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Adam Johnson lebt ein exzessives Leben. Der junge Künstler stürzt sich in belanglose Affären, Drogen- und Alkoholexzesse. Was nach ausschweifenden Partys aussieht, ist jedoch vielmehr die verzweifelte Flucht aus einer schmerzlichen Realität. Verfolgt von traumatischen Erlebnissen, versucht Adam sich in seinem von Chaos beherrschten Leben zurecht zu finden, über das er mehr und mehr die Kontrolle verliert. Doch dann verliebt er sich in Mary Jane. Kann die Liebe der beiden Adam davor retten, immer tiefer in den Strudel der Selbstzerstörung gezogen zu werden? Im Mittelpunkt des Romans stehen die großen Fragen des Erwachsenwerdens: Identitätsfindung, Beziehungen und Freundschaften, familiäre Konflikte, Einsamkeit, die Auseinandersetzung mit sich selbst und die Suche nach Sinn. Authentisch, emotional und nah an der Lebensrealität einer Generation, die zwischen Aufbruch und Orientierungslosigkeit steht.
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Seitenzahl: 501
Veröffentlichungsjahr: 2025
Zum Buch
Adam Johnson führt ein ausschweifendes und wildes, jedoch auch einsames Leben. Entfremdet von seiner Familie und Freunden lebt er illegal in einem verlassenen Haus, malt ausdrucksstarke Bilder, in denen er seine Emotionen und Erlebnisse verarbeitet und stürzt sich nachts in das Großstadtleben. Als er Mary Jane kennen lernt, verliebt er sich in sie. Doch die innige Beziehung, die zwischen den beiden entsteht, wird immer wieder von Adams Temperament auf die Probe gestellt. Verfolgt von einer traumatischen Vergangenheit, die ihn stets einholt, gerät Adam immer tiefer in einen Strudel der Selbstzerstörung, bis er schließlich seinen Tiefpunkt erreicht.
Über die Autorin
Celina Jale wurde 1996 in Köln geboren. Seit ihrem elften Lebensjahr schreibt sie Gedichte, Kurzgeschichten und Romane. Sie absolvierte an der Universität Siegen ihren Bachelor in den Fächern Medienwissenschaften und Medienmanagement. Anschließend arbeitete sie zeitweise am Theater, bevor sie ihr Masterstudium Intercultural Management aufnahm. Neben ihren Studien und beruflichen Tätigkeiten, hat sie ihre große Leidenschaft des Schreibens immer weiterverfolgt und mit Umbra ihren ersten Roman veröffentlicht.
Celina Jale
Umbra
Can you picture what will be
© 2024 Celina Jale
Umschlag: Sebastian Müller
Lektorat, Korrektorat: Heiko Altemeier
Weitere Mitwirkende: Elisa Altemeier
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
ISBN
Paperback
978-3-347-88320-8
e-Book
978-3-347-88322-2
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Für meine Familie und meine Freunde
Ich liebe den, dessen Seele tief ist auch in der Verwundung, und der an einem kleinen Erlebnisse zugrunde gehen kann: so geht er gerne über die Brücke.
Ich liebe den, dessen Seele übervoll ist, so daß er sich selber vergißt, und alle Dinge in ihm sind: so werden alle Dinge sein Untergang.
Ich liebe den, der freien Geistes und freien Herzens ist: so ist sein Kopf nur das Eingeweide seines Herzens, sein Herz aber treibt ihn zum Untergang.
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
1. Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
2. Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
3. Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Danksagung
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Urheberrechte
Widmung
Kapitel 1
Danksagung
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1. Teil
1
Als das Bild fertig war, warf ich keinen Blick mehr drauf. Ich wusste, ich würde es sowieso nicht mögen und es unter Umständen wieder zerstören. Also stellte ich die Staffelei in eine Zimmerecke, damit die Farbe trocknen konnte. In ein bis zwei Tagen würde ich es mir ansehen. Dann war genug Zeit vergangen. Mit dem glimmenden Rest meiner Zigarette zündete ich mir eine neue an und schnippte den Stummel durch das offene Fenster.
Ich wohnte illegal in einem verlassenen und ziemlich heruntergekommenen Haus. Meine Bleibe lag im sechsten Stock und war viel mehr Loft als eine richtige Wohnung. Ein Stahlträger in der Mitte des Raumes stützte das Dach, rechts und links davon zwei Dachfenster und eine Fensterfront ging nach Westen raus, so dass die rotglühende Abendsonne das Atelier erleuchtete. Die Wand, die von der Tür aus rechts gelegen war, hatte ich bemalt. Die gegenüberliegende Backsteinwand hatte ich so kahl gelassen, wie sie war. Davor lag eine alte Matratze, auf der ich schlief. Aus alten Holzkisten hatte ich eine Regalwand gezimmert, auf der die wenigen Bücher standen, die ich besaß sowie ein kleines Radio und meine Utensilien zum Malen und Zeichnen. In einer kleinen Nische hing ein zerbrochener Spiegel über dem Waschbecken. Zum Kochen benutzte ich einen Gaskocher und Campinggeschirr. Die Toilette war eine Etage tiefer im Treppenhaus untergebracht, eine Dusche gab es nicht. Der überwiegende Teil des Bodens wurde von einem großen mit Farbflecken übersätem Leinentuch bedeckt, das mir als Unterlage diente, wenn ich malte.
Ich verschloss alle Farbtuben und nachdem ich meine Malutensilien verstaut und den letzten Schluck aus der Weinflasche genommen hatte, schaltete ich das Radio aus, aus dem leise Popmusik erklang – ich hasste die meisten Lieder, aber es war besser, als gar keine Musik zu hören – und schlug die Tür hinter mir zu.
Meine mit Farbtupfern besprenkelten Klamotten hatte ich nicht gewechselt. Hose und Hemd mochte ich einfach und dass ein paar Kleckse drauf waren, störte mich nicht besonders. Mit einer Handbewegung löste ich den Dutt, so dass meine schwarzen Locken auf die Schultern fielen. Das ausgeleierte Haargummi streifte ich über mein Handgelenk. So sehr ich es auch mochte, mein Haar lang zu tragen, nervte es dennoch, wenn es mir beim Malen ständig ins Gesicht fiel.
Es war früher Abend. Zu dieser Zeit lief ich gern durch die Stadt und ließ mich treiben. Mit sechzehn war ich das erste Mal in einer Großstadt gewesen und hatte mich unsterblich in ihre Lichter, die Vielfalt der Farben, den Dreck der Straßen und das bunte Gewimmel der Menschen verliebt. Niemals würde ich den Abend vergessen, an dem ich zum ersten Mal durch Gebäudeschluchten geschlendert war, über denen der dunkle Nachthimmel so hell erleuchtet wurde, dass man kaum die Sterne sehen konnte.
Mein erstes Ziel war der Plattenladen. Er war sehr urig und nicht besonders groß. Sobald sich mehr als sechs Leute darin aufhielten, wurde es schon eng. Der Laden gehörte Erich, einem schlanken Mann in seinen Fünfzigern mit schulterlangem grauem Haar. Er trug eine Brille mit runden Gläsern, meist eine graue Stoffhose und über seinem Hemd trug er immer einen bunten, von seiner Frau Hanne gestrickten Pullunder.
„Adam“, grüßte er mich lächelnd. „Wie geht es dir?“
„Gut, gut. Und selbst?“
„Ich kann mich nicht beklagen.“
„Wie geht es Hanne?“
„Auch gut, danke der Nachfrage. Hier ich habe was für dich.“
Er öffnete die Schublade an seinem Tresen, holte einen Kalender hervor und zog aus einem kleinen Fach einen Zettel heraus. Mit einem breiten Lächeln überreichte er ihn mir und ich faltete ihn neugierig auseinander. Links war ein deutscher Text zu lesen und rechts dessen Übersetzung.
„Vielen Dank, Erich. Das ist echt klasse von dir.“
„Das habe ich gern gemacht. Ich find’s einfach toll, dass so ein junger Mann wie du doch gerne solche Musik hört. Meinen Sohn kann ich nicht dafür begeistern. Er hört nur Rock’n’Roll.“
Seit ich mich einmal mit Erich über Musik unterhalten hatte, lag jedes Mal eine neue Platte für mich bereit, die er mir unbedingt zeigen wollte, sobald ich den Laden betrat. Am liebsten mochte ich bisher Lotte Lenyas Interpretation von Die Moritat von Mackie Messer, deren Text Erich mir nun aufgeschrieben und übersetzt hatte. Es gefiel mir, dass diese melancholische Gesangsmelodie von dieser doch sehr jahrmarktsartigen Musik begleitet wurde. Aber Erich hatte mir auch sehr viele verschiedene Klassikstücke gezeigt, die mir sehr gefielen. Ich hatte nie zuvor wirklich Klassik gehört, für mich war es eine ganz neue Welt. Besonders gefielen mir Lacrimosa, Nocturne No. 1, die Ungarischen Tänze, das Klavierkonzert No. 1 und der Mephisto Walzer.
