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Corinne Ammann

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Beschreibung

Res Buhme fasst sich ein Herz. An einem trüben Vorabend zieht er aus, um bei einem säumigen Zahler eine längst fällige Schuld einzutreiben. Der Hochnebel drückt seit Wochen aufs Land. Genauso drückend ist die Situation von Res und seiner Familie. Sie scheinen vom Unglück verfolgt. Es fehlt am Lebensnotwendigsten, um den Winter zu überstehen. Und es fehlt an der nötigen Solidarität unter den Leuten und an kleinen Zeichen des guten Willens, die helfen würden, die Not der Familie zu lindern. Dem Roman vorangestellt ist: »Menschen sind schon früher weggezogen, ins Nachbardorf, in die nächste Stadt, in ein fremdes Land, wenn sie zu wenig zu essen hatten oder um ihr Leben bangten.« Die Hoffnung der Familie, dass in der Stadt ein Neuanfang gelingen könnte, ist groß. Behörden, Kirche und viele Alteingesessene geben den Zugezogenen allerdings wenig Unterstützung und das Misstrauen scheint oft unüberwindbar. Die Familie erfährt aber Solidarität von Menschen, die ihnen unvoreingenommen begegnen und ihre Not wahrnehmen. Dank der Beharrlichkeit von Res und seiner Frau Trudi auf der Suche nach Auswegen und nach etwas Nahrhaftem in der täglichen Suppe und dank der Sympathien, die der gewiefte Sohn Godi im Städtchen genießt, blitzt da und dort ein Hoffnungsschimmer auf. über leben ist ein feinsinniger Roman über das Leben unterschiedlicher Menschen, über Lebensumstände und Versuche, damit zurechtzukommen und darin zu überleben. Im vielschichtigen Bild einer ländlichen Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts erzählt Corinne Ammann von Sehnsüchten, Bedürfnissen, Ängsten und Hoffnungen, die gar nicht so weit entfernt sind von denen heutiger Menschen.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Corinne Ammann

über leben

Roman

Übersetzung der berndeutschen Sätze und Passagen

Glossar der Dialektausdrücke

Prolog

Der Unfall

Zu Fuss folgte Res Buhme dem Weg gegen die Obere Bruchegg. Es war kalt und dunkelte bereits. Die Felder standen leer. Er ging aufrecht und mit festen Schritten, sogar den Hut hatte er aufgesetzt. Bedacht wich er den sumpfigsten Stellen aus und gab acht, dass seine Schuhe sauber blieben. Wenn man in so einer Sache vorsprach, konnte es nicht schaden, wenn man eine Gattig machte. Er wusste, es würde nicht einfach.

Sein Blick schweifte über die Matten. Am Wegrand raschelte etwas im Gebüsch. Dumpf und schwer drückte der Hochnebel auf die Landschaft. Jeden Graben und jede Hecke kannte er hier. Hinter ihm duckten sich die letzten Häuser des Dorfes, vor ihm lag der Weg zum Studerhof.

Die Bäume waren fast kahl. Immer öfter blieb die Hochnebeldecke geschlossen. Der Winter war schon zu spüren, kalt, düster und feucht. Die Bauern jammerten, dabei war man den Hochnebel gewohnt. Er gehörte zum Winter wie die muffige Wärme im Kuhstall.

Das Dorf zog sich zurück in seine Stuben. Wer trotzdem hinaus musste, eilte mit eingezogenem Kopf zwischen Stall und Küche. Auch vor der Käserei mochte niemand mehr verweilen und die Gespräche waren noch einsilbiger als sonst. Wenn man dann doch ein paar Worte austauschte, ging es oft um den Hochnebel, der allen aufs Gemüt drückte. Nein, es war wirklich schlimm in diesem Jahr, da war man sich einig. Kam ein Händler ins Dorf oder war der Doktor auf Krankenbesuch, wollten immer alle wissen, wo die Nebelgrenze sei. Fast freute man sich, als ein Viehhändler beim Mittagessen im «Bären» zu berichten wusste, dass er gestern sogar am Napf im Nebel gesteckt habe. So geht es denen dort oben nicht besser, meinte der Wirt, als er die Geschichte abends seinen Gästen erzählte. Die Männer lachten auf, ja, sie wussten, was er meinte.

Auch Res Buhme hatte gelacht. Er hätte viel darum gegeben, wieder einmal den Himmel zu sehen oder jetzt mit den Kindern zu Hause am warmen Ofen zu sitzen. Aber er war entschlossen und vom Wetter wollte er sich gewiss nicht abhalten lassen.

An der nächsten Wegkreuzung bog er links ab. Der Weg war jetzt noch schlechter als vorher und stieg steil an. Ausbessern hätte man ihn müssen. Die Fahrrinnen waren ausgeschwemmt und voller Schlaglöcher.

Als er auf die Anhöhe kam, musste Res einen Moment lang verschnaufen. Von hier aus waren es nur noch ein paar Schritte, eine Wegbiegung und er stand vor dem Hof. Schwarz zeichnete sich das grosse Dach gegen den Himmel ab. Erleichtert stellte Res fest, dass im Stall bereits das Licht aus war. Im Stall wollte er nicht mit Studer reden, das war klar. Aber jetzt, kurz vor Feierabend, wenn nur noch die Milch in die Käserei gebracht werden musste, sollte ein guter Zeitpunkt sein.

Durch die dunklen Stuben vorne im Haus sah man ein schwaches Licht schimmern. Es musste von der Küche kommen. Unruhig nestelte er am Jackensaum. Es war ihm jetzt doch nicht ganz wohl bei der Sache. Vielleicht hatte Trudi ja recht.

Das bringt doch nichts, hatte sie vorher wieder gesagt. Irgendwie kommen wir schon durch den Winter, auch ohne das Geld vom Studer.

