Classen und Gegenden ihrem Naturzustande entnähme und eine gleich lange Reihe von Generationen hindurch im domesticierten Zustande sich fortpflanzen lassen könnte, sie durchschnittlich in gleichem Umfange variieren würden, wie es die Stammarten unserer jetzt existierenden domesticierten Rassen gethan haben.

In Bezug auf die meisten unserer von Alters her domesticierten Pflanzen und Thiere ist es nicht möglich, zu einem bestimmten Ergebnis darüber zu gelangen, ob sie von einer oder von mehreren Arten abstammen. Die Anhänger der Lehre von einem mehrfältigen Ursprung unserer Hausrassen berufen sich hauptsächlich darauf, dass wir schon in den ältesten Zeiten, auf den ägyptischen Monumenten und in den Pfahlbauten der Schweiz eine grosse Mannichfaltigkeit der gezüchteten Thiere finden, und dass einige dieser alten Rassen den jetzt noch existierenden ausserordentlich ähnlich, oder gar mit ihnen identisch sind. Dies drängt aber nur die Geschichte der Civilisation weiter zurück und lehrt, dass Thiere in einer viel frühern Zeit, als bis jetzt angenommen worden ist, zu Hausthieren gemacht wurden. Die Pfahlbautenbewohner der Schweiz cultivierten mehrere Sorten Weizen und Gerste, die Erbse, den Mohn wegen des Öls und den Flachs und besassen mehrere domesticierte Thiere. Sie standen auch in Verkehr mit anderen Nationen. Alles dies zeigt deutlich, wie HEER bemerkt hat, dass sie in jener frühen Zeit beträchtliche Fortschritte in der Cultur gemacht hatten; und dies setzt wieder eine noch frühere, lange dauernde Periode einer weniger fortgeschrittenen Civilisation voraus, während welcher die von den verschiedenen Stämmen und in den verschiedenen Districten als Hausthiere gehaltenen Arten variiert und getrennte Rassen haben entstehen lassen können. Seit der Entdeckung von Feuerstein-Geräthen in den oberen Bodenschichten so vieler Theile der Welt glauben alle Geologen, dass barbarische Menschen in einem völlig uncivilisierten Zustande in einer unendlich weit zurückliegenden Zeit existiert haben; – und bekanntlich gibt es heutzutage kaum noch einen so wilden Volksstamm, dass er sich nicht wenigstens den Hund gezähmt hätte.

