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In der Elbe wird eine Wasserleiche entdeckt. Schnell ist klar, dass es sich um Mord handelt. Kommissar Horst Bach und sein Team von der Kripo Hamburg haben alle Hände voll zu tun, das Opfer zu identifizieren. Zum Glück erhalten sie Unterstützung durch die clevere Profilerin Hanna Krug, die neuen Schwung in die Ermittlungen bringt. Die ersten Spuren führen ins Hamburger Nobelhotel "La Grande Maison", wo sich gleich mehrere Verdächtige tummeln. Doch wer lügt und wer sagt die Wahrheit? Und welche Rolle spielt die Privatklinik, in der sich der Tote vor Kurzem behandeln ließ? Horst Bach und Hanna Krug müssen in alle Richtungen ermitteln, denn bald steht fest: Das Opfer war ein vermögender Antiquitätenhändler, der sich durch sein unerfreuliches Auftreten nicht gerade viele Freunde gemacht hatte ... "Überall nur Strolche!" ist ein Kriminalroman der anderen Art, humorvoll erzählt und gespickt mit augenzwinkernden Verweisen auf Literatur, Kunst und Geschichte.
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Seitenzahl: 264
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Die Leiche
Idylle
Der Spaziergänger
Hanna Krug
»Chez Marius«
Das Treppenviertel
Chopard
»La Grande Maison«
»Acidum Formicicum«
»Ein buntes Völkchen!«
Urlaubsoase
Vorhang auf!
Pirarucu
Gross-Borstel
Fragen über Fragen
Prag
Heuchelei
Mausefalle
Ich schwöre!
Schlüsselerlebnis
Die grosse Stille
Der Vertrag
Ein Traum wird wahr!
Macht und Gier
Doppelt genäht hält besser!
Schlechte Tarnung
Das Päckchen
Die Apotheke
Zug um Zug
Schachmatt!
Danksagung
Über die Autorin
»Männliche Leiche in Elbe gefunden!« »Zum Tathergang kann die Kripo Hamburg noch keine konkreten Angaben machen. Die Ermittlungen laufen jetzt erst an.«[Hamburger Allgemeine Zeitung – Sonntagsausgabe 19. Mai 2019]
Am 19. Mai gegen 01:00 Uhr nachts entdeckte ein Spaziergänger eine Leiche in der Elbe. Sie trieb im Wasser in Höhe der Ortschaft Bleckede, etwa 70 km Fluglinie von Hamburg entfernt. Er wählte sofort die 110. Nach kurzer Zeit trafen die örtlichen Polizeibeamten am Fundort ein. Sie protokollierten das Ereignis und verständigten die Staatsanwaltschaft, da nicht klar war, ob es sich um Selbstmord oder um Mord handelte. Inzwischen gehen die Ermittler jedoch von Mord aus.
Da die Polizeidienststellen von Bleckede und Lüneburg nicht über die erforderlichen Spezialkräfte verfügen, um den Fall zu lösen, wurde landübergreifend das Landeskriminalamt Hamburg eingeschaltet. Es ist auf deliktorientierte Ermittlungen spezialisiert und kann auf alle notwendigen Kriminaltechniken zurückgreifen. Das LKA hat seinen Sitz am Bruno-Georges-Platz 1, in der Nähe von Stadtpark und Elbe.
»Männer«, sagt Hauptkommissar Bach mit todernster Miene, »im Moment wissen wir so gut wie nichts. Trotzdem belagern uns die üblichen Sensationsjournalisten, die auf Stellungnahmen ganz wild sind. Dafür ist einzig und allein unsere Pressestelle zuständig, Also bitte ich euch um absolute Verschwiegenheit.
Jetzt aber zur Sache. Momentan ist nur Folgendes klar: Weder in Bleckede noch bei uns ist eine Vermisstenanzeige eingegangen. Das Opfer konnte noch nicht identifiziert werden, die Abnahme von Fingerabdrücken ist nicht möglich. Reifenspuren oder andere Indizien wurden am Fundort bisher leider nicht entdeckt.«
Norbert Gruber, der Gerichtsmediziner, könnte sicher mehr dazu sagen, aber wie üblich schweigt er. Bach kennt ihn und seine Marotten schon lange.
»Na, Norbert, hast du auch etwas beizusteuern? Du hast die Leiche gesehen, oder nicht? Die Fingerkuppen waren komplett von Säure zerfressen. Unter anderem deshalb gehen wir von Mord aus. Jemand, der seinem Leben ein Ende machen will, dippt seine Finger nicht vorher in ein Säurebad! – Sorry, ich möchte nicht zynisch sein, aber das wäre doch hirnrissig!«
»Verätzte Fingerkuppen? Wer tut denn so etwas?«, wirft Kommissar Gerd Sommer ein. »Es kann doch nur ein Psychopath oder ein Sadist sein. Auf jeden Fall hat der Täter ganze Arbeit geleistet.«
Bach kann auf solche Kommentare im Moment gut verzichten. Er wirkt genervt und schaut ungeduldig in Richtung Norbert. Endlich rückt sein Kollege mit der Sprache raus:
»Ich kann mit Sicherheit sagen, dass es auf keinen Fall Selbstmord war. Aber eine Sache muss ich korrigieren: Nicht alle Finger des Opfers sind von Säure zerfressen.
