Über die Kunst, ein Gentleman zu sein - Earl of Chesterfield - E-Book

Über die Kunst, ein Gentleman zu sein E-Book

Earl of Chesterfield

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Beschreibung

Dieses Buch ist ein Einspruch gegen die überhandnehmende Verpöbelung der Welt.

Die Prinzipien des Earl of Chesterfield, ein Herr habe auf Anstand, Stil, Höflichkeit zu achten, sind zeitlos, ja gerade in Zeiten wie diesen höchst beachtenswert. Bei ihm erfährt «Mann», was es braucht, um im Gespräch bella figura zu machen, welche Charakterzüge unerlässlich sind, um als Gentleman zu gelten, und nicht zuletzt, wie man sich die Achtung der Frauen erwirbt. All das weiß der Autor aus eigener Praxis und lässt jene an diesem Wissen teilhaben, die Sinn für Takt und Bonhomie haben. Das neu übersetzte Brevier ist ein Muss für Söhne, Brüder, Ehegatten und alle Männer, die ernsthaft an sich arbeiten.

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«Das beste Buch über Erziehung, das je geschrieben worden ist.» Voltaire

Die Sympathie der Mitwelt lässt sich nicht kaufen. Nur dieses Buch, in dem «Mann» erfährt, wozu Liebenswürdigkeit und Herzensbildung ihn befähigen. Chesterfields Gentleman’s Essentials sind ein Muss für Söhne, Brüder, Ehegatten und alle Männer, die ernsthaft an sich arbeiten. Dieses Brevier ist ein Einspruch gegen die überhandnehmende Stillosigkeit und Verpöbelung der Welt. Es lehrt Takt, Aufmerksamkeit, Umsicht, ja so ziemlich alles, was in einer zusehends ruppigen Welt zum raren Gut geworden ist. Eben dies macht die wohlmeinenden Lektionen des Earl of Chesterfield zeitlos gültig, ja gerade im 21. Jahrhundert wieder höchst beachtenswert: dass sie dem Zeitgeist trotzen. In ihnen geht es nicht um Posen, sondern um innere Haltung, Persönlichkeit und Reifung. In ihnen erfährt der Leser, was er beherzigen muss, um bella figura zu machen, welche Wesenszüge für einen Herrn von Welt unerlässlich sind oder wie er sich die Achtung der Frauen erwirbt – immerhin jener, die noch an das Gute im Manne glauben.

Philip Dormer Stanhope, Earl of Chesterfield

ÜBER DIE KUNST, EIN GENTLEMAN ZU SEIN

Briefe an seinen Sohnin Auswahl

Aus dem Englischen übersetzt von Gisbert Haefs

Nachwort von Eva Gesine Baur

MANESSE VERLAG

24. Juli 1739

Mein lieber Junge:

Ich habe mich gefreut, dass Du mich bei unserer letzten Begegnung gefragt hast, warum ich zu schreiben aufgehört hätte, denn ich betrachtete dies als ein Zeichen, dass Du meine Briefe magst und beachtest. Sollte dies der Fall sein, wirst Du von mir oft genug hören; und meine Briefe können nützlich sein, wenn Du ihnen Aufmerksamkeit schenkst; andernfalls gäbe ich mir lediglich nutzlose Mühe, denn es bedeutet nichts, etwas einmal zu lesen, wenn man es nicht beachtet und behält. Es ist das untrügliche Zeichen eines minderen Geistes, etwas zu tun und zugleich entweder an etwas anderes oder gar nicht zu denken. Man sollte immer an das denken, womit man sich befasst; wenn man lernt, sollte man nicht ans Spielen denken und beim Spielen nicht ans Lernen. Wenn Du außerdem Deinem Buch keine Beachtung schenkst, während Du Dich ihm widmest, wird es für Dich doppelter Aufwand sein, denn Du musst alles ein zweites Mal lernen.

Einer der wichtigsten Punkte im Leben ist Anstand, das heißt tun, was schicklich und wo es schicklich ist; denn viele Dinge sind zu einer Zeit und an einem Ort schicklich, an einem anderen jedoch äußerst unschicklich; es ist zum Beispiel überaus schicklich und anständig für Dich, einen Teil des Tages zu spielen; aber Du musst begreifen, dass es ganz unschicklich und unanständig wäre, Deinen Drachen steigen zu lassen oder zu kegeln, während Du bei Mr. Maittaire1 bist. Es ist durchaus schicklich und anständig, gut zu tanzen; aber Du darfst nur auf Bällen und an anderen Orten der Unterhaltung tanzen, denn man würde Dich für einen Narren halten, wolltest Du in der Kirche oder bei einem Begräbnis tanzen. Ich hoffe, anhand dieser Beispiele begreifst Du die Bedeutung des Worts Anstand; auf Französisch ist es Bienséance, auf Latein Decorum und auf Griechisch Πρεπoν. Cicero sagt darüber: Sichocdecorum,quodelucetinvita,movetapprobationemeorum,quibuscumvivitur,ordineetconstantiaetmoderationedictorumomniumatquefactorum.2 Daraus kannst Du ersehen, wie unerlässlich Anstand ist, wenn man die Billigung der Menschen gewinnen will. Und da ich sicher bin, dass Du die Billigung von Mr. Maittaire zu gewinnen wünschst, ohne die Du nie die meine hättest, wirst Du Dir zweifellos alles, was er Dir sagt, merken und es beachten und Dich ernsthaft und anständig benehmen, während Du mit ihm zusammen bist; danach magst Du spielen, rennen und springen, so viel es Dir immer gefällt.

