Umba - Jochen Rinner - E-Book

Umba E-Book

Jochen Rinner

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Beschreibung

Luca Berend, 30, Informatiker, lebt seit vier Jahren in Minnesota. Das Leid einer eben in die Brüche gegangenen Beziehung machte es ihm leicht ein Jobangebot jenseits des Atlantiks anzunehmen. Einzig seinem Großvater, den er als kleines Kind Umba nannte, fühlt er sich bis jetzt verbunden. Umba war es auch, dem er sein Leid anvertraute. Weil sein Großvater in der Klink lag und nicht mehr laufen konnte, kam er jeden Tag und schrieb Umbas Beziehungsgeschichten in ein Buch. Jetzt sitzt er im Flieger nach Frankfurt zu seiner Beerdigung. Die Farmerstochter Ava lernte er vor zwei Jahren kennen. Nun ist sie seine Frau und bleibt wegen der Schwangerschaft zu Hause. Luca Berend hat keine Ahnung, dass ihm bald nach der Landung in seiner früheren Heimat sein damaliges Leben heftig um die Ohren fliegt.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 377

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Jochen Rinner

Umba

Jochen Rinner

Umba

Roman

© 2020 Jochen Rinner

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-347-34510-2

Hardcover:

978-3-347-34511-9

e-Book:

978-3-347-34512-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Dieser Roman ist ein stiller Dank des Großvaters an seinen Enkel für den Namen, den der Zweijährige ihm gab. Der kleine Junge schenkte ihm damals Wärme und Lebensmut.

~~ 1 ~~

Der verdreckte Pick-up stoppt quietschend am Terminal des Saint Paul International Airport. Es war knapp, aber ich, Luca Berend, beuge mich zu Ava hinters Steuer und kralle mich sanft in die Locken ihrer schwarzen Mähne - der Augenblick wird zur Ewigkeit -, löse mich von ihren Lippen und neige mich hinab, wo es sich über dem locker hängenden Gürtel ihrer Jeans schon merklich wölbt. Nun muss ich laufen, wenn der Flieger mit mir abheben soll. Sonst wäre auch der Anschluss in Toronto nach Frankfurt weg.

Ich wollte Ava bei mir haben, aber sie schüttelte energisch den Kopf: Nein, zwei Tage im Flugzeug, seine Familie kenne sie nicht, die Beerdigung. Jetzt kommt das Baby, es wäre wirklich zu viel. Aber sie wisse, dass er seinen Großvater immer sehr mochte.

„Bis bald ihr zwei.“

Ich reiße die hintere Tür auf, zerre meinen Koffer und die Tasche heraus und eile davon, halte im Eingang inne und sehe zurück. Sie winkt mir mit ernstem Blick zu. Ist das jetzt wirklich richtig? Ich will schon umkehren, aber das große Auto zieht an und ist im nächsten Moment verschwunden.

Ich bin der Letzte am Schalter, dann wird der Flug geschlossen. Sicherheitskontrolle, Boarding, und ich war auch der Letzte, der von der Flugbegleitung und dem Copiloten begrüßt wurde. Mein Platz ist Last Minut ganz hinten am Mittelgang neben einer Frau mit grauem Haar und einem halbwüchsigen Mädchen. Es sitzt am Fenster und sieht dem Einfahren des Gates zu. Ich verstaue meine Tasche und sinke aufatmend in meinen Sitz, weil es heute verrückt war. Wir hatten hundertzwanzig Meilen zum Flughafen von der Farm an einem der zahlreichen Seen mitten in Minnesota, die einst irische Einwanderer vor vielen Generationen der Wildnis abgerungen hatten. Und Avas Ur-Urgroßvater war es, der dieses Mädchen von den Philippinen heiratete, eine exotische Schönheit, von der das vergilbte Hochzeitsbild im Salon zwischen den Fotos der Bildergalerie Zeugnis gab. Und Ava sieht ihr ähnlich, das volle schwarze Haar, die dunklen Augen. Nur so klein ist sie nicht, sie ist groß und schlank. - Nein, nicht dürr, das Leben auf der Farm ließ sie kräftig werden.

Wir nahmen uns heute Morgen Zeit im Bett, wenn ich schon eine Woche wegwollte, hörten nebenbei das Auto ihrer Eltern, die auf dem Weg in die Stadt vom Hof fuhren, und auch Jon tat das mit dem großen Traktor, der in die Werkstatt musste. Wir zogen uns an und wollten gemütlich zum Frühstück. Ava streckte sich vorm offenen Fenster und erschrak: „Luca, die Rinder sind am See!“

Robin, der neue Stier, den sie bei einem Farmer im Westen tauschten gegen ihren eigenen - wegen frischen Blutes in der Herde - hatte es nicht leicht mit seinen neuen Kühen. Er gebärdete sich wie wild, ist wohl wieder ausgebrochen und seine Kühe sind ihm in die Freiheit gefolgt. Nein, das konnten wir nicht lassen. Ava weckte ihren jüngeren Bruder und sie schwangen sich auf die Pferde, ich auf mein Motorrad, das Geländereifen hatte, seit ich hier wohne. Reiten lernte ich schon, aber für einen Cowboy reichte es noch nicht. Wir trieben die Herde wieder in die Koppel, flickten den Zaun und mein Schwager versprach sich zu kümmern, bis die Eltern zurück sind. Das Frühstück fiel aus, wir sprangen ins Auto und hofften, nicht in den Dunstkreis irgendeines Sheriffs zu geraten.

Jetzt sitze ich hier, mein Gewissen plagt mich und ich vermisse Ava jetzt schon. Vor zwei Tagen kam per Mail die Nachricht vom Tod meines Großvaters und es fuhr mir durch und durch. Mehr als vier Jahre ist es her, als ich ihn zum letzten Mal sah.

Meine Eltern besuchten mich ein einziges Mal, aber ihr Sohn wollte nicht in ihre kleine Firma für Sicherungssysteme und Alarmanlagen einsteigen, immer noch nicht. Die Enttäuschung war groß. Und ihre Arbeit nahm sie wohl sehr in Anspruch. Das sie Großeltern werden, Ava meine Frau ist, wissen sie noch nicht.