In der Eile übersah der Täter wohl den linken Daumen. Ach ja, noch etwas: Am linken Handgelenk ist die Haut leicht eingedrückt. Daher vermute ich, dass das Opfer eine Armbanduhr getragen hat. Ansonsten konnte ich auf die Schnelle keine Spuren von Gewalt oder irgendwelche äußeren Verletzungen feststellen. Das werde ich noch genauer untersuchen. Papiere habe ich auch keine gefunden.
Zur Personenbeschreibung kann ich Folgendes sagen: Das Opfer ist 1,75 cm groß, männlich und etwa 50 Jahre alt. Zierlicher Körperbau, mitteleuropäische Erscheinung, braunes, kurzes Haar, blaue Augen, Zähne intakt. Die Kleidung wurde zwar sehr in Mitleidenschaft gezogen, aber die ursprünglich hohe Qualität lässt sich durchaus noch erkennen.«
»Ja, ja, ja«, sagt Hauptkommissar Bach, jetzt noch gereizter als vorher. »Zuerst sagst du nichts und dann redest du ohne Punkt und Komma.«
Ein wenig beleidigt erwidert Gruber: »Also sag mal, was fällt dir ein? Ich denke, du brennst darauf, sachdienliche Hinweise zu hören.«
Dem Hauptkommissar wird bewusst, dass er wohl zu weit gegangen ist. Er hätte sich nicht so impulsiv verhalten müssen.
»Entschuldige bitte, Norbert, das war nicht so gemeint. Du weißt ja, dass ich normalerweise nicht so emotional reagiere. Deine Erkenntnisse sind für uns selbstverständlich mehr als wichtig!«
»Ach, was du nicht sagst!«, erwidert Norbert ein wenig beleidigt. Er steht auf und geht zur Tür.
Nach einer kurzen Pause besinnt er sich, dreht sich um und fügt hinzu:
»Also, wenn ich den Mund noch mal kurz aufmachen dürfte … Nach dem äußerlichen Zustand der Leiche zu urteilen, lag sie maximal 24 Stunden im Wasser. Den Todeszeitpunkt würde ich auf gestern, den 18. Mai, gegen 01:00 oder 02:00 Uhr nachts schätzen. Die Leiche werde ich so schnell wie möglich in der Gerichtsmedizin obduzieren. Dazu brauche ich allerdings ein paar Stunden. Also setzt mich bitte nicht unter Druck. Sobald mein Bericht fertig ist, hört ihr von mir.«
Norbert Gruber verschwindet im Eiltempo durch die Glastür.
»Hört mal alle zu«, sagt Bach. »Von der Leiche haben wir immerhin ein Foto. Das ist wenigstens ein Anfang. Vervielfältigungen liegen auf meinem Schreibtisch. Ihr könnt euch später bedienen. Fangt mit Bleckede an. Vielleicht hat ein Anwohner diesen Mann schon mal gesehen oder in der Nacht vom 17. auf den 18. Mai etwas beobachtet.
Dann haben wir noch die Sache mit der Säure. Wer kann sich so etwas beschaffen? Ärzte, Apotheker, Krankenhauspersonal, Angestellte aus der Chemie-Branche oder auch dubiose Typen aus dem Rotlichtmilieu, die bekanntlich mit Mafia-Methoden arbeiten und tausend Kontakte in der kriminellen Szene haben … Aber vielleicht hat jemand noch eine andere Idee?«
Niemand meldet sich. Bach ergreift sofort wieder das Wort. Er wirkt sehr entschlossen und resolut. Im Nullkommanichts verteilt er die Aufgaben.
»Leute, klappert in Bleckede alles ab und zeigt überall dieses Foto.
Jimmy und Charly, ihr nehmt euch das Hamburger Rotlichtmilieu vor.
Du, Alex, gehst mit Boris nach St. Pauli, zur Landungsbrücke und zum Fischmarkt. Befragt einfach jeden. Irgendjemand muss diesen Mann doch kennen!
Martin und Lukas, ihr konzentriert euch auf Kliniken. Sprecht mit den Angestellten und findet heraus, wer Zugang zu solchen Chemikalien hat.
Wolfgang, Detlef, Chris und Tobias, ihr stattet Pharmaunternehmen und Apotheken einen Besuch ab …«
Wutentbrannt protestiert ein Kollege: »Ja, was denn noch? Wie sollen wir das alles schaffen? Der Tag hat nur 24 Stunden. Wir haben auch ein Privatleben! Sollen wir jetzt rund um die Uhr auf Trab sein? Wir schieben jetzt schon Überstunden bis zum »Geht-nicht-mehr!«
Empört über diesen Einspruch erwidert Bach schonungslos: »So ist es nun mal, mein Lieber, jetzt wirst du eben noch mehr Überstunden schieben – das gilt für alle anderen übrigens auch. Ich bitte nicht um einen Gefallen, es ist eine Anweisung! Hier gibt es nichts zu verhandeln. Wir müssen allen Spuren nachgehen.«
Die Mannschaft schaut missmutig, aber sie schweigt. Im Raum ist es mucksmäuschenstill. Nach und nach nehmen sich die Kriminalbeamten ein Foto und machen sich prompt auf den Weg. Sie dürfen jetzt keine Zeit verplempern.
In Bleckede laufen die ersten Ermittlungen an. Parallel zur Befragung der Anwohner durchkämmen Suchtrupps und eine Hundestaffel die Gegend in einem Radius von 10 km. Trotz intensiven Einsatzes findet die Polizei keine brauchbaren Hinweise.