1 Michael Maittaire (1668–1747), Gelehrter, unterrichtete Stanhope ab 1739.

2 Lat. «So erregt auch das Anständige, das im Leben hervorleuchtet, den Beifall derer, mit denen man lebt, durch Ordnung, Beständigkeit und Mäßigung in allen Reden und Handlungen.» (Übersetzung Kühner, 1859) Aus: Marcus Tullius Cicero (103–43 v. Chr.), De officiis («Von den Pflichten» /«Vom pflichtgemäßen Handeln»), I, 28, 98.

Donnerstag

Lieber Junge:

Du wirst selten von mir hören, ohne dass ich Dich zum Denken mahne. Alles, was Du lernst, und alles, was Du lesen kannst, wird von geringem Nutzen sein, wenn Du es nicht selbst bedenkst und erwägst. Man liest, um die Gedanken anderer Menschen zu erfahren; wenn wir sie aber auf Treu und Glauben hinnehmen, ohne sie zu prüfen und mit unseren eigenen zu vergleichen, leben wir eigentlich von den Brosamen anderer oder verkaufen fremde Waren weiter. Die Gedanken der anderen zu kennen, ist nützlich, weil dies bei einem selbst Gedanken anregt und einem hilft, sich ein Urteil zu bilden; aber die Gedanken anderer zu wiederholen, ohne zu untersuchen, ob sie richtig oder falsch sind, ist nur das Talent eines Papageien oder bestenfalls eines Spielers.

Wenn man Dir Nacht als Thema für einen Aufsatz gäbe, tätest Du sehr gut daran, nachzusehen, was die besten Autoren darüber gesagt haben, um Deine eigenen Ideen zu unterstützen; aber danach musst Du selbst darüber nachdenken und es auf Deine eigene Art ausdrücken, sonst wärst Du bestenfalls ein Plagiator. Ein Plagiator ist einer, der die Gedanken anderer stiehlt und sie als die eigenen ausgibt. Du wirst zum Beispiel die folgende Darstellung der Nacht bei Vergil finden:

Nox erat, et placidum carpebant fessa soporem

Corpora per terras, silvaeque et saeva quierant

Aequora: cum medio volvuntur sidera lapsu,

Cum tacet omnis ager, pecudes pictaeque volucres,

Quaeque lacus late liquidos, quaeque aspera dumis

Rura tenent, somno positae sub nocte silenti

Lenibant curas, et corda oblita laborum.3

Hier siehst Du die Wirkung der Nacht: Sie schenkt den Menschen Ruhe, wenn sie von den Mühen des Tages erschöpft sind; die Sterne bewegen sich auf ihrer regelmäßigen Bahn; Herden und Vögel ruhen sich aus und genießen die Stille der Nacht. Wenn Du dies untersuchtest, fändest Du, dass alles wahr ist; bei weiterer Erwägung fändest Du aber auch, dass es nicht alles ist, was man über die Nacht sagen kann; und es würden Dir viele weitere Eigenschaften und Wirkungen der Nacht einfallen. Zum Beispiel ist die Nacht zwar allgemein die Zeit von Stille und Ruhe, doch ist sie oft auch die Zeit für die ungestörte Ausführung von Verbrechen wie etwa Raub, Mord und sonstigen Gewalttaten, die üblicherweise die Vorzüge des Dunkels suchen, da es das Entkommen der Schuldigen begünstigt. Auch bringt die Nacht zwar den Unschuldigen und Tugendhaften Ruhe und Erfrischung, doch bringt sie den Schuldigen auch Unruhe und Entsetzen. Das Bewusstsein ihrer Verbrechen quält sie und versagt ihnen Schlaf und Ruhe. Anhand dieser Überlegungen magst Du erwägen, welche angemessenen Epitheta4 der Nacht beizugeben wären; wenn Du zum Beispiel die Nacht in ihrer erfreulichsten Gestalt, als Spenderin der Ruhe und Erholung von Arbeit und Mühe, wiedergeben solltest, könntest Du sie die freundliche Nacht, die stille Nacht, die willkommene Nacht, die friedliche Nacht nennen; wenn Du sie hingegen als geeignet schildern wolltest, Verbrechen zu begehen, würdest Du sie die schuldhafte Nacht, die befangene Nacht, die schreckliche Nacht nennen und sie mit vielen weiteren Beiwörtern belegen, welche die Vorstellung von Grauen und Schuld enthalten; denn um treffend zu sein, muss ein Epitheton immer den Umständen der jeweils betroffenen Person oder Sache angepasst (das heißt angemessen) sein. Vergil, der Aeneas gewöhnlich ob seiner Frömmigkeit gegenüber den Göttern und des Pflichtbewusstseins gegenüber seinem Vater das Epitheton fromm beigibt, nennt ihn dux5 Aeneas, wenn er seine Liebschaft mit Dido darstellt, denn eine Liebschaft kommt einem General viel eher zu als einem Mann von einzigartiger Frömmigkeit.

Entsage für einige Minuten den Gedanken an Spiel und denke ernsthaft hierüber nach.

Amoto quaeramus seria ludo.6

Adieu!

Du kannst am Samstagmorgen zu mir kommen, ehe Du zu Mr. Maittaire gehst.