„Vielen Dank! Sehr nett von dir“, sagte ich und hielt seine Übersetzung hoch. „Dann kann ich mal mitlesen, während ich das Lied höre.“
„Du siehst aus, als wärst du heute sehr fleißig gewesen“, merkte Erich an und deutete auf meine farbverschmierte Kleidung.
„Ich habe mein Bild zu Ende gemalt.“
„Und bist du zufrieden mit deiner Arbeit?“
„Mal sehen“, antwortete ich schulterzuckend. Plötzlich weiteten sich Erichs Augen, seine Hand griff meine Schulter und er sagte aufgeregt: „Adam, mir kommt da eine Idee. Hast du nicht Lust meinen Laden neu zu gestalten?“
„Wie meinst du das?“
„Na ja, wir räumen den Laden bisschen um, du bemalst die Wände. An sowas habe ich gedacht. Ein wenig frischer Wind könnte nicht schaden.“
„Ja, klar. Wenn du möchtest, dann helfe ich dir gern.“
„Ich bezahle dich natürlich auch. Komm doch morgen nach Ladenschluss bei uns zum Essen vorbei und wir besprechen das Ganze.“
„Gerne. Danke, Erich.“
„Gut. Dann viel Spaß mit Lotte Lenya.“
Ich nahm die Platte mit in eine Kabine und las den deutschen Text von Mackie Messer mit. Nachdem ich einige weitere Lieder angehört hatte, ging ich wieder nach vorne, zu Erich an den Tresen.
„Macht es dir was aus mir auch die Texte von diesen beiden Liedern aufzuschreiben?“, fragte ich ihn und zeigte auf die Titel.
„Lied der Fennimore und Ballade vom ertrunkenen Mädchen“, murmelte Erich. „Mach ich gern.“
„Danke. Bis morgen.“
„Bis morgen, Adam.“
„Grüß Hanne von mir.“
„Werde ich.“
An der Ecke holte ich mir einen kleinen Imbiss. Anschließend schlenderte ich die Strandpromenade entlang. Es war ein angenehmer warmer Frühlingsabend und dementsprechend recht viel los. Das Publikum auf der Promenade war durchmischt. Man sah Familien, ältere Ehepaare, Jugendgruppen und einsame etwas wirr aussehende Gestalten, zu denen ich wahrscheinlich auch hinzuzählte. Eine Gruppe junger Leute ging an mir vorbei. Sie erinnerten mich an meine Jugendfreunde. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass wir gemeinsam lange Sommerabende am See verbracht oder uns in der Milchbar getroffen hatten. So viel war in der Zwischenzeit passiert, mehr als man begreifen mochte.
Ich setzte mich auf den weichen noch warmen Sand und schaute aufs Meer hinaus. Die sanften Bewegungen der Wellen hatten immer eine beruhigende und tröstende Wirkung auf mich. Hinaus aufs Meer zu schauen, erinnerte mich immer daran, wie weit weg ich von all dem war, was ich hinter mir lassen wollte. Es war eine harte und drastische, wenn auch notwendige Maßnahme gewesen, mich selbst aus meinem damaligen Leben herauszureißen. Manchmal vermisste ich meine Geschwister – besonders Lynn. Hin und wieder hatte ich einen Brief geschrieben, aber damit hatte ich vor einem Jahr ganz aufgehört. Es war sehr hart von mir – das war mir durchaus bewusst. Und auch wenn meine Geschwister keine Schuld traf, so war es für mich zurzeit das Beste, mich ihnen zu entziehen, um zu dem, was damals alles geschehen war, Abstand zu gewinnen. Es schmerzte mich und war ungerecht, doch ich war unfähig all den erlittenen Schmerz von ihnen zu trennen. In meinem letzten Brief hatte ich versucht es ihnen zu erklären, doch ich zweifelte stark daran, dass sie es so einfach hingenommen hatten.
Als die Sonne mit ihren letzten Strahlen im Meer unterging, zündete ich mir eine Zigarette an und schlenderte zurück nach Hause. Hinter der Eingangstür fand ich auf dem Boden einen zusammengefalteten Zettel. Mein Name stand drauf. Jemand hatte ihn wohl unter dem Türspalt durchgeschoben. Als ich die schwungvolle Handschrift erkannte, besserte sich meine Laune sofort. Ich faltete den Zettel auseinander und ein Geldschein fiel heraus.
Komm vorbei!
Liv
„Sie kann es nicht lassen“, murmelte ich und hob den Geldschein auf. Es war nicht das erste Mal, dass Liv mir eine Nachricht mit Taxigeld unter der Tür durchgeschoben hatte. Sie traf mich selten zu Hause an und da ich auch kein Telefon besaß, war dies die einfachste Methode mich zu erreichen. Es war mir nicht unbedingt recht, dass sie mir immer Geld für ein Taxi daließ, andererseits besaß sie so viel Geld, dass es ihr sowieso nichts ausmachte. Zudem lag ihr Haus so weit außerhalb, dass man ohne Auto, und ich besaß ja keins, ohnehin schlecht hinkam.
Als ich dem Taxifahrer die Adresse nannte, beäugte er mich skeptisch. Ich konnte es ihm nicht ganz verdenken, immerhin sah man mir an, dass ich völlig abgebrannt war und Liv lebte in einer sehr reichen Gegend. Sie war Schauspielerin – eine sehr gute und sehr bekannte sogar. Liv hatte bereits in etlichen Kinofilmen mitgespielt. Ich fragte mich, ob sie noch andere Leute zu sich eingeladen hatte. Es war sehr selten, dass sie keinen Besuch bei sich hatte. Meistens hielten sich Schauspieler und Schauspielerinnen, Regisseure, Models, Musiker oder was sonst noch für ausgeflippte Typen in diesen Kreisen unterwegs waren, bei ihr auf. Abgedrehte Partys feiern ging mit ihnen immer, aber mit den wenigsten konnte man gehaltvolle Gespräche führen.
Als das Taxi vor dem Tor zu Livs Auffahrt hielt, bezahlte ich meine Fahrt und stieg aus. Ich drückte den Knopf der Gegensprechanlage und nach einem Klicken, hörte ich Liv durch den Lautsprecher fragen: „Ja? Wer ist da?“
„Ich bin es, Adam“, antwortete ich.
„Aah, Adam!“, kreischte sie erfreut und mit einem Brummen öffnete sich das Tor. Ich konnte mir nicht verkneifen zu dem verdutzten Taxifahrer rüberzusehen und ihn frech anzugrinsen.
Liv wohnte in einer Villa, wie man sie sonst nur aus Filmen kennt. Zu beiden Seiten der Auffahrt ragten Bäume über die Straße, die sich den Hügel hinaufwand und schließlich den Blick auf Livs Haus öffnete. Es war hell gestrichen und auf jeder Seite der zwei Etagen waren ausladende Fenster eingelassen. Der okka angehauchte Farbton, die übermannshohe Flügeltür im Portal, das mit Terrakottaziegeln bedeckte Dach – all das verlieh dem Haus einen mediterranen Touch. Links neben dem Haus stand Livs metallic-blauer Cadillac Eldorado, ein wirklich tolles Cabriolet.
Liv empfing mich barfuß und winkte mir fröhlich zu. Sie steckte in einer kurz geschnittenen Jeans, die weiten Ärmel ihres gelben bauchfreien Tops unterstrichen die Leichtigkeit ihrer Armbewegungen. Ihr langes blondes Haar hatte sie mit einem bunten Tuch wie bei einem Haarreifen zusammengebunden. Sie war eine bildschöne Frau und ich kannte niemanden sonst, der so viel lachte wie sie. Man konnte nicht anders, als sie zu lieben.
„Ich freu mich so sehr, dass du gekommen bist“, sagte sie, schlang ihre Arme fest um mich und gab mir einen Kuss auf die Wange. Sie fasste mich an der Hand und zog mich ungeduldig hinter sich her ins Haus.
„Komm rein, ich habe schon alles für Margaritas bereitgestellt.“
„Du warst dir ja ziemlich sicher, dass ich komme.“
„Ich habe es vor meinem Inneren Auge gesehen.“
„Ach, das Innere Auge.“
„Mach dich nur lustig, aber bisher hat es sich nie getäuscht.“
„Ist das dein neuer Film?“, fragte ich und nahm das Textbuch in die Hand, welches auf dem Küchentresen lag.