Die Maschine steht an der Piste, die Triebwerke fauchen, dann drückt es mich in den Sitz. Das Rollen hört auf und die Erde unter uns verschwindet. Ich mag das nicht, mochte das noch nie, fühle mich eingesperrt, hilflos, ausgeliefert, es war nicht mein Gefühl von Freiheit des Fliegens. Das hatte ich einmal in meinem letzten Schuljahr. Daran war eigentlich auch mein Opa schuld, als er mir erzählte, wie er in den fünfziger Jahren als kleiner Bub seinem Großvater bei der Getreideernte half. Eine Mähmaschine hatten sie schon, die von Muggel, dem alten Wallach, gezogen wurde. Die mähte anderthalb Meter breit die Halme und legte sie sauber gradewegs nach hinten um. Dann folgten die Frauen, rafften einen Armvoll zusammen, so stark, dass sie mit einem Strang zusammengelegter Halme gebunden wurden. Das nannten sie Garbe. Die Kinder halfen je fünf von den Garben aufrecht aneinanderzustellen. Das nannten sie Puppen. Dann stand das Feld voller Puppen. Es beeindruckte mich so, dass ich später davon träumte: Ich flog langsam über dieses Feld voller Puppen, schwebte, konnte steigen nur mit dem Willen die Brust leicht zu strecken. Das Licht war heller, als ich es je mit Augen sah, ohne zu gleißen. Und das Gelb der Stoppeln und der Puppen war stark, tat so wohl und wärmte. - Dann lag ich wach im Bett. Das Gefühl sank in sich zusammen, es blieben ein paar nackte Bilder. Die habe ich immer noch, wenn ich sie nur hervorholen will, aber dieses Gefühl nie wieder. Es bleibt nur eine Art wehmütige Erinnerung.

Jetzt knurrt mir der Magen. Erschrocken sehe ich zu meiner Nachbarin, die es hätte hören müssen. Aber sie schläft. Das Mädchen neben ihr sieht aus dem Fenster und hat Stöpsel in den Ohren. Wann kommt der Snack, falls es die kaum zwei Stunden bis Toronto überhaupt etwas gibt? In Toronto geht es nicht gleich weiter, bis dahin werde ich wohl nicht verhungern.

Jetzt bin ich auf dem Weg zu meinem Großvater, und der wurde mit jeder Meile lebendiger. Ich würde ihn gern noch einmal sehen, bevor der Sarg in die Erde sinkt. Ich muss allerdings mit Wehmut zugeben, die letzten vier Jahre in Minnesota nur selten an ihn gedacht zu haben. Eigentlich ging mir erst in letzter Zeit auf: Ihm verdanke ich dieses Leben, wie es jetzt ist: dieses Leben ausfüllen zu können. Ja, auch Ava. Hätte es wieder vermasselt, wenn ich die Zeit mit meinem Großvater nicht gehabt hätte, auch wenn es schon ziemlich lange her ist. Ja, Ava ist das größte Geschenk, sie lässt mich jetzt fliegen, weil sie es wusste.

Es war die Zeit, als er mir von der Kornernte erzählte. Großvater fragte mich eher scheu, ob ich mich erinnern könne, wie er, Luca, ihn als kleiner Bub, der grad anfing zu sprechen, genannt habe. Ich sah ihn unschlüssig an: „Ja, sicher doch Opa.“

„Du kannst dich nicht erinnern? - Nein, du hast nicht Opa zu mir gesagt, du hast Umba gesagt.“

„Aber ich weiß es nicht!“

„Ja, einige Zeit sagtest du Umba zu mir. Dann sahen wir uns lange nicht, und dann nanntest du mich Opa. Anscheinend hast du gerade angefangen dich zu erinnern. Ein Kind fängt in diesem Alter an, sich an sein Leben zu erinnern.“

Mehr sagte er nicht. Aber mich ließ es nicht los. Umba -, wie anders das klingt, so weich, so hingegeben - Umba. Was ist als kleiner Junge mit mir geschehen, an das ich mich nicht erinnern kann. Seit mir Großvater das sagte, fühlte ich Umba, sagte aber Opa. Warum eigentlich?

Die verteilen vorn tatsächlich Essen! Warum fangen die netten Stewardessen heute nicht ausnahmsweise hinten an. Wie langsam das geht! Jetzt hält sie ihm auch noch das Etikett der Flasche vor die Nase. Man, das ist Cola und kein Sechsundachtziger Bordeaux! Und das hier ist auch nicht Businessclass, du kriegst das Zeug in den Pappbecher. Die Dame lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Jedenfalls remple ich in meiner hungrigen Unruhe die Nachbarin an, die erschrocken aufwacht und mich entgeistert ansieht. Ich entschuldige mich und weiß nicht in welcher Sprache sie antwortet. Nach dem ewigen Anblick der nach den Seiten wandernden Essen, dem leisen Plätschern der Säfte, Limos und Colas in die Becher, des Kaffees in die Plastiktassen, irgendwann gurgelt auch bei uns der Saft und wir können die Folie vom Einwegtablett mit den Sandwiches reißen.

Nachdem all diese Müllberge zusammen mit den Rollwagen und den Stewardessen wieder in der Services Kabine verschwanden, meint der Kapitän aus dem Lautsprecher, bereits den Sinkflug eingeleitet zu haben und wünscht einen angenehmen Aufenthalt. Wenn man durch die Fenster sieht, kommt die sonnige Erde langsam näher, zieht zusehends schneller vorüber, bis sie schließlich in irrsinnigem Tempo vorbeirauscht und das Rumpeln der Fahrwerke langsam erlösend verklingt. Dann klatschen die Leute Beifall - wem auch immer - und ich finde, anständigerweise sollten die Leute den Beifall nie weglassen.

Im Restaurant schicke ich Ava eine Nachricht. Seit ich so ein Ding hatte, auf dem man auch mit Stift malen konnte, schrieb ich Ava mit der Hand und die Nachricht auf dem Display sieht tatsächlich so aus wie meine Handschrift. Gestern Abend saßen wir noch zusammen am Laptop und suchten nach Flügen. Und dieser über Toronto passte auf die Schnelle.

Ich habe meine Tasche zwischen den Beinen. In der ist mein Laptop, den brauche ich vor allem, um mit Ava zu telefonieren, denn wir wollten uns sehen. Aber auch das Buch ist in der Tasche, welches ursprünglich weiße Blätter hatte, das ich damals vollschrieb, als ich Umba fast jeden Tag im Krankenhaus besuchte.

Umba lag fest. Niemand wusste, ob es sich bessern würde. Ja, ich war selbst in einem Loch. Er erzählte mir aus seinem Leben, und gleich kaufte ich dieses Buch und schrieb es damit voll in all den Tagen und Nächten. Es half mir heraus aus diesem Loch. Dieses Buch war in meiner Tasche und einmalig, denn die Erinnerung geriet mit der Zeit ins Schwimmen. Mein Großvater wurde wieder gesund, keiner weiß wodurch. Aber jetzt schloss er seine Lippen und ich will dieses Buch niemals aus der Hand geben.