Das ist einfach nicht in Ordnung, hatte er erwidert. Wenn ich dort in der Küche stehe, getraut der sich nicht, stur zu sein.

Trudi hatte den Kopf geschüttelt. Das gloubsch jo säuber nid.

Eine Schuld ist eine Schuld, hatte er beharrlich wiederholt. Ich habe schon viel zu lang gewartet, dass er von selber zahlt.

Der zahlt nicht mehr, hatte Trudi verärgert geantwortet, vergiss es! Und dabei hatte sie ihn angesehen, als ob sie Angst um ihn hätte.

Er hatte schnell weggeschaut, denn er wollte sich von seinem Vorhaben nicht abbringen lassen. Was sein musste, musste sein. Er wusste, dass er im Recht war und Trudi wusste es auch. Dass die Leute im Dorf auf den Studer hören, tut nichts zur Sache, dachte er trotzig. Ein Handschlag ist immer noch ein Handschlag.

Res ging über den Platz zur Haustür und klopfte. Aber es blieb ruhig. Nur die Kühe hörte man im Stall. Als auch beim zweiten Klopfen niemand kam, ging er ums Haus zur Küchentür. Dort war Licht. Jetzt schlug auch der Hund an. Studer und seine Frau waren in der Küche und redeten miteinander, er sah sie durch das erleuchtete Fenster. Sie hatten den Blick schon zur Tür gewandt, als er erneut klopfte.

Man gab sich die Hand und grüsste. In der Küche war es wohlig warm.

Was bringt dich hinauf auf die Bruchegg, wollte Studer wissen.

Ich bin hier wegen der Scheune. Du hast sie mir immer noch nicht bezahlt, antwortete er bestimmt.

Studer lachte. Das meinst du ja nicht im Ernst.

Können wir …

Die Scheune bezahle ich nicht, unterbrach ihn Studer unwillig, das ist verjährt.

Ich habe dir eine Scheune gebaut und nie einen Rappen dafür bekommen.

Als ich zahlen wollte, hast du gesagt, du weisst noch nicht, wie viel sie kostet.

Aber jetzt weiss ich es, und du auch.

Vor sieben Jahren hätte ich bezahlt.

Du schuldest mir das Geld, da kommst du nicht drumherum.

Wenn du es nicht schaffst, eine Rechnung zu schreiben, so ist das dein Problem.

Das hat gopferdami nichts damit zu tun, erwiderte Res mit erhobener Stimme. Eine Schuld ist eine Schuld.

Er bereute den Ausbruch sofort. Er wusste, dass er so keinen Stich hatte. Wenn es darum ging, mit Worten um sich zu werfen, so war Studer nie auf den Mund gefallen und aufbrausender als Res war er allemal.

Pass auf, Buhme, was du sagst, sagte Studer herausfordernd und fixierte ihn mit seinem Blick.

Ich will nicht fluchen, versuchte Res die Situation zu retten, aber so geht das nicht. Ich habe dir im guten Glauben eine Scheune gebaut. Daran gibt es nichts auszusetzen. Es ist eine gute Scheune. Und jetzt bist du dran mit Zahlen. Das ist doch ganz normal. Das gehört sich so. Sieben Jahre tun da gar nichts zur Sache. Überhaupt nichts. Das ist einfach nicht recht so.

So viel hatte er noch selten auf einmal geredet, und wenn Studer von seiner Wortflut beeindruckt war, so liess er sich nichts anmerken.

Jetzt hör dir doch zu, sagte er verächtlich. Was weisst denn du schon, was recht ist. Keine Ahnung hast du, du Hosenmatz, du Hasenfratz. Wenn du so ein Durcheinander hast, so ist das dein Problem.

Unruhig fingerte Res am Hut. Das Gespräch lief nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte. Er wiederholte, dass sieben Jahre nun wirklich nichts damit zu tun hätten. Aber so ganz sicher war er sich selber nicht mehr.

Die Frau vom Studer hantierte mit einer Pfanne. Im Herd brannte ein Feuer und es roch nach Eingekochtem. Breitbeinig stand Studer, noch in den Stallhosen, vor Res. Da kam Hans zur Tür herein und sagte, er gehe jetzt in die Käserei. Erst dann sah er Res und bemerkte die angespannte Stimmung.

Nimm doch den Buhme auch grad mit, sagte Studer zum Buben und wandte sich ab. Hier gibt es nichts mehr zu bereden.

Res fühlte eine ohnmächtige Wut in sich hochsteigen. Der Sack! Der Sack, dachte er nur immer wieder, hilflos wie früher, als er als Bub auf fremden Höfen hatte arbeiten müssen. So herumgeschupft war er sich schon lange nicht mehr vorgekommen.

Das werden wir ja noch sehen, sagte er so drohend wie möglich. So geht das nicht. Da kannst du dir einen Blöderen suchen.

Studer starrte wortlos zurück.

Guete Obe, sagte Res zur Bäuerin. Er wollte anständig sein, nur war er so wütend, dass der Gruss ziemlich schroff klang. Dann drehte er sich um und ging hinaus. Die Tür liess er offen. Hans folgte ihm auf den Fersen.

Wollt Ihr auf den Bock hocken oder hinten aufsitzen, fragte der Bub.

Ich gehe zu Fuss, erwiderte Res.

Aber der Vater hat gesagt …

Das ist mir gleich, sagte Res und stampfte davon.

Im Gehen verdampfte die Wut allmählich und übrig blieb ein Gefühl der Ohnmacht. Er hätte auf Trudi hören sollen. Wie konnte ich nur meinen, ich müsse mich mit Studer, dem elenden Polteri, anlegen. Keiner im Dorf wagte das. Studer machte schon immer, was er wollte. Selbstmitleid stieg in ihm hoch und plötzlich war Res Buhme nur noch müde und verzweifelt. Was sollte er nur machen, um seine Familie durch den Winter zu bringen?

