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In seinen Erzählungen lockt David Gray die Leser in die düsteren Winkel der Welt und lässt ungeheure Begebenheiten auf intime Schrecken des Alltags folgen. Er entführt uns in den Wilden Westen zu einer Stadt, die auf keiner Karte auftauchen will, erzählt von Fabelwesen, berichtet von einer Serienkillerin, die tötet um den Tod grüßen zu können, lässt eine kolumbianische Kartell-Killerin verzweifeln, fordert den Marquis de Sade bei einem üppigen Abendmahl dazu auf, einen mysteriösen Mordfall zu lösen oder schildert wie ein abgeklärter Clubmanager ein letztes Mal alte Träume abstaubt und dabei eine Überraschung erlebt. Zuletzt jedoch erinnert Gray sich in der titelgebenden Novelle an dreißig Jahre (ost)deutscher Zeitgeschichte. Er tut das gemeinsam mit Medusa, Jack the Ripper und einem Landsknecht aus dem 30 Jährigen Krieg, der die Angewohnheit hat, stets an unpassenden Orten aufzutauchen um dort seine Fingernägel abzukauen …
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Seitenzahl: 229
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Umarmung der Barbaren
Stories
David Gray
Impressum
1. Auflage: April 2025
© Edition Outbird, Gera
www.edition-outbird.de
Covergrafik: David Gray
Lektorat: Isa Theobald, Leon Zechmann, Tristan Rosenkranz
eBook-Formatierung/-konvertierung: Hannah Rafalski
ISBN: 978-3-948887-86-5
Alle Rechte vorbehalten.
Die Edition Outbird ist Mitglied im Lese-Zeichen e. V., im Thüringer Literaturrat, im Schöne-Bücher-Netzwerk und im Phantastik-Autoren-Netzwerk e. V..
Inhalt
1/ Fantasy
Das letzte Lied
2/ Thriller
Burrito pollo
3/ Melodram
One Night Stand
4/ Film Noir
Damenwahl
5/ Horror
Herzragout
6/ Giallo
Die bleichen Blumen des Bösen
7/ Western
Boot Hill
8/ Dark Comedy
Tee für Mrs. Stapleton
9/ Filmessay
Umarmung der Barbaren
10/ Anmerkungen / Glossar
11/ Danksagung & literarischer Beipackzettel
Als ich aus den Kurzgeschichten, die ich bisher verfasst habe, eine Auswahl traf, stellte ich fest, dass die zwar einige durchgängige Themen hatten, aber zu ganz verschiedenen Genres zählten. Wie sollte ich sie befriedigend in einem Band anordnen? Nach einigem Nachdenken kategorisierte ich sie nach Filmgenres. Letztlich beginnt auch jeder Film mit einem Text.
David Gray
Der Fantasyfilm ist ein Filmgenre, das dem phantastischen Film zugerechnet wird. Er umfasst im weitesten Sinne sämtliche Filme, deren Handlung Elemente enthält, die ausschließlich in der menschlichen Fantasie existieren und in der Realität eigentlich als solche nicht vorstellbar sind.
Ich, Mörder von acht Männern und Vater dreier Kinder, bin ein Geschöpf meiner Zeit und bin es doch auch nicht. Zwar wurde ich im Winter 1807 auf dem Dreimaster Högard geboren, währenddessen die Mannschaft sich die Hände in Streifen schuftete, um ihr Schiff zu retten, das vom Packeis zerdrückt zu werden drohte, doch auch, wenn mein Herz seither immer an der See und den Schiffen hing, lebte auch das Rauschen und Ziehen der Nebelzeit¹ in mir, die zu Ende gegangen war, als die Priester im Namen ihres Christengottes ganz Nordeuropa mit Mord und Brand überzogen.
Meine Mutter war Lappin und mein Vater norwegischer Walfänger. Er nannte mich Aristoteles Thor Heimdahlsson und verlieh mir damit sowohl den Namen eines griechischen Philosophen wie den eines nordischen Gottes. Er erwartete wohl, dass ich zu einem blonden, kräftigen Riesen heranwuchs, wie er selbst einer war. Aber ich bin kaum groß genug, um über das Schanzkleid eines Schiffes in die See hinauszuschauen. Weil ich ein Zwerg bin und hässlich, werde ich von Männern wie Frauen gleichermaßen verachtet. Trotzdem verfüge ich über die Kraft und die Verwegenheit, es mit jedem Mann und jeglicher Frau aufzunehmen, die sich mir in den Weg stellen.