Ich sitze in einem Restaurant des Toronto Pearson International Airport, klappe die Tasche auf und ziehe das Buch mit dem unscheinbaren hellgrauen Pappeinband heraus. Als ich es vor vier Jahren schrieb, tat ich das nicht auf dem Laptop, weil, mit dem brachte ich es nie über das Zweifingersuchsystem hinaus. Es war Yvonne, die mich fertig machte, die mich scheibchenweise wieder verlassen hatte, die ich unsterblich liebte. Ich litt, ich war krank, gestürzt in tiefe Melancholie. So flüssig konnte ich die Sätze nicht in den Computer hacken, dass sie von selbst hinglitten. Zu oft trommelte ich mit meinen zwei Zeigefingern daneben, ich kam so nicht in Fluss. Mit der Feder riss der Gefühlsfaden nicht ab. Mit der Feder ging es, ich konnte schreiben und leiden.

Bei Umba durfte man traurig sein. Das tat ich schon als Kind, wenn ich hingefallen war, oder bei einer Prügelei hart getroffen, dann war ich auf Umbas Schoß, lehnte an seiner Brust mit dem Daumen im Mund. Umba grummelte etwas in mein Haar und dann wurde es besser.

Dann war ich groß, hatte seit dem Ende des Studiums Arbeit als Informatiker in einer Firma für Mess- und Steuerungstechnik in meiner Heimatstadt und litt wegen Yvonne, die mit mir an der Uni war, mit mir schon bald die Bude teilte und jetzt nicht mehr wollte: Wie kann sie nur, das geht nicht. Und Umba musste im Krankenhaus in seinem Bett bleiben und hatte im Liegen wenig Schmerzen. Ich wünschte mir, wieder klein zu sein, auf seinem Schoß zu sitzen, an seine Brust gelehnt mit dem Daumen im Mund. Aber Umba konnte ich nichts vormachen, saß auf der Kante seines Krankenbettes mit hängenden Schultern und erzählte von Yvonne. Das erzählte ich später auch dem Buch.

In Minnesota hatte ich es die ersten Monate einige Male in der Hand, und dann erst wieder, als ich es Ava zeigte. Gestern wollte ich es ins Reisegepäck stecken und konnte mich nicht erinnern. War es wieder in den Umzugskarton für die wichtigen Dinge zurückgelegt? Vor zwei Jahren musste die Dienstwohnung des Tochterunternehmens meiner deutschen Firma in Minneapolis nach meiner Kündigung schleunigst für den Nachfolger frei werden. Ava war schon mit dem Viehtransporter unterwegs, durchs offene Fenster hörte ich Edwards Motorrad. Mein bester Freund Edward wollte beim Umzug helfen.

Ja, und gestern wusste ich nicht mehr, wo das Buch war. Wo stand dieser Karton?

Jetzt, hier in Toronto auf dem Flughafen im Restaurant, schlage ich es auf. Die ersten Seiten waren Yvonne, aber eben verschoben sich die Anzeigen auf dem Schirm. Mein Flug nach Frankfurt wird aufgerufen. Ich stecke es zurück und die Verschlüsse der Tasche schnappen zu.

Ich sitze am Fenster einer Maschine der Air Canada, die Sonne steht tief hinter der Stadt und versinkt rotorange hinter Schleiern ferner Wolken. Unter uns dämmert der große See. Der Flieger dreht auf Kurs und taucht in die Nacht über dem Atlantik.

Was muss das für ein Bild abgegeben haben, als die Krankenschwester in Großvaters Zimmer kam: Der eingesunkene junge Mann auf der Bettkante, vielleicht sah sie die Tränen in den Augen, die erschrocken und beschämt sie anstarrten. Nein ich wollte nicht, niemand sollte mich so sehen. Die erfahrene Schwester merkte wohl nach kurzem aufmerksamen Blick für die Schmerzbehandlung dieses jungen Mannes nicht zuständig zu sein, vergewisserte sich über Großvaters Befinden und sagte, später wiederkommen zu wollen.

„Luca, du liebst sie?“

„Ja doch!“

„Du liebst sie sehr.“

„Ja!“

„Aber warum weinst du, geht es ihr schlecht? -- Du weißt nicht, wie es ihr geht? Es kann sich für Yvonne also auch gut anfühlen.“

„Aber Opa!“

„Ging sie weg und redete sie mit dir? Hat sie dich ausgelacht?“

„Neiin! - Sie hat geredet und mich nicht ausgelacht.“

„Erzähl mir, ich will gar nicht wissen, was sie gesagt hat, sondern wie. Was hast du in ihren Augen gelesen?“

„Opa, ich liebe sie!“

„Ja, eben.“

„Ja eben, ja eben!“

Ich sehe zum Bullauge, in dem fern der stählerne Schimmer letzten Dämmerns langsam in die Nacht versinkt.

Dieses ja eben hallt mir wieder in den Ohren, als schickt es mir die versunkene Sonne am dunklen Himmel hinterher, schneller, als der Flieger je in die dunkle Nacht entweichen kann.

Dieses ja eben schleuderte ich ihm doppelt entgegen, und wischte dazu mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht, wurde fast wütend. Ich erinnere mich und brauche dazu nicht das graue Buch aufzuschlagen, in dem das auch alles steht. Umba wartete und sah zu, wie ich mich wand. War er so barbarisch? Was wollte er eigentlich?

„Luca, du liebst sie und siehst sie nicht? Hat deine Liebe das Sehen verlernt?“

Mir war wie aufspringen und davonrennen, wie kann er nur. Er legte mir die Hand auf die Ellenbeuge.

„Luca, sag es mir.“

„Opa, was willst du!?“

„Was willst du!“ Ich sank wohl eher noch mehr ein. „Du willst sie wieder, weil du sie so sehr liebst. Ist es so?“

„Machst du dich lustig über mich?“

„Oh nein, ganz bestimmt nicht. Ich weiß, wie sich das anfühlt, auch wenn ich alter Knochen jetzt hier festliege. Glaub mir, ich weiß es nur zu gut.“

„Ja, aber.“

„Was wünscht du ihr! Versteh‘, nicht dir selbst, sondern ihr.“

„Sie hat mich grad verlassen.“

„Ja eben, trotzdem will ich wissen, was du ihr wünschst, auch wenn sie nicht wieder zurückkommt.“

„Na, nichts Schlechtes.“

„Also kehren wir dieses Wort um: Du wünschst ihr nichts Schlechtes, also wünschst du ihr alles Gute, so wie man jemandem alles Gute zum Geburtstag wünscht. Ich nehme an, von ganzem Herzen. Du liebst sie, also ist es dein Herzenswunsch.“

„Das ist sehr einfach, aber ja, ich muss wohl ja sagen.“

„Ich freu mich für dich, dass du ja dazu sagst, das ist stark, so wie du leidest. Also sind wir schon fertig. Sie hat sich entschlossen, das Leben nicht mit dir teilen zu wollen, also haben wir die Sache auf den Punkt gebracht.“