Als Hans von hinten mit dem Milchwagen herangefahren kam, trat er zur Seite.

Jetzt sitzt doch auf, wiederholte Hans seine Einladung. Ich fahre ja sowieso.

Wieso auch nicht, dachte Res resigniert. Darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Der verdammte Studer.

Wortlos hockte er sich zwischen die Milchkannen. Hans drehte er den Rücken zu, die Beine baumelten über den Rand des Wagens.

Das Fuhrwerk holperte rassig den steilen Weg hinunter. Es war unterdessen fast ganz dunkel und noch kälter geworden. Res musste sich festhalten. Er starrte zwischen seine Füsse hinunter auf den Weg. Alles war ihm jetzt egal, sogar der Dreck an seinen guten Schuhen.

Plötzlich ruckte es und der Wagen stockte. Res dachte sich nicht viel dabei. Erst als Hans fluchte und das Ross viel zu laut wieherte, drehte er den Kopf. Er sah, wie Hans vom Wagen sprang und sich bei den Vorderbeinen des Tieres bückte. Da plötzlich bockte das Tier und bäumte sich im Halbdunkel auf. Der Wagen kippte und das Ross verlor das Gleichgewicht. Res wurde im gleichen Moment vom Wagen geschleudert, Hans schrie, Holz splitterte und die Milchkannen fielen schwer auf den Boden. Ein Deckel ging auf und der Weg war augenblicklich und für einen Moment lang ganz weiss. Res lag benommen im Graben neben dem Weg. Dann vermischte sich die Milch mit dem trüben Wasser der Glunggen.

Das Ross war eingeknickt, gestrauchelt und seitlich hingefallen. Verzweifelt versuchte es im Durcheinander von Deichsel und Riemen wieder auf die Beine zu kommen. Sein schrilles Wiehern ging Res durch Mark und Bein. Er musste etwas tun. Er konnte hier nicht liegen bleiben.

Schnell sprang er auf, versuchte zu erkennen, was mit dem Tier los war, und die Angst um den Buben durchfuhr ihn. Er hörte ihn schreien, konnte im abnehmenden Licht aber nichts erkennen ausser dem panisch unberechenbaren Tier.

Plötzlich rappelte es sich auf, buckelte, verzweifelt verfangen. Dabei warf es sich mit so grosser Kraft in die Riemen, dass es den Wagen hochriss. Res schmiss sich auf die Seite und im nächsten Augenblick verloren Tier und Wagen wieder das Gleichgewicht und fielen schwer zu Boden.

Dann war es still.

Das Rad lag genau dort im Graben, wo Res eben gestanden war. Schwer atmete das Ross. Ein weisser Milchschimmer lag noch immer auf dem Weg. Es sah gespenstig aus. Plötzlich merkte Res, dass der Bub nicht mehr schrie. In panischer Angst sprang er auf.

Er ging einen Schritt näher und sah mit Entsetzen einen Fuss unter dem Rücken des schweren Tieres hervorschauen. Krampfhaft versuchte er zu erkennen, wo der Bub war. Aber es war zu dunkel. Dann versuchte das Ross wieder verzweifelt aufzustehen. Wild trat es mit den Hufen um sich und warf den Kopf hin und her.

Fieberhaft überlegte Res, was zu tun sei. Wie sollte er dem Buben nur helfen, wie das Pferd beruhigen? Es war hoffnungslos. Es war schrecklich. Hilflos starrte er auf das Unheil vor seinen Augen. Der Geruch der stallwarmen Milch stieg ihm in die Nase und verknotete sich mit dem milchigen Schimmer und dem panischen Wiehern zu einem wirren Knäuel.

Dann gab er sich einen Ruck.

Er schrie um Hilfe. Aber es blieb still. Wie hätte es auch anders sein können. Hier draussen auf dem Feld. Ausser sich rannte er Richtung Dorf. Oder sollte er besser zurückgehen? Unschlüssig stand er einen Moment lang still, sofort hatte er wieder den Fuss vor seinen Augen und den milchigen Weg. Milch, überall Milch. In diesem Moment kam ihm der Leuenberger entgegen.

Das Ross ist durchgedreht, rief Res ihm zu. Der Hans … setzte er an. Aber er brachte es nicht über die Lippen. Der Hans ist …

Was sagst du, rief der Leuenberger ihm zu, während er schon zu Wagen und Ross eilte.

Der Hans …

Das Unaussprechliche schüttelte ihn. Der Bauch zog sich in ihm zusammen. Dann musste er sich übergeben, immer wieder, auch als sein Magen schon lange leer war, würgte er weiter. Das Würgen und Schütteln hörte nicht mehr auf.

Schnell, hilf mir, schrie der Leuenberger.

Es ist zu spät, es ist zu spät, murmelte Res. Zusammengekauert und unfähig, sich zu bewegen, blieb er zitternd am Wegrand zurück.

Es ist zu spät.

Männer

heit dr’s ou ghört? / das isch / jo / me gloubt’s gar nid / usgrächnet! / ir Chäsi hei sis gseit / strub / stöu dr vor / nei / s’Ross isch äuä düredräit / jo, we me das wüssti / aber / i weiss nid / dr Hans sig drunger gsi / u dr Leuebärger heig no / uf dä chasch di verloh / jo, du / und de dr Buhme? / hör mer uf / dervo gsecklet sig er / nid öppe / gloubsch das? / und s Ross? / do isch nüt me zmache gsi / we’s Bei / er sig stärnsverruckt / wär? / eh, dänk dr Studer / er het zum Chäser gseit, der Buhme sig ä Souhung / chum jitz / mo mou / dr Res sig äbe uf dr Bruchegg gsi, wäg dr Schür / gäng das Gestürm wäg dere Schür / meint jitz dr Studer? / jo, aber, das isch / i weiss haut ou nid / s’Trudi het ihm mängisch gseit, er söu die Schür vergässe / dr Studer sig no am Mäuche gsi / so öppis / und us em Buhme bringsch chum äs Wort / was? / er wüssi nid, was passiert sig / jo / das isch nid dr huufe / und usgseh tuet dä / säg nüt / das geit doch nid eso / auso wen ig dr Studer wär / u de sini Frou?