Über den Ursprung der meisten unserer Hausthiere wird man wohl immer im Ungewissen bleiben. Doch will ich hier bemerken, dass ich nach einem mühsamen Sammeln aller bekannten Thatsachen über die domesticierten Hunde in allen Theilen der Erde zu dem Schlusse gelangt bin, dass mehrere wilde Arten von Caniden gezähmt worden sind und dass deren Blut in mehreren Fällen gemischt in den Adern unserer domesticierten Hunderassen fliesst. – In Bezug auf Schaf und Ziege vermag ich mir keine entschiedene Meinung zu bilden. Nach den mir von BLYTH über die Lebensweise, Stimme, Constitution und Bau des Indischen Höckerochsen mitgetheilten Thatsachen ist es beinahe sicher, dass er von einer andern Stammform als unser europäisches Rind herstammt; und dieses letztere glauben einige competente Richter von zwei oder drei wilden Vorfahren ableiten zu müssen, mögen diese nun den Namen Art oder Rasse verdienen. Diesen Schluss kann man allerdings, ebenso wie die specifische Trennung des Höckerochsen vom gemeinen Rind, als durch die neuen ausgezeichneten Untersuchungen RÜTIMEYER'S sicher erwiesen ansehen. – Hinsichtlich des Pferdes bin ich mit einigen Zweifeln aus Gründen, die ich hier nicht entwickeln kann, gegen die Meinung mehrerer Schriftsteller anzunehmen geneigt, dass alle seine Rassen zu einer und derselben Art gehören. Nachdem ich mir fast alle Englischen Hühnerrassen lebend gehalten, sie gekreuzt und ihre Skelette untersucht habe, scheint es mir beinahe sicher zu sein, dass sie sämmtlich die Nachkommen des wilden Indischen Huhns, Gallus bankiva, sind; zu dieser Folgerung gelangte auch Herr BLYTH und Andere, welche diesen Vogel in Indien studiert haben. – In Bezug auf Enten und Kaninchen, von denen einige Rassen in ihrem Körperbau sehr von einander abweichen, ist der Beweis klar, dass sie alle von der gemeinen Wildente und dem wilden Kaninchen stammen. Die Lehre von der Abstammung unserer verschiedenen Hausthier-Rassen von verschiedenen wilden Stammformen ist von einigen Schriftstellern bis zu einem abgeschmackten Extrem getrieben worden. Sie glauben nämlich, dass jede wenn auch noch so wenig verschiedene Rasse, welche ihren unterscheidenden Character bei der Zucht bewahrt, auch ihre wilde Stammform gehabt habe. Hiernach müsste es wenigstens zwanzig wilde Rinder-, ebenso viele Schaf- und mehrere Ziegen-Arten allein in Europa und mehrere selbst schon innerhalb Gross-Britanniens gegeben haben. Ein Autor meint, es hätten in letzterm Lande ehedem elf wilde und ihm eigenthümliche Schafarten gelebt! Wenn wir nun erwägen, dass Gross-Britannien jetzt keine ihm eigenthümliche Säugethierart, Frankreich nur sehr wenige nicht auch in Deutschland vorkommende, und umgekehrt, besitzt, dass es sich ebenso mit Ungarn, Spanien u.s.w. verhält, dass aber jedes dieser Länder mehrere ihm eigene Rassen von Rind, Schaf u.s.w. hat, so müssen wir zugeben, dass in Europa viele Hausthierstämme entstanden sind; denn von woher könnten sie sonst alle gekommen sein? Und so ist es auch in Ost-Indien. Selbst in Bezug auf die über die ganze Erde hin vorkommenden Rassen des domesticierten Hundes kann ich es, obwohl ich ihre Abstammung von mehreren verschiedenen Arten annehme, nicht in Zweifel ziehen, dass hier ausserordentlich viel von vererbter Abweichung in's Spiel gekommen ist. Denn wer kann glauben, dass Thiere, welche mit dem Italienischen Windspiel, mit dem Schweisshund, mit dem Bullenbeisser, mit dem Mopse, mit dem Blenheimer Jagdhund u.s.w., mit Formen, welche so sehr von allen wilden Caniden abweichen, nahe übereinstimmen, jemals frei im Naturzustande gelebt hätten? Es ist oft hingeworfen worden, alle unsere Hunderassen seien durch Kreuzung einiger weniger Stammarten miteinander entstanden; aber durch Kreuzung können wir nur solche Formen erhalten, welche mehr oder weniger das Mittel zwischen ihren Eltern haben; und wollten wir unsere verschiedenen domesticierten Rassen hierdurch erklären, so müssten wir annehmen, dass einstens die äussersten Formen, wie das italienische Windspiel, der Schweisshund, der Bullenbeisser u.s.w. im wilden Zustande gelebt hätten. Überdies ist die Möglichkeit, durch Kreuzung verschiedene Rassen zu bilden, sehr übertrieben worden. Man kennt wohl viele Fälle, welche beweisen, dass eine Rasse durch gelegentliche Kreuzung mittelst sorgfältiger Auswahl der Individuen, welche irgend einen bezweckten Character darbieten, sich modificieren lässt; es wird aber sehr schwer sein, eine nahezu das Mittel zwischen zwei weit verschiedenen Rassen oder Arten haltende neue Rasse zu züchten. Sir J. SEBRIGHT hat ausdrückliche Versuche in dieser Beziehung angestellt und keinen Erfolg gehabt. Die Nachkommenschaft aus der ersten Kreuzung zwischen zwei reinen Rassen ist so ziemlich, und zuweilen, wie ich bei Tauben gefunden, ausserordentlich übereinstimmend in ihren Merkmalen und alles scheint einfach genug zu sein. Werden aber diese Blendlinge einige Generationen hindurch untereinander gepaart, so werden kaum zwei ihrer Nachkommen einander ähnlich ausfallen, und dann wird die äusserste Schwierigkeit des Erfolges klar.