„Aber ist das gut.“

„Sie hat für sich entschieden, dass es gut für sie ist, also wäre eine Liebe, die meint, sie trotzdem als Frau haben zu wollen, eigentlich der blanke Egoismus.“

„Es tut trotzdem weh.“

„Lass sie laufen und wünsche, ihre Füße mögen dabei nicht erlahmen. Natürlich tut es weh, oh ja, wem sagst du das, aber lass es geschehen, es schmilzt stückchenweise diesen Egoismus um in Wohlwollen, und glaub‘ mir, du wirst nie damit fertig. Je lockerer, je beweglicher du wirst, erdrückt dich dein Leid nicht. Liebe ist größer, als einen Menschen unbedingt bei sich haben zu wollen. Vielleicht fühlte sich Yvonne nur nicht frei genug, eingeklemmt in dein erbarmungsloses Umklammern.“

„Opa, du machst mich rasend.“

„Luca, liebe sie endlich, lass ihr ihren Weg, auch wenn dieser wegführt und dir nur die rechte Hand bleibt, ihr Guten Tag zu wünschen.“

„Thh, das nennst du Liebe!“

„Lag jetzt eben Spott in deinem Ton, ja? Hab ich Spott gehört? Oder bilde ich mir das nur ein.“

„Opa, ich versteh es nicht.“

„Deine Tränen sind schon fast trocken, ist das so? Ertränk dein Leid nicht im Spott, lass es zu, sieh dir zu. Spott hat nichts mit Humor zu tun. Spott hat bleckende Zähne, wie ein Wolf. Humor hat Flügel, die sich über alles Treiben breiten, Schwingen, die alle Freuden und Leiden ausbrüten zu frischer Lebendigkeit.“

„Jetzt hebst du aber ab, Opa.“

„Es stimmt, du hast vollkommen recht. Das tut manchmal gut, besonders, wenn man tagaus und tagein hier liegen muss.“

Ich sitze in diesem Flieger: Weit über den Wolken und den höchsten Bergen inmitten der Nacht. Das Tempo hat mein Gefühl verlassen und ist eine nackte Zahl. Draußen ist es kälter als in der Gefriertruhe und in so dünner Luft spränge die Seele aus dem Leib. Die Sterne sind näher, aber nur um so viel weniger fern wie zwei Stunden zu Fuß auf den Hügel zu wandern und zu bleiben unter der klaren Nacht, voller Verwunderung und Staunen.

Ich staune auch über das Fluggerät - ganz ehrlich -, über das Kunstwerk aus so viel geballter Intelligenz, mit dem ich rechtzeitig zur Beerdigung von Großvater komme, mit nahezu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit. Wobei die Worte: nahezu hundertprozentig zu pessimistisch klingen, viel zu pessimistisch.

Trotzdem ist das Teil eine Konservenbüchse, in dem dreihundert Leute versuchen, so angenehm wie möglich sich fortzubewegen, beziehungsweise hinzubewegen. Wohin will der Herr neben mir, dessen Leselampe den mittleren Teil seines Bodys beleuchtet, mit dem geöffneten Buch auf seine Beine gesunken, dessen Umblättern ins Stocken geraten ist, weil der Herr schläft. Der Kopf im Schatten der Leselampe ist leicht zur Seite in die Lehne gesunken mit schmal geöffnetem Mund, dem ein leises, sanft röchelndes Schnarchen entströmt. Perfekt sitzender dunkelblauer Anzug mit Nadelstreifen, weißes Hemd mit weinrotem Schlips, der gelockert ihm um den Hals hängt, das Hemd steht offen. Kein Fünkchen Dreck unter den perfekt gefeilten Fingernägeln. Ich sehe beschämt auf meine eigenen Fingernägel: Kühe einfangen, Zäune reparieren und kein Frühstück.

Überhaupt ist es merkwürdig ruhig. Selbst die Stewardess, die ab und zu nach ihren Gästen schaut, bewegt sich behutsam, um die Passagiere nicht zu stören, die schlafen oder die Ohren verstopft haben und auf ihre kleinen flimmernden Bildschirme starren. Vielleicht sollte ich das auch tun, Stöpsel in die Ohren und durch die Kanäle zappen, bei irgendwas bleib ich hängen, bestimmt. Dann das Nächste, solange, bis die Augen rechteckig werden. Ich kenne das: Der Sog würde mich festhalten, der Schlaf danach zu kurz kommen und Umba wird blass, und Ava. - Nein, das will ich nicht; jetzt nicht. Als ich damals dieses Gespräch mit Umba in mein graues Buch schrieb, kratzte manchmal die Feder ungehalten über das Papier. Wie konnte Umba nur so auf meinem Leid herumtrampeln: Selbstmitleid, Egoismus. Ich sträubte mich dagegen. Dann wieder zu sehen: Vielleicht hat er doch recht. Umbas Finger war in der Wunde. Aber so schnell geht das nicht.

Ich sagte ihm damals nach seinem Satz über Humor und dessen Flügel, dass er jetzt aber abhebt mit seinen Worten. Und wir saßen eine Weile einfach nur da. Das heißt, ich saß auf der Bettkante, er musste liegen. Dann redete Umba weiter, die Augen geradeaus, also gegen die Decke des Krankenzimmers. Aber die Zimmerdecke schien es nicht zu geben: „Weißt du Luca, das mag jetzt alles rabiat rübergekommen sein, gewissermaßen mit der Brechstange. Du weißt, ich hatte schon ein paar Jahre auf dem Buckel bevor ich deine Oma kennenlernte und meinte schon übrigzubleiben. Die mehr als zwanzig Jahre zuvor geriet ich mindestens zehn Mal in solche Zustände, wie du jetzt. Das ist im Durchschnitt alle zwei Jahre. Und mit jedem Mal mehr nahm ich mir vor, mich nicht mehr so stark einzulassen, weil es ja dann so weh tut. Aber glaube mir, dieser sogenannte Amor hat in seinem Waffenarsenal nicht nur ein paar läppische Pfeile - oh nein - er ist mit dem Schicksal im Bunde und jedes Mal mehr schien die Waffe von größerem Kaliber, bis er mich endlich wieder soweit hatte, obwohl die heftigsten dieser Vorgänge platonisch blieben. Du weißt schon, wie ich das meine.“

„Du nennst das Vorgänge? Opa, bist du ein trockener Stock?“

„Ach Luca, mit den Worten ist es so eine Sache: Ich sage Vorgang, weil mit jedem Nachdenken darüber, mit jeder Erinnerung, das Rätsel immer größer wird. Oder kannst du sagen: ‚Ich weiß, was dahintersteckt bei dem, was mir jetzt passiert.‘ Du kannst es nicht einfach mit Blöde Kuh abtun. Ich hoffe jedenfalls, deine Suche nach des Rätsels Lösung endet nicht bei Blöde Kuh.“