3 Lat. «Nacht war’s und auf der Welt ringsum im erquickenden Schlummer / Jedes ermüdete Wesen versenkt; die Wälder, das wilde / Meer selbst schlief; inmitten der Bahn hin rollten die Sterne. / Alles Gefild ist still, und die Herden, das bunte Geflügel, / Was in spiegelnden Seen und was auf dornenbewachsnen / Angern sich birgt, liegt alles im Schlaf durch die schweigende Nacht hin, / Lindert die Sorgen der Brust und lässt sie der Mühen vergessen.» (Übersetzung Hertzberg, 1859) Aus: Publius Vergilius Maro (70–19 v. Chr.), Aeneis, 4, 4522 f.

4 Plural von griech. «Epitheton»: das «Hinzugefügte», «Attribut», «Beiwort».

5 Lat. «Heerführer».

6 Lat. «Scherz beiseite, bemühen wir uns um Ernsthaftes.» Aus: Horaz (eigentlich Quintus Horatius Flaccus; 65–8 v. Chr.), Sermones(Satiren), I, I, 27.

Spa, 25. Juli 1741 N. K.7

Lieber Junge:

In meinen früheren Briefen habe ich Dir oft gesagt (und es ist ganz sicher wahr), dass allein die strengste und gewissenhafteste Ehre und Tugend Dir Achtung und Wertschätzung der Menschen einbringen kann; dass allein Begabungen und Kenntnisse Dir bei ihnen Bewunderung und Ansehen eintragen können; dass über mindere Talente zu verfügen jedoch absolut unerlässlich sei, damit Du Dich im Privatleben geschätzt, geliebt und erwünscht machen kannst. Unter diesen minderen Talenten ist das erste und notwendigste Wohlerzogenheit, und zwar nicht nur, weil sie an sich überaus wichtig ist, sondern auch, weil sie die grundlegenden Vorzüge des Herzens und des Geistes glänzen lässt. Ich habe Dir gegenüber schon oft die Wohlerzogenheit erwähnt, sodass dieser Brief sich mit dem nächsten unerlässlichen Vorzug befassen soll, einer feinen Ungezwungenheit in Betragen und Haltung, gänzlich frei von den alten Winkelzügen, schlechten Gewohnheiten und Plumpheiten, die selbst viele sehr ehrenwerte und vernünftige Leute an den Tag legen. So nebensächlich feines Betragen auch erscheinen mag, hat es doch ungemein große Bedeutung dabei, im privaten Leben zu gefallen, vor allem solchen Frauen, die Du früher oder später hoch genug schätzt, um ihnen gefallen zu wollen; und ich habe manchen Mann gekannt, dessen Unbeholfenheit anderen von Anfang an solches Missfallen einflößte, dass all seine Verdienste es später nicht zu überwinden vermochten. Wogegen feines Betragen die Leute sogleich zu Deinen Gunsten einnimmt, sie Dir geneigt macht und in ihnen den Wunsch weckt, Dich zu mögen.

Unbeholfenheit kann nur aus zwei Gründen entstehen; entweder daraus, dass man keine gute Gesellschaft hatte, oder daraus, dass man dieser gegenüber nicht aufmerksam war. Was gute Gesellschaft für Dich angeht, so werde ich dafür sorgen; sieh Du zu, dass Du ihr Verhalten und Betragen beobachtest und Dein eigenes daran bildest. Hierfür wie übrigens für fast alles ist Aufmerksamkeit absolut unerlässlich; und ein Mann, dem es daran mangelt, ist für das Leben in der Welt untauglich. Wenn ein unbeholfener Bursche einen Raum betritt, ist es recht wahrscheinlich, dass ihm der Degen zwischen die Beine gerät und er hinfällt oder zumindest stolpert; wenn er sich von diesem Unfall erholt hat, begibt er sich an die einzige Stelle im ganzen Raum, wo er nichts zu suchen hat; dort lässt er alsbald den Hut fallen, und beim Versuch, ihn wieder aufzuheben, verliert er den Stock; beim Versuch, diesen aufzuheben, fällt sein Hut ein zweites Mal zu Boden, sodass er eine Viertelstunde benötigt, um wieder in ordentlichem Zustand zu sein. Wenn er Tee oder Kaffee trinkt, verbrüht er sich gewiss den Mund, lässt entweder Tasse oder Untertasse fallen und schüttet sich Tee oder Kaffee auf die Hose. Beim Essen wirkt sich seine Unbeholfenheit besonders aus, da er dabei mehr zu tun hat; hier hält er Messer, Gabel und Löffel anders als die anderen, isst mit dem Messer, was seinen Mund in große Gefahr bringt, reinigt sich mit der Gabel die Zähne und steckt seinen Löffel, den er zwanzigmal im Rachen hatte, abermals in die Schüsseln. Wenn er tranchieren soll, kann er nie das Gelenk treffen, und im vergeblichen Bemühen, den Knochen zu zerschneiden, spritzt er allen Sauce ins Gesicht. Ganz allgemein besudelt er sich mit Suppe und Fett, wenngleich er gewöhnlich die Serviette in einem Knopfloch befestigt, sodass sie ihm das Kinn kitzelt. Wenn er trinkt, hustet er unweigerlich ins Glas und besprüht die Gesellschaft. Zu alledem hat er seltsame Eigenarten und Gebärden, zieht etwa die Nase hoch, schneidet Grimassen, bohrt in der Nase oder schnäuzt sich, worauf er in sein Taschentuch blickt, was die Tischgesellschaft anwidert. Seine Hände sind ihm ein Ärgernis, wenn er nichts in ihnen hat, und er weiß nicht, wohin mit ihnen; sie sind jedoch unausgesetzt zwischen seiner Brust und seiner Hose in Bewegung; kurz gesagt, er trägt die Kleidung nicht wie die anderen und tut überhaupt nichts wie sie. All dies, wie ich einräumen will, ist keineswegs ungesetzlich; in Gesellschaft ist es jedoch äußerst unangenehm und lächerlich und sollte von einem, der zu gefallen wünscht, sorgsamst vermieden werden.