Rassen der domesticierten Taube, ihre Verschiedenheiten und Ursprung

Von der Ansicht ausgehend, dass es am zweckmässigsten ist, irgend eine besondere Thiergruppe zum Gegenstande der Forschung zu machen, habe ich mir nach einiger Erwägung die Haustauben dazu ausersehen. Ich habe alle Rassen gehalten, die ich mir kaufen oder sonst verschaffen konnte, und bin auf die freundlichste Weise mit Bälgen aus verschiedenen Weltgegenden bedacht worden; insbesondere durch W. ELLIOT aus Ost-Indien und C. MURRAY aus Persien. Es sind in verschiedenen Sprachen viele Abhandlungen über die Tauben veröffentlicht worden und einige darunter haben durch ihr hohes Alter eine ganz besondere Bedeutung. Ich habe mich mit einigen ausgezeichneten Taubenliebhabern verbunden und mich in zwei Londoner Tauben-Clubs aufnehmen lassen. Die Verschiedenheit der Rassen ist erstaunlich gross. Man vergleiche z.B. die Englische Botentaube und den kurzstirnigen Purzler und betrachte die wunderbare Verschiedenheit in ihren Schnäbeln, welche entsprechende Verschiedenheiten in ihren Schädeln bedingt. Die Englische Botentaube (Carrier) und insbesondere das Männchen ist noch ausserdem merkwürdig durch die wundervolle Entwicklung von Fleischlappen an der Kopfhaut; und in Begleitung hiervon treten wieder die mächtig verlängerten Augenlider, sehr weite äussere Nasenlöcher und eine weite Mundspalte auf. Der kurzstirnige Purzler hat einen Schnabel, im Profil fast wie beim Finken; und die gemeine Purzeltaube hat die eigenthümliche erbliche Gewohnheit, sich in dichten Gruppen zu ansehnlicher Höhe in die Luft zu erheben und dann kopfüber herabzupurzeln. Die »Runt«- Taube ist ein Vogel von beträchtlicher Grösse mit langem, massigem Schnabel und grossen Füssen; einige Unterrassen derselben haben einen sehr langen Hals, andere sehr lange Schwingen und Schwanz, noch andere einen ganz eigenthümlich kurzen Schwanz. Die »Barb«- Taube ist mit der Botentaube verwandt, hat aber, statt des sehr langen, einen sehr kurzen und breiten Schnabel. Der Kröpfer hat Körper, Flügel und Beine sehr verlängert, und sein ungeheuer entwickelter Kropf, den er aufzublähen sich gefällt, mag wohl Verwunderung und selbst Lachen erregen. Die Möventaube (Turbit) besitzt einen sehr kurzen kegelförmigen Schnabel, mit einer Reihe umgewendeter Federn auf der Brust, und hat die Gewohnheit, den obern Theil des Oesophagus beständig etwas aufzutreiben. Der Jacobiner oder die Perückentaube hat die Nackenfedern so weit umgewendet, dass sie eine Perücke bilden, und im Verhältnis zur Körpergrösse lange Schwung- und Schwanzfedern. Der Trompeter und die Lachtaube5 rucksen, wie ihre Namen ausdrücken auf eine ganz andere Weise als die anderen Rassen. Die Pfauentaube hat 30 – 40 statt der in der ganzen grossen Familie der Tauben normalen 12 – 14 Schwanzfedern und trägt diese Federn in der Weise ausgebreitet und aufgerichtet, dass bei guten Vögeln sich Kopf und Schwanz berühren; die Öldrüse ist gänzlich verkümmert. Noch könnten einige minder ausgezeichnete Rassen aufgezählt werden.

Im Skelette der verschiedenen Rassen weicht die Entwicklung der Gesichtsknochen in Länge, Breite und Krümmung ausserordentlich ab. Die Form sowohl als die Breite und Länge des Unterkieferastes ändern in sehr merkwürdiger Weise. Die Zahl der Sacral- und Schwanzwirbel und der Rippen, die verhältnismässige Breite der letzteren und Anwesenheit ihrer Querfortsätze variieren ebenfalls. Sehr veränderlich sind ferner die Grösse und Form der Lücken oder Öffnungen im Brustbein, sowie der Öffnungswinkel und die relative Grösse der zwei Schenkel des Gabelbeins. Die verhältnismässige Weite der Mundspalte, die verhältnismässige Länge der Augenlider, der äusseren Nasenlöcher und der Zunge, welche sich nicht immer nach der des Schnabels richtet, die Grösse des Kropfes und des obern Theils der Speiseröhre, die Entwicklung oder Verkümmerung der Öldrüse, die Zahl der ersten Schwung- und der Schwanzfedern, die relative Länge von Flügeln und Schwanz zu einander und zu der des Körpers, die des Beines und des Fusses, die Zahl der Hornschuppen in der Zehenbekleidung, die Entwicklung von Haut zwischen den Zehen sind Alles abänderungsfähige Punkte im Körperbau. Auch die Periode, wo sich das vollkommene Gefieder einstellt, ist ebenso veränderlich wie die Beschaffenheit des Flaums, womit die Nestlinge beim Ausschlüpfen aus dem Eie bekleidet sind. Form und Grösse der Eier sind der Abänderung unterworfen. Die Art des Flugs ist ebenso merkwürdig verschieden, wie es bei manchen Rassen mit Stimme und Gemüthsart der Fall ist. Endlich weichen bei gewissen Rassen die Männchen und Weibchen in einem geringen Grade von einander ab.