Der einzige Ort und die einzige Zeit, zu denen ich mich und meinen tief brennenden Hass auf die Welt im Zaum zu halten vermag, ist das Achterdeck eines Schiffes, während es sich durch die Wellen einer rauen See kämpft.
Die See ermisst Charakter und Willenskraft eines Mannes nur danach, ob er sich vor ihr fürchtet oder nicht. Wenn sie mich eines Tages holt, sinke ich ohne Klage ihrem Grund entgegen.
Kein Reeder in Bergen oder Oslo wird mir ein Kommando übertragen. Dem Zwerg Aristoteles, so heißt es in den Bureaus, könne man nicht trauen. Der ist des Teufels.
Letztes Jahr brachte ich die Marie Högstad, den Stolz der Berger Handelsflotte, zurück nach Hause, nachdem ihr Kapitän in einem Taifun vor Macao über Bord ging.
Vom Zweiten Offizier bis zum lausigen Schiffsjungen hatte nach seinem Verschwinden jeder an Bord das Schiff verloren gegeben und sich bei den Booten verkrochen. Ich trieb sie mit zwei geladenen Pistolen in den Händen die Wanten hinauf, um die Segel zu bergen und drehte anschließend das Schiff in den Sturm, während ich der See und dem Wind mit Odins Rache drohte, falls sie die Stirn haben sollten, mein Schiff untergehen zu lassen.
Nicht einmal eine Prämie rückten die drei Mal verfluchten Bergener Pfeffersäcke dafür heraus, dass ich ihnen in dem Taifun ihr Schiff gerettet hatte.
Das, was ich an klingender Münze damals noch besaß, reichte nicht einmal mehr, um mich für eine Woche in dieser Stadt über Wasser zu halten.
So war ich nun auf dem Weg, mich mit dem schwarzäugigen Teufel Ian Padraig Tay zu treffen, von dem es hieß, dass er nach Bergen gekommen sei, um eine Mannschaft für seinen neuen Chile-Clipper² zu heuern. Auf dem wollte jedoch kein gottesfürchtiger Norweger, Schwede oder Däne dienen, weil man munkelte, Schwarzauge Tay hätte einst bei den Heiden in Afrika Dinge gelernt, die kein Christenmensch je wissen sollte.
Schwarzauge hielt sich keine Reederbureaus, sondern machte seine Geschäfte aus der Kapitänsstube eines der saubersten und – bei Gott! – schnellsten Schoner heraus, den ich je neidvoll in einen Hafen hatte einlaufen sehen.
Ich betrat das Deck und stieg den Niedergang hinab. Da stand er: groß, schlank und schön wie ein frischer Morgen.
"Ich bin Aristoteles Thor Heimdahlson und jeden verschissenen Penny wert, den ich verlange. Ich will ein Zehntel mehr Heuer als Ihr euren anderen Kapitänen zahlt und vier Punkte Anteil vom Gewinn jeder Fahrt, die ich auf einem eurer Clipper mache. Mit mir zu feilschen hieße nur Zeit zu verschwenden."
Der schwarzäugige Teufel streckte mir lächelnd seine Hand entgegen, die voller winziger Narben war, und lud mich in seine Kapitänsstube ein, wo Rum, Käse, Schinken, frisches Brot und gelbe Butter für uns aufgedeckt waren.
Keiner wusste, wie er zu seinem ersten Schiff gekommen war, aber heute hatte er vier Schiffe in der Irischen See, zwei Clipper im Chinahandel und zwei weitere auf der Südamerikaroute nach Chile. Am Clyde in Glasgow wurden gerade zwei neue Clipper auf Kiel gelegt, die er auf der Südamerikaroute einzusetzen plante.
"Setzt Euch, Kapitän Heimdahlsson!", forderte er mich auf. Und wie vertraut und doch neu und wunderbar mir seine Anrede dabei einging. "Ich habe Eure Papiere bereits vorbereiten lassen. Ihr werdet mich nach Glasgow begleiten, um das Auftakeln meines neuen Clippers zu überwachen."
So war er, der schwarzäugige Teufel: Immer wusste er, wie er seine Männer zu packen hatte, aber ließ dabei trotzdem nie einen Zweifel daran, dass er der Mann war, dem sie alle zu gehorchen hatten.
