Über die Freiheit - John Stuart Mill - E-Book

Über die Freiheit E-Book

John Stuart Mill

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Beschreibung

John Stuart Mill war ein britischer Ökonom und Philosoph und gilt als Begründer des modernen Liberalismus, der den Staat in der Pflicht sah, die Freiheit jedes Individuums zu schützen und zu verteidigen. »Die Urteilskraft ist den Menschen gegeben, damit sie sie gebrauchen. Sollen wir sie darum nicht anwenden, weil wir uns irren können?«

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John Stuart

MILL

ÜBER DIEFREIHEIT

Übertragen und eingeleitet vonElse Wentscher

Diesem Text in der Übersetzung von Else Wentscher

liegt folgende Ausgabe zugrunde: John Stuart Mill, Die Freiheit

Verlegt beim Felix Meiner Verlag, Leipzig 1928.

Eindeutige Druck- und Satzfehler wurden korrigiert.

© 2018 Nikol Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,

Hamburg

Alle Rechte, auch das der fotomechanischen Wiedergabe

(einschließlich Fotokopie) oder der Speicherung auf

elektronischen Systemen, vorbehalten.

All rights reserved.

ISBN: 978-3-86820-920-4

www.nikol-verlag.de

Inhalt

Einleitung der Übersetzerin

1. J. St. Mills Leben

2. Mills Werke

Widmung

1. Kapitel – Einleitung

2. Kapitel – Von der Denk- und Redefreiheit

3. Kapitel – Individualität – ein Element der Wohlfahrt

4. Kapitel – Die Grenzen der Autorität der Gesellschaft über den Einzelnen

5. Kapitel – Nutzanwendungen

EINLEITUNG DER ÜBERSETZERIN

1. J. St. Mills Leben

John Stuart Mill gehört zu den markantesten Persönlichkeiten, die uns in der Entwicklung der englischen Philosophie begegnen. Er ist zweifellos der größte englische Denker im 19. Jahrhundert. Er gilt nach dem Tode von Bentham und James Mill als der Führer der »radikalen Philosophen«, als schärfster Gegner der Orthodoxie und Metaphysik, als der Führer aller derer, die in Kritik und Erfahrung die Hauptorgane der Philosophie erblicken. Ihm kommt in Wissenschaft und Leben eine führende Rolle zu; er übt auch auf die nachfolgenden Denker den tiefsten Einfluß aus. Auch außerhalb seines Vaterlandes erfreut er sich unbestrittenen Ansehens; Friedrich Albert Lange schreibt im Jahre 1866: »Wenn man unter allen lebenden Denkern durch internationale Abstimmung Einem die Palme reichen wollte, so wäre dieser Eine schwerlich ein Anderer als der Engländer John Stuart Mill.« Mill hat auf logischem, psychologischem und erkenntnistheoretischem Gebiet die Gedankengänge des englischen Empirismus vollendet. Aber eine Charakteristik seines Denkens als Empirismus würde doch nicht sein ganzes Wesen umfassen. Zwar geht er stets von der Erfahrung aus, und er möchte nichts als wahr gelten lassen, was nicht in positiven Tatsachen eine empirische Grundlage hat. Andererseits aber zieht er auch alles, worüber er urteilt, vor das Forum des kritischen Verstandes. Unbestechliche Wahrheits- und Gerechtigkeitsliebe sind die hervorragendsten Züge seines Denkens.

John Stuart Mill wurde als Sohn des bekannten Assoziationspsychologen James Mill am 20. Mai 1806 zu London geboren. Er gehört in seiner Jugend, wie Theodor Gompertz urteilt, zu dem seltenen Typus: »gelungene Wunderkinder«. Bis zu seinem 8. Jahr hat der Vater mit ihm weit mehr griechische Prosaschriften gelesen, als man heute gewöhnlich auf den Schulen durchnimmt, z.B. sechs platonische Dialoge! Dazu eine große Reihe englischer Autoren. Zu ebenso erstaunlichen Ergebnissen der Frühreife führt der naturwissenschaftliche und mathematische Unterricht. Vor allem aber wird der kleine Mill von Jugend auf durch seinen Vater und dessen Freunde in sozialpolitische Gedankengänge eingeführt. Innige Freundschaft verband den Vater Mill mit Bentham und Ricardo, der letztere schrieb erst auf Mills Anregung hin seine epochemachenden »Principles of the Political Economy and Taxation«. Bentham, James Mill und Ricardo haben den größten Einfluß auf die Gestaltung des modernen England geübt: sie kämpften im Sinne des Liberalismus, der Demokratie und eines aufgeklärten Utilitarismus gegen den Geist des Feudalismus und Klerikalismus. Viele praktische humane Reformen sind ihr Werk. Aus diesem Kreise hat der junge Mill das Streben übernommen, den Dingen auf den Grund zu gehen und kein Vorurteil zu schonen, sei es auch durch Tradition von Jahrhunderten geheiligt. Wahrhaft humane Gesinnung, verbunden mit dem Blick für das praktische Leben und mit dem Bemühen, das einmal als richtig Erkannte auch wirklich durchzusetzen: das ist das Erbe, das John Stuart Mill seinen Erziehern verdankt.