So könnte man wenigstens zwanzig Tauben auswählen, welche ein Ornitholog, wenn man ihm sagte, es seien wilde Vögel, unbedenklich für wohlumschriebene Arten erklären würde. Ich glaube nicht einmal, dass irgend ein Ornitholog die Englische Botentaube, den kurzstirnigen Purzler, die Runt-, die Barb-, die Kropf- und die Pfauentaube in dieselbe Gattung zusammenstellen würde, zumal ihm von einer jeden dieser Rassen wieder mehrere erbliche Unterrassen vorgelegt werden könnten, die er Arten nennen würde.

Wie gross nun aber auch die Verschiedenheit zwischen den Taubenrassen sein mag, so bin ich doch überzeugt, dass die gewöhnliche Meinung der Naturforscher, dass alle von der Felstaube (Columba livia) abstammen, richtig ist, wenn man nämlich unter diesem Namen verschiedene geographische Rassen oder Unterarten mit begreift, welche nur in den alleruntergeordnetsten Merkmalen von einander abweichen. Da einige der Gründe, welche mich zu dieser Ansicht bestimmt haben, mehr oder weniger auch auf andere Fälle anwendbar sind, so will ich sie hier kurz angeben. Sind jene verschiedenen Rassen nicht Varietäten und nicht aus der Felstaube hervorgegangen, so müssen sie von wenigstens 7 – 8 Stammarten herrühren; denn es ist unmöglich, alle unsere domesticierten Rassen durch Kreuzung einer geringern Artenzahl miteinander zu erlangen. Wie wollte man z.B. die Kropftaube durch Paarung zweier Arten miteinander erzielen, wovon nicht eine den ungeheuren Kropf besässe? Die angenommenen wilden Stammarten müssen sämmtlich Felstauben gewesen sein, solche nämlich, die nicht auf Bäumen brüten oder sich auch nur freiwillig auf Bäume setzen. Doch kennt man ausser der C. livia und ihren geographischen Unterarten nur noch 2 – 3 Arten Felstauben, welche aber nicht einen der Charactere unserer zahmen Rassen besitzen. Daher müssten denn die angeblichen Urstämme entweder noch in den Gegenden ihrer ersten Zähmung vorhanden und den Ornithologen unbekannt geblieben sein, was wegen ihrer Grösse, Lebensweise und merkwürdigen Eigenschaften unwahrscheinlich erscheint; oder sie müssten im wilden Zustande ausgestorben sein. Aber Vögel, welche an Felsabhängen nisten und gut fliegen, sind nicht leicht auszurotten, und unsere gemeine Felstaube, welche mit unseren zahmen Rassen gleiche Lebensweise besitzt, hat noch nicht einmal auf einigen der kleineren Britischen Inseln oder an den Küsten des Mittelmeeres ausgerottet werden können. Daher scheint mir die angebliche Ausrottung so vieler Arten, die mit der Felstaube gleiche Lebensweise besitzen, eine sehr übereilte Annahme zu sein. Überdies sind die obengenannten so abweichenden Rassen nach allen Weltgegenden verpflanzt worden und müssten daher wohl einige derselben in ihre Heimath zurückgelangt sein. Und doch ist nicht eine derselben verwildert, obwohl die Feldtaube, d.i. die Felstaube in ihrer nur sehr wenig veränderten Form, in einigen Gegenden verwildert ist. Da nun alle neueren Versuche zeigen, dass es sehr schwer ist ein wildes Thier im Zustande der Zähmung zur Fortpflanzung zu bringen, so wäre man durch die Hypothese eines mehrfältigen Ursprungs unserer Haustauben zur Annahme genöthigt, es seien schon in den alten Zeiten und von halbcivilisierten Menschen wenigstens 7 – 8 Arten so vollkommen gezähmt worden, dass sie selbst in der Gefangenschaft fruchtbar geworden sind.

Ein Beweisgrund von grossem Gewichte und auch anderweitiger Anwendbarkeit ist der, dass die oben aufgezählten Rassen, obwohl sie im Allgemeinen in Constitution, Lebensweise, Stimme, Färbung und den meisten Theilen ihres Körperbaues mit der Felstaube übereinkommen, doch in anderen Theilen gewiss sehr abnorm sind; wir würden uns in der ganzen grossen Familie der Columbiden vergeblich nach einem Schnabel, wie ihn die Englische Botentaube oder der kurzstirnige Purzler oder die Barbtaube besitzen, – oder nach umgedrehten Federn, wie sie die Perückentaube hat, – oder nach einem Kropfe, wie beim Kröpfer, – oder nach einem Schwanze, wie bei der Pfauentaube, umsehen. Man müsste daher annehmen, dass der halbcivilisierte Mensch nicht allein bereits mehrere Arten vollständig gezähmt, sondern auch absichtlich oder zufällig ausserordentlich abnorme Arten dazu erkoren habe, und dass diese Arten seitdem alle erloschen oder verschollen seien. Das Zusammentreffen so vieler seltsamer Zufälligkeiten ist denn doch im höchsten Grade unwahrscheinlich.