Er zog die Papiere aus seinem Rock und legte sie gefaltet auf den Tisch zwischen uns. Dann sah er mich lange forschend an. "Meine härtesten Konkurrenten im Chilegeschäft sind Morris & Cumbersome aus Liverpool, die ihre Kapitäne und Maate aus der Royal Navy rekrutieren.“
Er öffnete die oberen Knöpfe seines Hemdes und zog es über die Schulter hinweg nach unten. Ich sah die Narben, die jeder Seemann kannte. Interessant, dachte ich, der schwarzäugige Teufel war von der neunschwänzigen Katze³ gebissen worden. Angesichts der zerfetzten und wulstig zusammengewachsenen Haut nicht nur einmal.
„Morris & Cumbersome haben auch die Katze von der Navy übernommen?“, fragte ich.
„Ein Kapitän, der seine Männer mithilfe der Peitsche im Zaum hält, ist ein Feigling. Feiglinge verlieren Schiffe und Fracht. Ihr werdet auf meinen Schiffen nie einen Offizier antreffen, der die Katze nutzt, Kapitän", erklärte Tay.
Ich nickte ihm zu.
Er schob ein weiteres Dokument über den Tisch. Es war die Frachtliste eines Clippers, der im Chilegeschäft zwischen Valparaiso und Hamburg verkehrte. Sie stammte von Morris & Cumbersome. Etwas konnte daran nicht stimmen. Bei solchen Fahrten ging immer mindestens ein Viertel an Fracht verloren. Sie wurde von Ratten gefressen, verdarb durch Sturzseen oder verschimmelte schlichtweg aufgrund von Feuchtigkeit und Hitze im Laderaum. Aber auf Morris & Cumbersome Frachtliste waren kaum drei Tonnen Verlust angegeben.
"An der Korrektheit dieser Liste besteht keinerlei Zweifel. Die Händler stehen Schlange, um ihre Frachten bei ihnen zu loggen. Was immer sie gefunden haben, um ihre Fracht zu schützen, ich muss es haben, Kapitän! Falls Ihr je auf dem Achterdeck meines neuen Clippers stehen und den Befehl zum Segelsetzen geben wollt, dann werdet Ihr es mir verschaffen."
Was der irische Teufel von mir erwartete, war gefährlich. Spione, die man auf britischen Schiffen erwischte, landeten mit eingeschlagenen Schädeln in der See.
"Ihr mögt bei heidnischen Zauberern in die Lehre gegangen sein, doch falls ich Eure Kontrakte unterzeichne und Ihr mich damit hinters Licht führen solltet, dann werden die Geister meiner Ahnen über Euch und Eure Schiffe kommen", entgegnete ich.
Er lächelte.
Ich hielt seinem herausfordernden Blick stand, wie ich seinerzeit dem Taifun standgehalten hatte, während die Leiche meines Käpt´ns dem Grund der Chinasee entgegensank.
"So sei es!", sagte er und streckte mir seine Hand entgegen.
Ich schlug ein und heuerte noch am selben Abend als Maat auf einer deutschen Bark⁴ an, die mit einer Ladung Bauholz nach London segelte.
In meiner Seekiste befanden sich 20 britische Pfund und in meinem Herzen brannte das Verlangen, dem irischen Bastard Tay zu beweisen, dass er den richtigen Mann für das Achterdeck seines neuen Clippers geheuert hatte.
In Liverpool hörte ich mich nach den Getreideclippern von Morris & Cumbersome um. Der irische Teufel Tay war längst nicht der einzige, der sich über die geringen Frachtverluste der beiden Reeder wunderte. Doch eine Erklärung dafür schien auch in Liverpool keiner zu haben.
Zwei von Morris & Cumbersomes Chile-Clipper lagen an einem Kai im Hafen, wo sie Ladung gelöscht und Reparaturen erledigt hatten.
Ich wartete bis zur Dämmerung, bevor ich zu den Kais ging. Die Nacht versetzt Hafenstädte in eine ganz eigene Stimmung. Es war ein königlicher Anblick, der sich mir dort im letzten Abendlicht bot. Ein Wald von schlanken Masten und akkurat getrimmter Takelage, die sacht in den leisen Wellen des Hafenbeckens sangen.
Die Red Riding und die Yorkshire, jene beiden Clipper von Morris & Combersome, die an dem neuen Kai lagen, waren grandiose Schiffe.
Die Wachen an Bord waren gesetzt und die Freigänger wohl in der Stadt unterwegs. Decks und Takelage beider Schiffe waren makellos sauber und geordnet. Am Großmast der Red Riding sah ich das Symbol ihrer Schande. Denn dort hingen die schweren Ketten, mit denen man die Seeleute an den Mast band, um sie mit der Katze zu züchtigen.