So ist es Mills Jugendideal, ein »Reformator der Welt« zu werden; der Glaube an den menschlichen Fortschritt und der entschlossene Wille, rastlos daran zu arbeiten, bleibt der Leitstern seines Lebens. Überall war es das Hauptbestreben des Vaters Mill, selbständiges Denken und kritisches objektives Urteil in seinem Sohn zu wecken; von diesem Geist war vor allem der religionswissenschaftliche Unterricht getragen. Er geht aus vom Standpunkt des Skeptikers, der über den Bekenntnissen steht, weil er sich bewußt ist, daß unser Erkennen für religiös-metaphysische Fragen nicht reicht. In diesem Sinne kann John Mill von sich sagen, er sei »eines der wenigen Beispiele in England, die den religiösen Glauben nicht abgestreift, sondern niemals besessen haben«, und die Wandelbarkeit der menschlichen Ansichten sei ihm schon als Kind selbstverständlich gewesen. Dieser Eigenart des väterlichen Unterrichts mag die große Sachlichkeit und Vorurteilslosigkeit zu danken sein, die uns in allen Schriften von Mill begegnen. Der Unterricht des Vaters hatte starke ethische Tendenzen, die auf den Gedanken von Sokrates, Plato und den Stoikern beruhen. Die Tugenden der Gerechtigkeit, Beharrlichkeit und Tätigkeit, besonders aber die Mäßigkeit bezeichnen das sittliche Ideal, das der Vater in sich selbst verwirklichte und das er mit Erfolg auch bei seinem Sohn zu bilden strebte. Dieser Erziehung verdanken wir wohl den hohen Grad von Selbstbeherrschung, den John Mill im Leben und in seinen Schriften, besonders in der Polemik, bekundet. Äußerlich floß John Stuarts Leben später in den ruhigen Bahnen eines Verwaltungsbeamten dahin. Er gehörte, bald in leitender Stellung, der East-India-Company an; diese besaß damals noch einen großen Einfluß, sie hatte in Indien fast unumschränkte Macht. Sie beherrschte dort sogar eine Zeitlang die Militär- und Zivilgerichtsbarkeit, und sie besaß das Recht, mit den »Ungläubigen« Krieg zu führen; später wurden ihr diese Vorrechte genommen, und sie sank zu einer bloßen Handelsgesellschaft herab. Darum trat John Mill im Jahr 1858 — nach einer 30jährigen Tätigkeit — von seinem Amt zurück. Das Anerbieten, als Rat beim Ersten Staatssekretär für Ostindien ins Kabinett einzutreten, lehnte er ab. Mill dankt seiner Amtstätigkeit, die ihm vollauf Zeit ließ zu tiefdringender wissenschaftlicher Betätigung, die wohltuende Berührung mit dem praktischen Leben, eine vielseitige Lebens- und Menschenkenntnis, die ihm als Politiker und soziologischem Schriftsteller sehr nützlich wurde. Auch eine — freilich kurze — parlamentarische Tätigkeit ist in Mills Leben zu verzeichnen. Seine Schriften hatten ihn in weiten Kreisen als Vertreter des liberalen Gedankens bekannt gemacht. So wurde er von liberalen Parteien Westminsters, hauptsächlich von Arbeitern und Handwerkern, als Abgeordneter für das Unterhaus gewählt. Die Forderungen, die er als Philosoph und als Sozialpolitiker theoretisch gestellt, hat er dabei praktisch durchzusetzen versucht; überall stand er ein für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit und für eine soziale Reform auf sittlicher Basis. Der Führer der Liberalen, Gladstone, hat ihm das für einen Politiker wohl seltene Zeugnis ausgestellt, daß er »allen Motiven, welche Parlamentarier durch Vermittlung ihres Egoismus zu beeinflussen pflegen, völlig unzugänglich, ja unnahbar war«; darum nennt er ihn den »Heiligen des Rationalismus«.