Frauen

das arme Lisi / ii auso / jo, stöu dr vor / dr eiget Bueb / nei / do bisch / wie het das nume chönne passiere? / mi nuhm das ou wunger / jo, wenn’s Ross / dä weiss doch, dass das gfährlech isch / usgrächnet dr Hans / dr einzig Bueb / s’Lisi het dä nume möge rüeme / derbi / eh, chum jitz / schaffe het dä chönne / u jitz so öppis / öb ächt de eis vo de Meitschi / es tuet mer so leid / het öpper s’Lisi gseh? / es chöm nüm usem Bett, het’s gheisse / dänk ou / dr Studer heig säuber müesse iifüre / sötte mir nid / vergiss es / ds Greti Bachme het’s probiert / jo, schiins / u de heig är se / das han i ou ghört / was? / furtgjagt haut / eh dertusig / sis Müeti sig de go choche / u dr Buhme? / heit dr ghört? / natürlech / i weiss haut ou nid

Das Dorf

Das Dorf war klein. Im Kern standen fünf Bauernhäuser, stattliche Häuser allesamt, die Kirche, der «Bären» und das geduckte Haus der Käserei. Dazu kamen etwas abseits am Dorfbach die Sägerei und daneben die Schreinerei. Die übrigen Höfe der Gemeinde, lauter grössere und kleinere Heimetli, lagen weitum verstreut, an steilen Abhängen, in engen Gräben und auf windigen Anhöhen. Den Überblick hatten nur der Pfarrer, der Käser und vielleicht der Wirt.

Mit gesenktem Blick gingen die Menschen der nie enden wollenden Arbeit nach. Die Männer, die Frauen und auch die Kinder mussten mithelfen. Nur das Wetter und der liebe Gott liessen sie den Blick ab und zu zum Himmel heben.

Unaufhaltsam folgten sich die Jahreszeiten. Kaum hatte man halbwegs genügend Holz im Trockenen, mussten schon wieder die Felder bestellt werden. Kaum war man morgens fertig im Stall, war schon wieder Zeit zum Melken, kaum war das Zmorge weggeräumt, musste schon das Zmittag gerichtet werden.

Eine Atempause bot nur der Sonntag, wenn die Stunden nach dem Gottesdienst zum Absitzen einluden. Wenn das Zmittag endlich auf dem Tisch stand, machten sogar die Frauen eine Pause. Schliesslich sollte man den Sonntag heiligen, wie der Pfarrer immer wieder mahnte. Da machte man vielleicht eine Visite bei Verwandten oder spazierte gesellig durchs Dorf, bevor man schon wieder melken und etwas auftischen musste.

Geredet wurde auch vor der Käserei. Dort traf man sich, dort wurde übers Wetter und das Neuste aus dem Stall berichtet, dort wurde verhandelt und ausgetauscht. Im Spätherbst und Winter kam es vor, dass die Männer im «Bären» noch einen Roten tranken, bevor sie zurück auf ihren Hof fuhren.

Die Frauen sahen sich ab und zu im Laden, aber ausser Salz, Seife und Kaffee gab es dort nicht viel zu kaufen. Fürs tägliche Essen standen sie tagelang im Gemüsegarten und in der Küche, wo sie kochten und haltbar machten.

Mit den Nachbarn hatte man wenig Kontakt, mit den Leuten aus dem Nachbardorf noch weniger. Die Wege waren holprig für Fuhrwerke und weit für alle, die zu Fuss unterwegs waren.

Talaufwärts Richtung Napf führte die Hauptstrasse, talabwärts erreichte man in einem langen Tagesmarsch ein Städtli. Über die seitlichen Hügelzüge führten gewundene Feldwege, aber die wurden noch weniger benutzt als die Hauptstrasse. Kaum einer kam je aus dem Dorf, dazu fehlten die Zeit und die Gründe. Nur die Händler und der eine oder andere Gewerbler waren öfter unterwegs, und manchmal die jungen Leute, wenn sie im Herbst ins Nachbardorf zum Jahrmarkt fuhren. Wenn sie dort nur den Mund aufmachten, waren sie sofort als Auswärtige erkennbar, denn die Leute reisten wenig und jedes Dorf hatte seine eigene Art zu reden.

Die Beerdigung

Sie waren bestimmt zu zehnt. Eng beieinanderstehend versperrten sie den Eingang zur Kirche. Trudi und Res hatten sie schon von der Strasse aus gesehen. Zuerst waren sie noch unsicher, was das zu bedeuten habe, aber als sie näher kamen, gab es keinen Zweifel mehr.

Für den Buhme hat es hier keinen Platz, rief ihnen Scheidegger aus sicherer Distanz zu. Er rede für die Trauerfamilie. Haut ab, rief Sterchi aus der hinteren Reihe und die anderen murmelten zustimmend.

Trudi erschrak furchtbar. Was war nur los? Wohl hatte sie damit gerechnet, dass es nicht einfach würde, ein paar schräge Blicke in den letzten Tagen hatten sie gewarnt. Aber so etwas! Sogar Elsa schaute sie finster an und der Götti von der Honegg stand schweigend daneben.