Die besseren unter den Kapitänen der Royal Navy achteten nach jeder Züchtigung darauf, die Ketten zu entfernen. Die Offiziere, die sich vor ihren Mannschaften fürchteten, bestanden darauf, sie als ständige Drohung und Mahnung dort zu belassen.
Aus allen Winkeln und Löchern des Hafens krochen ausgemergelte Gestalten zum Kai, wo sie sich in etwas Abstand zu den beiden Clippern zusammendrängten und schweigend auf irgendetwas zu lauern schienen. Sie waren, was die See und das Land gefressen, verdaut und ausgestoßen hatte: menschliche Abfälle auf der Suche nach dem Tod, dem sie sich entgegensoffen, rauchten und prügelten.
Die meisten der Elenden waren wohl Iren, aber ich entdeckte auch Schotten, Waliser und sogar einige Basken und Bretonen unter ihnen. Aus ihren leisen Gesprächen erfuhr ich, dass sie hier auf ein Lied warteten, von dem der Auswurf des Liverpooler Hafens raunte, dass es keinem gliche, das je ein Mensch gehört hätte.
Und wirklich: Leise, leise - zunächst mehr als Ahnung denn Gewissheit - hörte ich schließlich eine Melodie aus dem dunklen Innern der Red Riding dringen. Sie wurde lauter und fester, schwebte wie Nebel über unseren Köpfen und sank in Herzen und Seelen ein. Keiner wagte sich noch zu rühren, keiner konnte sich ihrer schlichten Schönheit entziehen. Das Lied hielt uns wie unter einem Zauberspruch gebannt.
Ich war der Bastard eines Norwegers und einer Lappin, geboren auf einem Schiff am Polarkreis - ich hatte diese Melodie bereits gehört. Nicht so klar und rein wie hier in dieser Nacht am Hafen von Liverpool, sondern an der Brust meiner Mutter im Innern eines Walfängers, der nach Tran und ungewaschenen Männern stank.
Dieses Lied, das aus dem Innern des Clippers drang, gehörte in die Nebelzeit.
Früh am folgenden Morgen kehrte ich zur Red Riding zurück und sah, was ich zu sehen erwartete: eines jener alltäglichen Massaker, die kein Mensch je seiner Aufmerksamkeit für Wert hält.
In einer Hafenkaschemme verfasste ich eine Nachricht an den irischen Bastard. Darin schilderte ich ihm, was ich gesehen und gehört hatte, und beschwor ihn, mir sechs mutige Männer für eine Entermannschaft nach Liverpool zu schicken. Unter allen Totschlägern, Räubern, fröhlichen Menschenschindern und verklemmten Geizkragen, die in dieser Welt Schiffe besaßen, so hoffte ich, sei er der einzige, der keine Zweifel an der Aufrichtigkeit meiner Nachricht hegte.
Während ich auf Antwort wartete, suchte ich nach dem Mann, der Morris & Cumbersome mit dem versorgt hatte, was ihnen solche Vorteile in der Chileroute verschafft hatte. Ich fragte mich in den Seemannsquartieren und Kneipen nach Offizieren und Mannschaften der Red Riding und Yorkshire durch, die aus den Ländern nördlich der Ostsee stammten. Dabei fielen immer wieder dieselben beiden Namen: Ole Hanström, ein Schwede aus Lönnebergen, der als Steuermaat der Yorkshire diente, und Løkke Gustavsson, der Erste Offizier der Red Riding. Ein Däne, der in Grönland geboren worden war und später bei der Royal Navy anheuerte, wo er auf den Fregatten das Handwerk des Offiziers erlernte.
Ich schaute mir beide Männer an.
Hanström war ein wendiger Kerl mit offenem Blick, über den sich keine Schatten legten und der so aufrecht und sorglos durchs Leben ging, dass ich neidisch auf ihn war.
Sobald ich Løkke Gustavsson erblickte, wusste ich, dass ich gefunden hatte, wonach ich suchte. Er war ein wuchtiger Mann mit breiten Händen und einem kantigen Gesicht. Seine Nase thronte über einem akkurat gestutzten Bart. Die Augen hatten die Farbe von einem unter Sommerhitze braungrün ausgeglühten Moor und blickten zuweilen auf eine derart dumpfe Weise in die Welt, als hauste hinter ihnen nichts mehr, was eine Seele genannt zu werden verdient hätte.
Der schwarzäugige Teufel erschien höchst selbst in Liverpool. Er hatte acht Männer dabei. Ich hatte mir längst einen Schlachtplan zurechtgelegt und dazu ein halb verfallenes Haus am Rande eines Lagerhauses in der Nähe des Kais angemietet.