Rege geistige Beziehungen haben unsern Philosophen mit seinen größten Zeitgenossen verbunden: mit Thomas Carlyle, so verschieden auch ihre Lebens- und Weltauffassung war, mit John Austin, dem bekannten Juristen, mit dem Historiker Macauley und dem Verfasser der Geschichte Griechenlands, George Grote. Den nachhaltigsten Eindruck übte auf ihn vor allem der Freund seines Vaters, Jeremias Bentham. Als einen »Wendepunkt in der Entwicklung seines Geistes« bezeichnet er die erste Berührung mit Benthams »Traite de la Legislation«. »Ich hatte«, so bekennt Mill, »jetzt Ansichten, einen Glauben, eine Doktrin, eine Philosophie und eine Religion, deren Predigt und Verbreitung zur Hauptaufgabe meines Lebens gemacht werden konnte.« Die Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft, die Bentham erstrebt, steht im Dienste seines sittlichen Ideals, des »größten Glückes der größten Zahl«. Mill ist zwar, wie sein 1838 geschriebener Essay über Bentham zeigt, von dem Enthusiasmus für diesen Denker später sehr zurückgekommen; dennoch ist in seinen ethischen Schriften jener Einfluß dauernd zu spüren.

Tiefen Einfluß üben auf den jungen Mill auch die Vorgänge in Frankreich: die französische Julirevolution 1830; sie entflammt ihn zu höchster Begeisterung. Er eilt nach Paris und wird bei den Führern der extremen Partei eingeführt. In seinem Bericht über Zeugnisse und Stimmungen in Paris ist seine Neigung völlig auf Seiten des Volkes; er setzt seine Hoffnung auf die Jugend und auf die Arbeiter. Auch die französischen Schriftsteller Saint-Simon und seine Schule, vor allem aber Auguste Comte, wirken damals gewaltig auf ihn.

Es ist zu verstehen, daß auf Mill, in dem der Glaube an den Fortschritt der Menschheit eine so große Rolle spielt, die Lehre Saint-Simons von den organischen und kritischen Perioden in der Geschichte und ebenso Comtes Gedanke von den drei Stadien des menschlichen Wissens (das religiöse, das metaphysische und das positive Stadium) tiefen Eindruck machen mußte. Alle diese Einflüsse kommen in dem jugendlichen Schriftsteller zum Ausdruck, wenn er zu Tagesfragen das Wort nimmt. So deckt er als Schüler von Bentham Mängel der Gesetzgebung oder der Rechtsprechung auf, oder er tritt ein für das damals noch sehr fragliche Recht der freien Meinungsäußerung. In diesen Aufsätzen ahnen wir bereits den späteren Schöpfer der Abhandlung »Über die Freiheit«. Die Frau aber, der er diese Schrift gewidmet, deren Freundschaft »die Ehre und der Hauptsegen seines Daseins« gewesen ist, Mrs. Helen Taylor, seine spätere Gattin, hat den tiefsten Einfluß auf unsern Philosophen geübt. Er bezeichnet seine Schriften vielfach als »ein Produkt der Verschmelzung ihrer beiden Geister«. Wie er, war auch sie von dem Glauben an den menschlichen Fortschritt und von der Überzeugung beseelt, daß die immer schwieriger werdende soziale Frage nur auf ethischer und volkspädagogischer Grundlage zu lösen sei. Als Produkt ihrer gemeinsamen Arbeit nennt Mill vor allem die »Politische Ökonomie« und den »Utilitarismus«, die vorliegende Abhandlung »Über die Freiheit« und die Aufsätze »Über die Hörigkeit der Frau« und die »Frauenemanzipation«. Mrs. Taylors Einfluß ist es wohl auch zu danken, daß Mill zum ersten mal in einem Parlament eine Petition für das Frauenstimmrecht einbringt. So ist John Stuart Mills Leben der selbstlosen Arbeit für die Menschheit gewidmet, und sein Schaffen ist getragen von dem Glauben an die sittliche Bestimmung des Menschen und an die ethische Entwicklungsfähigkeit der Gesellschaft. Mill starb am 8. Mai 1873 zu Avignon in Südfrankreich, dort war ihm einst auf einer Reise seine Gattin durch den Tod entrissen worden. Nahe ihrem Grabe hat er in der Einsamkeit eines Landhauses seine letzten Jahre verbracht.