Noch möchten hier einige Thatsachen in Bezug auf die Färbung des Gefieders bei Tauben Berücksichtigung verdienen. Die Felstaube ist schieferblau mit weissen (bei der ostindischen Subspecies, C. intermedia STRICKL., blaulichen) Weichen, hat am Schwanze eine schwarze Endbinde und am Grunde der äusseren Federn desselben einen weissen äussern Rand; auch haben die Flügel zwei schwarze Binden. Einige halb-domesticierte und andere ganz wilde Unterrassen haben auch ausser den beiden schwarzen Binden noch schwarze Würfelflecke auf den Flügeln. Diese verschiedenen Zeichnungen kommen bei keiner andern Art der ganzen Familie vereinigt vor. Nun treffen aber auch bei jeder unserer zahmen Rassen zuweilen und selbst bei gut gezüchteten Vögeln alle jene Zeichnungen gut entwickelt zusammen, selbst bis auf die weissen Ränder der äusseren Schwanzfedern. Ja, wenn man zwei oder mehr Vögel von verschiedenen Rassen, von welchen keine blau ist oder eine der erwähnten Zeichnungen besitzt, miteinander paart, so sind die dadurch erzielten Blendlinge sehr geneigt, diese Charactere plötzlich anzunehmen. So kreuzte ich, um von mehreren Fällen, die mir vorgekommen sind, einen anzuführen, einfarbig weisse Pfauentauben, die sehr constant bleiben, mit einfarbig schwarzen Barbtauben, von deren zufällig äusserst seltenen blauen Varietäten mir kein Fall in England bekannt ist, und erhielt eine braune, schwarze und gefleckte Nachkommenschaft. Ich kreuzte nun auch eine Barb-mit einer Blässtaube, einem weissen Vogel mit rothem Schwanze und rother Blässe von sehr beständiger Rasse, und die Blendlinge waren dunkelfarbig und fleckig. Als ich ferner einen der von Pfauen- und von Barb-Tauben erzielten Blendlinge mit einem der Blendlinge von Barb- und von Bläss-Tauben paarte, kam ein Enkel mit schön blauem Gefieder, weissen Weichen, doppelter schwarzer Flügelbinde, schwarzer Schwanzbinde und weissen Seitenrändern der Steuerfedern, Alles wie bei der wilden Felstaube, zum Vorschein. Man kann diese Thatsachen aus dem bekannten Princip des Rückschlags zu vorelterlichen Characteren begreifen, wenn alle zahmen Rassen von der Felstaube abstammen. Wollten wir aber dies läugnen, so müssten wir eine von den zwei folgenden sehr unwahrscheinlichen Voraussetzungen machen: Entweder, dass all' die verschiedenen angenommenen Stammarten wie die Felstaube gefärbt und gezeichnet gewesen seien (obwohl keine andere lebende Art mehr so gefärbt und gezeichnet ist), so dass in dessen Folge noch bei allen Rassen eine Neigung, zu dieser anfänglichen Färbung und Zeichnung zurückzukehren, vorhanden wäre; oder, dass jede und auch die reinste Rasse seit etwa den letzten zwölf oder höchstens zwanzig Generationen einmal mit der Felstaube gekreuzt worden sei; ich sage: zwölf oder zwanzig Generationen, denn es ist kein Beispiel bekannt, dass gekreuzte Nachkommen auf einen Vorfahren fremden Blutes nach einer noch grössern Zahl von Generationen zurückschlagen. Wenn in einer Rasse nur einmal eine Kreuzung stattgefunden hat, so wird die Neigung zu einem aus einer solchen Kreuzung abzuleitenden Character zurückzukehren natürlich um so kleiner und kleiner werden, je weniger fremdes Blut noch in jeder spätern Generation übrig ist. Hat aber keine Kreuzung stattgefunden und ist gleichwohl in der Zucht die Neigung der Rückkehr zu einem Character vorhanden, der in irgend einer frühern Generation verloren gegangen war, so ist trotz Allem, was man etwa Gegentheiliges anführen mag, die Annahme geboten, dass sich diese Neigung in ungeschwächtem Grade durch eine unbestimmte Reihe von Generationen forterhalten könne. Diese zwei ganz verschiedenen Fälle von Rückschlag sind in Schriften über Erblichkeit oft miteinander verwechselt worden.