Ian Padraig Tay ging am Abend mit mir hinunter zur Red Riding, um jenes Lied mit eigenen Ohren zu hören.
Während die ersten Klänge sich aus dem Schiffsinnern über das Hafenbecken erhoben, sah ich ein Feuer in seinen unergründlichen Augen auferstehen, das mir Angst einflößte.
In dem verfallenen Haus am Hafenrand, das ich zu unserem Unterschlupf bestimmt hatte, nahm er mich beiseite: "Woher habt Ihr von ihnen erfahren, Kapitän?"
„Ich bin mit den Geschichten vom Alten Volk5 aufgewachsen“, antwortete ich und blickte ihm dann so voller rechtschaffenem Zorn in die schwarzen Augen, dass er davor zurückfuhr. „Sie müssen zwei von ihnen haben, damit sie den einen zum Singen bringen können", fügte ich schließlich hinzu.
"Müssen sie nicht, Kapitän!“, antwortete der irische Teufel. „Sie könnten auch einen von ihnen getötet haben, damit der andere singt."
Der Blick, mit dem ich darauf antwortete, ließ das Feuer in seinen Augen heller als zuvor aufglühen.
Es war anzunehmen, dass Løkke Gustavson erst zum Beginn der Hundewache auf der Red Riding zurückerwartet wurde. Wir mussten weiter nichts tun, als ihn abzupassen und in eine Droschke zu werfen, sobald er zum Schiff zurückkehrte.
Wir teilten unsere Männer in zwei Gruppen auf – eine als Entermannschaft für den Clipper, die zweite sollte sich um Gustavson kümmern.
Der irische Teufel bestand darauf, dass er die Entermannschaft selbst führte. Ich hatte seinen Kontrakt unterzeichnet und musste mich widerwillig fügen, obwohl es mir mächtig gegen den Strich ging.
Wir stahlen eine Droschke und deponierten sie in einem dunklen Winkel auf dem Weg zum Kai.
Als wir uns Gustavsons bemächtigten, konnte er nicht geahnt haben, was ihn traf und wie ihm geschah. Zwei der Männer warfen ihn in die Droschke und fuhren zu unserem Unterschlupf.
Der irische Teufel verteilte Masken an uns, während der Wachgänger auf dem Deck der sich wohl zu fragen begann, wo Gustavson blieb. Immer wieder schaute er verwundert und unruhig zum Kai.
Ich sah dem schwarzäugigen Teufel in jener Nacht dabei zu, wie er drei Männer eigenhändig außer Gefecht setzte und danach die Niedergänge zu den Offizierskajüten hinabstürmte, wo wir unsere Beute vermuteten.
Zwei weitere Wachen gingen auf mein eigenes Konto. Die vier schlafenden Männer im Zwischendeck schlugen wir in ihren Hängematten bewusstlos und knebelten und fesselten sie dann wie ihre Kameraden an Deck.
In keiner der Offizierskajüten fanden wir, was wir suchten.
So ging ich zurück an Deck, setzte einem der gebundenen Wachgänger mein Messer an die Kehle und fragte danach. Stammelnd berichtete er von einer Kammer im Laderaum, die angeblich keiner außer Gustavson je betreten durfte.
Wir stürmten zum Laderaum hinab, fanden die Kammer und brachen ihre vierfachen Schlösser mit unseren Entermessern auf.
Es ist in der Welt so eingerichtet, dass alles seine Zeit hat. Was entsteht, vergeht wieder und das ist auch recht so. Dennoch existieren Worte, Lieder und Wesen, die alle Zeiten überdauern. Verborgen zwischen Schatten überleben sie unbehelligt von den Zeitläufen. Was der irische Teufel Tay das Kleine Volk nannte, kannte ich unter dem Namen des Alten Volkes. So bezeichnete er das Wesen, das wir aus der Kammer des Clippers befreiten, mit einer unaussprechlichen altirischen Bezeichnung, während es für mich den Namen Wehleidtroll trug und Bilder aus meiner Jugend heraufbeschwor.
Nur ganz wenigen vom Alten Volk war es gelungen, bis in unsere Zeit der Fabriken und Dampfmaschinen hinein zu überdauern.
Gustavson musste, um den Weihleidtroll zu finden, weit hinauf in die Herbsteinsamkeit Islands oder Grönlands gezogen sein und dort lange gesucht haben, bis er einen von ihnen fangen und zu seinen Reedern nach Liverpool bringen konnte.