2. Mills Werke

Mill hat von den theoretischen Gebieten der Philosophie nicht nur der Logik, sondern auch der Psychologie und der Erkenntnistheorie eifrige Arbeit gewidmet. Man hat seine Erkenntnistheorie vielfach als »Positivismus« bezeichnet, und seine Lehren enthalten gewiß Momente, in denen man das Recht dazu erblicken könnte. Zum wahren »Positivismus«, zu der Lehre, die im strengsten Sinne nur positive Tatsachen als gültig bestehen läßt, gehört aber die Ablehnung der Begriffe »Ursache, Wirkung und Kraft«, und dazu hat unser Denker sich niemals entschlossen. So ist er Positivist höchstens in dem Sinne, daß er für seine Forschung »keine andern Grundlagen anerkennt, als positive Tatsachen und von jeder Meinung fordert, daß sie die Tatsachen, die Erfahrungen nachweise, auf denen sie ruht«. In dieser Form fällt der Positivismus schließlich mit dem Empirismus zusammen.

In der Kernfrage der Erkenntnistheorie, dem Außenweltsproblem, steht Mill auf dem Boden, den der englische Empirismus (Hobbes, Locke, Berkeley, Hume) bereitet hat. Ihm ist die Annahme selbstverständlich, daß unser Weltbild das Ergebnis von Empfindungen und daraus gebildeten Ideen sei. Auch die Methode, deren Mill sich bedient, ist echt englisch: er versucht, die erkenntnistheoretischen Probleme rein psychologisch zu lösen. So glaubt er z.B. die Frage nach den realen Ursachen unseres Wahrnehmungsbildes beantworten zu können, indem er Rechenschaft gibt über die psychologische Entstehung der Außenweltsvorstellung im Menschengeist. Darum hat Mill die erkenntnistheoretischen Probleme zwar weitgehend gefördert, aber er hat keine endgültige Lösung dafür gefunden; denn seine ganz empiristische Einstellung wird den Tatbeständen oft nicht gerecht.

Mills späteres Hauptwerk, das seine erkenntniskritischen und psychologischen Lehren vor allem enthält, ist die »Examination on Sir W. Hamiltons Philosophy«. Den Kern des Werkes bildet eine kritische Auseinandersetzung des Empirismus mit der intuitionalen Philosophie, für die unser Erkennen nicht so sehr auf Erfahrung, als vielmehr auf apriorischen Momenten in unserm Geiste beruht. In den psychologischen Lehren ist John Stuart Mill im Prinzip der Schüler seines Vaters, des bekanntesten Vertreters der Assoziationspsychologie. Aber er verleugnet auch dem Vater gegenüber den Grundsatz nicht, alles im eigenen Denken zu prüfen; so legt er fest umrissen die Grenzen dar, innerhalb derer die Assoziationsgesetze als einzige Regeln des Denkens zu gelten haben. Jedenfalls erblickt auch der junge Mill die Aufgabe der Psychologie darin, die Regeln und Gesetze festzustellen, nach denen die Bewußtseinsvorgänge einander erzeugen. Eine so betriebene psychologische Analyse gilt beiden Mills als wirksamste Waffe im Kampf gegen unberechtigte Dogmen und Vorurteile, im Kampf für die Wahrheit.