Sie wollte etwas einwenden. Wie konnten die Leute nur? Das konnte nicht ihr Ernst sein. Sie kannte diese Leute ihr Leben lang, mit allen hatte sie auf die eine oder andere Art zu tun gehabt. Und Res war ein aufrechter und anständiger Mann, das hatten unterdessen doch alle begriffen.

Bevor Trudi etwas sagen konnte und ohne sie anzuschauen, drehte sich Res um und ging davon. Mit hängenden Schultern. Das glaubt ihr ja selber nicht, rief Trudi entsetzt Richtung Kirche. Was ist in euch gefahren? Es ist doch …

Weiter kam sie nicht. Zu feindselig waren die Gesichter und niemand machte Anstalten, ihr zu antworten. Dabei war doch einfach ein schrecklicher Unfall passiert. Niemals würde Res … Alles sträubte sich in ihr gegen diesen Gedanken. Natürlich verhielt er sich seither eigenartig, natürlich sagte er immer nur, er wisse nicht, was geschehen sei. Aber das reichte doch nicht für einen solchen Verdacht! Und den Hans brachte es auch nicht zurück.

Wenn nur der Vater noch lebte, auf ihn würden die Leute hören, dachte sie verzweifelt. Er würde sich für Res wehren, das hatte er immer getan. Er würde entrüstet in die Kirche treten und lauthals verkünden, dass Res unschuldig sei. Stattdessen stand sie hier ganz allein. Wenn sie es nicht sagte, so würde keiner etwas sagen.

Res trifft keine Schuld am Unfall, rief sie, ihren ganzen Mut zusammennehmend.

Aber im selben Moment fing die Orgel an zu spielen. Es kam Bewegung in die Gruppe und schnell waren sie alle in der Kirche verschwunden. Trudi war nicht sicher, ob sie sie überhaupt gehört hatten.

Erster Schnee

Trudi zog sich das Kopftuch tiefer ins Gesicht. Es war kurz vor dem Einnachten und ihr war kalt. Die Luft war so hochneblig feucht, dass sich ihre Haut bereits nach ein paar Schritten nass anfühlte. Die Strasse war leer und auch rund um die Häuser war niemand zu sehen. Ob ihr die Leute aus dem Weg gingen?

Schnell schob sie das Tuch wieder zurück. Es sollte ja nicht so aussehen, als ob sie sich verstecke. Das gewiss nicht, obwohl sie allmählich nicht mehr wusste, was sie zu den Leuten sagen sollte. Nichts mehr schien richtig. Alles war seltsam. Dabei wollte sie einfach nur Salz kaufen.

Sie war sicher, dass Studer hinter dem Gerede stand. Nur er brachte es fertig, das ganze Dorf gegen jemanden aufzuhetzen. So war es schon immer gewesen. Alle im Dorf wussten von der unbezahlten Scheune und doch wollte sich niemand für ihre Familie einsetzen. Denn wenn einer immer wieder behauptet, er habe recht, und niemand widerspricht, dann ist plötzlich nicht mehr klar, ob eine Schuld nicht doch verjährt. Natürlich hatte Res auch Fehler gemacht. Wer wartet schon so lange, bis er seine Arbeit in Rechnung stellt. Aber trotzdem. Die Leute machten lieber Witze über den Buhme, weil der so ein Gnusch habe. Dass er die Margret vom oberen Stöckli absichtlich nie für ihr neues Vordach bezahlen liess, fiel niemandem ein.

Trudi schien alles so verkehrt und ungerecht. Dazu kam, dass Studer problemlos hätte zahlen können. Denn die Scheune hatte ihm Glück gebracht, alles wollte ihm gelingen. Ein Kuhkalb nach dem anderen kam auf die Welt und auch auf dem Feld gedieh alles, sogar der Hagel hatte ihn seither verschont. Das gibt es doch nicht, dass einer sieben Jahre lange keinen Hagel erwischt, hatte Res noch vor Kurzem zu ihr gesagt.

Umgekehrt war ihnen das Schicksal nicht wohlgesinnt. Res hatte in letzter Zeit zu wenige Aufträge erhalten. Ausserdem hatte es im letzten Wintersturm einen guten Apfelbaum umgeblasen und vor zwei Monaten war ihre zweite Ziege gestorben. Alles war knapp. Eigentlich wusste Trudi gar nicht, ob es eine gute Idee war, mit dem wenigen Geld, das blieb, Salz zu kaufen, und ob Änneli vom Laden sie überhaupt noch bedienen würde.

Trotzdem zog sie kurz darauf die Ladenglocke. Sie hörte Schritte, ein Rascheln. Dann ging die Tür auf. Überrascht schaute Änneli sie an. Was willst du, flüsterte sie. Ich brauche Salz, sagte Trudi leise und beugte sich unwillkürlich vor.

Vor ihrer Nase ging die Tür leise wieder zu. Trudi zog es das Herz zusammen. Nicht einmal Änneli konnte ihr mehr in die Augen schauen oder sie hereinbitten. Dabei hatte sie doch grad das Änneli immer gerngehabt, obwohl sie sich nicht mehr oft sahen, seit sie beide eine Familie und einen eigenen Haushalt hatten.

Ich bin doch hier daheim, wollte sie protestieren. Was ist nur in euch gefahren?

Da ging die Tür wieder auf, einen Spaltbreit nur, und Änneli reichte ihr ein Säckchen Salz. Ist gut so, sagte sie leise. Brauchst mir nichts dafür zu zahlen. Und bevor Trudi etwas erwidern konnte, wurde die Tür wieder ins Schloss gedrückt.

Tieftraurig machte sich Trudi auf den Heimweg, das warme Wolltuch eng um die Schultern gezogen. Tränen rannen ihr übers Gesicht. Dann fing es fein zu schneien an.

Schopf

Als ihr letzter Sack Kartoffeln nur noch halb voll war, beschloss Trudi zu handeln. Sie konnte nicht länger auf Res warten.