„Ja, meine erste Komödie. Ich bin schon ganz aufgeregt.“
„Wann geht’s los?“
„In vier Wochen, glaub ich. Wir drehen zum Glück hier in den Studios, dann kann ich wenigstens zu Hause schlafen.“
„Drehbücher lesen sich wirklich nicht so gut“, bemerkte ich, während ich ein paar Seiten überflog.
„Die Limetten habe ich selbst gepflückt.“
„Die sehen auch super aus.“
„Die besten Margaritas habe ich damals mit Gigi getrunken. Da waren wir in Frankreich in einem süßen alten Bauernhaus auf dem Land und im Garten wuchsen auch Limettenbäume. Das ist, glaube ich, mittlerweile fast drei Jahre her. Nächstes Mal, wenn ich in Frankreich oder Italien oder sonst wo drehe, nehme ich dich mit.“
„Also, ich sag nicht nein.“
„Du hast mir echt gefehlt in letzter Zeit.“
„Ich habe mich auch sehr gefreut, als ich deinen Zettel gefunden hab.“
„Ach, du Süßer.“
Wir nahmen unsere Drinks und gingen hinaus auf die Terrasse. Obwohl Liv alleine war, lebte sie in diesem großen Haus. Es war mit vier Schlafzimmern, einem riesigen Wohnbereich und einer sehr modernen Küche ausgestattet, die allerdings kaum benutzt wurde. Zwei große Badezimmer und ein riesiger Garten mit Terrasse und Pool taten das übrige dazu. Am besten gefiel mir der Wohnbereich. Die Sitzecke war mitten im Raum vertieft in den Boden eingelassen und die Seite zum Garten hin bestand komplett aus Glas, sodass es schön hell im Haus wurde. Insgesamt war das ganze Haus schlicht, aber stilvoll eingerichtet.
Liv hatte häufig Gäste. Manchmal kamen Freunde, manchmal ihre Eltern, manchmal ihre Schwester mit Familie. Ich hatte selbst mal zwei Wochen bei ihr gewohnt. Damals war ich noch von Stadt zu Stadt getrampt und hatte keinen festen Wohnsitz gehabt. Liv war auf dem Rückweg nach Hause gewesen. Sie hatte zuvor eine alte Freundin aus Schultagen besucht und als diese schöne Frau in ihrem blauen Cadillac Cabriolet anhielt, um mich mitzunehmen, ließ ich mich nicht zweimal bitten. Erst sehr viel später war mir aufgegangen, wer mich da überhaupt mitgenommen hatte. Wir verstanden uns auf Anhieb und waren seither gute Freunde. Wenn Liv denn mal Zeit hatte, unternahmen wir gern was zusammen. Bedingt durch ihre Arbeit war sie aber häufig nicht da und hatte wenig Freizeit. Umso mehr genoss ich es, mit ihr auf der Terrasse zu sitzen und zu quatschen.
„Erzähl, was gibt es Neues bei dir?“, fragte sie und nahm einen Schluck.
„Nicht besonders viel. Ich war heute bei Erich im Plattenladen und er will, dass ich seinen Laden ummodle.“
„Das klingt aufregend.“
„Wenn er und seine Frau Deutsch sprechen, klingt es sehr lustig. Ich glaube, sie sprechen einen Dialekt.“
„Mach mal nach.“
„Das kann ich nicht nachmachen. Es klingt so besoffen genuschelt.“
„Was? Das würde ich gern mal hören.“
„Morgen Abend bin ich bei ihnen zum Essen. Da versuch ich mir mal was zu merken.“
„Oh ja, bitte.“
„Die Margarita schmeckt echt gut. Endlich bin ich den Geschmack von dieser Piss-Cola und dem Papp-Wrap los.“
„Das klingt nicht nach einem besonders leckeren Abendessen.“
„Es war ekelhaft, aber irgendwas muss ja in den Magen.“
„Sollen wir uns nachher was bestellen? Ich hatte heute auch noch nichts Richtiges.“
„Gern.“
„Worauf hast du Lust?“
„Bleiben wir unkompliziert. Lass uns einfach Pizza bestellen.“
„Oh ja, super Idee! Ich habe schon ewig keine Pizza mehr gegessen. Scheiß Diät.“
„Diäten sind doch Unsinn.“
„Wem sagst du das. Aber da muss ich nun mal durch.“
„Was hast du denn heute so gemacht?“
„Ich bin früh aufgestanden, habe Sport getrieben, meinen Text gelernt, bin ein bisschen rumgefahren und dann hatte ich die Idee, dich zu besuchen und direkt mitzunehmen, aber da warst du wahrscheinlich grade im Plattenladen. Ich habe hier noch ein wenig telefoniert und darauf gehofft, dass du noch auftauchst.“
„Ich dachte, dein Inneres Auge hat mich kommen sehen.“
„Hat es auch, aber man weiß ja nie bei dir.“
„Zu dir komm ich doch immer, Liv.“
„Ich weiß. Nur manchmal habe ich so ein komisches Gefühl, dass du einfach wieder gehst und niemandem etwas sagst.“
„Dir würde ich auf jeden Fall Bescheid sagen, wenn ich vorhätte abzuhauen.“
Sie fasste meine Hand und schenkte mir ein bezauberndes Lächeln. Ich liebte Liv, aber nicht auf romantische Art. Sie war eine tolle Freundin und ein wunderbarer Mensch und ich fand es schön, dass wir uns so nahe waren, emotional und körperlich. Sie kuschelte sich gern an mich oder gab mir hin und wieder einen Kuss, aber es war nie sexuell zwischen uns und das gefiel mir so sehr. Es war einfach schön sich einem Menschen nahe fühlen zu können.
„Oh, ich muss dir unbedingt ein Lied zeigen, dass ich momentan rauf und runter höre.“
Liv sprang auf und kurz darauf erklang aus dem Wohnzimmer Rockmusik.
„Klingt gut, das Intro gefällt mir. Wie heißt es?“
„Treat her right. Komm, tanz‘ mit mir!“, forderte sie mich auf. Ich konnte mich nicht daran erinnern, sie jemals besucht zu haben und nicht mit ihr tanzen zu müssen.
Sie legte immer wieder neue Platten auf, wir tanzten durchs Wohnzimmer, schenkten uns eine Margarita nach der anderen ein, aßen Pizza und alberten rum. Irgendwann sprangen wir nackt in den Pool und plantschten im Wasser, während Livs neues Lieblingslied zu uns hinausschallte.
Ich war angenehm betrunken und gab mich dem Nebel in meinem Kopf hin. Es war ein Gefühl, an das ich mich viel zu leicht und viel zu früh gewöhnt hatte. Doch ich wollte es auch nicht mehr missen. Der Nebel machte vieles erträglicher, er half mir loszulassen. Ich konnte meine Wut und den Schmerz vergessen, mich für ein paar Stunden leicht fühlen. Ich liebte die Momente, in denen ich das Gefühl hatte, ohne Vergangenheit oder Zukunft zu sein. Die Ungewissheit war so deutlich spürbar, mit jedem Atemzug atmete ich sie ein und sog das Leben in mir auf. Für einen kurzen Augenblick blendete ich alle Geräusche um mich herum aus, starrte in den Himmel und konzentrierte mich auf meinen Herzschlag. Das Pochen. Das Ticken.
Nach einer heißen Dusche in Livs Marmorbad, kuschelten wir uns in ihrem riesigen Bett aneinander und schliefen ein.
2
Erichs Frau kochte immer deutsch, wenn ich mal zum Essen bei ihnen war und jedes Mal fragte ich mich, ob sie extra für mich so kochte oder ob sie ausschließlich Gerichte aus ihrer Heimat aßen. Hanne freute sich jedes Mal, wenn ich zu Besuch kam – vermutlich vermisste sie ihren Sohn Rudi. Er war ungefähr in meinem Alter und studierte in Deutschland.
„Hanne, das schmeckt ja unglaublich lecker“, sagte ich begeistert.
„Das ist eine ganz besondere Spezialität“, erklärte sie mit ihrem Akzent, den ich so niedlich süß fand. „Das freut mich, dass es dir schmeckt.“
„Wie spricht man es nochmal aus?“, fragte ich.
„Käsespätzle“, antwortete Erich.