Niemals hat es in John Stuart Mills Absicht gelegen, ein theoretisch abgeschlossenes System der Philosophie zu schaffen; seine Interessen sind, wie sein Werdegang und seine Werke bekunden, mehr als von theoretischen von praktischen Problemen, von ethischen, volkspädagogischen und sozialen Fragen hingenommen. Er ist seinem Jugendideal, »ein Reformator der Welt zu werden«, stets treu geblieben. Und es ist seine Überzeugung, daß auch die Wissenschaft letzten Endes den Zweck habe, dem sittlichen Fortschritt der Menschheit zu dienen. Das Ziel der Philosophie aber erblickt er in der Schaffung einer Gesellschaftslehre, die dem Fortschritt der Menschheit Rechnung trägt. Ein solches »System der Soziologie« zu schreiben, war unserm Denker freilich nicht mehr vergönnt. Aber seine ethischen und soziologischen Schriften gewähren einen Einblick in seine besten und tiefsten Gedanken. In den Werken, die Prinzipienfragen der Ethik behandeln, lernen wir Mill, wie fast alle Engländer, als Utilitaristen kennen. Er sieht, wie sie alle, das Sittlich-Gute in dem Verhalten, das der Menschheit am meisten nützt. Diese Auffassung ist, seitdem Hobbes den allgemeinen Nutzen als einzigen Maßstab der Moral und den Egoismus als einzige Triebkraft des Handelns erklärt hat, in der englischen Philosophie herrschend geblieben. Sie wird von Denkern der verschiedensten Richtungen bekannt; der klassische Vertreter der Glückseligkeits- oder Nützlichkeitslehre ist Bentham, der den Maßstab des Guten in dem »größten Glück der größten Zahl« erblickt. Bentham hat, wie wir sahen, auf den jungen Mill nachhaltig gewirkt. Zwar versucht Mill, die Glückseligkeitslehre Benthams weitgehend zu vertiefen; aber dem Prinzip der Glückseligkeits- oder Nützlichkeitsethik ist er doch stets treu geblieben. Diese Tatsache ist historisch zu verstehen: Zum Prinzip des Utilitarismus bekannten sich im damaligen England alle, die neue Wege gingen und Reformen erstrebten. Ihre Gegner aber suchten für veraltete Mißbräuche vielfach Schutz unter dem Deckmantel eines unkontrollierbaren »moral sense« den sie der utilitaristischen Ethik entgegenstellten. Dagegen muß Mill seiner ganzen Geistesrichtung nach Front machen, und diese Polemik kann, da sie nach einem klaren Prinzip sucht, nur den allgemeinen Nutzen, das »größte Glück der größten Zahl«, zum Prüfstein des Sittlich-Guten nehmen. Diesen Standpunkt vertritt John Mill vor allem in der ethischen Hauptschrift »On Utilitarianism«. Handlungen, so lehrt er, sind in dem Grade gut, als sie auf Förderung der Glückseligkeit zielen, schlecht, sofern sie das Gegenteil bewirken. Glückseligkeit bedeutet: Freude + Abwesenheit von Leid. Unglück bedeutet: Leid + Abwesenheit von Freude. Aber er schränkt dieses Lustprinzip sofort erheblich ein: nicht jede Art der Lust gilt gleich, vielmehr stehen die geistigen Vergnügen höher als die sinnlichen, und sein Optimismus läßt ihn annehmen, daß ein »Gefühl der Würde« den Menschen veranlasse, von zwei Lustarten diejenige zu wählen, die seinen höheren Fähigkeiten entspricht. Aber auch sonst ändert Mill die ursprüngliche Lustethik weitgehend. Nicht des Handelnden eigne Glückseligkeit soll das Ziel und der Maßstab der Moral sein, es kommt vielmehr darauf an, daß möglichst viele Menschen ein möglichst glückliches Leben führen. In dem Inbegriff der Regeln, die zu diesem Ziele leiten, soll die utilitaristische Moral bestehen. Dabei aber darf man »vom Leben nicht mehr verlangen, als es zu bieten vermag«: nicht Genußsucht, sondern weise Beschränkung muß unser Handeln leiten, und Sympathie für Andere und selbstlose Arbeit am Allgemeinwohl soll die Haupttriebfeder sein. Darum sieht Mill in dem Gebot Jesu von Nazareth: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« den Geist der utilitaristischen Ethik erfüllt. So entfernt er sich also weit von dem Boden der Glückseligkeitsethik. Er gibt das in der Logik (Buch VI, Kap. 12, § 7) zu, wenn er lehrt: der Einzelne solle sich die Vervollkommnung seines Charakters zum Ziele setzen. Er müsse ihr das eigne Glück, ja im Kollisionsfall auch das des Andern opfern. Ohne sich eigentlich darüber Rechenschaft zu geben, nimmt Mill also völlig andere Prinzipien als Nützlichkeit und Glückseligkeit zum Maßstab der Sittlichkeit. In dem nachgelassenen Essay »die Nützlichkeit der Religion« zeichnet er ein sittliches Ideal, das von jedem utilitaristischen Moment frei ist. Es ist aufgebaut auf den Glauben an den sittlichen Fortschritt der Menschheit und auf den Willen, ihn zu verwirklichen. Dieser Entschluß müßte eine Gesinnung im Menschen erzeugen, in der Sympathie, Wohlwollen und das Interesse am Ganzen die obersten Motive darstellen, eine Gesinnung, in der ideale Liebe zur Menschheit vorherrscht. Hier hat also unser Denker den utilitaristischen Boden völlig verlassen.