Ein paarmal hatte sie ihm gesagt, dass er bei Grossenbachers wegen des geplanten Schopfs nachfragen sollte. Otti und Bethli waren immer gut zu ihnen gewesen. Trudi war sozusagen bei ihnen aufgewachsen, nachdem die Mutter gestorben war. Sie hatte ihm auch gesagt, dass die Kartoffeln fast aufgebraucht waren. Sie hatte ihm gesagt, dass sie kein Geld mehr hatten. Aber viel mehr als ein Kopfschütteln war nicht aus ihm herauszubringen. Auch Vorwürfe, Umarmungen und ein Besuch vom Pfarrer hatten nichts gebracht. Nicht einmal die Zeit hatte bis jetzt geholfen. Res war einfach nicht mehr der Alte.

Er sah kaum mehr, was um ihn geschah, und schon gar nicht, was gemacht werden musste. Alle Arbeit blieb an Trudi hängen. Der Haushalt, die Hühner, die Kinder, sogar das Holz musste sie manchmal selber holen. Die Kinder halfen ihr oft, besonders Godi. Doch Sämi und Urseli waren für vieles noch zu klein. Nun wusste sie keinen anderen Ausweg mehr, als selber bei Grossenbachers nachzufragen.

Behtli begrüsste sie so herzlich, dass Trudi einen Moment lang getröstet war. Aber als sie fragte, wie es mit dem neuen Schopf aussehe, schüttelte Behtli nur hilflos den Kopf. Es war ihr niene rächt. Der alte Schopf stehe ja noch. Otti habe die morschen Pfosten verstärkt.

Es hätte viele Gründe gegeben, den Schopf trotzdem neu zu bauen, bevor er im ungünstigsten Moment einstürzte oder ein Wintersturm ihn mit sich riss. Aber Trudi sagte nichts. Zu lieb war ihr Bethli und noch war sie nicht bereit, vor lauter Verzweiflung die Gebote der Höflichkeit zu verletzen. Niedergeschlagen stand sie wenig später in der Küche und überlegte, wie viele Kartoffeln sie in die Suppe geben sollte. Was soll nur aus uns werden, sagte sie leise, ohne zu merken, dass Sämi in der Tür stand und mithörte.

Kartoffeln

Noch am gleichen Abend ertappte Bethli Sämi in ihrem Keller mit einem vollen Korb Kartoffeln. So geht das nicht, sagte sie zu ihm und gab ihm den leeren Korb zurück. Ich bringe euch morgen einen Sack voll und du brauchst der Mutter nichts zu sagen. Das bleibt unter uns.

Es war ein klares Zeichen. Bethli zog es das Herz zusammen.

Denkst du nicht, der Buhme hat genug gelitten, fragte sie beim Znacht Otti. Wir wissen ja gar nicht, was genau passiert ist und es ist unwahrscheinlich, dass unser Schopf einen Wintersturm übersteht.

Aber Otti wollte nichts davon hören. Ich weiss nicht, ob ich dem noch traue, sagte er. Und er ist so komisch geworden, sagt nichts und macht ein Gesicht.

Als Bethli am nächsten Tag mit den Kartoffeln vor der Tür stand, fehlten Trudi die Worte. Zusammen hoben sie den schweren Sack von der Karre und lehnten ihn an die Hauswand. Es waren gute Kartoffeln. Und doch würden sie nicht reichen, das war Bethli schmerzlich klar. Fest drückte sie Trudi an sich.

Feuer

Mitten in der Nacht wachten sie auf. Bevor Trudi richtig begriff, was los war, sprang Res aus dem Bett. Im Nachthemd sprang er die Treppe hinunter und im nächsten Augenblick ging die Haustür. Trudi packte ihren Schal und rannte hinterher.

Es war die Werkstatt! Die Werkstatt brannte. Im hinteren Teil war das Feuer bereits bis ins Dach gestiegen. Mit versengten Haaren kam Res zur Werkstatttür herausgerannt, die Arme voller Werkzeuge. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Halb blind lief er auf Trudi zu. Sie fing ihn in ihren Armen auf und drückte ihn fest an sich. Lautlos schluchzte er an ihrer Schulter und klammerte sich an die Werkzeuge, die er hatte retten können. Viele waren es nicht.

Menschen sind schon früher weggezogen,

ins Nachbardorf, in die nächste Stadt,

in ein fremdes Land,

wenn sie zu wenig zu essen hatten

oder um ihr Leben bangten.

1 AM FENSTER

Das Fenster liess sich öffnen! Trudi zog zuerst den einen, dann den anderen Fensterflügel auf. Wunderbar frische Luft strömte ihr entgegen. Es war ein strahlender Morgen, wolkenlos der Himmel. Sie nahm einen tiefen Atemzug und genoss die Sonne, die ihr direkt ins Gesicht schien. Seit zwei Wochen wohnten sie nun in der Gesindewohnung über der Werkstatt des Küfers. Schäbig, muffig und dunkel waren ihre zwei Stuben. Das Fenster war klein, noch kleiner die einzelnen Scheiben. Aber das war ihr egal. Ihr Küchenfenster hatte Morgensonne!

Sie liess den Blick über die Apfelbäume auf der Wiese hinter dem Haus gleiten. Noch waren sie kahl, das Gras darunter kurz und winterig dunkelgrün. Dahinter sah sie die Gärten und verwinkelte Rückseiten der Häuser der nächsten Strasse. Sie wirkten wackelig und alt, wie die offene Treppe und die Laube, die zu ihrer Wohnung im ersten Stock führten. Wer dort wohnte, wusste Trudi nicht. Aber vielleicht kamen die Leute mit dem wärmeren Wetter vermehrt aus ihren Häusern. Vielleicht würde jetzt alles anders. Für einen Moment schloss sie die Augen. Ob in der Stadt so der Frühling roch?