„Das könnte ich jeden Tag essen.“
„Lieb von dir, Adam“, sagte Hanne und strahlte dabei über das ganze Gesicht. „Erich, frog Adam, ob er e Bier zuem Essen trinke will.“
„Adam, magst du noch ein Bier trinken?“
„Gerne.“
Erich stellte mir noch ein Bier hin und nachdem wir angestoßen hatten, fragte ich: „Sprecht ihr einen Dialekt aus eurer Heimat? Ich kann kein Deutsch, aber es klingt ein wenig so, als würdet ihr einen Dialekt sprechen.“
„Ah, wunderbar!“, rief Erich erfreut aus und klatsche dabei in die Hände. „Toll, dass du das rausgehört hast. Wir sprechen in der Tat Dialekt, Badisch. Hanne mag es lieber im Dialekt zu sprechen, da fühlt sie sich wie zu Hause.“
„Wo kommt ihr denn her?“
„Aus Freiburg.“
„Das liegt direkt am Schwarzwald“, fügte Hanne hinzu.
„Ah, der Schwarzwald … Davon habe ich schon gehört. Soll wohl sehr schön sein.“
„Es ist wirklich wunderschön dort“, beteuerte Hanne und klang dabei ein wenig wehmütig.
„Vermisst du Freiburg?“, fragte ich sie.
„Manchmal schon. Die Berge und Wälder. Aber hier gefällt es mir auch.“
„Wo studiert euer Sohn?“
„In München“, antwortete Erich.
Nach dem Essen besprachen Erich und ich bei einer Tasse Kaffee und einem Stück Apfelkuchen, wie wir den Plattenladen umgestalten könnten. Erich wollte mir für den nächsten Tag seinen Wagen leihen, sodass ich zum Flohmarkt fahren konnte, um mich nach Möbeln und dergleichen für den Laden umzusehen.
Als ich wieder Zuhause war, arbeitete ich noch ein paar Stunden an verschiedenen Skizzen und Entwürfen für Erichs Laden. Er war begeistert, als ich sie ihm am nächsten Tag vorstellte. Dann drückte er mir einen Fünfziger in die Hand und sagte: „Hier kauf alles auf dem Flohmarkt, was du für geeignet hältst. Ich vertrau dir da. Und falls du auch was Tolles für dich findest, dann hol es dir gerne.“
„Danke, Erich.“
Auf dem Flohmarkt fand ich ein paar Dinge, die gut in den Laden passen würden. Für deutlich weniger als die Hälfte des Geldes, das Erich mir mitgegeben hatte, hatte ich drei schöne Lampen, ein Regal und zwei Hocker gefunden. Gerade war ich dabei die letzte Lampe im Kofferraum zu verstauen, als ich von einer hellen, mir wohlvertrauten Frauenstimme angesprochen wurde.
„Hi, Adam.“
„Judy. Hi!“
„Wie geht’s dir so?“
„Gut, gut. Bummelst du hier ein wenig rum?“
„Ja, ich brauchte mal eine Pause vom Lernen. Irgendwann kann man einfach nicht mehr am Schreibtisch sitzen.“
„Das kann ich verstehen. Es ist auch zu schön, um drinnen zu sitzen.“
„Und du? Wie ich sehe, hast du was für dich gefunden.“
„Ich helfe einem Freund seinen Laden neu einzurichten und hab hier ein paar Sachen gekauft.“
„Oh, cool.“
„Hast du Lust auf Limo und Strand?“
„Ja, gern.“
„Ich muss nur vorher die Sachen abliefern.“
„Klar.“
„Kommst du mit oder willst du dich noch ein wenig umschauen und wir treffen uns am Strand?“
„Ich komm gerne mit.“
Ich hatte Judy vor ein paar Monaten in einer Warteschlange kennen gelernt und traf mich seither gelegentlich mit ihr. Meistens hingen wir gemeinsam am Strand oder bei ihr rum. Manchmal besuchten wir auch zusammen ein Konzert oder gingen ins Kino. Es war so herrlich unkompliziert mit ihr. Außerdem schätze ich ihre ruhige Art.
Während wir zurück zum Plattenladen fuhren, hörten wir Radio und unterhielten uns über Musik. Nachdem ich Erich den Wagen zurückgegeben hatte, kaufte ich uns eine Limo und wir liefen barfuß am Wasser entlang.
„Ich glaub, ich muss mich mal nach einer neuen Wohnung umschauen“, sagte Judy.
„Warum das?“
„Meine Mitbewohnerin treibt mich langsam in den Wahnsinn. Anfangs hat es wirklich gut mit uns funktioniert, aber mittlerweile streiten wir uns fast nur noch.“
„Das klingt stressig.“
„Nächste Woche schau ich mir zwei Wohnungen an.“
„Ich glaub, ich könnte nicht gut mit anderen zusammenleben. Eine Zeit lang bin ich im Internat gewesen und dort musste ich mir ein Zimmer mit jemandem teilen. Auch wenn er ein entspannter Typ war, ist mir das einfach zu nahe.“
„Ein Zimmer wäre mir auch zu eng. Deshalb bin ich auch aus dem Wohnheim raus. Aber mir eine Wohnung mit jemand anderem zu teilen, finde ich eigentlich ganz gut. Dann ist man nie allein.“
„Ich bin lieber für mich.“
„Wo wohnst du eigentlich? Ich bin bisher noch nie bei dir gewesen.“
Bevor wir den Weg zu mir nach Hause antraten, holten wir uns noch einen kleinen Imbiss. Auch wenn ich nur ein paar müde Scheinchen in meiner Hosentasche hatte, lud ich Judy natürlich ein. Judy wirkte zunächst etwas skeptisch, als ich die Eingangstür des verlassenen Gebäudes aufdrückte, was ich ihr nicht ganz verdenken konnte. Doch als wir meine Wohnung betraten, verflog ihr Misstrauen.
„Du hast es dir hier wirklich schön gemacht“, sagte sie begeistert. „Ich wusste gar nicht, dass du malst.“
Ich meinte aus ihrer Stimme einen leisen Vorwurf herauszuhören.
„Darf ich mir die Bilder ansehen?“
„Nur zu.“
„Wow, die sind wirklich toll.“
„Sollen wir hoch aufs Dach? Es ist abends immer unglaublich da oben.“
„Gern.“
Das Dach war mein liebster Ort. Ich hatte dort ein paar Decken und Kissen ausgelegt, um es etwas gemütlicher zu machen und nicht auf dem kalten Steinboden sitzen zu müssen. Oft lag ich stundenlang da oben, bis tief in die Nacht, manchmal auch bis zum Morgen. Ich liebte es in die Weite des Himmels zu schauen, während ich unter mir das Summen der Stadt hörte.
Judy hatte die Arme um ihre Beine geschlungen und schaute der untergehenden Sonne entgegen, die ihr braunes Haar golden schimmern ließ. Sie wurde ein wenig rot, als ich durch ihr weiches Haar strich und mit einer Strähne spielte.
Wir blieben noch lange bis nach Sonnenuntergang auf dem Dach, kifften, unterhielten uns und schliefen miteinander.
Es fühlte sich angenehm an, morgens aufzuwachen und ein Ziel für den Tag zu haben, besonders ein so schönes wie Erichs Laden umzugestalten. Die Farben pumpten durch meine Adern hindurch, fanden mit der Leichtigkeit einer Vogelschwinge ihren Weg auf die Wand, gebaren Gesichter, senkten mich in Trance. Des Abends dann, wenn ich meine Messer zu Seite legte und meine Augen über mein Werk schweifen ließ, wog die Erschöpfung mich sanft in ihren Armen.
Ich war dabei, das letzte Wandbild zu vollenden, als eine dunkelhaarige Frau den Laden betrat. Sie war etwa vierzig, sehr schlank, trug ein stilvoll geschnittenes schwarzes Kleid und strahlte eine unglaubliche Eleganz und Autorität aus, die mich fast etwas einschüchterte. Ihre grauen Augen musterten interessiert die von mir gemalten Portraits.
„Guten Tag“, grüßte sie mich.
„Guten Tag“, erwiderte ich höflich, unschlüssig, ob ich auf sie eingehen oder einfach weitermalen sollte. Doch die Frau nahm mir die Entscheidung ab.
„Interessante Maltechnik. Mit Messern, sehe ich das richtig?“
„Genau.“
„Ich nehme an, dass dies hier nicht dein einziges Kunstwerk ist?“
„Zu Hause habe ich haufenweise Bilder.“
„Hättest du vielleicht Interesse daran, sie mir zu zeigen?“ Mit diesen Worten reichte sie mir ihre Karte: Kate Winslow, Galeristin.
„Klar, gern.“ Aus ihrer schwarzen Handtasche holte sie einen zierlichen Kalender hervor und blätterte ihn auf.
„Was hältst du davon, mich am Donnerstag in der Galerie aufzusuchen und mir einige deiner Bilder vorzustellen?“
„Eh, … sehr gerne.“
„Schön.“
Sie reichte mir ihre Hand und gab mir durch einen Blick zu verstehen, dass sie meinen Namen erwartete.