Mills Werke bezeugen, wie sein Entwicklungsgang, daß er sich sein Leben lang mit Eifer soziologischen Studien zugewendet, durch sie hoffte er eine Lösung der schon damals brennenden sozialen Frage zu finden. Es ist ihm sicher, daß in den Beziehungen der Menschen zueinander die mannigfachsten Faktoren zum Ausdruck kommen: neben wirtschaftlichen sittliche und vor allem volkspädagogische. Der Soziologe Mill hat im Lauf der Jahre erkennbare Wandlungen in seinen Anschauungen durchgemacht. Unberührt von allen diesen Faktoren der Entwicklung aber bleiben Gedanken, die ihm jederzeit zum Maßstab gedient haben; es sind die Prinzipien, die den Kern des Aufsatzes »über die Freiheit« bilden: die Überzeugung vom Recht auf persönliche und individuelle Freiheit und der Glaube an die Wandelbarkeit der menschlichen Gesellschaft im Sinne der Höherentwicklung. In diesem Fortschreiten sieht Mill die Bestimmung der menschlichen Gesellschaft; darum gehört er zu den ethisch orientierten Nationalökonomen, für die die Gesellschaftslehre, ebenso wie Ethik und Logik, eine normative Wissenschaft ist. Auch als Nationalökonom ist der junge Mill zunächst der Schüler seines Vaters und auch von dessen Freunden Ricardo und Jeremy Bentham stark beeinflußt. Sie alle setzen sich zwar ein für weitgehende sozialpolitische und rechtliche Reformen; aber sie sehen im Privateigentum und Erbrecht »Naturgegebenheiten«, an die keine Kritik zu rühren wagt. Darum bezeichnet sich der junge Mill in dieser Zeit als »Demokraten, der nicht die Spur eines Sozialisten in sich trägt«. Völlig anders wurde seine Stellung zur sozialen Frage, als er die französischen Denker Saint-Simon und Comte kennen lernte, und nachdem die französische Julirevolution auf ihn gewirkt hatte. Jetzt werden ihm — nach seinem Bericht in der Selbstbiographie — »die Augen geöffnet für den vorübergehenden Wert der alten Volkswirtschaftslehre, die Privateigentum und Erbrecht als unvermeidliche Tatsachen hinnimmt, und die in der Freiheit der Produktion und des Handels das dernier mot der sozialen Verbesserungen sieht«.

So regen sich die ersten Spuren sozialistischer Gedanken in unserm Philosophen. Aber er steht doch der von Saint-Simon vertretenen »sozialen Maschinerie« auch damals skeptisch gegenüber. Zwar sehnt auch er die Zeit herbei, wo alle Glieder der Gesellschaft arbeiten, wo die Verteilung der Arbeitserzeugnisse nach gerechten Grundsätzen vor sich gehen, und die Menschen imstande sein werden, für den Vorteil der Gesellschaft wie für ihren eigenen zu sorgen. Er sieht aber, daß uns von diesem Ideal noch eine weite Strecke trennt, daß es nur verwirklicht werden kann durch Gesinnungsänderung, durch eine wesentlich soziale unegoistische Denkungsart. Aber auch in dieser Zeit verwirft Mill, seiner innersten Natur gemäß, »die Tyrannei der Gesellschaft über das Individuum«. Er fordert, daß auch mit jenem wirtschaftlichen Sozialismus die größte individuelle Freiheit des Handelns verbunden bleibe. Weil er dessen aber in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung nicht sicher ist, so vermag er sich auf die Dauer nicht zum Sozialismus zu bekennen. Das bezeugt Mills 1848 erschienenes ökonomisches Hauptwerk: »The Principles of Political Economy.« Hier lehrt er: Unzweifelhaft gegeben, wie Naturgesetze, sind wirtschaftlich nur die Normen im Bereich der Produktion; die Regeln der Verteilung aber sind, als Resultat menschlicher Einrichtungen, jeweilig von der Gesellschaft zu bestimmen. Diese muß dabei einen Ausgleich suchen zwischen den Ansprüchen des Individuums und der Gemeinschaft. Von diesen Grundsätzen getragen, wägt er objektiv die Vorteile der auf Privateigentum gegründeten Gesellschaft gegen Sozialismus und Kommunismus ab. Dabei macht er, wie es seiner Denkungsart entspricht, nicht in erster Linie ökonomische Gesichtspunkte geltend, sondern ethische und volkspädagogische. Der Zweck der menschlichen Gesellschaft ist ihre sittliche Höherentwicklung; zu dieser aber hilft nur eine möglichst ungehinderte Herausbildung sittlicher Persönlichkeiten. Und diese wiederum ist nur in einer Gesellschaftsordnung gewährleistet, die den verschieden veranlagten Individuen Freiheit der Ausbildung und Entwicklung ermöglicht. Das aber wird bei Kommunismus und Sozialismus kaum der Fall sein, denn diese streben notwendig nach einer allgemeinen Gleichheit, der man die edelsten Züge der menschlichen Natur opfern muß. So werden für die Lösung der sozialen Frage Gedanken entscheidend, die später die Abhandlung über die Freiheit bestimmen. Es kann, so lehrt Mill auch in der Politischen Ökonomie, »kein Gesellschaftszustand gesund sein, in dem Exzentrizität an sich ein Gegenstand des Vorwurfs ist«. Andrerseits aber verkennt er nicht, daß auch in dem jetzigen sozialen Zustand schwerwiegende Mängel zutage treten, und er macht weitgehende Reformvorschläge. Das Ziel in allen Bemühungen zur Hebung des Arbeiterstandes sieht er darin, daß man die entwürdigende Lohnarbeit abschaffe und eine Produktivgemeinschaft gründe, wo alle unter gleichen Bedingungen tätig sind, wo Arbeits- und Kapitalgewinn den Arbeitenden selbst gehört. Diese Produktivgenossenschaft aber soll verbunden sein mit der Freiheit und Unabhängigkeit der Individuen; auch das Moment der Konkurrenz soll nicht ausgeschaltet sein. »Schutz gegen Konkurrenz« bedeutet für Mill dasselbe wie »Schutz der Faulheit und Trägheit«. Bei aller sozialen Gesinnung rückt Mill also von dem Kern der sozialistischen Lehre deutlich ab. Doch erstrebt er eine so völlige Umgestaltung der Gesellschaftsordnung, »daß er sich von dem in der damaligen Volkswirtschaftslehre herrschenden Egoismus völlig frei hält« (Friedrich Albert Lange). Vor allem spricht Mill immer wieder die Überzeugung aus, daß alle äußeren Reformen die soziale Lage nicht von Grund aus bessern können, wenn nicht als wirksamstes Mittel eine Gesinnungsänderung hinzukommt. In diesem Sinne tritt Mill als einer der Ersten ein für die Forderung staatsbürgerlicher Jugenderziehung, die eine wahre soziale Gesinnung in den jungen Gemütern zu erzeugen strebt.