Endlich sind die Bastarde oder Blendlinge, welche durch die Kreuzung der verschiedenen Taubenrassen erzielt werden, alle vollkommen fruchtbar. Ich kann dies nach meinen eigenen Versuchen bestätigen, die ich absichtlich mit den aller-verschiedensten Rassen angestellt habe. Dagegen wird es aber schwer und vielleicht unmöglich sein, einen Fall anzuführen, wo ein Bastard von zwei bestimmt verschiedenen Arten vollkommen fruchtbar gewesen wäre. Einige Schriftsteller nehmen an, langdauernde Domestication beseitige allmählich diese Neigung zur Unfruchtbarkeit. Aus der Geschichte des Hundes und einiger anderen Hausthiere zu schliessen, ist diese Hypothese wahrscheinlich vollkommen richtig, wenn sie aufeinander sehr nahe verwandte Arten angewendet wird. Aber eine Ausdehnung der Hypothese bis zu der Behauptung, dass Arten, die ursprünglich von einander eben so verschieden gewesen, wie es Botentaube, Purzler, Kröpfer und Pfauenschwanz jetzt sind, unter einander eine vollkommen fruchtbare Nachkommenschaft liefern, scheint mir äusserst voreilig zu sein. Diese verschiedenen Gründe und zwar: die Unwahrscheinlichkeit, dass der Mensch schon in früher Zeit sieben bis acht wilde Taubenarten zur Fortpflanzung im gezähmten Zustande vermocht habe, – Arten, welche wir weder im wilden noch im verwilderten Zustande kennen; der Umstand, dass diese Species Merkmale darbieten, welche im Vergleich mit allen anderen Columbiden sehr abnorm sind, trotzdem die Arten in den meisten Beziehungen der Felstaube so ähnlich sind; das gelegentliche Wiedererscheinen der blauen Farbe und der verschiedenen schwarzen Zeichnungen in allen Rassen sowohl im Falle einer reinen Züchtung als der Kreuzung, endlich die vollkommene Fruchtbarkeit der Blendlinge: – alle diese Gründe zusammengenommen lassen uns mit Sicherheit schliessen, dass alle unsere domesticierten Taubenrassen von Columba livia und deren geographischen Unterarten abstammen.

Zu Gunsten dieser Ansicht will ich ferner noch anführen: 1) dass die Felstaube, C. livia, in Europa wie in Indien zur Zähmung geeignet gefunden worden ist, und dass sie in ihren Gewohnheiten wie in vielen Punkten ihrer Structur mit allen unseren zahmen Rassen übereinkommt. 2) Obwohl eine Englische Botentaube oder ein kurzstirniger Purzler sich in gewissen Characteren weit von der Felstaube entfernen, so ist es doch dadurch, dass man die verschiedenen Unterformen dieser Rassen, und besonders die aus entfernten Gegenden abstammenden, miteinander vergleicht, möglich, zwischen ihnen und der Felstaube eine fast ununterbrochene Reihe herzustellen; dasselbe können wir in einigen anderen Fällen thun, wenn auch nicht mit allen Rassen. 3) Diejenigen Charactere, welche die verschiedenen Rassen hauptsächlich von einander unterscheiden, wie die Fleischwarzen und die Länge des Schnabels der Englischen Botentaube, die Kürze des Schnabels beim Purzler und die Zahl der Schwanzfedern der Pfauentaube, sind bei jeder Rasse in eminentem Grade veränderlich; die Erklärung dieser Erscheinung wird sich uns darbieten, wenn von der Zuchtwahl die Rede sein wird. 4) Tauben sind bei vielen Völkern beobachtet und mit äusserster Sorgfalt und Liebhaberei gepflegt worden. Man hat sie schon vor Tausenden von Jahren in mehreren Weltgegenden domesticiert; die älteste Nachricht über Tauben stammt aus der Zeit der fünften ägyptischen Dynastie, etwa 3000 Jahre v. Chr., wie mir Professor LEPSIUS mitgetheilt hat; aber BIRCH sagt mir, dass Tauben schon auf einem Küchenzettel der vorangehenden Dynastie vorkommen. Von PLINIUS vernehmen wir, dass zur Zeit der Römer ungeheure Summen für Tauben ausgegeben worden sind; »ja es ist dahin gekommen, dass man ihrem Stammbaum und Rasse nachrechnete.« Um das Jahr 1600 schätzte sie AKBER KHAN in Indien so sehr, dass ihrer nicht weniger als 20000 zur Hofhaltung gehörten. »Die Monarchen von Iran und Turan sandten ihm einige sehr seltene Vögel und,« berichtet der höfliche Historiker weiter, »Ihre Majestät haben durch Kreuzung der Rassen, welche Methode früher nie angewendet worden war, dieselben in erstaunlicher Weise verbessert.« Um diese nämliche Zeit waren die Holländer eben so sehr, wie früher die Römer, auf die Tauben erpicht. Die äusserste Wichtigkeit dieser Betrachtungen für die Erklärung der ausserordentlichen Veränderungen, welche die Tauben erfahren haben, wird uns erst bei den späteren Erörterungen über die Zuchtwahl deutlich werden. Wir werden dann auch sehen, woher es kommt, dass die Rassen so oft ein etwas monströses Aussehen haben. Endlich ist ein sehr günstiger Umstand für die Erzeugung verschiedener Rassen, dass bei den Tauben ein Männchen mit einem Weibchen leicht lebenslänglich zusammengepaart werden kann, und dass verschiedene Rassen in einem und dem nämlichen Vogelhaus beisammen gehalten werden können.