„Ja, und wenn schon.“

„Bist du schon bei Blöde Kuh? Dann denk mal nach: Du hast eine blöde Kuh unsterblich geliebt. Man kann ja auch eine blöde Kuh unsterblich lieben, aber du willst mir jetzt nicht erzählen, du hättest das schon immer gewusst. Also, wer wäre in diesem Fall der Dumme Ochse?“

„Wenn du mich schon Dummer Ochse nennst…“

„Hab ich nicht, war ja nur für den Fall, du würdest doch bei Blöde Kuh landen, sozusagen als Vorschuss. Ja, aber ich fuhr dir wohl eben ins Wort.“

„Ja, ich weiß nicht -, ob das geht.“

„Luca stockt, das verspricht Spannung. Trau dich, sicher darfst du dich trauen, sag mir, was du willst, ich kann mir nach der Rederei heute alles vorstellen. - Was soll nicht gehen?“

„Ich will wissen von den Frauen vor Oma.“ Umba wurde still und ernst. „Siehst du, davon willst du mir nichts erzählen.“

„Na ja.“

„Na ja, oder na nein.“

„Wie steht es mit deiner Zeit? Meine ist jedenfalls ungewiss. Noch ist der Kopf klar, und die Schmerzen nehmen mich nicht allzu sehr in Anspruch.“

„Meine leere Bude ist grausig, nach der Arbeit kann ich zu dir.“

„Denk nicht, du kommst mit ein, zwei Tagen davon. Eine Woche reicht auch nicht. Ich werde es in die Länge ziehen, denn es ist reine Selbstsucht. Die Tage sind lang, die Schwestern und Ärzte haben wenig Zeit zum Plaudern. – Was machst du eigentlich auf deiner Arbeit, du hast doch Computer studiert.“

„Informatik nennt man das.“

„Ja, und was macht ihr da genau?“

„Wir bauen Sensoren und Alarmanlagen. Wie bei dir, es wird Puls, Temperatur, Blutdruck und so weiter rund um die Uhr gemessen, ohne dass dich das sehr stört. Diese Werte müssen in die Computer, wahrscheinlich sehen die alles auch vorn im Arztzimmer. Wir bauen Sensoren für den Maschinenbau, für Fahrzeuge und für Gebäude. Und wir kümmern uns darum, dass die Daten von den Computern verdaut werden können.“

„Wer wir?“

„Wir sind in unserer Abteilung zwölf Leute.“

„Warum bist du nicht bei deinem Vater in der Firma.“

„Vielleicht später.“

Damals sagte ich, vielleicht später. Aber daraus ist wohl ein Nie geworden. Und nun werde ich die nächste Woche wohl nicht einmal bei meinen Eltern wohnen, sondern im Hotel.

Er ließ nicht locker: „Warum jetzt nicht?“

„Ach Opa, du sagtest, Yvonne fühlte sich vielleicht nur eingeklemmt durch mich. Mit meinen Eltern geht mir das genauso. Und sie montieren mit fünf Leuten Alarmanlagen hauptsächlich in Einfamilienhäuser und ich will noch was lernen.“

„Der Betrieb scheint doch zu brummen? Deine Eltern sorgen dafür, dass ich hier allein dieses Zimmer habe, nachdem ich durch das Schnarchen meiner durchaus netten Mitpatienten nachts kein Auge zubrachte.“

„Das stimmt, sie finanzierten mir das Studium, das Auto, meine üppige Bude mit drei Zimmern, locker genug für Yvonne und mich. Sie mussten es sich nicht vom Mund absparen. Zeit für mich hatten sie allerdings nie wirklich.“

„Deine Mutter kommt jeden Sonntag für ein Stündchen, manchmal auch mit deinem Vater.“

„Jetzt plagt mich das schlechte Gewissen, weil ich nach vier Wochen das erste Mal da bin, und auch nur, um mich auszuheulen.“

„Ja, aber die Aussicht, dich jeden Tag da zu haben, neigt mich, dir zu verzeihen.“

„Das hört sich an wie ein wenig Erpressung.“

„Du hast das Signal deiner unsichtbaren Sensoren durchaus zutreffend verarbeitet. Manchmal denk‘ ich, dass Schnarchen das kleinere Übel ist, als den ganzen Tag allein zu sein. Aber wenn du jeden Tag kommst, ist ein ruhiger Schlaf mir doch lieber.“

„Du kennst den Preis.“

„Ich kenne ihn nur zu gut, auch wenn es schon reichlich lange her ist. Es handelt sich bei diesen Geschichten um sensible Daten, bisher geheim gehaltene Daten. Nicht mal deine Oma kannte sie, aber ich hatte das Gefühl, sie wollte es nicht unbedingt wissen.“

„Aber die Mädchen damals kennen die Geschichten auch.“

„Die kennen ihre eigene Geschichte, und ich weiß nicht, wer ich für sie war. Und sie kennen sich untereinander nicht. Bestenfalls ist es für sie auch ein Rätsel, oder sie haben es vergessen, obwohl es einige bestimmt nicht vergessen.“

„Jetzt machst du mich wirklich neugierig.“

„Luca, ich erzähle es dir. Du weißt, deine eigene Geschichte bleibt bei mir. Ich bin mir sicher, auch du bist keine Plaudertasche. Behalt es für dich, zumindest bis zu meiner Beerdigung.“

„Ok.“

„Wenn ich’s nicht gewusst hätte. – Wo fangen wir an, vorn oder hinten, kenn ich die Reihenfolge überhaupt selbst noch?“

Dann gähnte Umba, und ich legte ihm meine Hand auf die Seine. „Opa, wir fangen morgen an. Wieder um die gleiche Zeit?“

„Tu das, mein Junge.“

Umba kannte die Reihenfolge seiner Mädchen nicht, und das war dann auch wirklich so, bis auf das erste Mal, als es ihn richtig erwischte und das Mädchen vor Oma. Ich denke darüber nach, was übrigbleibt nach so langer Zeit, vor allem, wenn es keine Begegnung mehr gab. Ich sah Yvonne so lange nicht, wie Umba.

Während der Tage mit meinem Großvater wurde klar, er wird zu Hause weiter gepflegt. Zur gleichen Zeit fragte mich meine Firma, ob ich mir Minneapolis vorstellen könnte. Es wäre dort ein Kollege für länger krank geworden, der auch deshalb wieder nach Hause kommt. Es blieben aber nur sieben Tage bis zur Abreise. Ich hatte einen Tag Bedenkzeit und so fuhr ich am gleichen Tag mit dieser Neuigkeit zu Umba.