Wir sehen: Die Gesichtspunkte, mit denen Mill an soziologische Untersuchungen herantritt, sind mannigfach und vielseitig. Ein Prinzip aber sollen alle menschlichen Beziehungen zum Ausdruck bringen: echte Betätigung der Freiheit. Dem Freiheitsgedanken hat Mill eine besondere Abhandlung gewidmet; in ihr ist der Kern seiner ethischen und soziologischen Gedanken enthalten. Es ist die 1859 erschienene Schrift »On Liberty«. Ihr Verfasser bekennt in der Selbstbiographie, daß dieses Werk mehr als jedes andere ein Ergebnis gemeinsamer Arbeit und immer erneuter Erörterungen zwischen ihm und seiner Gattin gewesen ist. Die Abhandlung gehört in den damaligen Gedankenkreis der Weltliteratur: zu den Diskussionen über geistige, politische und persönliche Freiheit, die durch die Französische Revolution und die Erklärung der Menschenrechte heraufbeschworen waren. Es galt jetzt, die Grundlagen der liberalen Weltanschauung ethisch und soziologisch genau zu bestimmen und sie zu verteidigen gegen die Mißdeutung, die ihre feudalistischen oder streng demokratischen Gegner ihr gaben. Diese Erwägungen gipfelten in drei Untersuchungen, in denen Vertreter der führenden Nationen bestrebt sind, den ethischen und kulturellen Wert der Freiheit darzutun und die Grenzen zwischen staatlicher Macht und persönlicher Unabhängigkeit abzustecken. Bald nach Mills Essay erschien Heinrich von Treitschkes Aufsatz »die Freiheit«, der sich auch mit Mill auseinandersetzt und nicht lange danach veröffentlichte der französische Staatsrechtler Laboulaye die Untersuchung »l’Etat et ses Limites«. Wenn man diese drei Arbeiten miteinander vergleicht, so überrascht zunächst eins: der Engländer und der Franzose, nicht aber der Deutsche, sind abhängig von der Jugendarbeit, in der Wilhelm von Humboldt die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen sucht; dieser hatte als Referendar am Kammergericht das »zudringliche preußische Ediktenwesen« kennen gelernt, und es lag ihm am Herzen, vor solchem »Vielregieren« zu warnen. Darum zeichnet er das Bild eines Staatswesens, das sich darauf beschränkt, für Frieden und Ordnung zu sorgen, und das der persönlichen Initiative der Bürger größten Spielraum gewährt. Auf dem Boden dieser »negativen Staatsauffassung« stand damals die ganze geistige Oberschicht in Deutschland, und ähnlich empfanden Laboulaye und John Stuart Mill, nicht aber die geistigen Führer in dem Deutschland der sechziger Jahre, in dem Treitschkes Aufsatz entsteht. Er hat das Ideal eines starken und stolzen Vaterlandes, das vom Elend der Kleinstaaterei erlösen soll. Das unterscheidet Treitschkes Gedanken charakteristisch von denen der beiden andern Freiheitsapostel. Diese sehen, ebenso wie Humboldt, in einem starken Staatswesen nichts anderes, als eine Gefahr für die Freiheit und Rechte der Bürger. Verantwortlichkeit, geistige und politische Freiheit sind für sie die Grundlagen, auf die sie das Staatswesen zu stellen gedenken.