Ich habe den wahrscheinlichen Ursprung der zahmen Taubenrassen mit einiger, wenn auch noch ganz ungenügender Ausführlichkeit besprochen, weil ich selbst zur Zeit, wo ich anfieng, Tauben zu halten und ihre verschiedenen Formen zu beobachten und während ich wohl wusste, wie rein sich die Rassen halten, es für ganz eben so schwer hielt zu glauben, dass alle ihre Rassen, seit sie zuerst domesticiert wurden, einem gemeinsamen Stammvater entsprossen sein könnten, als es einem Naturforscher schwer fallen würde, an die gemeinsame Abstammung aller Finken oder irgend einer andern Vogelgruppe im Naturzustande zu glauben. Insbesondere machte mich ein Umstand sehr betroffen, dass nämlich fast alle Züchter von Hausthieren und Culturpflanzen, mit welchen ich je gesprochen oder deren Schriften ich gelesen habe, vollkommen überzeugt sind, dass die verschiedenen Rassen, welche ein jeder von ihnen erzogen, von eben so vielen ursprünglich verschiedenen Arten herstammen. Fragt man, wie ich es gethan habe, irgend einen berühmten Züchter der Hereford-Rindviehrasse, ob dieselbe nicht etwa von der langhörnigen Rasse oder beide von einer gemeinsamen Stammform abstammen könnten, so wird er die Frager auslachen. Ich habe nie einen Tauben-, Hühner-, Enten-oder Kaninchen-Liebhaber gefunden, der nicht vollkommen überzeugt gewesen wäre, dass jede Hauptrasse von einer andern Stammart herkomme. VAN MONS zeigt in seinem Werke über die Äpfel und Birnen, wie völlig ungläubig er darin ist, dass die verschiedenen Sorten, wie z.B. Ribston-pippin oder der Codlin-Apfel je von Samen des nämlichen Baumes entsprungen sein könnten. Und so könnte ich unzählige andere Beispiele anführen. Dies lässt sich, wie ich glaube, einfach erklären. In Folge langjähriger Studien haben diese Leute eine grosse Empfindlichkeit für die Unterschiede zwischen den verschiedenen Rassen erhalten; und obgleich sie wohl wissen, dass jede Rasse etwas variiert, da sie ja eben durch die Zuchtwahl solcher geringer Abänderungen ihre Preise gewinnen, so gehen sie doch nicht von allgemeineren Schlüssen aus und rechnen nicht den ganzen Betrag zusammen, der sich durch Häufung kleiner Abänderungen während vieler aufeinanderfolgenden Generationen ergeben muss. Werden nicht jene Naturforscher, welche, obschon viel weniger als diese Züchter mit den Gesetzen der Vererbung bekannt und nicht besser als sie über die Zwischenglieder in der langen Reihe der Nachkommenschaft unterrichtet, doch annehmen, dass viele von unseren Hausthierrassen von gleichen Eltern abstammen, – werden sie nicht vorsichtig sein lernen, wenn sie die Annahme verlachen, dass Arten im Naturzustand in gerader Linie von anderen Arten abstammen?