Wehleidtrolle sind monogame Wesen, die sich schon in frühester Jugend einen Gefährten wählten, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen. Nur um ihm zu gefallen oder um in höchster Trauer, Sehnsucht oder Not nach ihm zu rufen, stimmten sie ihre betörenden Melodien an.
Ganz besonders wirkten ihre traurigen Gesänge auf Ratten. Das hatten Morris & Cumbersome sich zunutze gemacht. Sie zwangen das Wehleid auf ihrem Schiff zu singen, woraufhin sich jegliche Mäuse und Ratten vor dessen Käfig versammelten, wo sie sich, gebannt vom Lied der Wehleide, widerstandslos aufsammeln und anschließend ersäufen ließen. Jeder Reeder wusste, wie viel an Fracht ein paar hundert Ratten und Mäuse während der zwei Monate langen Überfahrt von Chile ums Kap Hoorn von einer Getreidefracht vertilgten.
In den Legenden, die über das Alte Volk kursierten, waren nicht alle von ihnen uns Menschen wohlgesonnen. Doch niemals hatte ein Wehleid einem Menschen ein Leid angetan. Im Gegenteil. In der Nebelzeit galt es als gutes Omen, einem Wehleid zu begegnen. Sie sind nicht viel größer als eine erwachsene Eule und verfügen über große, tief gesetzte Augen, einen breiten, schnabelartigen Mund und struppig graues Fell, das sich bis auf ihre schmalen Finger und breiten Zehen zieht. Sie sind auf ihren kräftigen Beinchen in der Lage, schneller zu laufen und höher zu springen als jede Katze und ernähren sich von Beeren, Moosen oder Wurzelwerk.
Vielleicht hatte Gustavson tatsächlich zwei Wehleide gefangen und dann den Gefährten des einen vor dessen Augen getötet, um ihn dazu zu bringen, vor Sehnsucht und Trauer die Ratten zu beschwören. Wahrscheinlicher aber erschien mir, dass er nur eines gefangen und hierher in den Süden gebracht hatte, wo es sich seither singend nach seinem Gegenstück verzehrte.
Die Männer des irischen Teufels hatten Gustavson im oberen Stock unseres Unterschlupfs auf einen Stuhl gebunden und ihm einen Knebel verpasst.
Schwarzauge und ich traten zu ihm heran und entfernten den Knebel, um ihn zu befragen. Er war recht gesprächig, der Herr Erster Offizier. Aber was er sagte, war nichts, was mir Freude bereitet hätte.
Er rechtfertigte seinen Frevel damit, dass in dieser neuen Zeit alles und jedes nur noch an seinem Nutzen bemessen und nichts mehr nach seinem Wert beurteilt werde. Selbst isländische Trolle machten da keine Ausnahme. Waren sie zu etwas nutze, dann stand ihnen ein Platz in Gustavsons Welt zu. Waren sie es nicht, dann hatten sie es verdient, unterzugehen und vergessen zu werden. Geradeheraus in unsere vor Abscheu verzerrten Gesichter behauptete dieser Unmensch, er hätte sich nichts vorzuwerfen.
Ich stopfte ihm den Knebel wieder zwischen seine Zähne. Schwarzauge gab seinen Männern einen Wink. Die daraufhin den Raum mit Planken und Blechen verrammelten. Nur einen einzigen Zugang ließen sie offen: ein etwa handgroßes Loch im Saum des Türblatts.
Ich holte das Wehleid von unten herauf und barg es dabei vorsichtig unter meiner Jacke. Dann setzte ich es auf einen Tisch, der inmitten des Raums stand.
Schwarzauge zündete einige gedrungene Kirchenkerzen an und ich begann das Wehleid zart über sein Köpfchen zu streicheln, bis es Gustavsons Henker herbei zu singen begann.
Wir schauten ihnen gebannt dabei zu, wie sie aus ihren Löchern und Tunneln, Winkeln und Ritzen schlichen und sich zu hunderten in dem Raum versammelten. Gebannt vom Lied des Wehleids hockten sie auf ihren Hinterpfoten und starrten reglos zu dem grauen Geschöpf hinauf, das ihnen die winzigen Herzen und Seelen mit einer wilden Sehnsucht füllte.
Schließlich verstummte das Wehleid. Ich barg es wieder unter meiner Jacke. Wir verließen den Raum. Schwarzauge selbst vernagelte dessen Tür und verstellte zuletzt jenes handgroße Loch in ihrem Blatt.