Der Winter steckte der Familie tief in den Knochen. Er hatte sie fast ums Leben und um den Verstand gebracht. Drei endlose Monate lang war das Armenhaus am Stadtrand ihr Dach über dem Kopf gewesen. Sie hatten gefroren und gehungert. Verzweifelt war Trudi morgens aufgewacht, verzweifelt war sie wieder eingeschlafen und nachts hatte sie der Husten wach gehalten, hatte sie durchgeschüttelt. Ein grauer Tag war dem nächsten gefolgt, ein Tag dumpfer als der andere.

Damit war es jetzt vorbei. Am liebsten hätte sie das Fenster sperrangelweit offengelassen, aber es war unvernünftig, denn die Luft war trotz der Sonne kalt. Die Nacht war klar gewesen. Sämi lag immer noch bleich im Bett in der Schlafstube nebenan, und sie hatte kein einziges Scheit, um im Ofen Feuer zu machen.

Aber bald würden Godi und Urseli Holz bringen. Sie hatte ihnen eingeschärft, dass es mindestens reichen müsse, um die Kartoffeln weich zu kochen. Dabei wäre sie am liebsten mitgegangen, denn nach dem starken Wind vom Vorabend musste im Wald viel Kleinholz liegen. Sie stellte sich vor, wie gut es sich anfühlen würde, Äste zusammenzutragen und möglichst dicht auf den Leiterwagen zu stapeln.

Zu Hause geblieben war sie wegen Sämi. Er hatte in der Früh so stark gehustet, dass sie ihn nicht allein lassen wollte. Lange war sie bei ihm am Bett gesessen, obwohl sie nicht mehr als tröstende Worte für ihn hatte. Wie gern hätte sie ihm einen süssen Tee oder einen Löffel Holundersaft gegeben. Seit er wieder eingeschlafen war, stand sie untätig in der Küche. Wo nur die Kinder blieben?

Wenn wenigstens der Küfer unten in der Werkstatt anfeuern würde, dachte sie, dann wäre es auch bei ihnen etwas wärmer. Aber im unteren Stock blieb es still und allmählich verlor sie die Hoffnung. Wenn er bis um diese Zeit nicht auftauchte, kam er meist gar nicht mehr. So rechtschaffen wie das Haus auf den ersten Blick aussah, war es beileibe nicht. Und hinten, wo sie wohnten, noch weniger. Trotzdem war es ihr ganz recht, hinter dem Haus zu wohnen. Hier liess sich die Angst, dass der schreckliche Mordverdacht gegen Res sie einholen könnte, leichter im Zaum halten.

2 ÜBER DEN MARKTPLATZ

Langsam bahnte sich Res mit Lüthis Fuhrwerk einen Weg zwischen den Ständen des Wochenmarkts. Das Ross führte er ruhig neben sich. Es war kurz vor halb zwölf und die ersten Marktfahrer waren schon am Zusammenpacken. Trotzdem war noch viel Volk auf dem Platz, die Stimmung war aufgeräumt und fast fröhlich. Dort, wo die Sonne über die Dächer der hohen Häuser bis hinunter auf den Platz schien, standen ein paar Leute und redeten. Andere eilten zwischen den Ständen, um letzte Besorgungen zu machen.

Res hielt den Blick gesenkt. Kennen tat er ja sowieso keinen, niemand würde ihn grüssen und schliesslich bestand am Markttag auch immer die Gefahr, dass jemand vom Dorf auftauchte oder der Landjäger mit suchendem Auge durch die Menge ging. Die Angst vor Studer hockte Res dauernd im Nacken, lastete schwer wie der Hochnebel im November, obwohl heute der Frühling in der Luft lag.

Eigentlich war es eine abgemachte Sache, dass er am Markttag der schwangeren Frau Lüthi vom Nachbarshof beim Auf- und Abladen half. Schon seit vier Wochen, weil sie immer wieder wilde Wehen hatte und sich schonen sollte. Sie war freundlich und grosszügig. Man merkte, dass sie gern auf den Markt ging und anpackte. Zuversichtlich trug sie auch den grösser werdenden Bauch. Es war ihre erste Schwangerschaft.

Als Res heute in der Früh zum Aufladen gekommen war, hatte er stattdessen ihren Mann getroffen. Die Frau müsse liegen, hatte er schlecht gelaunt gesagt und ihn kritisch gemustert. Er habe gewiss Gescheiteres zu tun, als Gemüse zu verkaufen. Nur der Frau zuliebe sei er hier und weil noch so viel Ware im Keller eingelagert sei.

Einen Augenblick lang hatte Res befürchtet, dass ihn der kräftige junge Mann wegschicken würde, aber seine Frau hatte ihm offensichtlich erklärt, wie viel einfacher es zu zweit ging, und der Knecht war nirgends zu sehen.

Geredet hatten sie nur das Nötigste. Möglichst unauffällig war Res Lüthi zur Hand gegangen und hatte danach Wagen und Pferd zurück zum Hof gebracht.

Frau Lüthi war froh gewesen um die Hilfe von Res. Das hatte sie auch immer wieder gesagt und ihm am Mittag jeweils die schrumpligsten Rüebli und Kartoffeln, ein paar Äpfel und einen Batzen in die Hand gedrückt. Zu gern hätte Res gewusst, ob ihn ihr Mann auch so grosszügig entlohnen würde. Denn der Verdienst am Markt war wie ein Geschenk, viel leichter erarbeitet als ein Taglöhnerverdienst. Und die Buhmes brauchten diesen Zustupf, auch wenn der Lüthi Hannes vielleicht keine Hilfe brauchte.