Am späten Nachmittag ist der Kommissar mehr als frustriert. Die Enttäuschung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Aber was hat er erwartet, innerhalb so kurzer Zeit?
Am 20. Mai um 12:00 Uhr versammeln sich die Kollegen erneut zu einer internen Besprechung. Dr. Gruber hat ein paar aufschlussreiche gerichtsmedizinische Ergebnisse im Gepäck und legt sofort los.
»Leute, ich habe die Leiche gründlich untersucht und eins ist jetzt absolut sicher: Ertrunken ist der Mann definitiv nicht, er hat kein Wasser in der Lunge. Wie wir vermutet haben, war er schon tot, als er in die Elbe geworfen wurde. Den Mageninhalt habe ich auch analysiert. Er ist hoch interessant! Das Opfer muss am Abend des 17. Mai in einem Gourmetrestaurant gespeist haben. Ich habe Spuren von Austern und Täubchen an Morcheln mit Madeira-Sauce gefunden. Ein Rest-Aroma von ›Château Margaux‹ ist mir auch in die Nase gestiegen.«
Nach Grubers ausführlichem Bericht über das verspeiste Menü sind manche Kollegen schon ganz grün im Gesicht. Bach hingegen ist über diese Erkenntnis hoch erfreut.
»Es ist wirklich eine gute Nachricht«, sagt er erleichtert. »Besser ein Gourmetrestaurant als eine Pommesbude. In einem Nobellokal muss man auf jeden Fall vorher reservieren und seinen Namen hinterlassen. Vielleicht kann sich ein Chef de Rang an das Opfer erinnern und uns sogar sagen, wie der Mann heißt.
Ach, bevor ich es vergesse: Ich will euch noch über eine Personalentscheidung in Kenntnis setzen. In Absprache mit der Behörde für Inneres ist beschlossen worden, eine Profilerin in unsere Mannschaft zu holen. Sie hat Kriminalistik, Soziologie und Psychologie studiert. Mit operativen Fallanalysen ist sie seit Jahren vertraut und kann uns bei unserer Arbeit mit Sicherheit sehr effektiv unterstützen.«
Alle Kollegen schauen sich skeptisch an und machen ein mürrisches Gesicht. Einige von ihnen raunen und flüstern:
»Oh nein …«
»Das hat uns gerade noch gefehlt …«
»Eine Frau …«
»Schluss mit dem Getuschel«, sagt Bach. »Sie ist clever, absolut teamfähig und sehr kommunikativ. Wir brauchen unbedingt jemanden mit einem anderen Blickwinkel.
Ach ja, ihr Name ist Krug, Hanna Krug!«
In dem malerischen Städtchen Bleckede, zu beiden Seiten der Elbe gelegen, versperren weder Stadtmauer noch Bollwerke oder Hügel die Sicht auf den Fluss und die umliegende Landschaft. Am Hafen spielt das Wasser mit den weißen Rümpfen der Sportboote wie mit den schwarzen Tasten eines Klaviers und erzeugt ein melodisches Geplätscher. Weiter oben liegen Ausflugdampfer bereit für eine geruhsame und beschauliche Erkundungsfahrt.
Von ihrem Ursprung in Tschechien bis zu dieser Stelle hat die Elbe schon an die 1.000 km zurückgelegt. Sie bahnte sich ihren Weg durch das Böhmische Mittelgebirge und später spiegelten sich auf ihrer Wasseroberfläche die Silhouetten von Dresden, Wittenberg und Magdeburg. Jetzt, ab Bleckede, muss das Elbwasser gerade noch 70 km überwinden, bis es sich endlich in die Weite der Nordsee ergießt.
Die reizvolle Ortschaft Bleckede bietet viele Ausflugsziele für Radler, Wanderer und Touristen, die eine unberührte Natur an der deutschen Storchenstraße genießen möchten. Eine Autofähre pendelt über den Fluss und verbindet die Gemeinde seit der Öffnung der innerdeutschen Grenze 1989 mit Neu Bleckede in Mecklenburg-Vorpommern.
Hier kann man entspannen, weg vom Trubel und Lärm der Großstadt Hamburg. Eine wahre Idylle! Oder trügt vielleicht der Schein? Bietet die Beschaulichkeit dieser Ortschaft nicht gerade die perfekte Umgebung für kriminelle Handlungen?
Ja, der Schein trügt in der Tat! Ausgerechnet hier entdeckte ein Spaziergänger eine Leiche. Die Anwohner sind fassungslos und können es nicht begreifen: Ein solches Ereignis direkt vor der eigenen Haustür! Der entsetzliche Vorfall spricht sich schnell herum und verbreitet sich in Windeseile. Man trifft sich am Fluss, man tuschelt und stellt die wildesten Spekulationen an.
Fast surrealistisch mutet die Szenerie am Ufer an. Der Anblick hätte den Künstler Jörg Immendorff, ein Kind dieser Stadt, bestimmt zu einem sehr expressiven und plakativen Werk inspiriert. Er hätte das Durcheinander von Polizeikräften, Journalisten, Fotografen und Schaulustigen gekonnt in einem Gemälde festgehalten. Natürlich hätte er auch die Kriminaltechniker einbezogen, die in ihren Schutzanzügen die Tragweite des Geschehens plastisch vor Augen führen.