„Ich heiße Adam“, sagte ich und schüttelte ihre Hand.
„Adam. Dann sehen wir uns am Donnerstag.“
„Ich werde da sein.“
Ich konnte mein Glück kaum fassen und sah nochmals auf Kate Winslows Karte. Nie hatte ich auch nur ansatzweise daran gedacht, meine Bilder auszustellen. Ich malte sie für mich, weil es mir Spaß machte. Doch nun vielleicht eine Ausstellung in Aussicht zu haben, gab mir mit einem Mal einen ganz neuen Blick auf mein Malen. Meine Kunst.
Zu Hause wusch ich meine beste Hose und mein bestes T-Shirt bestimmt dreimal. Eine halbe Stunde hockte ich vor meinem kleinen Zuber und seifte meine Wäsche ordentlich ein, um auch den dunkelsten Fleck hinauszubekommen. Als ich die triefnassen Sachen aufgehängt hatte, suchte ich ein paar Bilder aus, die ich zu meinem Treffen mit der Galeristin mitnehmen wollte. Die Entscheidung fiel mir gar nicht so leicht, wie ich angenommen hatte. Am Ende hatte ich dann doch sieben Stück ausgesucht und ordentlich für den Transport verpackt.
Die Nacht vor dem Treffen konnte ich vor Aufregung kaum Schlafen. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hatte ich das Gefühl etwas wie echte Freude zu empfinden. Mein Herz klopfte heftig, als ich die Galerie betrat. Es war ein großer Raum, der trotz seiner Verwinkelungen lichtdurchlässig war und geräumig wirkte. Die ausgestellten Bilder hingen an schlichten weißen Wänden. Auf einem Podest stand eine Skulptur. Der Parkettboden glänzte.
Kate kam lächelnd auf mich zu und sagte: „Adam, schön, dass du gekommen bist. Ich freue mich sehr. Darf ich dir einen Kaffee oder einen Tee anbieten?“
„Einen Kaffee nähme ich gern.“
Sie führte mich durch die Galerie hindurch in ihr Büro. Die Einrichtung war spartanisch, aber stilvoll. Links an der Wand stand ein dunkles Ledersofa. Diesem gegenüber befand sich Kates Schreibtisch, hinter dem ein großes Bild von einem Pferd hing, dessen Wildheit auch etwas Unheimliches in sich barg. Kate Winslow ließ den Gegenständen ihren eigenen Raum. Das gefiel mir. Während ich auf dem Sofa saß und meinen Kaffee trank, schaute Kate sich meine Bilder an. Zwischendurch murmelte sie Sachen wie „So viel Einsamkeit“ oder „So intensiv“.
Schließlich, nachdem sie alle Bilder durchgesehen hatte, hob sie ihren Kopf. Neugierig sah sie mich, mit verschränkten Händen unter ihrem Kinn, an.
„Wie alt bist du, Adam?“
„Zwanzig.“
„So jung. Und schon eine so lange Reise.“
Auf meinen irritierten Blick hin fügte sie mit einem leisen Lächeln hinzu: „Man kann es lesen. Du kennst die Orte und Personen auf den Bildern. Du kennst ihre Geschichten. Man sieht es daran, wie du sie malst.“
Mit einem Mal fühlte ich mich, als hätte ich mich ausgezogen, ohne es zu merken. Unauffällig wischte ich meine feuchten Handflächen an meinen Hosenbeinen ab, während ich mein Pokerface bewahrte. Kate spürte meine Verunsicherung offenbar dennoch und sagte: „Entschuldige, falls ich dir zu nahegetreten sein sollte. Das lag nicht in meiner Absicht. Ich wollte dir zu verstehen geben, dass deine Bilder über eine ungemeine Ausdruckkraft und Lebendigkeit verfügen. Und ich würde mich freuen, wenn du meine Bemerkung als Kompliment auffassen könntest.“
„Danke.“
Kate schaute mich ganz offen an. Nach einer Weile sagte sie: „Dieses Bild hier erweckt besonders mein Interesse. Würdest du mit mir seine Geschichte teilen?“
Das Bild zeigte das Portrait einer rothaarigen Frau, die ein dunkelblaues Kleid trug. Mit beiden Händen umklammerte sie ihr Mikrofon und schaute dem Betrachter direkt in die Augen. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, so als würde sie im nächsten Moment zu singen beginnen. Mein Herz wurde gleich ein wenig schwerer.
„Ich habe mich mal in einen Jazzclub geschlichen und auf der Bühne stand diese einsame und gebrochene Frau. Obwohl sie unendlich traurig wirkte, wahrscheinlich einer der traurigsten Menschen, die ich je kennen gelernt habe, konnte sie so wundervoll singen. Ich mochte sie wirklich sehr gern.“
„Du kanntest sie wohl mehr als nur vom Sehen.“
„Langsam werden Sie mir unheimlich.“
„Ich bin nur eine aufmerksame Zuhörerin.“
Kate lächelte mich freundlich an und ich nahm noch einen Schluck Kaffee.
„Ich kannte sie nicht besonders gut. Sie hat mich eine Woche bei sich wohnen lassen und dann bin ich weitergezogen.“
„Hast du sie wieder gesehen?“
„Nein. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Wahrscheinlich ist sie ihrem Kummer erlegen.“
„Wie heißt das Bild?“, fragte Kate nach einer kleinen Pause.
„Elaine.“
„Ist es ihre oder deine Verzweiflung, die aus dem Bild spricht?“
„Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich meine. Wieso interessiert Sie ausgerechnet dieses Bild so sehr?“
„Darin sind so viele scheinbar widersprüchliche Emotionen festgehalten, dass ich einfach neugierig war, wer diese Person ist, die ein solches Chaos in dir ausgelöst hat.“
„Das können Sie alles darin lesen?“
„Kunst, die uns berührt, ist immer zutiefst persönlich. Wäre es anders, könnten wir niemals eine Bindung zu einem Bild, einem Musikstück oder einem Text aufbauen. Wir reagieren automatisch auf etwas, das wir kennen und in unserem Inneren auf Resonanz trifft.“
„Demnach finden Sie also auch etwas von sich in diesem Bild wieder.“
„So ist es.“
„Darf ich raten?“
„Nur zu.“
„Einsamkeit.“
„Knapp daneben.“
Mein Unbehagen fiel langsam von mir ab. Kate schenkte mir noch etwas Kaffee nach und kam zum eigentlichen Thema zurück: „Da die Bilder ja einen starken persönlichen Wert für dich zu haben scheinen, frage ich mich, ob du sie überhaupt ausstellen möchtest.“
„Ich habe die Bilder für mich gemalt und nie daran gedacht, sie mal auszustellen.“
„Die Entscheidung liegt natürlich ganz bei dir. Es wäre schade, sie der Welt vorzuenthalten, denn ich bin mir sicher, dass sie nicht nur mich so ergreifen würden. Ich für meinen Teil würde sehr gerne mit dir zusammenarbeiten. Ich glaube, wir wären ein gutes Team und ich denke, ich könnte dir zu einem Namen verhelfen.“
„Ich habe mich schon entschieden. Aber es gefällt mir, wie Sie versuchen mich zu umgarnen.“
„Flirtest du mich grade an?“
„Das würde ich mich niemals trauen.“
„Also, wie hast du dich entschieden?“
„Ich bin dabei.“
Ich saß auf dem Dach und schaute über die Stadt, deren Häusermeer sich im goldenen Glanz der Abendsonne vor mir erstreckte. Der Anblick war so unbeschreiblich schön, dass es schmerzte. Noch nie hatte ich die atemberaubende Schönheit des Sonnenuntergangs ertragen können. Den Tag sterben zu sehen, fand ich schrecklich und zugleich so ergreifend, dass ich ihn mir doch immer wieder ansehen musste. Jedes Mal, wenn der Himmel in Gold getaucht wurde, durchzog mich eine tiefe Melancholie, gegen die ich mich einfach nicht wehren konnte.
Wie Blitze schossen Erinnerungen durch meinen Kopf, stießen mich in die Tiefe. Eine klaffende Leere weitete meine Brust und die Konturen meiner Umgebung wurden weich in meinem Blick. Ich war dort. In diesem Haus. An der Straßenecke. Spürte wie die Narben auf meinem Rücken brannten. Das Leder. Das Untier. Der See. Das Zittern setzte ein. Der Druck war zu groß. Ich konnte ihm nicht mehr standhalten. Er krümmte gewaltsam meinen Rücken. In diesen Augenblicken glaubte ich immer, an all dem zu zerbrechen, was im Moment auf mich einströmte und aus der Vergangenheit an mir zerrte.