„Was hält dich?“

„Du hältst mich.“

„Ach Quatsch, nächste Woche bringen sie mich nach Hause. Deine Eltern haben schon alles organisiert. Das Pflegebett ist da und Wanda.“

„Wer ist Wanda.“

„Wanda wird mich pflegen, wenn ich sie will. Deine Mutter kommt morgen mit ihr. Wenn ich mir das vorstellen kann, wird sie im Gästezimmer wohnen und nur für mich da sein. Deine Eltern bezahlen.“

„Scheint das Leben wieder mal alles kräftig durchzuschütteln.“

„Mich kann nichts mehr so sehr schütteln, aber ich würde gern wieder in unser Häuschen, mit dem Bett an der Terrassentür, solange ich noch in den Garten sehen kann. Wir beide sind sowieso gleich fertig, also lass dich nicht aufhalten. Minneapolis; klingt gut, wo liegt das eigentlich?“

„Nicht sehr weit vom westlichen der großen Seen in den Vereinigten Staaten, Minnesota, grenzt an Kanada.“

„Das ist wirklich weit weg.“

Das graue Buch blieb unvollendet, denn für Oma war keine Zeit, aber Umba hätte es sowieso nicht getan, es war kein Jahr her, als sie plötzlich starb. Nein, er hätte es mir nicht erzählt, nicht so.

Ich zweifelte schon am ersten Tag, mir alles richtig merken zu können, und fragte, ob ich es aufnehmen dürfte, weil ich es aufschreiben wollte.

„Wie du willst. Und dann löschst du die Aufnahme, versprich mir das.“

Mein Versprechen hielt ich, es gibt von den Geschichten nur das graue von mir mit der Hand geschriebene Buch.

~~ 2 ~~

Ich schlief wohl auch ein, wie mein Nachbar, nur ohne Leselampe und ohne Buch, aber mein eigenes Schnarchen könnte ihn geweckt haben, denn als ich wieder aufwache sitzt er da, das Hemd zugeknöpft, den Schlips gerichtet, und liest. Was wohl, was liest ein Herr in dieser Aufmachung im Flieger. Sicher muss er mal die Beine vertreten und legt die Schwarte mit den offenen Seiten auf den Sitz. Ich könnte ja auch fragen, immerhin sitzen wir schon stundenlang nebeneinander. Aber ich hatte schon immer Scheu, wildfremde Leute einfach anzusprechen, einfach so, ohne Grund. Die Neugierde auf das Buch ist ja wohl kein Grund. Aber man wird doch neugierig auf die Menschen, noch dazu, wenn man stundenlang nebeneinandersitzt. Hält man es nicht aus, ihn nicht in eine Schublade stecken zu können? Sein gehobenes Outfit, man könnte ihn locker in der Schublade Manager unterbringen. Die Kommode mit der Schublade Manager müsste ziemlich groß sein, damit alle diese Manager reinpassen. Bis vor zwei Jahren war ich selber einer, nicht gerade in exponierter Stellung, aber ich war einer, besitze allerdings keinen so noblen Anzug. Und jetzt muss der Nachbar nur meine Fingernägel anschauen. In welche Schublade wird er mich stecken? Er weiß ja nichts von der ausgebrochenen Herde und der Eile, die wir hatten. Aber zugegeben, ich sah es erst im Flugzeug und saß lange genug auf dem Beifahrersitz entlang des Highways zum Flugplatz. Irgendwas hätte ich im Auto gefunden, um die Fingernägel auszukratzen.

Die Maschine dreht ein wenig nach rechts. Ich lehne mich mit der Schläfe an das Fenster. Es dämmert, aus einem schmalen gelben Horizont hebt sich ein weiter Bogen unheimlich zarten Blaus, das unerbittlich die Dunkelheit verlöschen lässt. Der weite Ozean schläft in schwarzem Dunst. Was mag die Crew im Cockpit jetzt im Osten für ein Bild erleben.

Umba zeigte mir die Sonne, als ich schon wusste, der Osterhase versteckt nicht die bunten Ostereier, aber diese noch immer gern suchte. Die Großeltern nahmen mich mit auf die Hütte, die am Karsamstag aus dem Winterschlaf geweckt wurde, hörte das Knarren der alten grünen Fensterläden, das Quietschen der rostigen Riegel und das Knistern der Scheite im Kamin, die ich zuvor aus dem Verschlag hinter der Hütte trug. Umba fragte mich, wie schon die Jahre zuvor, nach dem Abendessen, ob ich bereit sei für das Osterwasser, zu dem man sich am Ostermorgen in der Dämmerung zur Quelle aufmachte und Osterwasser schöpfte. Man redete nicht, kein einziger Laut durfte über die Lippen, bis das Werk vollbracht war. Umba erzählte darüber, leise und geheimnisvoll. Dann stellten wir die alte Tonkaraffe auf den Tisch, legten alle Kleidung zurecht, die Stiefel, und dann schliefen wir ein mit dem festen Entschluss, beim Erwachen zu schweigen. Am Morgen stiegen wir hinauf zur Quelle in der Bergwiese, Umba voran. Die Sterne wurden blass und der Mond war untergegangen, der am Abend noch hell ins Fenster schien. Es war still, alles schien innezuhalten. Mit der vollen Flasche gingen wir hoch zum Waldrand, setzten uns und sahen zu, wie der Waldsaum auf dem fernen Kamm zu glühen begann; und dann ging sie auf -, die Ostersonne. Eine Amsel sang und die Ohren taten sich auf für alles Leben hinter uns im Wald. Still war auch ich nicht auf dem Weg zurück zur Hütte, und ob Oma jetzt die Eier verstecken würde. Sie dürften jetzt zwar wieder reden, meinte Umba, aber wenn ich weiter so laut wäre, würde wohl der Osterhase endgültig vertrieben. Ich suchte eifrig, und brachte alles zum Tisch vor die Hütte und fragte Oma später, ob ich denn alles gefunden hätte. Und wenn schon, der Fuchs hätte vielleicht auch gern ein gekochtes Ei, sagte sie. Dann nahm ich heimlich eines, und versteckte es für den Fuchs. Umba kümmerte sich um das Feuer im Kamin. Dann gab es Frühstück mit Ei. Tags darauf holten mich die Eltern ab, und wir flogen zusammen in den Süden, dorthin, wo es schon wärmer war, bis zum Ende der Osterferien. Darüber schrieb ich in dem Aufsatz für die Deutschlehrerin: Mein schönstes Ferienerlebnis. Über Umba und die Ostersonne schrieb ich nicht, die hätten mich ausgelacht, wie hätte ich es auch schreiben sollen.