Immerhin hatte Lüthi nicht widersprochen, als Res gesagt hatte, er bringe um halb zwölf den Wagen wieder. Er war froh drum. Denn jetzt im Frühling knurrte manchen der Magen und er war sicher nicht der Einzige am Marktplatz, der auf verbilligte Ware oder eine milde Gabe hoffte. Nie waren Marktfahrer, die gute Geschäfte gemacht hatten, so grosszügig wie mittags, wenn sie möglichst schnell nach Hause wollten. Res hoffte, dass Lüthi da keine Ausnahme darstellte.

3 WARTEN AUF RES

Langsam verschwand die Sonne hinter der Hausecke. In der Küche wurde es merklich dunkler und es tschuderete Trudi. Sie legte die Hand auf den kalten Ofen. Er war noch kälter, als sie erwartet hatte. Ihre einzige Pfanne stand leer auf dem Tisch. Daneben die zwei wackligen Schemelbänke, die Res ein Graus waren, sie wusste es. Aber er hatte kein Werkzeug mehr, um sie zu richten.

Bald würde er nach Hause kommen und hoffentlich etwas fürs Zmittag bringen. Seit einem Monat war der Dienstag der beste Tag der Woche. Im Vorbeigehen hatte Trudi damals bemerkt, dass der schwangeren Bäuerin das Laden des Marktwagens schwerfiel. Da hatte sie ihren ganzen Mut zusammengenommen und gefragt, ob sie Hilfe brauche. Ohne lang zu überlegen, hatte diese zugesagt, und Trudi hatte Hoffnung geschöpft. Endlich hatte Res einen regelmässigen Verdienst. Sie waren so froh drum, auch wenn er klein war. Denn zu verkaufen hatten sie jetzt wirklich nichts mehr ausser dem Leiterwagen.

Als Taglöhner wurde Res nur selten angestellt. Manchmal, zwischendurch, dachte der Almosner oder jemand vom Armenverein an ihn. Aber es gab nie viel Arbeit und noch weniger, seit sie aus dem Armenhaus ausgezogen waren. Es dünkte sie, es müsste mehr sein. Wenn sie nur wüsste, wo finden und wen fragen. Wenn es Res nur besser ginge. Bleich und kraftlos wirkte er, und es war nicht nur der Husten, das war ihr klar, obwohl er ihm die Schuld für seine Schwäche und Schlaflosigkeit gab. Immer wieder betete sie darum, dass er gesunden möge, und versuchte ihm so viel wie möglich abzunehmen. Aber manchmal hätte sie ihn auch am liebsten geschüttelt. Es ist Frühling! Schau doch!

Jetzt wartete sie unruhig auf seine Rückkehr. Ob der Bauer so grosszügig wie seine Frau sein würde? Auch hatte ihr Res nicht gefallen wollen. Den ganzen Morgen lang war er matt am Tisch gesessen, erschöpft wie nach einem langen Arbeitstag. Dabei hatte er doch einfach einen Marktstand aufgestellt.

Wenn Godi nur ein oder zwei Jahre älter wäre, dachte sie oft, er würde die Arbeit für Frau Lüthi mit Leichtigkeit machen. Denn er war geschickt, und oft brachte er schon jetzt etwas zu essen für die Familie oder hatte einen vollen Bauch, weil er irgendwo geholfen hatte.

4 FREMDE GÄRTEN

Trudi beschloss, vorne auf der Strasse Ausschau nach Res und den Kindern zu halten. Dann konnte sie helfen, Gemüse und Äste hinaufzutragen. Mit einem kurzen Blick in die Schlafstube vergewisserte sie sich, dass Sämi immer noch schlief und zog die Tür leise wieder zu. Sie würde ja nicht lange weg sein.

Neidisch schaute sie von der Laube auf den pützerleten Garten des grossen Bauernhauses nebenan. Alles war gleichmässig zurückgeschnitten und die Beete sorgfältig abgeräumt. Sie dachte an Frau Lüthi, die jetzt liegen musste. Ob die Magd am Nachmittag mit der Arbeit anfangen würde? Denn es war endlich Gartenwetter. Erbsen, Kefen und Rüebli, man konnte sie fast nicht zu früh sähen, und dann das Beet mit Laub locker abdecken. Zwiebeln würde sie beidseitig der Rüeblizeilen stecken. Sie sah ihren Pflanzblätz von früher vor dem inneren Auge, wusste genau, wo was wachsen sollte. Der Jahreslauf und die Fruchtfolgen in ihrem Kopf. Wie hätte sie auch ahnen können, dass sie nicht mehr dort sein würden?

Die Kirchenglocke schlug Viertel vor zwölf. Erschrocken schob sie die Erinnerungen beiseite und ging die Treppe hinunter. Grübeln brachte nichts. Sie konnte nichts tun. Sie konnte nur hoffen, dass sie durch eine unerwartete Fügung zu einem Stück Land kam. Denn ohne Gemüsegarten war kein Auskommen. Alle hatten einen Gemüsegarten. Das war in der Stadt sicher nicht anders.

Hinter dem Haus ging sie schnell an den Obstbäumen vorbei und dann um die Hausecke, wo sonnseitig der verwilderte Garten des Küfers lag. Dort blieb ihr Blick wie immer hängen. Das Unkraut vom letzten Jahr stand braun und kniehoch im umzäunten Viereck. Grün wuchs schon das neue hinterher. Noch im letzten Sommer hatte offensichtlich jemand den Garten bestellt, denn die Blüten der Pfingstrose waren abgeschnitten. Aber die Herbstarbeiten hatte niemand mehr ausgeführt, da war sie sich sicher. Verloren standen halb verrottete Stängel von aufgeschossenen Kohlpflanzen in einem Beet.

Heute juckte es sie noch mehr als sonst, das Gartentor aufzumachen und anzupacken.