Aus dieser Darlegung dessen, was Du zu unterlassen hast, kannst Du leicht auf das schließen, was Du tun solltest; und geziemende Beachtung des Betragens vornehmer Leute, die die Welt gesehen haben, wird es Dir zur vertrauten Gewohnheit machen.

Desgleichen gibt es eine Unbeholfenheit in Ausdruck und Worten, die sorgsamst zu meiden ist; etwa falsches Englisch, schlechte Aussprache, abgedroschene Redensarten und vulgäre Sprichwörter – allesamt Hinweise darauf, dass man sich in schlechter, niedriger Gesellschaft aufgehalten hat. Wenn Du zum Beispiel, statt zu sagen, dass die Geschmäcker verschieden sind und jeder seinen ganz eigenen hat, etwa ein Sprichwort absonderst und sagst: «Des einen Fleisch ist des anderen Gift», oder: «Jedem, wie er es mag, wie der brave Mann sagte, als er seine Kuh küsste»; dann wird jeder davon überzeugt sein, dass Du nie mit Besseren Umgang hattest als mit Lakaien und Hausmädchen.

Aufmerksamkeit wird all dies bewirken, und ohne Aufmerksamkeit ist nichts auszurichten; Mangel an Aufmerksamkeit, tatsächlich Gedankenlosigkeit, ist entweder Torheit oder Wahnsinn. Du solltest nicht nur auf alles Deine Aufmerksamkeit richten, sondern dies auch sehr schnell tun, sodass Du zugleich alle Leute im Raum, ihre Bewegungen, ihr Aussehen und ihre Worte beobachtest, ohne sie dabei anzustarren und als Beobachter zu erscheinen. Dies schnelle, unbemerkte Beobachten ist im Leben ein unendlicher Vorteil und muss sorgsam erworben werden; was man hingegen Geistesabwesenheit nennt, ist Gedankenlosigkeit und mangelnde Aufmerksamkeit für das, was man gerade tut, und dies macht einen so sehr einem Narren oder Wahnsinnigen ähnlich, dass ich für meinen Teil keinen echten Unterschied sehe. Ein Narr hat nie Gedanken, ein Wahnsinniger hat sie verloren, und ein Geistesabwesender ist für den Moment gedankenlos.

Adieu! Sende Deinen nächsten Brief an mich chez Monsieur Chabert, Banquier, à Paris; und sieh zu, dass ich bei meiner Rückkehr die erwarteten Verbesserungen vorfinde.

7 A. K. bzw. N. K., alter/neuer Kalender, im Orig. O. S./N. S., old/new system. Der unter Papst Gregor XIII. 1582 erarbeitete gregorianische Kalender löste den 45 v. Chr. von Gaius Iulius Caesar eingeführten julianischen K. ab, der inzwischen um zehn Tage vom astronomischen Sonnenjahr abwich; der 5. Oktober (jul.) wurde zum 15. Oktober (greg.) 1582. Die meisten katholischen Länder übernahmen die Reform sofort oder bald darauf; aus genereller Opposition gegen alles «Päpstliche» folgten protestantische Länder erst später, z. B. Preußen 1612. In England wurde der Kalender erst 1752 umgestellt; bis dahin betrug die Abweichung bereits elf Tage. Lord Chesterfield war an der Umstellung aktiv beteiligt; vgl. Brief vom 28. Februar 1751.

Dublin Castle8, 10. März 1746

Sir:

Mit großem Dank bestätige ich die Ehre zweier oder dreier Briefe von Dir, seit ich Dich mit meinem letzten plagte; und ich bin sehr stolz ob der wiederholten Beweise Deiner Gunst und Protektion, die Du mir gibst und die zu verdienen ich versuchen werde.