Was für ein prächtiges Bühnenbild!
20. Mai 2019, 16:00 Uhr: Dienststelle Kripo Hamburg.
Der Spaziergänger, der die Leiche fand und die Polizei verständigte, sitzt nun im Büro von Hauptkommissar Bach. Die Beamten in Bleckede hatten seine Personalien direkt vor Ort aufgenommen. Zum Zwecke einer späteren DNA-Analyse entnahm die Spurensicherung auch gleich eine Speichelprobe. Um die Akte zu vervollständigen, nimmt ihm jetzt ein Polizeitechniker die Fingerabdrücke ab. Danach beginnt Hauptkommissar Bach mit der Befragung.
»Laut Protokoll heißen Sie Rudi Fellner, geboren in Hamburg am 12.3.1969, wohnhaft am Holzdamm 22. Ist das korrekt?«
»Ja, es stimmt«, antwortet Fellner.
»Eine gute Adresse, das muss ich schon sagen«, merkt Bach an. »Sie schauen praktisch direkt auf die Außenalster!«
»Richtig, eine sehr schöne Gegend«, stimmt Fellner zu. »Die Wohnung habe ich mir aber nicht selbst gekauft. Meine Eltern haben sie mir vererbt«, fügt er sofort hinzu. Der Kommissar sollte nicht meinen, er könne sich ohne Weiteres ein solch teures Pflaster leisten.
»Und von Beruf sind Sie Restaurator von antiken Möbeln. Ist das auch korrekt?«
»Ja«, antwortet Fellner. »Diesen Beruf übe ich schon seit Jahren aus.«
»Sagen Sie mal«, fährt Bach fort, »es ist lobenswert, dass Sie die Polizei sofort angerufen haben, aber was haben Sie in Bleckede um diese Uhrzeit gemacht? Sie werden zugeben, dass es für einen Spaziergang reichlich spät ist!«
»Sie haben vollkommen recht, Herr Kommissar«, sagt Fellner ein wenig verunsichert, »aber ich liebe die Einsamkeit. Auch wenn es für einen Außenstehenden schwer nachzuvollziehen ist, brauche ich die Stille wie den Atem zum Leben. Zu so später Stunde sind kaum Menschen anzutreffen. Tagsüber sind bei dem schönen Wetter meistens viele Touristen und Radfahrer unterwegs. Deswegen bevorzuge ich grundsätzlich die Abendstunden oder sogar die Nacht für eine Wanderung.«
Bach ist von der Schilderung nicht ganz überzeugt. Ihm erscheint das Ganze doch sehr merkwürdig! »Was für ein komischer Vogel?«, denkt er bei sich.
»Sie sind ja eine echte Nachteule!«, stellt er schmunzelnd fest. »Wann fangen Sie denn mit Ihrer Arbeit an?«
»Diese Frage ist schwer zu beantworten, denn ich habe keine festen Arbeitszeiten. Ich bin selbständig und kann mir meine Zeit einteilen. Die Hauptsache ist, dass ich die Aufträge termingerecht erledige«, antwortet Fellner.
»Ja, das sehe ich ein. Arbeiten Sie denn auch im gleichen Haus, in dem Sie wohnen?«, fragt Bach.
Fellner nickt. »Mittlerweile habe ich dort genug Platz. Vor zwei Jahren wurde die Wohnung im Erdgeschoss frei. Diese Chance habe ich mir nicht entgehen lassen und die Räumlichkeiten sofort übernommen. Den Kauf konnte ich über die Bank problemlos finanzieren. Wohnen und arbeiten unter dem gleichen Dach – das war schon immer mein Traum. Jetzt kann ich, wann ich will, in mein Atelier gehen und die antiken Möbelstücke genau unter die Lupe nehmen. Wissen Sie, Herr Kommissar, ich verbringe viele Stunden vollkommen vertieft in meine Arbeit. Meist halte ich Ausschau nach Holzwürmern, die sich auf tückische Art und Weise in die edelsten Holzarten hineinbohren.«
Bach möchte am liebsten eine Zwischenfrage stellen, aber bei so viel Redseligkeit von Fellner ist in diesem Augenblick nicht im Traum daran zu denken.
»Ab und zu brauche ich aber frische Luft und Bewegung. In der Nacht, als ich die Leiche fand, hatte ich bis spätabends gearbeitet und wollte endlich raus. Das Wetter war so schön, dass ich spontan beschloss, auf gut Glück mit dem Auto Elbe aufwärtszufahren. Nach etwa einer Stunde landete ich in Bleckede. In dieser Gegend war ich noch nie. Ich hielt einfach an, parkte in der Nähe des Hafens und marschierte los …«
»Ja, ja, ja«, unterbricht ihn Bach. »Gut und schön, aber mich interessiert etwas ganz anderes. Im Protokoll ist vermerkt, dass Sie gegen 01:00 Uhr die Leiche entdeckt haben, ist das richtig?« Bach ist ein schlauer Fuchs und will prüfen, ob Fellner seine Aussage bestätigt.
»Ja, es muss gegen 01:00 Uhr gewesen sein. Auf jeden Fall war ich wieder auf der Höhe des Parkplatzes und wollte zu meinem Auto zurückgehen«, erwidert Fellner.
»Und wie haben Sie dann die Leiche gefunden?« Bach will es schon ein bisschen genauer wissen.