Ich sehe versonnen aus dem Bullauge, es ist heller Morgen. Was machen die Piloten bloß, wenn die Sonne ihnen geradewegs ins Gesicht scheint. Den Autopiloten scheint sie nicht zu stören. Unter uns ziehen Wolken, kleine schüttere weiße Häufchen wie eine Herde schneeweißer Schafe über die glitzernden Wellenkämme des endlosen Wassers. Von hier oben steht das Meer still, und wenn ich es nicht schon gesehen hätte vom hohen Achterdeck dieser großen Fähre, der Sturm an meinen Haaren zerrte und die Tränen in die Augen trieb, die Wellen anfingen sich zu überschlagen und die schäumenden Wellenkämme das Licht einfingen, als würde die Sonne glitzernde Streifen ins Meer weben. Wenn ich das nicht schon gesehen hätte, wären hier nur Wolkenschafe.

Ich sitze im Flieger und sehe Wolkenschafe - von oben. Nie hätte ich in der Schule in Physik, oder auch in Chemie, so etwas hinschreiben dürfen, bestenfalls: winzige Wassertröpfchen, Verdunstung, Aerodynamik, und sowas. Hatte ich ja gemacht, für mein gutes Abitur bekam ich von meinen Eltern die Autoschlüssel. Und die Maschine wird beim Landeanflug die Wolkenschafe zerschneiden und die Wolle in den Triebwerken verbrennen.

Umba erzählte von Wolf, der in der Großstadt lebte, seinem Patenjungen aus Zeiten, bevor er Oma kennenlernte. Mit ihm fuhr er ins Hochgebirge, ging mit Wolf, der noch keine Physik wusste, den Weg auf einen Zweitausender, an dessen Gipfel sich weiße Wolken drängten. Je näher sie mit jedem Schritt nach oben der Wolkendecke kamen, wurde der Junge schweigsamer, bis sie eine dieser Wolken einhüllte, wie dichter Nebel einhüllte. Die wärmende Sonne war weg, der Steig vor ihnen in den Schwaden verschwommen, samt der Felsen, dem Geröll, der niedrigen Büsche, Gräser und Kräuter. Alles versank ein paar Armlängen vor ihnen in milchigem Dunst. Sie kehrten um und als der Blick ins Tal wieder frei wurde, redeten sie.

„Stell dir vor Luca, Wolf hatte Angst, sich an den Wolken den Kopf einzurennen, sich eine Beule zu holen. Ich wollte meine Freude an der rauen Natur, dem schroffen Gebirge, den Bergblumen mit ihm teilen, und der Junge hatte Angst, sich da oben den Kopf einzurennen, ohne dass ich es merkte.“ Umba wirkte immer noch betroffen, als er mir das erzählte.

Die Wolkenschafe unter uns in der Sonne lassen sich in ihrem gemächlichen Zug nicht stören, und dann schieben sie sich über das Festland. Von oben leuchten Wolkenschafe besonders, wenn die Sonne draufscheint, fast schon grell, als solle man nicht vorbeischauen, hinunter zum Ozean, auf die Felder und dunklen Wälder.

Wie anders neulich mit Ava. Die Wolkenschafe zogen über den See und die Wiese, auf der wir nebeneinanderlagen und die Augen ihnen folgten. Wir sahen an ihnen vorbei in die Weiten des blauen Himmels. Oh, wir hatten zu tun, denn Ava kam tags zuvor mit diesem kleinen Bild vom Frauenarzt, diesem rundlichen Fleck in der Mitte des Papiers. Wir lagen nebeneinander inmitten kleiner gelber Blüten, die sich kräuselten im lauen Wind, der die heiß gelaufenen Köpfe und suchenden Gemüter kühlte, zumindest versuchte er es. Ich lag rechts, Ava links, und ihre Rechte und meine Linke waren verschränkt, nahm dann diese Hände und legte sie auf ihren Bauch, dort, wo es diesen kleinen Knoten gab, so rund wie die Welt, der wachsen wird, eine Schale bekommt, mit Wasser innen, in dem dieses winzige Wesen wie eine Kaulquappe schwimmt, aber der Plan ist schon fertig. Sie werden sagen, ganz der Vater, ganz die Mutter, und sicher stimmt es, oder auch nicht. Bestimmt nicht, und schon gar nicht ganz, denn wir beide sind schon verschieden, sehr verschieden und leben doch schon fast zwei Jahre zusammen, sind miteinander verbunden. Jetzt gibt es eine Verbindlichkeit. Dieses Kind hat einen ziemlich dicken Faden um uns gesponnen. Die Versuchung ist groß, ihn Fessel zu nennen. Wer fühlt sich schon gern gefesselt. Aber der Plan ist fertig, als hätte er sich aus langer Zeit und den blauen Weiten des Weltraumes um uns herum in diesen kleinen runden Klumpen gesenkt, und fängt von vorne an.

Ja, der Weltenraum um uns herum: Sie liegen in weichem Gras über der harten Erde und sehen in die Ferne, nur Blau, ein Blau, das sie gradewegs hinausziehen will. Es ist um sie herum. Was ist schon die Dicke der Erde zur Sonne. Vielleicht liegen gerade eben, ihnen im Rücken, auf einer Farm in Australiens Westen zwei auf der Erde, die vom heißen Tag noch warm ist, und sehen in die Sterne der Nacht und die Hände liegen auf ihrem Bauch. Die beiden suchen vielleicht nach ihrem eigenen Plan, nicht nur den Plan ihres Kindes, genau so, wie sie hier in der Sonne.

Ja, meine eigene Mutter hat mich geliebt: Es lief für die Eltern alles nach Plan, der Junge war gescheit, der Junge machte Abitur, der Junge studierte. Für sie war klar: Der Sohn führt fort, was sie sich mühevoll aufbauten, was sie zu Wohlstand kommen ließ. Nein, ich wollte nicht. Mein Vater war sauer, die Mutter eher wohl ratlos, sie hat so viel zu tun. Was würde mein Vater bloß ohne sie machen. Und dann verschwindet auch noch die geliebte zukünftige Schwiegertochter, zudem noch der Sohn über das große Wasser.

Was ist mit meinem eigenen Plan. Habe ich den? Kenne ich den? Was ist mit solchen Vorgängen, Umba nannte es Vorgang, als ich mit Yvonnes Verschwinden in dieses Loch fiel, was soll das für ein Plan sein. Und unser Kind? Es wächst unter unseren Händen mitten in Avas Bauch, mitten in der Wiese voller gelber Blumen, mitten unter dem Himmel mit den lächelnden Wolkenschafen so vor sich hin, und soll einen Plan haben? Wird es ein Junge? Oder wird es ein Mädchen? Jedenfalls sind es nicht zwei, soviel ist schon klar. Ich weiß nichts. Oder sieht vielleicht Ava schon die Augen vor sich, die sie aus der Wiege ansehen.