Der Geschmack von Wacholder auf den Lippen beruhigte mich. Und je intensiver, desto dichter wurde der Nebel in meinem Kopf. Er füllte die klaffende Leere und umhüllte die Blitze, ließ sie unsichtbar werden, bis er schließlich alles verschluckte.
3
Nach jeder Episode überkam mich Taubheit. Und ich ging jedes Mal gleich dagegen vor. Ich suchte meinen Saufkumpel und Dealer Jacky Smith auf und rutschte mit ihm von einer Party in die andere. Jacky hatte ich noch nie nüchtern erlebt, unter anderem auch deshalb, weil ich mir sicher war, dass ich es nicht nüchtern mit ihm aushalten würde. Er war ein verrückter Kerl und ein Idiot. Das Einzige, was ihn interessierte, waren Drogen. Damit kannte er sich gut aus und das war ehrlich der einzige Grund für mich, Kontakt zu ihm zu halten.
Vier Tage lang war ich völlig drauf. Ich hatte absolut keine Ahnung, in wessen Häusern ich mich aufgehalten hatte und wer die Menschen um mich herum gewesen waren, es war mir auch egal. Wenn ich Lust hatte, feierte ich mit ihnen und wenn nicht, dann flog ich alleine, obwohl es alleine nicht immer so viel Spaß machte. Also beschloss ich mich gut einzudecken und bei Amy vorbeizuschauen, der anderen Frau, mit der ich mich gern traf. Sie war wenige Jahre älter als ich, hatte schwarzes Haar und schöne braune Augen. Mit ihr konnte man sich gut zudröhnen, sie war genauso experimentierfreudig und bei weitem nicht so schüchtern wie Judy. Judy war zu zart.
Es war nicht einfach, zugedröhnt Amys Haus zu finden. Auch wenn mein Zeitgefühl völlig daneben war, so glaubte ich fest daran, dass ich einen halben Tag gebraucht hatte, bis ich schließlich die richtige Tür fand.
„Na, da muss ich aber aufholen, um auf deinem Level anzukommen“, meinte Amy nur, als sie mich, an die Wand gelehnt, vor ihrer Tür stehen sah.
Wir lagen Kopf an Kopf auf dem Boden in meiner Wohnung. Amy reichte mir den Joint und fragte: „Wie lang bist du schon drauf?“
„Ich glaub vier Tage.“
Ich nahm einen tiefen Zug und lächelte der Leichtigkeit entgegen, die sich in meinem Körper breit machte. Sie strich mit ihren Fingern über meine Wange.
„Ich liebe es mit dir high zu werden, Amy.“
„Ich liebe deinen Stoff.“
„Ich will deinen Körper bemalen.“
„Was?“
„Ich will deinen Körper als Leinwand benutzen.“
„Nur zu. Aber dann will ich auch auf dir malen.“
Als ich am nächsten Morgen wieder zu mir kam, lag ich nackt und am ganzen Körper bemalt auf meiner Matratze. Amy neben mir, ebenfalls nackt und bemalt. Die vergangene Nacht war wie ein bunter in sich zerlaufener Film an mir vorbeigezogen. Ich erinnerte mich kaum an etwas und obwohl ich einen guten Trip gehabt hatte, wurde ich das Gefühl nicht los, dass irgendetwas Ungutes geschehen war.
„Kommst du klar?“, fragte Amy kurz, bevor sie wieder ging.
„Ja, ich denke schon.“
„Bis dann.“
Ich spürte, wie ich langsam wieder in einen normaleren Zustand hinüberglitt. Meine Gedanken wurden klarer und ich fühlte mich wieder einigermaßen wie ein Mensch. Das Atmen fiel mir nicht mehr so schwer und der Druck hatte sich ebenfalls von meiner Brust gelöst.
Erich war sehr besorgt, als ich am Laden ankam. Er fragte, wo ich gewesen sei, er habe sich große Sorgen gemacht und schon überlegt, mich bei der Polizei als vermisst zu melden. Ich antwortete ihm knapp, dass ich krank gewesen sei, es mir jetzt aber wieder besser ginge.
Als ich mein Messer in die Hand nahm und weiter an Mozarts Gesicht malte, fühlte ich mich gleich etwas besser. Dieser Hauch von Normalität hatte eine beinahe meditative Wirkung auf mich. Mit jedem Farbstrich kehrte mehr Ruhe in mich ein.
Während ich malte, erzählte ich Erich von Kate. Er schien ganz begeistert von den Neuigkeiten zu sein und versprach mir, für meine Ausstellung viel Werbung in seinem Laden zu machen. Erich war ein toller Typ. Es tat mir beinahe leid, dass ich ihn hatte hängen lassen.
Die nächsten Wochen tauchte ich komplett in meine Arbeit ab. Ich liebte es, mich auf Projekte zu stürzten und mich in ihnen zu vergraben. Gemeinsam mit Kate hatte ich Bilder herausgesucht, die in einer Vernissage gut zusammen in eine Ausstellung passen würden. Je öfter ich mich mit Kate traf, desto mehr wuchs meine Achtung vor ihr. Sie war eine so unfassbar intelligente und sensible Frau. Manchmal überkam mich das Gefühl, dass sie in mir wie in einem offenen Buch lesen konnte, was mich sowohl faszinierte wie Unbehagen auslöste. Dennoch verbrachte ich gern Zeit mit Kate und liebte es mit ihr zusammenzuarbeiten. Wir einigten uns auf einen Titel, entwarfen zusammen Flyer, planten die Raumgestaltung und die Eröffnungsfeier.
Aus einer Laune heraus entschloss ich mich dazu auch Amy und Judy zur Eröffnungsfeier einzuladen. Amys Überraschung konnte nicht größer sein, sie schien sich aber über meine Einladung zu freuen und versprach zu kommen. Mit Judy lief es allerdings alles andere als harmonisch ab. Als ich an ihrer Wohnung klingelte, öffnete mir ihre Mitbewohnerin.
„Ach, du bist es“, sagte sie. „Willst bestimmt zu Judy, oder?“
„Ja, ist sie da?“
„Die wohnt hier nicht mehr.“
„Oh, ist sie also schon umgezogen?“
„Ja, vor zwei Wochen.“
„Kannst du mir ihre Adresse geben?“
„Kann ich machen.“
Sie verschwand kurz ins Haus und kehrte dann mit einem kleinen Zettel zurück. Bevor sie ihn mir gab, sagte sie noch: „Ich weiß aber ehrlich gesagt nicht, ob es so eine gute Idee ist sie zu besuchen.“
„Wieso?“
„Na ja, als sie das letzte Mal von dir sprach, hat sie sich ziemlich über dich aufgeregt.“
„Okay, trotzdem danke“, sagte ich und nahm den Zettel mit der Adresse an mich.
Auf dem Weg zu Judys neuer Wohnung zerbrach ich mir den Kopf darüber, was ich getan haben konnte, dass sie so sauer auf mich zu sein schien. Es wollte mir nicht einfallen.
Kaum hatte Judy die Tür geöffnet, verzog sich ihr Gesicht zu einer gekränkten Mine.
„Hi Judy, ich wollte dir eine Einladung für meine Ausstellung vorbeibringen“, sagte ich und reichte ihr die Karte.
Sie stieß einen Laut der Fassungslosigkeit aus und machte keinerlei Anstalten die Karte anzunehmen.
„Du hast Nerven. Tauchst hier einfach auf, als wäre nichts gewesen.“
„Auf die Gefahr hin, dass du mir den Kopf abreißt, aber was genau ist passiert, dass du so sauer auf mich bist? Ich kann mich nicht erinnern.“
„Ich bin nicht sauer, ich bin total enttäuscht von dir. Dich da zu sehen mit dieser anderen Frau, nackt und … völlig zugedröhnt … wie ihr euch beschmiert habt …“
Fieberhaft versuchte ich mich an die Situation zu erinnern, die sie mir beschrieb, doch die Erinnerung schien schlicht nicht in meinem Gedächtnis zu existieren.
„Du hast keine Ahnung, wovon ich rede oder?“, schloss sie aus meinem ahnungslosen Blick.
Ich wusste nicht, ob sie im nächsten Moment anfangen würde mich anzuschreien oder in Tränen auszubrechen.
„Hör auf mich zu verarschen, Adam. Entschuldige dich richtig oder lass es. Aber tu’ nicht so, als wüsstest du nicht, was du mir alles Furchtbares an den Kopf geworfen hast. Es war alles so widerlich.“
„Judy, es tut mir aufrichtig leid. Ich habe keine Ahnung, was ich alles Schlimmes zu dir gesagt habe, ich war so high und erinnere mich kaum an etwas. Es tut mir wirklich leid, ich habe dich echt gern und ich würde dir nie bewusst etwas Gemeines an den Kopf werfen.“
Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Groß wie Perlen flossen sie langsam über ihre Wangen.