»Das kann ich Ihnen schildern«, sagt Fellner. »Wie gesagt, ich wollte gerade zu meinem Auto gehen, da hörte ich ein lautes Plätschern im Wasser. Die Laternen am Wegesrand lenkten meinen Blick auf eine Stelle, die mir ungewöhnlich dunkel erschien. Unweit des Ufers schwamm etwas Unförmiges. Es sah ungefähr so aus wie ein dicker Sack. Ich schaute mehrmals hin und plötzlich sah ich, dass es eine Leiche war. Das hat mich bis ins Mark erschüttert! Als ich mich von dem Schreck erholt hatte, rief ich die Polizei an. Den Rest kennen Sie ja.«
»Haben Sie am Fundort etwas gesehen oder gehört? Eine Person, ein Fahrzeug? Brannte in einem der Häuser Licht? Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?«
»Nein, gar nichts!«, antwortet Fellner ungeduldig. Er wirkt jetzt leicht genervt und rutscht auf seinem Stuhl hin und her.
»Es tut mir leid, Sie sind anscheinend in Eile. Aber ich habe noch ein paar Fragen, die ich Ihnen unbedingt stellen möchte« sagt Bach und fährt unbeeindruckt fort: »Hat Sie jemand gesehen, als Sie das Haus in Hamburg verlassen haben? Haben Sie unterwegs angehalten? Was für ein Auto fahren Sie denn überhaupt?«
»Sagen Sie mal, Herr Kommissar, ist das hier ein Verhör?«, erwidert Fellner ziemlich erbost. »Um Ihre Fragen zu beantworten: Nein, niemand hat mich gesehen, ich habe unterwegs nicht angehalten und ich fahre einen VW Passat. Es tut mir furchtbar leid, aber mit einem Alibi kann ich Ihnen nicht dienen. Langsam kommt es mir so vor, als würden Sie mich für den Täter halten. Glauben Sie denn, ich würde die Polizei anrufen, wenn ich etwas verbrochen hätte? Sollte ich am besten gleich einen Anwalt hinzuziehen? Sagen Sie es mir ruhig!«
Fellner sitzt schon eine geschlagene Stunde in diesem unpersönlichen und tristen Büroraum. Die Einrichtung scheint ihm kaum beachtenswert. Antik ist höchstens der verschlissene Ledersessel des Kommissars. Fellner kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, von dieser Polizeidienststelle je einen Auftrag zu bekommen. Hier gibt es nichts, das restaurierungswürdig wäre. Holz ist als Material so gut wie nicht vertreten. Der Schreibtisch besteht aus einem Aluminiumgestell mit einer zerkratzten Glasplatte. So auch der Konferenztisch. Fotos von der Familie oder einer Urlaubsreise fehlen gänzlich, ebenso Pflanzen, die für bessere Luftqualität sorgen und dem Raum ein wenig Farbe einhauchen könnten. Stattdessen stehen überall Ablagekörbe mit etlichen Polizeiakten. Einige Stifte, ein Schreibblock und eine Lupe liegen herum. In unmittelbarer Nähe des Computers sind Telefon und Aufnahmegerät jederzeit griffbereit. Zur Aufmunterung gibt es immerhin eine Kaffeemaschine auf einem Sideboard, zusammen mit einem Sammelsurium an Tassen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der Garderobenständer aus Metall ist bei dem schönen Wetter vorläufig verwaist. Aus Holz besteht hier allein der Stempelhalter, der stoisch darauf wartet, je nach Bedarf wie ein Karussell gedreht zu werden. Seitlich vom Schreibtisch stehen noch ein paar metallene Aktenschränke mit akkurat beschrifteten Ordnern. An den weiß gestrichenen Wänden hängt eine Magnettafel mit Aufnahmen vom Tatort und von der Leiche. Daneben ziert ein Stadtplan vom Großraum Hamburg das eintönige Gemäuer und ein paar gelbe Zettel mit gekritzelten Kommentaren bringen wenigstens ein wenig Abwechslung in diesen öden Raum. Die Neonröhren an der Decke und eine Schreibtischlampe aus den fünfziger Jahren sollen wohl in den Abendstunden für eine zündende Idee sorgen. Durch das Fenster schaut man auf die Rückseite des Bürogebäudes einer Behörde. Was für ein inspirierender Ausblick …
»Regen Sie sich bitte nicht so auf«, sagt der Kommissar mit beruhigendem Ton. Halb lachend fügt er hinzu: »Sie nehmen Möbel und Holzwürmer unter die Lupe – und ich mache im Grunde genau das Gleiche, nur mit Spuren und Zeugenaussagen. Gerade Sie müssten das doch nachvollziehen können!
Also gut, ich will Sie nicht länger quälen. Meinetwegen können Sie jetzt nach Hause gehen. Ihre Personalien haben wir ja. Allerdings bitte ich Sie, sich weiterhin zu unserer Verfügung zu halten.«
Fellner erhebt sich sofort und geht eilig Richtung Ausgang. Just in dem Augenblick, als er die Tür öffnen will, hört er den Kommissar plötzlich rufen:
»Halt! Eine Sekunde noch! Bevor Sie verschwinden, habe ich eine äußerst wichtige Frage.