Ich bin überaus froh, dass Du Dir ein Verfahren vor dem Königlichen Gerichtshof angehört, und noch mehr darüber, dass Du geziemende Missbilligung hinsichtlich der mangelnden Aufmerksamkeit vieler Leute im Gerichtssaal geäußert hast. Da Du die Unziemlichkeit dieser Unaufmerksamkeit sehr gut beobachtet hast, bin ich mir sicher, dass Du selbst Dich nie eines ähnlichen Betragens schuldig machen wirst. Es gibt auf der Welt kein untrüglicheres Merkmal eines kleinen, schwachen Geistes als Unaufmerksamkeit. Was wert ist, überhaupt getan zu werden, verdient gut getan zu werden, und nichts kann gut getan werden ohne Aufmerksamkeit. Dass er «nicht darauf geachtet» habe, ist zuverlässig die Antwort eines Narren, wenn Du ihn zu etwas befragst, das in seiner Gegenwart gesagt oder getan wurde. Und warum hat der Narr nicht darauf geachtet? Was hatte er denn sonst da zu tun, als auf das zu achten, was vor sich ging? Ein vernünftiger Mann hört, sieht und behält alles, was um ihn her geschieht. Ich wünsche mir sehr, von Dir niemals zu hören, Du habest auf etwas nicht geachtet, und auch nicht, dass Du Dich, wie es die meisten Narren tun, über ein trügerisches Gedächtnis beklagst. Achte nicht nur auf das, was die Leute sagen, sondern auch darauf, wie sie es tun; und wenn Du über ein wenig Scharfsinn verfügst, wirst Du mit den Augen vielleicht mehr Wahrheit entdecken als mit den Ohren. Die Leute können sagen, was sie wollen, aber sie können nicht genau so dreinblicken, wie sie es wollen; und ihre Blicke enthüllen oft, was ihre Worte verhehlen sollen. Beobachte daher sorgfältig die Mienen der Leute, nicht nur, wenn sie mit Dir, sondern auch, wenn sie miteinander reden. Ich habe oft aus den Gesichtern von Menschen erraten, was sie gerade sagten, obgleich ich kein einziges ihrer Worte hörte. Die wesentlichste Kenntnis von allen, ich meine Kenntnis der Welt, ist niemals ohne große Aufmerksamkeit zu erringen, und ich kenne viele alte Leute, die zwar lange auf der Welt zugebracht haben, hinsichtlich ihrer Weltkenntnis aber noch immer wie Kinder sind ob ihrer Gedankenlosigkeit und Unaufmerksamkeit. Bestimmte Formen, an die sich alle halten, und bestimmte Fertigkeiten, die alle anstreben, verbergen bis zu einem gewissen Grade die Wahrheit und lassen äußerlich beinahe alle einander gleichen. Aufmerksamkeit und Scharfsinn müssen diesen Schleier durchdringen und das eigentliche Wesen entdecken. Du bist nun alt genug, um zu überlegen, zu beobachten, Charaktere zu vergleichen und Dich zumindest gegen die gewöhnlichen Kunstgriffe der Welt zu wappnen. Wenn Dir ein Mann, mit dem Du kaum bekannt bist, dem Du Deine Freundschaft weder angeboten noch auch nur angedeutet hast, plötzlich starke Bekundungen der seinen macht, so solltest Du sie höflich entgegennehmen, aber nicht mit Vertrauen vergelten: Er will Dich sicherlich täuschen, denn zwischen Männern gibt es keine Zuneigung auf einen Blick hin. Wenn einer starke Beteuerungen oder Schwüre nutzt, um Dich etwas glauben zu machen, was von sich aus bereits so wahrscheinlich und glaubhaft ist, dass die bloße Erwähnung genügen würde, so kannst Du Dich darauf verlassen, dass er lügt und sehr daran interessiert ist, es Dich glauben zu machen; sonst gäbe er sich nicht so viel Mühe.

In etwa fünf Wochen gedenke ich die Ehre zu haben, mich Dir zu Füßen zu legen: von denen ich hoffe, sie größer gewachsen zu finden, als sie waren, da ich sie verließ. Adieu.

8 Schloss in Dublin; die im 10. Jh. errichtete Festung wurde 1170 von den Normannen erobert und ausgebaut, die heutigen Gebäude stammen größtenteils aus dem 18. Jh. Es war von 1171 bis 1922 Sitz der brit. Verwaltung Irlands. Die Repräsentationsräume («State Apartments»), bis heute zu offiziellen Anlässen genutzt, wurden unter Chesterfield gebaut, als er 1744 Lord Lieutenant of Ireland war.

Dublin Castle, 5. April 1746

Lieber Junge:

Es wird, glaube ich, nicht mehr lange dauern, bis Du über Frauen freundlicher denkst und sprichst als jetzt. Du scheinst zu meinen, dass sie, beginnend bei Eva, viel Unheil angerichtet haben. Was die genannte Dame angeht, magst Du recht haben; aber die Geschichte wird Dich lehren, dass seit ihrer Zeit Männer in der Welt viel mehr Unheil angerichtet haben als Frauen; und um die Wahrheit zu sagen, würde ich Dir nahelegen, beiden nicht mehr als unbedingt nötig zu trauen. Aber dies will ich Dir raten: niemals ganze Gruppen gleich welcher Art anzugreifen, denn abgesehen davon, dass sämtliche allgemeinen Regeln ihre Ausnahmen haben, machst Du Dir ohne Not eine große Menge Feinde, indem Du eincorps insgesamt attackierst. Unter Frauen gibt es, wie unter Männern, gute wie schlechte und möglicherweise ebenso viele oder sogar mehr gute als unter Männern. Diese Regel gilt für Advokaten, Soldaten, Pfarrer, Höflinge, Staatsbürger etc. Sie alle sind Männer, den gleichen Leidenschaften und Empfindungen unterworfen, und unterscheiden sich nur in ihrem Betragen gemäß ihrer jeweiligen Erziehung; und es wäre so unklug wie ungerecht, irgendeine dieser Gruppen insgesamt anzugreifen. Individuen vergeben zuweilen, aber Gruppen und Gesellschaften niemals. Viele junge Leute halten es für fein und witzig, die Geistlichkeit zu schmähen, was ein arger Fehler ist, da meiner Meinung nach Pfarrer ganz wie andere Männer sind und weder besser noch schlechter, nur weil sie einen schwarzen Talar tragen. Sämtliche allgemeinen Überlegungen hinsichtlich von Nationen und Gesellschaften sind billige, fadenscheinige Scherze jener, die sich um Witz bemühen, ohne über solchen zu verfügen, und daher ihre Zuflucht zu Allgemeinplätzen nehmen. Du solltest Individuen nach Deinem Wissen über sie beurteilen, nicht nach ihrem Geschlecht, ihrem Beruf oder ihrer Konfession.