„Judy, es tut mir wirklich leid. Wein nicht.“
„Ich mochte dich, Adam, sogar sehr. Aber was passiert ist, kann ich nicht einfach vergessen und auch nicht verzeihen. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.“
Mit diesen Worten knallte sie die Tür zu. Ich hatte bereits meine Hand erhoben, um nochmals zu klopfen und sie zu bitten, sich mit mir auszusprechen, doch bei dem Gedanken an den zutiefst verletzten Ausdruck in ihrem Gesicht, entschied ich mich anders und ließ meine Hand wieder sinken. Ich hatte es versaut.
In den folgenden Tagen beschäftigte mich das Gespräch mit Judy immer wieder. Ich konnte ihren unglücklichen Blick nicht vergessen. Zudem fühlte ich mich so schuldig, weil ich mich so schäbig verhalten hatte. Was ich genau getan hatte, würde ich wohl nie erfahren, aber vielleicht war es auch besser nicht allzu tief zu graben. Ich kannte mich selbst gut genug, um zu wissen, dass Judy mit den Beschreibungen „widerlich“ und „furchtbar“ wahrscheinlich sehr richtig lag.
Doch je näher die Ausstellung rückte, desto mehr verschwand Judy aus meinen Gedanken. Einige Kritiker und Journalisten sahen sich die Ausstellung zwei Tage vor Eröffnung an und führten Interviews mit mir. Es war schon verrückt, ein Bild von mir abgedruckt in einer Zeitschrift zu sehen und gleich daneben ein lobender Text über meine Arbeit.
Die Vernissage war gut besucht. Die unterschiedlichsten Leute strömten in die Galerie und schlenderten von Bild zu Bild. Hanne und Erich hatten sich sogar fein herausgeputzt, was mich, zugegeben, ein wenig rührte. Begeistert liefen sie durch die Ausstellung. Auch Amy war gekommen, so wie sie es versprochen hatte. Sie klopfte mir auf die Schulter und sagte anerkennend: „Ich wusste gar nicht, dass du sowas auf dem Kasten hast. Klasse.“
„Danke, Amy.“
„Bist’n interessanter Typ.“
Als Liv die Galerie betrat, zog sie natürlich viele Blick auf sich, was sie allerdings kaum zu interessieren schien. Mit einem breiten strahlenden Lächeln kam sie auf mich zugeschwebt und drückte mich fest an sich.
„Oh, ich bin so stolz auf dich, Adam“, trällerte sie.
„Danke, Liv.“
„Es ist alles so toll. Ich bin so beeindruckt.“
„Komm, ich will dir was zeigen.“
Ich nahm ihre Hand und führte sie zu einem Bild, das etwas weiter hinten ausgestellt war. Als Liv es erblickte, blieb sie mit offenem Mund davor stehen.
„Das bin ja ich“, hauchte sie.
„Ich wollte dich damit überraschen. Gefällt es dir?“
„Es ist wunderschön.“
„Weinst du etwa?“
„Ich bin einfach so gerührt, Adam. Dass du mich gemalt hast und jetzt sogar hier das Bild ausstellst …“
Sie sah mich an, blinzelte ein paar Freudentränen weg und sagte leise: „Danke.“
Ich nahm sie in den Arm und kaum hatte sie sich wieder von mir gelöst, sagte sie bestimmt: „Ich kaufe es. Ich weiß auch schon, wo es hinkommt.“
„Du bist süß, Liv.“
Den restlichen Tag unterhielt ich mich mit verschiedenen Besuchern, trank ein paar Gläschen Sekt, naschte von den Häppchen und genoss meinen Moment. Es war ein ganz neues Gefühl für mich von Menschen akzeptiert und gemocht zu werden. Obwohl es sich gut anfühlte, war es noch zu ungewohnt für mich, sodass ich durch die Hintertür verschwand, um bei einer Zigarette etwas Abstand zu gewinnen. Kaum hatte ich zwei Züge genommen, da flog die Tür auf und eine junge Frau stürmte heraus. Schwarzes Haar fiel in wilden Locken über ihre Schultern und in ihren dunklen Augen, die mich eindringlich vertraut anschauten, glänzten Tränen.
„Lynn!?“
Kaum hatte ich ihren Namen ausgesprochen, da warf sie sich schon in meine Arme. Ich hielt sie fest umschlungen und spürte, wie ihr Körper sich vor Weinen leicht schüttelte.
„Ich bin so glücklich, dich zu sehen“, sagte ich und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
„Ich glaube, ich auch.“
„Du glaubst es?“
„Dein letzter Brief hat sehr weh getan.“
„Ich weiß, es tut mir leid.“
„Aber ich kann dich verstehen.“
„Das bedeutet mir viel, Lynn.“
Sie löste sich wieder von mir und wir schauten uns eine Weile an. Ein zaghaftes Lächeln erschien auf dem Gesicht meiner Schwester. Dann weiteten sich ihre Augen und sie rief freudig aus: „Mein Gott, Wahnsinn! Deine eigene Ausstellung. Ich bin so stolz auf dich, Brüderchen.“
„Woher wusstest du davon?“
„Meine Zimmernachbarin liest gerne Zeitschriften über Kunst und Kultur und zufällig habe ich den Artikel über dich gesehen. Dann habe ich mir von einem Freund den Wagen geliehen und bin hierhergefahren. Ich habe echt überlegt, ob ich es wirklich tun soll. Dein Brief war ja sehr deutlich.“
„Ich bin froh, dass du gekommen bist. Du hast mir so gefehlt.“
„Ich habe dich auch sehr vermisst.“
Erneut lagen wir uns in den Armen. Es fühlte sich so surreal an. Als ich meine Zwillingsschwester das letzte Mal gesehen hatte, war sie siebzehn gewesen. Jetzt war sie schon eine junge Frau. Ihr Haar war länger, ich sah sie zum ersten Mal geschminkt und sie kleidete sich auch ganz anders. Früher hatte sie ausschließlich Kleider und Röcke getragen. Nun stand sie in Jeans, Stiefeln und Hemd vor mir. Sie war aus der Kleinstadt herausgewachsen.
„Wie lang kannst du bleiben?“, fragte ich.
„Sonntag muss ich spätestens wieder zurückfahren.“
„Dann haben wir knapp zwei Tage.“
„Ich bin gespannt, wie du hier so lebst.“
Noch einmal drückte ich Lynn fest an mich, bevor wir gemeinsam wieder hineingingen. Jetzt, da ich sie in meinem Arm hielt, merkte ich erst, wie sehr ich sie vermisst hatte.
Die Neugier stand Liv und Kate deutlich ins Gesicht geschrieben, als ich ihnen meine Schwester vorstellte. Ihre Schüchternheit hatte Lynn auch in den vergangenen Jahren nicht ganz loswerden können. Freundlich lächelnd führte sie kurzen Smalltalk mit den beiden Frauen, bemüht darum, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie sich dabei nicht besonders wohl fühlte. Sie stand sogar so dicht neben mir, dass sie nur ihre Hand hätte ausstrecken müssen, um meinen Ärmel zu berühren. Es freute mich auf seltsame Weise, dieses Verhalten noch immer an meiner Schwester beobachten zu können. Wahrscheinlich, weil es mir so vertraut war.
Bevor Lynns Gesicht nun doch vor Unbehagen rot anlief, rettete ich meine Schwester vor Kates neugierigen Blicken und Livs nicht enden wollenden Fragen, indem ich sie durch die Ausstellung führte. Anschließend lud ich sie zum Essen ein. Lynn erzählte mir von ihrem Lehramtsstudium, ihrem neuen Freund Warren und ihrer Zimmergenossin Patricia. Sie liebte das Studentenleben, hatte viele neue Freunde an der Uni gefunden und sang sogar im Uni-Chor. Es war schön meine Schwester so aufgeblüht zu erleben. Einzig die leichten Schatten unter ihren Augen passten nicht zu ihrem sonst so strahlenden Gesicht. Nach dem Essen wollte Lynn unbedingt einen nächtlichen Spaziergang am Strand machen.