Schauen Sie sich das Foto der Leiche noch einmal ganz genau an! Kennen Sie diesen Mann wirklich nicht? Vielleicht haben Sie ihn doch schon einmal irgendwo gesehen?«
»Nein«, sagt Fellner mit Nachdruck. »Da bin ich mir hundertprozentig sicher. Er ist mir vollkommen fremd! Darf ich jetzt endlich gehen?«
»Ja, verschwinden Sie schon«, sagt Bach mit einem leichten Seufzer.
Für heute reicht es ihm. Er muss sich jetzt unbedingt ausruhen, obwohl noch genug Arbeit auf ihn wartet. Und – das hätte er fast vergessen – morgen kommt die Profilerin, Frau Krug. Er will sie der Mannschaft vorstellen und etwas zu ihrer Person sagen. Für eine gute Zusammenarbeit ist es äußerst wichtig, dass die Männer die neue Kollegin und den Wert ihrer Fähigkeiten schätzen lernen.
Bevor er sich auf einem altgedienten Sofa im Nebenraum ein wenig Schlaf gönnt, ruft er noch schnell die Dienststelle der Polizeitaucher an. Vielleicht haben sie in der Zwischenzeit etwas gefunden, das mit dem Opfer in Zusammenhang steht. Jedes Indiz, so klein es auch sein mag, kann bei den Ermittlungen weiterhelfen.
Der Teufel steckt oft genug im Detail!
21. Mai 2019, 09:00 Uhr: Dienststelle Kripo Hamburg.
Im Konferenzraum und in ein paar anderen Büroräumen finden derzeit Renovierungsarbeiten statt. Daher sieht sich Kommissar Bach dazu gezwungen, Frau Krug in seinem provisorischen Refugium zu begrüßen. Manche Leute finden diesen Raum nicht gerade vorzeigbar und bezeichnen die Einrichtung sogar als antiquiert. Dabei übersehen sie, dass sich hinter dieser verstaubten Fassade der modernste Polizeiapparat verbirgt. Da ist schon mancher drauf reingefallen.
Wie dem auch sei, Hauptkommissar Bach ist bereit für seine kurze Ansprache. Alle sind gekommen, um die neue Profilerin zu begrüßen.
»Meine Herren, ich freue mich sehr, Ihnen heute Frau Krug vorstellen zu dürfen«, beginnt Bach. »Als Profilerin kann sie aufgrund der Umstände einer Straftat auf das Verhalten eines Täters schließen und bestimmte Muster erkennen. Sie wird uns bei den Ermittlungen tatkräftig unterstützen und auch auf Details achten, die wir in unserer täglichen Routine oft übersehen. Ich bin sehr dankbar, dass sie uns mit Rat und Tat zur Seite steht.
Frau Krug hat Kriminalistik an der Universität in Wien studiert und im Laufe der letzten Jahre ihre Kompetenzen bereits mehrfach unter Beweis gestellt. Sie ist mir von den österreichischen Kollegen wärmstens empfohlen worden.
Liebe Frau Krug, ich heiße Sie herzlich willkommen und darf Ihnen das Wort erteilen.«
Das ganze Team ist auf ihre Ansprache sehr gespannt. Sie sieht richtig hübsch aus. Sie ist rank und schlank, hat blondes Haar und strahlend blaue Augen. Also auf den ersten Blick macht sie einen mehr als angenehmen Eindruck. Aber die Männer lassen nicht so leicht becircen und vom äußeren Schein blenden. Sie haben schon einige Kollegen kommen und gehen sehen. Im Stillen hoffen sie jedoch, dass Frau Krug genauso umgänglich ist, wie sie ausschaut. Einen Oberlehrer oder Besserwisser können sie nicht gebrauchen. Aber sie wollen keine voreiligen Schlüsse ziehen. Erst mal abwarten, was die Neue zu sagen hat.
»Sehr geehrter Herr Hauptkommissar, liebe Kollegen, vielen herzlichen Dank für den freundlichen Empfang. Ich freue mich sehr, hier zu sein, und hoffe, dass ich Sie bei der Aufklärung des Falles unterstützen kann.
Ich habe schon gehört, dass es bei Ihnen hart, aber fair zugeht – und hin und wieder auch humorvoll. Das kommt mir sehr entgegen. Denn unsere Arbeit ist ernst genug. Lachen hat noch niemandem geschadet.
Hauptkommissar Bach hat bereits das Wesentliche über meine Ausbildung gesagt. Deshalb möchte ich an dieser Stelle kein Referat über meinen Beruf halten. Sie werden sich von meiner Arbeit bald selbst ein Bild machen können. Die tägliche Praxis sagt meist mehr aus als die reine Theorie.
Ursprünglich stamme ich aus Hamburg, aber nach dem Studium bin ich in Wien geblieben und habe bis jetzt dort gearbeitet. Im Moment wohne ich bei einer ehemaligen Schulfreundin, ganz in Ihrer Nähe.« Sie schmunzelt und setzt ein verschmitztes Gesicht auf. »Somit stehe ich Ihnen rund um die Uhr zur Verfügung … Na ja, fast!
Zu meiner Person noch ein Wort: Ich bin 35 Jahre alt, habe keine Kinder und bin seit zwei Jahren geschieden. Wie Sie unschwer feststellen können, bin ich blond.« Mit Nachdruck fügt sie hinzu: »Naturblond. Blondinen-Witze habe ich schon viele gehört, aber ich lasse mich gerne überraschen. Vielleicht haben Sie noch welche auf Lager, die ich noch nicht kenne!«
Die Männer lachen über diese Bemerkung. Ihre Mienen lockern sich zusehends. Frau Krug hat offensichtlich Humor. Was für ein Glück! Sie hatten das Schlimmste befürchtet!
»Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und sage nur noch eins: Auf eine gute Zusammenarbeit.«
Jetzt ist das Eis gebrochen. Die Stimmung könnte nicht besser sein. Aber Bach unterbricht die aufkommende Feierlaune auf seine unnachahmliche Art. Er wendet sich an Norbert Gruber und fragt ihn, ob er schon ein paar Ergebnisse aus der Obduktion vorlegen kann.
»Ja«, sagt Gruber, »aufgrund der Untersuchung kann ich jetzt bestätigen, dass die Leiche etwa 24 Stunden im Wasser lag. Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Es gab kein Wasser in der Lunge, also wurde das Opfer tatsächlich vorher ermordet. Eins gebe ich allerdings zu bedenken: Die Leiche wurde zwar in Bleckede entdeckt, aber anhand der Strömungsgeschwindigkeit vermute ich, dass der Körper 6 bis 8 km flussaufwärts in die Elbe geworfen und dann bis Bleckede gespült wurde. Es wäre also ratsam, auch in dieser Gegend nach Spuren zu suchen. Aber das überlasse ich dir, Horst.
Abgesehen von den Fingerkuppen, die fast gänzlich von Säure zerfressen sind, weist der Körper keine Anzeichen von äußerlicher Gewalt auf. Es gibt weder Hämatome am Körper noch Verletzungen am Kopf oder an der Halswirbelsäule.
Im Blut habe ich allerdings einen Alkoholgehalt von 1,4 Promille messen können. Das ist nicht gerade wenig. In dem Zustand sind Wahrnehmungs-, Seh- und Hörvermögen stark beeinträchtigt, ebenso Gleichgewicht und Reaktionsfähigkeit. Er gleicht einem Rauschstadium mit ausgeprägten Orientierungsproblemen.
Erkrankungen irgendwelcher Art konnte ich nicht feststellen, außer dass das Opfer schon mal einen Herzinfarkt erlitten hatte, der aber unbemerkt blieb. Das konnte ich an der Vernarbung der Herzmuskulatur und am Zustand der koronaren Herzgefäße erkennen.
Anzumerken wäre noch, dass er vor nicht allzu langer Zeit an der rechten Hüfte operiert wurde und eine Metall-Prothese bekam. Minimale Spuren von Medikamenten habe ich auch gefunden, aber sie sind nicht weiter von Belang.
Und dann gibt es noch etwas anderes …«
Norbert Gruber macht eine kurze Pause. Er genießt es förmlich, die Kollegen auf die Folter zu spannen.
»Ja, also … unter dem Fingernagel des linken Daumens, der zu unserem Glück von der Säure verschont blieb, habe ich Lederpartikel entdeckt. Um welches Leder es sich hier handelt, konnte ich noch nicht genau feststellen. Dazu bedarf es einer mikroskopischen Analyse. Aber immerhin haben wir damit einen brauchbaren Hinweis.«
»Hoch interessant, Herr Dr. Gruber«, kommentiert Frau Krug. »Sie haben gesagt, es gäbe keine Spuren von äußerlicher Gewalt.«
Gruber nickt. »Bei der Obduktion konnte ich nichts dergleichen feststellen.«
Frau Krug wendet sich den Kollegen zu: »Überlegen Sie mal, meine Herren. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie treffen sich mit jemanden, den Sie gut kennen, mit dem Sie vielleicht sogar befreundet sind – und plötzlich greift er Sie von hinten an. Was tun Sie? Bestimmt das, was jeder instinktiv tun würde: Sie heben die Arme hoch, greifen nach hinten, packen ihn an den Händen, krallen sich an seiner Kleidung fest und versuchen, ihn wegzudrücken. Das würde die Lederpartikel unter dem Daumennagel erklären. Zumindest ist es meine bescheidene Meinung.
Wir müssen unbedingt herausfinden, um welche Art von Leder es sich handelt. Artikel aus Leder gibt es viele: Es kann ein Kleidungsstück sein, aber auch ein Gürtel, eine Tasche, ein Schlüsselbund oder Handschuhe. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Auf jeden Fall ist es wichtig, zu erfahren, aus welcher Tierhaut das Leder hergestellt wurde. Das würde die Möglichkeiten eingrenzen.«
Was für eine Analyse! Kaum ist Frau Krug da, schon sind sie einen Schritt weiter. Die Kollegen sind tief beeindruckt. Respekt!
Der Hauptkommissar jubelt innerlich. Die Entscheidung, Frau Krug einzuschalten, war goldrichtig. Resolut wie immer sagt er ohne Umschweife:
»Leute, jetzt mal ran an die Hausaufgaben! Ich sorge dafür, dass die Spurensicherung flussaufwärts die Gegend weiter abgrast. Die Taucher schicke ich ebenfalls los. Es wäre gelacht, wenn wir gar nichts finden würden. Martin und Lukas, ihr klopft die Kliniken ab, vor allem die, die auf Hüftoperationen spezialisiert sind. Chris und Tobias, Ihr konzentriert euch weiterhin auf die Nobelrestaurants. Und die anderen: Ihr könnt in der Zwischenzeit schon mal Vorarbeit leisten und euch über Lederfabriken, deren Produktion und Sortiment schlaumachen.