Wenn ich auch bei meiner Rückkehr – bald, wie ich hoffe – Deine Füße nicht größer vorfinde, so hoffe ich doch, dass Dein Kopf kräftig gewachsen ist, und dann werden Deine Füße mich nicht sehr bekümmern. Binnen zweier oder dreier Monate nach meiner Rückkehr werden Du und ich uns für einige Zeit trennen; Du musst bereit sein, Menschen ebenso zu lesen wie Bücher aller Sprachen und Nationen. Beobachtung und Überlegung werden dann sehr wichtig für Dich sein. Lass uns diese Angelegenheit gründlich besprechen, wenn wir uns sehen, was, wie ich hoffe, in der letzten Woche dieses Monats der Fall sein wird; bis dahin habe ich die Ehre, Dein überaus getreuer Diener zu sein.

Bath, 4. Oktober 1746 A. K.

Lieber Junge:

Wenngleich ich so viel von meiner Zeit darauf verwende, Dir zu schreiben, muss ich doch gestehen, dass ich oft Zweifel hege, ob dies irgendeinen Sinn hat. Ich weiß, wie unwillkommen Ratschläge allgemein sind; ich weiß, dass jene, die den meisten Rat brauchen, ihn am wenigsten mögen und befolgen; und ich weiß auch, dass besonders der Rat von Eltern der Verdrossenheit, Herrschsucht oder Schwatzhaftigkeit des Alters zugeschrieben wird. Andererseits schmeichle ich mir jedoch, da Dein Verstand (wiewohl noch zu jung, um Dir von sich aus viele Anregungen zu geben) doch stark genug ist, Dich in den Stand zu versetzen, schlichte Wahrheiten sowohl zu beurteilen als auch anzunehmen; ich schmeichle mir (sage ich), dass Dein Verstand, so jung er auch sei, Dir sagen muss, dass ich bei dem Rat, den ich Dir gebe, keine anderen Interessen als die Deinen im Sinn habe und dass Du ihn folglich zumindest erwägen und gut bedenken wirst; in welchem Fall einiges davon, so hoffe ich, Wirkung zeitigen wird. Glaube nicht, dass ich als Vater zu diktieren wünsche; ich möchte nur raten als Freund, als ein nachsichtiger dazu; und versteh dies bitte nicht so, als wollte ich Deinen Vergnügungen Einhalt gebieten – im Gegenteil möchte ich hierbei nur Berater sein, nicht Zensor. Lass meine Erfahrung Deinem Mangel hierin abhelfen und beim Fortschreiten Deiner Jugend Deinen Weg von all dem Gestrüpp und jenen Dornen reinigen, die mich auf dem meinen zerkratzt und entstellt haben. Daher will ich nicht einmal andeuten, wie absolut abhängig Du von mir bist; dass Du auf der Welt keinen Shilling hast noch haben kannst außer von mir; und dass Dein Verdienst das einzige Maß meiner Güte sein muss und sein wird, da ich keine weibische Schwäche für Deine Person empfinde. Ich sage, ich will Dir gegenüber all dies nicht einmal andeuten, da ich überzeugt bin, dass Du aufgrund edlerer und großmütigerer Prinzipien richtig handeln wirst; ich meine: um das Richtige zu tun und aus Zuneigung und Dankbarkeit mir gegenüber.

Ich habe Dir so oft Aufmerksamkeit und Beflissenheit empfohlen in allem, was Du auch erlernst, dass ich sie nun nicht als Pflichten erwähne; ich will Dich nur auf sie hinweisen als förderlich, nein, absolut unerlässlich für Deine Vergnügungen; kann es denn eine größere Freude geben als die Erlaubnis, allenthalben jene des eigenen Alters und Standes zu übertreffen? Und kann denn folglich irgendetwas erniedrigender sein, als von diesen übertroffen zu werden? In diesem letzteren Fall müssen Deine Scham und Reue tiefer sein als die jedes anderen, denn alle kennen die ungewöhnliche Sorgfalt, die auf Deine Erziehung verwendet wurde, und die Möglichkeiten, die Du hattest, mehr zu wissen als andere Deines Alters. Ich will die Hingabe, die ich anempfehle, nicht allein auf das Ziel und Streben beschränken, andere zu übertreffen (wiewohl dies ein sehr vernünftiges Vergnügen und ein überaus zulässiger Stolz ist); sondern ich meine desgleichen, in der Sache selbst vortrefflich zu sein; denn meiner Ansicht nach mag man etwas ebenso gut überhaupt nicht wie nur unvollständig kennen. Von irgendetwas ein wenig zu wissen, verschafft einem weder Befriedigung noch Ansehen, sondern trägt einem oft Schimpf oder Hohn ein.

Mr. Pope sagt sehr zutreffend:

Ein wenig Wissen ist gefährlich;

Trink vom Kastalischen Quell tief oder gar nicht.9

Und was man «oberflächliche Kenntnis» von allem heißt, ergibt unweigerlich einen Wichtigtuer. Ich habe in letzter Zeit oft darüber nachgedacht, welch unglücklicher Mann ich jetzt sein müsste, wenn ich nicht in meiner Jugend einiges an Grundlagen und Neigung zur Gelehrsamkeit erworben hätte. Was hätte ich denn ohne sie in diesem Alter mit mir anfangen können? Ich hätte, wie dies viele unwissende Leute tun, sicherlich meine Gesundheit und Gaben durch abendliche Schwelgerei ruiniert; oder indem ich sie bei leichtfertigem Geschwätz in Gesellschaft von Frauen vergeudet hätte, hätte ich mich eben jenen Frauen gegenüber lächerlich und verächtlich gemacht; oder ich hätte mich schließlich, wie dies einst einer tat, erhängt ob des Überdrusses, jeden Tag seine Schuhe und Strümpfe an- und auszuziehen. Meine Bücher, und nur meine Bücher, sind mir nun verblieben, und jeden Tag stelle ich fest, es ist wahr, was Cicero über die Bildung sagt: «Haec studiae (sagt er) adolescentiam alunt, senectutem oblectant, secundas res ornant, adversis perfugium ac solatium praebent, delectant domi, non impediunt foris, pernoctant nobiscum, peregrinantur, rusticantur.»10