Es dauerte nicht lange. bis wir anhand des Getrappels, das sich hinter der Tür erhob, sicher sein konnten, dass Løkke Gustavsons Henker sich an ihre blutige Arbeit gemacht hatten.
Wir übrigen versammelten uns vor dem brennenden Kamin, wo Schwarzauge Rum einschenkte und uns stumm zu prostete.
Dann zog jeder von uns sein Messer aus dem Gürtel und reichte es seinem Nebenmann, der eine neue Kerbe in deren Griff schnitt. Mein Messer wies danach sieben auf. Schwarzauges Messer jedoch neun.
Danach verteilte er an seine Männer Tickets für das Postschiff nach London und befahl ihnen, sich während der Überfahrt voneinander fernzuhalten. Mit einem stummen Gruß verließen sie das Gebäude.
Der irische Teufel und ich blieben schweigend vorm Kamin zurück, bis sich über den Dächern der erste Glanz des neuen Morgens abzeichnete. Das Wehleid schlief dabei unter meiner Jacke. Ich behielt es bei mir, als ich mithilfe eines Entermessers die Tür zu Gustavsons Kammer aufbrach, um seine Henker und Henkerinnen freizusetzen.
Nur einmal wechselten der irische Teufel und ich im Verlaufe jener Nacht noch einige Worte. Es war bereits hell, als wir das verfallene Haus am Hafenrand verließen und uns jeder in eine andere Richtung entfernten.
Einige Tage später fanden die Liverpooler Copper, was von Gustavson übrig war, und rätselten seither darüber, was ihm zugestoßen sein mochte.
Es war Herbst geworden. Vor vier Wochen war in Glasgow Schwarzauges neuer Clipper getauft und übergeben worden. Doch bevor ich mir den Traum erfüllte, von seinem Achterdeck aus den Befehl zum Segelzusetzen zu geben, hatte ich noch eine Ehrenpflicht zu erfüllen.
Deshalb stand ich jetzt an einem düsteren Strand an der Westküste Islands, öffnete meine Jacke, hob vorsichtig das Wehleid aus dessen Innentasche und setzte es sacht auf den Strand.
Es machte einige Schritte über den feinen Sand, blieb dann stehen und sah mich einen Moment an, wobei es seine winzigen Hände über die Augen legte, als wolle es mir beidhändig salutieren.
Unsicher, wie ich darauf zu reagieren hätte, deutete ich eine Verbeugung an.
Das Wehleid schien sie nicht erwidern zu wollen. Aber es hielt mit seinen großen unergründlichen Augen meinem Blick noch eine Sekunde stand, bevor es sich abwandte und ohne Hast auf das flache Moorland zulief.
Ich sah ihm nach und erinnerte mich dabei an jene Nacht, die ich in Liverpool mit Schwarzauge vorm Kamin des verfallenen Hauses verbracht hatte, während die Ratten über uns sich allmählich durch Løkke Gustavsons Eingeweide fraßen.
"Ich habe in London die Mary Rose einlaufen sehen, gegen den Wind und die Tide", sagte er.
"Den Dampfer?", fragte ich.
"Ja."
"Viele behaupten, Dampfer seien die Zukunft, Schwarzauge", entgegnete ich.
"Sie ist so furchtbar hässlich, Aristoteles", flüsterte er dann und nannte mich dabei zum ersten und letzten Mal während all der Jahre und Abenteuer, die wir später gemeinsam durchstehen würden, bei einem meiner Vornamen.
Auf dem Nordmeerfahrer, mit dem ich hierher gesegelt war, schlug der Maat die Glasenglocke an. Ihr heller Klang zog klagend klar über die See und bis weit hinein in das flache Land.
Es war fruchtlos, sich dem Neuen in den Weg zu stellen. Wie das Alte seine Zeit hat, so hat es auch das Neue. Ich ahnte, dass die Zeit der Clipper, an die ich mein Herz gehängt hatte, zu Ende ging. Aber immer dann, wenn ich später in Hongkong, Valparaiso oder Hamburg einen jener Dampfer gegen die Tide und gegen den Wind an meinem Clipper vorüberstampfen sah, erinnerte ich mich des Wehleids, das am Rande der Welt weiter tapfer seine Wacht hielt. Zuweilen gab ich dann der Mannschaft eine Runde Rum aus und befahl ihnen, sich an der Reling entlang aufzureihen und ihre gelben, schwarzen, braunen oder weißen Ärsche blank zu ziehen, um sie den stinkend hässlichen Dingern zuzuwenden. Manchmal wurde mir bei ihrem Anblick das Mörderherz leichter. Nicht jedem Anfang wohnte ein Zauber inne. Der Charakter eines Seemannes erwies sich an der See. Aber sie machte nun einmal keinen Unterschied zwischen Dampfern oder Clippern. Ihre Gewalt riss beide gleichermaßen in die Tiefe.