Auch hat Mill nicht das Interesse des Staates, sondern nur das des Volkes im Auge. Er lebt in einem angesehenen und mächtigen Staat, so hat ihm nicht, wie Treitschke, nationales Entbehren die Augen für das geöffnet, was ein stolzer Staat auch für seine Bürger bedeutet. Auch hat er sich als Schüler von Bentham und später als Führer der Radikalen sehr oft in Opposition zur Regierung befunden. So untersucht er das Problem der Freiheit mehr vom allgemeinmenschlichen Standpunkt, als von dem des Staatsbürgers. Er hat vor allem die Freiheit des Denkens und der Meinungsäußerung im Sinn. Er zeigt, daß jede Überzeugung nur vertrauenswürdig bleibt, wenn sie beständig im Feuer des Kampfes gestählt wird. Sonst tritt stumpfsinniges Nachsprechen und Konvention an die Stelle lebendigen Glaubens; die wissenschaftliche Forschung ist nur dann fruchtbar, wenn schrankenlose Freiheit und Ehrlichkeit, ohne jede Rücksicht auf die Konsequenzen, sie beherrscht. Aber nicht nur von dem staatlichen Eingreifen droht dem höchsten Gut der Menschheit, der geistigen und persönlichen Freiheit, Gefahr. Auch das drückende Joch der öffentlichen Meinung, die Tyrannei der Mehrheit, die Fesseln der Mode, das Schwergewicht von Tradition und Übereinkommen bedrohen sie. Allen diesen Faktoren gegenüber tritt Mill, ebenso wie Humboldt, ein für das Recht der Persönlichkeit, für individuelle Lebensgestaltung, für die Herausbildung sittlicher Charaktere, die im eignen Denken gegründet sind. Die Gesellschaft muß Sorge tragen für eine »Mannigfaltigkeit von Situationen, durch die den verschieden veranlagten Menschen Eigentümlichkeit der Kraft und Bildung gewährt wird«. Mill öffnet seinen zu stumpfsinniger Nachahmung und gedankenloser Herdenmoral neigenden Zeitgenossen die Augen dafür, daß die persönliche Note, der starke selbstsichere Charakter das Beste im Leben des Einzelnen wie des Volkes ist, daß Erziehung und Kultur diese pflegen, aber nicht unterdrücken sollten. Aus dieser Einstellung ergibt sich als politische Konsequenz die Forderung einer fast unumschränkten Handels- und Gewerbefreiheit und einer weitgehenden Beteiligung Privater an den Angelegenheiten der Verwaltung, der industriellen und philanthropischen Unternehmungen und der Schulen. Den Egoismus der Unternehmer aber will er ausschließen, indem er den Arbeitern weitgehende Rechte einräumt und für eine humane Sozialpolitik eintritt. Zeigen Mills Gedanken deutlich die innere Verwandtschaft von Liberalismus und Individualismus, so sind die Härten des letzteren bei ihm überwunden.

In der Hochschätzung der Individualität, in der Forderung der geistigen und persönlichen Freiheit, in der Ablehnung einer bloß numerisch ausgewählten Demokratie stimmt Heinrich von Treitschke dem englischen und dem französischen Denker völlig bei. Aber für Treitschke ist persönliche Freiheit untrennbar verbunden mit politischer Freiheit, und unter dieser versteht er die selbstlose und freudige Erfüllung der politischen Pflichten und Rechte, die selbsttätige Anteilnahme an Regierung und Verwaltung. Gewiß, auch Mill und Laboulaye fordern Tätigkeit und Verantwortlichkeit des Volkes; aber sie haben dabei nur das Interesse der Bürger, nicht die Rücksicht auf ein starkes Staatswesen im Auge. Sie fordern Freiheit vom Staat, Treitschke dagegen will Freiheit im Staat, und zwar in einem starken Achtung gebietenden, selbst freien Reich. Fordert z.B. Mill nur, der Staat solle sich durch ein System von Prüfungen davon überzeugen, daß die Kinder unterrichtet werden, so verlangt Treitschke hier, wie in vielen andern Punkten, die tätige Mithilfe des Staates, staatliche Schulen und Schulzwang. In der Beziehung von Staat und Bürger also stimmen die Freiheitskämpfer der drei Nationen nicht völlig überein, wesentliche Züge zwar verbinden ihre Gedankengänge; in einem aber überragt der Deutsche die beiden andern: Er verbindet mit den Forderungen des Liberalismus das tiefe Gefühl für das Ansehen des Staates; er will die Freiheit der Persönlichkeit im freien Staat.