Damit will ich aus den Freuden eines fortgeschrittenen Alters die Konversation nicht ausschließen; sie ist im Gegenteil ein sehr großes und vernünftiges Vergnügen in jedem Lebensalter; aber die Konversation der Unwissenden ist keine Konversation und gereicht selbst ihnen nicht zur Freude; sie werden der eigenen Fruchtlosigkeit überdrüssig und besitzen nicht genug Kenntnisse, die ihnen die Worte liefern könnten, um eine Konversation aufrechtzuerhalten.

Lass mich Dir daher ernstlich empfehlen, einen großen Vorrat an Wissen anzulegen, solange Du kannst; denn magst Du auch bei den Zerstreuungen Deiner Jugend keine Gelegenheit finden, viel davon auszugeben, kannst Du Dich doch darauf verlassen, es wird eine Zeit kommen, da Du dessen bedarfst, um Dich zu erhalten. Öffentliche Kornkammern werden in üppigen Jahren gefüllt; nicht weil man wüsste, das nächste oder übernächste oder dritte Jahr werde sich als karg erweisen, sondern weil man weiß, früher oder später kommt solch ein Jahr, in dem man das Getreide braucht.

Ich will Dir nicht mehr zu diesem Thema sagen; Du hast Mr. Harte bei Dir, um dies zu vertiefen; Du hast genug Verstand, um der Wahrheit all dessen zuzustimmen; kurz gesagt: «Du hast Moses und die Propheten; wenn Du ihnen nicht glauben magst, wirst Du auch nicht glauben, und wenn einer von den Toten auferstünde.»11 Bilde Dir nicht ein, das Wissen, das ich Dir so sehr anempfehle, sei auf Bücher beschränkt, so angenehm, nützlich und notwendig dieses Wissen auch ist; aber ich fasse es als Teil der großen Kenntnis der Welt auf, die noch viel wichtiger ist als die von Büchern. Wahrlich unterstützen sie einander, und keiner, der nicht beides besitzt, wird eines vollkommen besitzen. Kenntnis der Welt ist nur in der Welt zu erwerben, nicht in einem Schrank. Bücher allein werden sie Dich nie lehren; sie werden aber Deine Aufmerksamkeit auf vieles lenken, was Dir ohne sie entgehen könnte; und Deine eigenen Beobachtungen der Menschheit werden Dir, wenn Du sie mit denen vergleichst, die Du in Büchern findest, bei der Bestimmung des wirklichen Fixpunkts helfen.

Die Menschheit gründlich zu erkennen verlangt durchaus ebenso viel Aufmerksamkeit und Hingabe wie die Kenntnis von Büchern und vielleicht noch mehr Scharfsinn und Unterscheidungsvermögen. Ich bin zu dieser Zeit mit vielen älteren Leuten bekannt, die ihr ganzes Leben in der großen weiten Welt zugebracht haben, dies jedoch so gedankenlos und unaufmerksam, dass sie heute nicht mehr darüber wissen als mit fünfzehn. Schmeichle Dir also nicht mit dem Gedanken, Du könntest dieses Wissen in der frivolen Plauderei müßiger Gesellschaft erwerben; nein, Du musst viel tiefer eindringen. Du musst die Leute nicht bloß von außen, sondern auch von innen betrachten. So gut wie alle Menschen sind bis zu einem gewissen Grad mit allen Leidenschaften geboren; aber fast jeder hat eine vorherrschende, der die anderen untergeordnet sind. Suche bei jedem diese vorherrschende Leidenschaft; forsche die entlegenen Winkel seines Herzens aus und betrachte die verschiedenen Wirkungsweisen der gleichen Leidenschaft bei verschiedenen Leuten; und wenn Du eines Menschen vorherrschende Leidenschaft gefunden hast, dann denk daran, ihm niemals dort zu vertrauen, wo diese Leidenschaft betroffen ist. Nutze sie, um ihn Dir nutzbar zu machen; sei aber selbst dieser gegenüber auf der Hut, was auch immer er Dir beteuern mag.

Ich wünschte mir wirklich, Du läsest diesen Brief zweimal, doch bezweifle ich sehr, dass Du ihn einmal zu Ende lesen wirst. Ich will Dich nun nicht länger behelligen; wir werden uns aber zu einem späteren Zeitpunkt noch ausführlicher mit diesem Thema befassen. Adieu.

Ich habe eben Deinen Brief aus Schaffhausen bekommen; beim Datum hast Du den Monat vergessen.

9ImOriginal:«Alittleknowledgeisadangerousthing; / Drink deep or taste not the Castalian spring.»Aus: Alexander Pope (1688–1744), An Essay on Criticism, 215 f.; allerdings lautet es dort «Pierian spring» («Pierische Quelle»). In die Kastalische Quelle (am Fuß des Parnassos bei Delphi) soll sich die Nymphe Kastalia auf der Flucht vor Apollon gestürzt haben; wer aus der Quelle trinke, dem verleihe das Wasser dem Mythos zufolge die Gabe der Dichtkunst; das Wasser der Pierischen Quelle in Makedonien dagegen schenke Wissen.