Der Thriller (Lehnwort aus englisch thrill „Schauer, Erregung, Sensation“) ist ein Filmgenre mit verschiedenen, sich teilweise überlappenden Subgenres. Charakteristisch für den Thriller ist das Erzeugen eines Thrills, einer Spannung, die nicht nur in kurzen Passagen, sondern während des gesamten Handlungsverlaufs präsent ist, ein beständiges Spiel zwischen Anspannung und Erleichterung.
Burrito pollo6
1
Der Bulle rülpste Clara ins Gesicht. Eine Geruchsmischung aus ranzigem Frittierfett, rohen Zwiebeln, alter Tomatensoße, Bier und billigen Zigaretten wehte sie an. Sie hasste das.
„So …“
Rülps.
„… du Nutte.“
Rülps.
„Ich sag Dir jetzt …“
Rülps.
“… wo’s hier langgeht!“
Längerer Rülpser, gefolgt von einem Anfall trockenen Raucherhustens, bei dem Clara so viel Bier, Zigaretten, Fett–und Zwiebelatem traf, dass sie bittere Galle hochwürgte, die in ihrem Hals brannte.
„Du hast Mario in dem Krankenhaus umgelegt. Ich will …“
Rülps.
„… jetzt wissen, wie viel …“
Rülps.
„… du dafür vom Kartell kassiert hast. Und ich will wissen, wo die Kohle ist!“
Noch ein Monsterrülpser.
Clara war achtundzwanzig, rundlich und ziemlich groß für eine Kolumbianerin. Ihre Haare waren schwarz und ihre Augen grau, was in ihrer Heimat selten war.
Der rülpsende Bulle, der sich gerade zu ihr herabbeugte, war Mexikaner.
Clara war nach Mexico City geflogen, um Mario Gomez zu töten. Sie war eine von ganz wenigen weiblichen Killern des Kartells. Lucia, die Erste Geliebte von Tomas, einem Unterboss des Kartells, hatte sie dem Kartell empfohlen. Clara hatte sich in Rekordzeit von der Schmugglerin zur Killerin heraufgearbeitet. Sie war effizient und loyal, aber vor allem kostete sie weniger als ein männlicher Killer.
Zwecklos dem rülpsenden Bullen etwas vorzulügen. Clara hatte sich heute Morgen ins Hospital geschlichen und Mario Gomez mit einer Überdosis Insulin getötet.
Mario war ein harter Hecht gewesen, sehnig, schnell und brutal. Sogar in dem Hospitalbett mit all den Schläuchen an Nase, Mund und Armen wirkte er noch gefährlich.
Er hatte Clara angesehen, weswegen sie in sein Zimmer kam. Aber er hatte auch eine schwere Darmkrebsoperation hinter sich und war nicht in der Lage gewesen, sich zur Wehr zu setzen.
Vielleicht, dachte Clara, hatte er den Tod, den sie ihm brachte, sogar willkommen geheißen. Sie garantierte ihm einen schnelleren und schmerzloseren Abtritt als der Krebs, der sich allmählich durch seine Gedärme fraß.
Darüber, weshalb Tomas nicht solange abwarten wollte, bis der Krebs Mario auf natürliche Art tötete, konnte Clara nur spekulieren. Angesichts des Bonus´, den Tomas ihr versprochen hatte, musste es bei dem Mord um etwas Persönliches gegangen sein. Aber in solche Dinge mischte man sich auch besser gar nicht ein. Zuviel Neugier war in Claras Branche ungesund.
Wie üblich hing Tomas im Discoteca Karma, einem angesagten Karaoke-Club im Barrio Colombia ab, als er ihr den Hit hier in Mexico City zuschanzte. In dem gepolsterten Luftpostumschlag, den er ihr über den Tisch zugeschoben hatte, befanden sich Fotos von Mario, die Adresse des Hospitals, der Schlüssel zu dem Appartement, in dem sie sich gerade befand, und zwei falsche Pässe, einer für die Einreise, ein zweiter zur Ausreise. Die Passkontrollen am Airport von Miami hätte sie damit nicht täuschen können, aber für Mexico City waren sie gut genug. Tomas war ein vorsichtiger hijo de puta