Da lagen wir auf dieser Wiese am hellen Tag: Eigentlich gab es wie immer viel zu tun. Ihre Eltern sahen sie gehen und haben nicht gefragt, taten einfach ihre Arbeit. Es war wohl nichts, was sie gleich wissen müssten. Nein, besser lassen, es sah nicht wie Gewitter aus, und ganz bestimmt nicht wie allzu fröhliches Vergnügen. Ava mussten sie schon immer lassen, seit sie erwachsen war, aus der Schule heraus war, sie dann immer öfter Richtung Stadt fuhr, manchmal tagelang nicht nachhause kam, dann plötzlich wieder auftauchte und sich in die Arbeit stürzte. Sie hat nie darüber gesprochen, war einfach wieder da.

Ava hat mir erzählt von dieser Zeit. Ziemlich trocken hat sie erzählt, vielleicht auch nicht unbedingt alles. Aber ihre Eltern beschrieb sie genau, die ich auch schon einige Zeit kannte und jetzt nun schon zwei Jahre und konnte empfinden, wie sie gelitten hatten, versuchten mit ihr zu reden, ohne zu drängen. Nein, die Eltern drängten sie nicht, hätte bei ihr auch nichts genützt, im Gegenteil. Sie wussten, als ihre Nachbarn wegzogen, ihre Ranch verkauften, dass Ava ihre beste Freundin verlor. Kalifornien ist weit, das Telefon kein Ersatz. Und sie hatte niemanden mehr, mit dem sie über alles reden konnte. Lissi zog mit ihren Eltern und ihren vier jüngeren Brüdern weg, und Lissi lies Ava ihre Stute Tara. Die Eltern waren damit einverstanden. Lissi wollte sie nicht verkaufen und wollte Ava besuchen, aber daraus wurde nichts. Tara habe ich jetzt. Ava ritt mit mir manchmal zur dicken Eiche auf halber Strecke. Wenn wir die Pferde laufenließen, war es nicht weit. Und Avas Bo lief gerne, Tara hing sich dran. Es war ein Platz zum Reden und Schweigen, dieser Platz an der Eiche. Bo und Tara grasten auf der Lichtung. Aber bis zu Lissis Ranch ritten wir nicht. Ava war oft dort, auch mal ein oder zwei Tage, aber ohne Lissi wollte sie nicht mehr hin.

Ja, ich konnte Avas Eltern gut verstehen mit der Sorge um ihre Tochter. Aber sie war jung und erwachsen, und sie mussten sie schon lassen, als sie noch nicht erwachsen war. Wo nahmen sie bloß das Vertrauen her. Sorge ohne Vertrauen schafft Trennung, das ahnte ich selbst nur zu gut, wenn ich an meine Eltern dachte. Und als Ava dann wieder da war, freute sich ihr Bruder, offensichtlich, denn die Ranch war nicht sein Ding. Sie ist es auch jetzt nicht, aber er macht’s dann schon, wenn es brenzlig wird, wie heute früh, er war ja zum Glück da.

Die Geschichte, wie ich Ava kennenlernte, könnte glatt im grauen Buch landen, sie wäre dort in guter Gesellschaft. Aber Umba hat mir die mit seiner Frau auch nicht erzählt. Und es kann durchaus sein, ich erzähle als alter Mann meinem Enkel nur die Geschichte von Yvonne, weil Ava noch da ist, aber in diesem Fall kann der Enkel gleich das graue Buch lesen. Zumindest hätte ich nichts dagegen, keine Probleme mit der Reihenfolge meiner Geschichten zu haben.

Ava und ich: Es begann mit Edward, der jetzt noch jedes Mal vorbeikommt, wenn er zu seinen Eltern fährt, es ist fast kein Umweg. Von der Ranch bis zu Edwards Eltern sind es fünfundzwanzig Meilen. Er kommt jetzt allerdings auch im Sommer nicht mehr mit dem Motorrad, weil Taylor dabei ist, und neuerdings auch die kleine Jennifer. Aber diese Geschichte begann erst nach meinem Umzug zu Ava. Edward ist Wartungsingenieur in meiner ehemaligen Firma. Klar sind wir uns seit meiner Ankunft in Minneapolis gelegentlich über den Weg gelaufen, aber dann lief die Probeserie dieses neuen Sensors, der uns richtig ärgerte. Die Fehlerquote war viel zu hoch. Wir beide gehörten zu den Leuten, die das Problem schnell beheben sollten und blieben bald allein übrig. Edward und ich arbeiteten halbe Nächte durch, zwei Wochen lang, bis wir die Schwachstelle im Griff hatten, und dann nochmals Zeit brauchten, um die Fertigungslinie umzustellen. Wir aßen zusammen und wenn es spät wurde, schlief Edward bei mir auf der Couch, denn zu seiner Wohnung hatte er eine Stunde mit der Tram. Meine Wohnung war gleich neben dem Betrieb. Als wir mit der Sache durch waren und die Bosse uns ein paar Tage frei gaben, fragte Edward, ob ich Lust hätte mit zu seinen Eltern zu fahren: Angeln, Lagerfeuer, Blockhütte.

„Haben deine Eltern nichts dagegen?“

„Hab einen Freibrief, erst ab zwei Personen anmeldepflichtig. - Auto oder Motorrad?“

„Motorrad? Du hast ein Motorrad?“

„Kein Koffer, keine Tasche, nur das, was in die Boxen passt!“

„Wie weit?“

„Rund hundertfünfzig Meilen nach Norden.“

„Also vier Stunden.“

„Ja, je nachdem.“

„Wie je nachdem.“

„Wenn man sich nicht erwischen lässt, aber mit dir auf dem Sozius kann ich sowieso nicht so schnell.“

„Und das Wetter?“

„Soll schön bleiben die nächsten Tage.“

„Und die Klamotten? Ich hab nichts für die lange Fahrt auf einem Motorrad.“

„Es gibt einen Laden, der hat es auch gebraucht, Bikes und alles dazu, auch zum Ausleihen. Den Helm kannst du von mir haben.“

In diesem Geschäft - es war auch eine Werkstatt - gingen wir natürlich erst zu den gebrauchten Maschinen. Diese auf Hochglanz polierten Teile zogen mich magisch an.

„Wenn du dir eine kaufen willst, dann warte, bis wir bei meinem Vater sind, der hat zwar nicht so große Auswahl, aber sie sind günstiger, und du wirst nicht über den Tisch gezogen, wenn ich dabei bin.“

Bei den Anzügen wurden wir fündig, fast der gleiche, den Edward hatte, Handschuhe, Stiefel, alles dabei. Zwei Stunden später hatten wir Minneapolis hinter uns.