10 Lat. «Diese Aufgaben nähren die Jugend, erheitern das Alter, zieren Nebensächlichkeiten, bieten Trost und Zuflucht bei Widrigkeiten, gewähren Wonne daheim, sind außerhalb kein Hindernis, übernachten mit uns, begleiten uns auf Reisen und auf dem Lande.» Aus: Cicero, Pro Archia poeta (Verteidigungsrede für den Dichter Aulus Licinius Archias, gehalten 62 v. Chr.), 7, 16.

11 Lukas 16, 31: «Er sprach zu ihnen: Hören sie Moses und die Propheten nicht, so werden sie auch nicht glauben, wenn jemand von den Toten aufstünde.»

Bath, 9. Oktober 1746 A. K.

Lieber Junge:

Die Strapazen auf Deiner Reise von Heidelberg nach Schaffhausen, das Schlafen auf Stroh, das schwarze Brot und die zusammengebrochene berline12 sind geziemende Vorbereitungen auf die größeren Mühsale und Strapazen, die Du im Verlaufe Deiner Reisen noch zu gewärtigen hast; und wäre man geneigt zu moralisieren, so könnte man sie als Exempel jener Unfälle, Hemmnisse und Schwierigkeiten bezeichnen, denen jedermann auf seiner Reise durchs Leben begegnet. Auf dieser Reise ist der Verstand die voiture13, die Dich bergen und befördern muss; und je nachdem, ob sie stärker oder schwächer, in gutem oder schlechtem Zustand ist, wird Deine Reise besser oder schlechter sein; Du wirst jedoch auch im günstigsten Fall hin und wieder schlechte Straßen und einige schlechte Gaststätten finden.

Achte daher bitte darauf, diese notwendige voiture im bestmöglichen Zustand zu halten; prüfe, verbessere und kräftige sie täglich; jeder hat die Kraft und sollte die Sorgfalt aufbringen, dies zu tun; wer es vernachlässigt, sollte und wird die unheilvollen Auswirkungen dieser Nachlässigkeit spüren müssen.

Àpropos Nachlässigkeit: Zu diesem Thema muss ich Dir etwas sagen. Wie Du weißt, habe ich Dir oft versichert, dass meine Zuneigung zu Dir keine schwächliche, weibische ist, und sie macht mich keineswegs blind, sondern im Gegenteil besonders scharfsichtig gegenüber Deinen Fehlern.

Es ist nicht nur mein Recht, sondern sogar meine Pflicht, sie Dir gegenüber zu erwähnen, und es ist Deine Pflicht und in Deinem Interesse, sie zu korrigieren. Bei der strengen Prüfung, der ich Dich unterzog, habe ich bisher (Gott sei Dank) kein Laster des Herzens noch eine besondere Schwäche des Kopfes gefunden; ich habe allerdings Trägheit, Unaufmerksamkeit und Gleichgültigkeit entdeckt – Fehler, die nur bei alten Männern verzeihlich sind, bei jenen, die im Niedergang des Lebens, wenn Gesundheit und Geist nachlassen, auf diese Art Ruhe so etwas wie einen Anspruch haben. Ein junger Mann aber sollte den Ehrgeiz haben, zu glänzen und hervorzustechen; er sollte wach, aktiv und unermüdlich in allem sein, was dazu nötig ist; und wie Caesar Nilactumreputans,siquidsuperessetagendum14. Dir scheint jene vividavisanimi15 zu fehlen, die die meisten junge Männer dazu treibt, zu gefallen, zu glänzen, zu übertreffen. Ohne das Bestreben und die erforderlichen Bemühungen, beachtenswert zu sein, kannst Du dies, verlasse Dich darauf, nie werden; wie Du auch ohne das Bestreben und die nötige Aufmerksamkeit zu gefallen niemals gefallen kannst. Nullumnumenabest,sisitprudentia16 ist fraglos wahr hinsichtlich von allem, die Dichtung ausgenommen; und ich bin mir ganz sicher, dass jeder Mann gewöhnlichen Verstands durch geziemende Bildung, Sorgfalt, Aufmerksamkeit und Arbeit alles aus sich machen kann, was ihm gefällt, außer einen guten Dichter …

Was man gewöhnlich einen geistesabwesenden Mann nennt, ist gemeinhin entweder ein ungemein schwacher oder sehr leidender Mann; aber was auch immer er sein mag, er ist gewiss ein arg unerfreulicher Mann in Gesellschaft. Er versagt in allen gewöhnlichen Bereichen höflichen Umgangs; er scheint heute jene nicht zu kennen, mit denen er gestern innig vertraut zu sein schien. Er beteiligt sich nicht an der allgemeinen Konversation, sondern unterbricht sie im Gegenteil von Zeit zu Zeit mit einem jähen eigenen Ausbruch, als erwachte er aus einem Traum. Dies (wie ich bereits gesagt habe) ist ein sicheres Merkmal entweder eines Geistes, der so schwach ist, dass er nicht mehr als ein Thema gleichzeitig bewältigen kann, oder eines so leidenden, dass er davon völlig umfangen und auf großartige und bedeutende Themen gerichtet wirkt. Sir Isaac Newton17, Mr. Locke18