„Ich liebe das Meer. Ich wünschte, ich würde näher am Meer wohnen“, sagte sie. Eine salzige Brise wehte ihr ins Gesicht. „Wohnst du hier in der Nähe?“
„Nicht weit weg. Zwanzig Minuten zu Fuß.“
„Ich muss zugeben, dass ich sehr erleichtert bin, dich in so guter Verfassung zu sehen. Nach deinem letzten Brief hatte ich mir wirklich Sorgen gemacht. Aber es ist schön zu sehen, dass du Anschluss gefunden hast und du dich hier so wohl fühlst.“
„Es hat lang gedauert. Fast zwei Jahre bin ich von einem Ort zum anderen gewandert.“
„Wirklich? So lange warst du unterwegs?“
„Ja, ungefähr. Vielleicht sogar etwas länger.“
„Und wo bist du so gewesen? Was hast du gemacht?“
„Ich bin einfach dort geblieben, wohin die Leute, die mich mit dem Auto mitgenommen haben, gefahren sind. Vor Ort habe ich mir dann gelegentlich einen Job gesucht und häufig irgendwo draußen übernachtet. Manchmal habe ich Leute kennen gelernt, bei denen ich eine Zeit lang bleiben konnte. Den meisten Spaß hatte ich allerdings immer bei den Ernten, bei denen ich mitgeholfen hab. Es war schön, den ganzen Tag mit seinen Händen arbeiten zu können und abends mit den anderen Erntehelfern zusammenzusitzen und zu essen. Man lernt wirklich viele verschiedene und spannende Leute kennen, wenn man unterwegs ist.“
„Kann ich mir vorstellen.“
„Vielleicht machst du mit Warren auch mal einen Trip. Einfach ohne Ziel irgendwo hinfahren und schauen, was passiert. Ich finde, das ist die beste Art zu reisen oder unterwegs zu sein.“
„Du kennst mich, Adam. Ich plane lieber alles. Es würde mich verrückt machen, nicht zu wissen, wo ich am Abend schlafen werde.“
„Schlafen kann man überall. Hauptsache, es ist nicht zu kalt und trocken. Was machen eigentlich die anderen beiden?“
„Mike hat seinen Schulabschluss gemacht und hat ein Sportstipendium bekommen. Er ist auch ausgezogen und studiert.“
„Oh, wow! Und Maggie?“
„Ich glaube, sie langweilt sich ganz schön alleine zu Hause, seitdem Mike weg ist – obwohl die beiden ja meistens nicht so gut miteinander auskommen. Nach dem, was Mike erzählt hat, eifert sie dir ganz schön nach, was Ungehorsam und Streit angeht.“
„Wirklich?“
„Ach ja, ich mein, im Grunde macht sie auch nichts, was andere in ihrem Alter nicht auch machen – heimlich rauchen, trinken, sich mit Jungs treffen und so weiter.“
„So so, Frau Lehrerin, ist das so?“, neckte ich Lynn. „Haben wir das also im Studium schon gelernt?“
Sie lachte halbherzig, boxte mir gegen die Schulter und sagte mit verschmitztem Lächeln: „Du bist doof.“
Als Lynn sah, wo und wie ich lebte, wirkte sie nicht wirklich überrascht. Ob das gut oder schlecht war, wusste ich nicht zu deuten. Wie den meisten, die meine Behausung zum ersten Mal sahen, gefiel ihr aber dennoch, was ich daraus gemacht hatte.
Am nächsten Tag führte ich meine Schwester in der Stadt herum. Ich stellte sie Erich im Plattenladen vor und zeigte ihr einige Geschäfte, von denen ich glaubte, dass sie ihr gut gefallen würden – sie fand in einem sogar eine kleine Handtasche, die ich ihr schenkte. Wir besuchten den Markt, machten ein kleines Picknick am Strand und zogen abends durch meine Lieblingsbars.
Bei all dem ging mir auf, wie sehr Lynn sich verändert hatte. Nicht bloß äußerlich. Ihr Gesicht hatte mehr Farbe bekommen und sie sah zwar immer noch recht schlank aus, allerdings auch gesünder. Sie schien nicht mehr ganz so ernst zu sein, wie ich sie aus unserer Kindheit in Erinnerung hatte. Trotzdem hätte ich sie immer noch nicht dazu überreden können, irgendeinen Unfug mit mir anzustellen und mir entging auch nicht ihr missbilligender Blick, als ich mein fünftes Bier trank. Irgendwo war sie doch die Gleiche geblieben, sie wirkte nur … glücklicher.
Der Abschied am nächsten Tag fiel uns beiden sehr schwer. Ich hätte Lynn gern noch länger bei mir gehabt. Zwei Tage nach drei Jahren war mehr als nur kurz. Lynn rang mir das Versprechen ab, dass ich mich regelmäßig melden müsse und sie versprach mir im Gegenzug mich in ihren Semesterferien erneut zu besuchen.
Als ich am Straßenrand stand und ihr nachsah, wie sie wegfuhr, schoss ein scharfer Blitz durch meinen Kopf. Ich war zwölf und sah einem blauen Wagen hinterher, der an einer Kreuzung links abbog und für immer verschwand.
4
Nach meinem Blackout fand mich in einem Auto wieder, das voller Menschen war. Sie lagen am Boden, saßen im Kofferraum, auf der Rückbank, vorne auf den Sitzen, lagen unter- und übereinander. Ich kämpfte mich zum Fenster und streckte meinen Oberkörper raus, der Fahrtwind rauschte in meinen Ohren. Das Gefühl der Freiheit durchströmte mich wie ein warmer goldener Fluss. Der helle Mond war mit einem Mal unter mir. Jemand zog mich wieder in diese Orgie der Ekstase rein. Ein Mädchen, das völlig weggetreten war, hing auf mir und murmelte etwas von Kristallen, die in ihrer Hand zerschmolzen. Mir gefiel die Metapher und ich strich ihr übers Haar.
Plötzlich zerrte mich jemand am Hemd aus dem Auto und ich wurde in ein großes Haus voller Menschen geschoben, die ich nicht kannte, schmiss mir weitere Pillen rein. Dann hing ein anderes Mädchen an mir, das genauso drauf war wie ich. Nachdem wir ein bisschen rumgemacht hatten, ließ ich sie in einem Zimmer zurück, als sie anfing, herumzulaufen und irgendwas zu fangen versuchte, was offensichtlich nur sie sah. Ich war mir nicht sicher, ob sie verrückt oder auf einem Trip war oder beides.
Ich stolperte in eine Menschenmenge hinein, die wild zuckend zur Musik tanzte. Für mich sah es so aus, als bewegten sie sich mühsam durch Gelee hindurch. Ob die Leute um mich herum schön oder hässlich waren, konnte ich nicht mehr sagen. Körper, Gliedmaßen, Gesichter, Münder flossen wie in einem Kaleidoskop in sich zusammen, drehten sich wie ein wilder Kreisel, dessen Sog mich erfasste. Nichts war mehr real, nichts war mehr fiktiv. Wir waren der Rausch. Aus dem bunten Kreisel wurde ein Strudel. Er riss die Musik, jegliche Geräusche, Gelächter und Geschrei an sich und ließ sie zu einem dröhnenden lang anhaltenden Ton verschmelzen, der durch die Furchen meines Gehirns kroch und sich darin festkrallte. Der Ton schwoll immer weiter an, bis er mir die Sicht nahm.
Als ich die Augen aufschlug, war ich unter Wasser. Ich blickte in das schmerzlich vertraute Gesicht eines sechzehnjährigen Jungen. Der starre Blick seiner braunen Augen ruhte auf mir und sah doch durch mich hindurch. An seiner Schläfe rann ein dünner Blutfaden entlang. Seine Lippen waren blau. Peter, dachte ich. Bevor ich tiefer in die dunkle Welt meiner Erinnerungen abtauchen konnte, packte mich jemand am Hemdkragen und riss mich heftig zurück. Ich stieß durch die Wasseroberfläche, stolperte rückwärts gegen die Badezimmerwand und rutschte an den Fliesen hinunter auf den Boden. Rechts neben mir kotzte jemand ins Klo und in der Badewanne saßen drei Leute mit nacktem Oberkörper, die völlig weggetreten nach oben starrten. Bässe wummerten dumpf durch die Tür. Hinter der Badezimmertür pulsierte weiter die Party. Ich hörte die Leute feiern, die Musik, das schnelle extreme Leben. Grade noch war ich ein Teil davon gewesen, jetzt war ich brutal herausgerissen worden.
Frustriert trocknete ich mein Gesicht. Ich verließ das Badezimmer. Mir kamen drei oder vier Leute mit erhobenen Gläsern entgegen. Sie grölten irgendein Lied, das ich nicht kannte. Ich war immer noch nicht ganz klar und hatte Schwierigkeiten mich zu orientieren. Keins der Gesichter kam mir bekannt vor. Jacky sah ich auch nicht mehr und das Haus war mir natürlich immer noch fremd.