Früher befolgte Grundsätze bei der Zuchtwahl und deren Folgen

Wir wollen nun kurz untersuchen, wie die domesticierten Rassen schrittweise von einer oder von mehreren einander nahe verwandten Arten erzeugt worden sind. Dem directen und bestimmten Einflusse äusserer Lebensbedingungen kann dabei wohl ein gewisses Resultat zugeschrieben werden, ebenso der Angewöhnung; es wäre aber kühn, solchen Einwirkungen die Verschiedenheiten zwischen einem Karrengaul und einem Rennpferde, zwischen einem Windspiele und einem Schweisshund, einer Boten- und einer Purzeltaube zuschreiben zu wollen. Eine der merkwürdigsten Eigenthümlichkeiten, die wir an unseren domesticierten Rassen wahrnehmen, ist ihre Anpassung nicht zu Gunsten des eigenen Vortheils der Pflanze oder des Thieres, sondern zu Gunsten des Nutzens und der Liebhaberei des Menschen. Einige ihm nützliche Abänderungen sind zweifelsohne plötzlich oder auf einmal entstanden, wie z.B. manche Botaniker glauben, dass die Weberkarde mit ihren Haken, welchen keine mechanische Vorrichtung an Brauchbarkeit gleichkommt, nur eine Varietät des wilden Dipsacus ist; und diese ganze Abänderung mag wohl plötzlich in irgend einem Sämlinge dieses letztern zum Vorschein gekommen sein. So ist es wahrscheinlich auch mit den Dachshunden der Fall; und es ist bekannt, dass ebenso das americanische Ancon- oder Otter-Schaf entstanden ist. Wenn wir aber das Rennpferd mit dem Karrengaul, das Dromedar mit dem Kamel, die für Culturland tauglichen mit den für Bergweide passenden Schafrassen, deren Wollen sich zu ganz verschiedenen Zwecken eignen, wenn wir die mannichfaltigen Hunderassen vergleichen, deren jede dem Menschen in einer andern Weise dient, – wenn wir den im Kampfe so ausdauernden Streithahn mit anderen friedfertigen und trägen Rassen, welche »immer legen und niemals zu brüten verlangen«, oder mit dem so kleinen und zierlichen Bantam-Huhne vergleichen, – wenn wir endlich das Heer der Acker-, Obst-, Küchen- und Zierpflanzenrassen in's Auge fassen, von welchen eine jede dem Menschen zu anderm Zwecke und in anderer Jahreszeit so nützlich oder für seine Augen so angenehm ist, so müssen wir doch wohl an mehr denken, als an blosse Veränderlichkeit. Wir können nicht annehmen, dass diese Varietäten auf einmal so vollkommen und so nutzbar entstanden seien, wie wir sie jetzt vor uns sehen, und kennen in der That von manchen ihre Geschichte genau genug, um zu wissen, dass dies nicht der Fall gewesen ist, Der Schlüssel liegt in dem accumulativen Wahlvermögen des Menschen: die Natur liefert allmählich mancherlei Abänderungen; der Mensch summiert sie in gewissen ihm nützlichen Richtungen. In diesem Sinne kann man von ihm sagen, er habe sich nützliche Rassen geschaffen.

Die bedeutende Wirksamkeit dieses Princips der Zuchtwahl ist nicht hypothetisch; denn es ist Thatsache, dass einige unserer ausgezeichnetsten Viehzüchter selbst innerhalb nur eines Menschenalters mehrere Rinder und Schafrassen in beträchtlichem Grade modificiert haben. Um das, was sie geleistet haben, in seinem ganzen Umfange zu würdigen, ist es fast nothwendig, einige von den vielen diesem Zwecke gewidmeten Schriften zu lesen und die Thiere selbst zu sehen. Züchter sprechen gewöhnlich von der Organisation eines Thieres, wie von etwas völlig Plastischem, das sie fast ganz nach ihrem Gefallen modeln könnten. Wenn es der Raum gestattete, so könnte ich viele Stellen aus Schriften der sachkundigsten Gewährsmänner als Belege anführen. YOUATT, der wahrscheinlich besser als fast irgend ein Anderer mit den landwirthschaftlichen Werken bekannt und selbst ein sehr guter Beurtheiler eines Thieres war, sagt von diesem Princip der Zuchtwahl, es sei das, »was den Landwirth befähige, den Character seiner Heerde nicht allein zu modificieren, sondern gänzlich zu ändern. Es ist der Zauberstab, mit dessen Hülfe er jede Form in's Leben ruft, die ihm gefällt.« Lord SOMERVILLE sagt in Bezug auf das, was die Züchter hinsichtlich der Schafrassen geleistet: »Es ist, als hätten sie eine in sich vollkommene Form an die Wand gezeichnet und dann belebt.« In Sachsen ist die Wichtigkeit jenes Princips für die Merinozucht so anerkannt, dass die Leute es gewerbsmässig verfolgen. Die Schafe werden auf einen Tisch gelegt und studiert, wie ein Gemälde von Kennern geprüft wird. Dieses wird je nach Monatsfrist dreimal wiederholt, und die Schafe werden jedesmal gezeichnet und classificiert, so dass nur die allerbesten zuletzt zur Nachzucht genommen werden.