Ach, Frau Krug, bevor wir uns alle an die Arbeit machen, habe ich – wenn Sie erlauben – noch eine Kleinigkeit. Ich will nicht mit der Tür ins Haus fallen, aber könnten wir uns duzen? Das würde unsere Kommunikation erheblich erleichtern. Wir sind hier nämlich alle per Du.«
»Selbstverständlich« sagt Frau Krug. »Ich habe auch schon daran gedacht, mich aber nicht getraut, es Ihnen – ach sorry, dir – so schnell anzubieten. Ich bin froh, dass du es vorgeschlagen hast. Damit fühle ich mich viel wohler.«
Bach ist hoch erfreut, dass sie ohne Zögern zustimmt. Er mag Leute, die unkompliziert sind und alles auch mal locker nehmen können.
»Jetzt aber an die Arbeit«, sagt Bach voller Elan. »Feiern werden wir später. Wir müssen erst in unseren Ermittlungen weiterkommen. Ihr wisst, was zu tun ist. Also, Leute, viel Erfolg!
Ich schlage vor, dass wir uns morgen um 15:00 Uhr hier treffen, um neue Erkenntnisse auszuwerten und alles Weitere zu besprechen. Einverstanden?«
Die Kollegen nicken und verschwinden sogleich in alle Himmelsrichtungen. Sie sind von der positiven Stimmung so beflügelt wie schon lange nicht mehr. Mit Frau Krug wird alles bestimmt prima klappen.
Ach, diese Blondinen, sie sind wirklich nicht zu unterschätzen!
Zu Fuß lässt sich eine Stadt am besten erkunden. Schlendern ohne festgelegtes Ziel schärft den Blick für Details, die sonst verborgen blieben. Man lässt sich unter den Arkaden einer Prachtstraße treiben und plötzlich – völlig unerwartet – öffnet sich ein Durchgang, der die weißen Fassaden durchbricht und den Vorhang für ein mediterran anmutendes Bühnenbild aufzieht.
Binnenalster, Jungfernstieg und Gänsemarkt sind ganz in der Nähe. Und doch sind hier Trubel, Eile und Hektik wie »vom Winde verweht«. Keine umtriebigen Touristen, keine schreienden Händler, keine Dampfer, die mit ihren tutenden Hupen zu einer Rundfahrt durch den Hafen einladen! Nur Ruhe, Gelassenheit und ein wohliges Gefühl.
Ein sanftes Licht berührt die alten Pflastersteine dieser versteckten Gasse. In der Luft liegt ein Duft von Thymian, Rosmarin und Lavendel. Man fühlt sich sogleich in die Provence versetzt. Vor dem inneren Auge erscheinen die spät-impressionistischen Bilder von Vincent van Gogh, der vom einzigartigen Licht des Südens inspiriert wurde.
Vor dem Eingang eines kleinen, aber feinen Restaurants namens »Chez Marius« wächst ein alter, verknöcherter Rebstock an der steinernen Fassade entlang. Neben ihm glitzern die silbrigen Blätter eines Olivenbaums im Licht der Abendsonne. Hier geht es nicht um Prunk oder Extravaganz, sondern um schlichte Eleganz und traditionelle, gehobene Küche. Diese Oase der Genüsse wurde vor zwei Jahren sogar mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet.
Schon nach einem kurzen Blick in die Speisekarte läuft einem das Wasser im Mund zusammen: »Gefüllte Perlhuhn-Schenkel« … »Lammschulter an Rosmarin-Jus«… »Birnenkuchen mit Lavendel« … Wer kann dazu schon nein sagen?
Eigentlich niemand. Und doch gibt es ein paar Leute, die das Restaurant aus dienstlichen Gründen aufsuchen, so zum Beispiel die Kollegen von Hauptkommissar Bach.
Chris und Tobias haben bereits etliche Gourmettempel in dieser Stadt besucht. Sie haben das Foto der Leiche überall gezeigt und unzählige Fragen gestellt … Leider ergebnislos! Das Restaurant »Chez Marius« ist ihre letzte Hoffnung. Sollten sie hier genauso wenig Erfolg haben, dann werden sie zu guter Letzt doch noch die Pommesbuden abklappern müssen. Es wäre die reinste Strafe. Daran wollen sie lieber nicht denken.
Dezent und zurückhaltend treten sie ein und fragen nach dem Restaurantmanager. Kurze Zeit später stehen sie ihm schon gegenüber.
»Ja, Messieurs? Mein Name ist Castel. Was kann ich für Sie tun?«
»Guten Tag, Herr Castel, entschuldigen Sie bitte die Störung, aber wir kommen von der Kripo Hamburg. Ich bin Chris Johnson und das ist mein Kollege Tobias Lenz.«
»Von der Kripo?«, sagt Herr Castel erschrocken. »Was ist denn passiert?«
»Wir haben einen Mordfall aufzuklären und würden Ihnen gerne das Foto des Opfers zeigen. Gibt es vielleicht einen Raum, in dem wir uns in Ruhe und ungestört unterhalten können?«
»Selbstverständlich! Aber wieso kommen Sie ausgerechnet zu mir?«, fragt Herr Castel verblüfft.
Die Beamten erklären ihm mit gedämpfter Stimme, dass das Opfer kurz vor seinem Tod mit ziemlich großer Sicherheit in einem gehobenen Restaurant gegessen haben muss.