Unbehauste 2 - Jo Schück - E-Book

Unbehauste 2 E-Book

Jo Schück

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Beschreibung

Was ist Heimat und wie lässt sich Vertrauen in der Fremde finden? Wohin führt der Weg, wenn es kein Ankommen zu geben scheint? Was bedeutet es, ein Menschenleben zu retten? Die Autoren dieses zweiten Bandes gehen diesen Fragen und vielen weiteren Gedanken nach. Ein Teil des Verkaufserlöses kommt der Integrationsförderung zugute. Mit Friedrich Ani, Moritz Rinke, Eylem Özdemir-Rinke, Norbert Kron, Jo Schück, Katharina Höftmann, Melanie Mühl, Selim Özdo an, Hannah Lühmann, Judith Döker, Robin Baller, Linda Rachel Sabiers, Jule Müller, Manfred Theisen, Mark Horyna, Julia Alina Kessel, Emil Fadel, Juliane Marie Schreiber, Constantin Klemm, Fabian Herriger, Ramona Raabe und Alexander Broicher. »UNBEHAUSTE« ist ein Buch, dessen Worte, Verse, Gedanken und Geschichten alles andere als flüchtig sind. Sie beschäftigen, berühren, rütteln auf.« Rhein-Zeitung »Wir müssen mehr Nähe wagen. Gegen die Angst muss man Menschen emotional abholen. Fiktion erzeugt Emotionen, die wir mit klassischem Journalismus nicht bekommen.« Jo Schück (ZDF Aspekte) im Wiesbadener Kurier über UNBEHAUSTE

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Inhalt

Vorwort

Gespräch mit einem anderen Erdoğan

Moritz Rinke

Eylemci

Eylem Özdemir-Rinke

Eine Geschichte von Flucht und Hoffnung

Norbert Kron

Die Asche meiner Tante

Melanie Mühl

Opa

Jo Schück

Daily Piece of Automatic Writing

Hannah Lühmann

Keine Macht der Integration

Selim Özdo

g

an

Schma’ Israel

Katharina Höftmann

Die Auswahl an Schuhen ist erdrückend

Manfred Theisen

Eine Tasche voller Steine

Linda Rachel Sabiers

Die unendliche Einsamkeit des Herrn M.

Emil Fadel

Bombay

Judith Döker

Mittwochs – voll der Gnade

Mark Horyna

Im Dunkeln

Juliane Marie Schreiber

Wenn die Welt im Chaos versinkt

Jule Müller

Das Wagnis

Robin Baller

Hinter der Sonnenallee, irgendwo

Ramona Raabe

Kreuzfahrt

Julia Alina Kessel

Uniformen

Fabian Herriger

Kaiser

Constantin Klemm

DU

Alexander Broicher

In der Mission

Friedrich Ani

Meiner Mutter

die immer

mein Zuhause ist

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

mit dieser zweiten Edition unserer »Unbehauste«- Reihe knüpfen wir thematisch an den ersten Band an, gehen aber noch einen Schritt weiter, indem wir unsere Blickwinkel erweitern. Unsere bewährte Mixtur aus Prosa, persönlichen Erlebnissen und Reportagen behalten wir bei, mischen wie gewohnt Erzählungen aus nah und fern.

Eine mehr als turbulente Zeit liegt hinter uns. Die besorgniserregenden Entwicklungen in der Türkei, Europa in der Dauerkrise, Kriege und Bürgerkriege, die nach wie vor enorme Flüchtlingsströme produzieren, was wiederum in den Aufnahmeländern zu Konflikten und subjektiv empfundenen Bedrohungskulissen führt.

Das Schutzbedürfnis des Menschen klar erkennend, haben alle intakten Gesellschaften Protektionsmechanismen für ihre Bürger oder Mitglieder entwickelt, die meisten Kulturen sogar eine humane Ethik.

Doch was passiert, wenn Bürger auf archaische Reflexe eines vermeintlichen Selbstschutzes zurückgreifen und dem Souverän nicht mehr vertrauen?

Das Aussetzen des Gewaltverzichts deutet am ehesten auf eine schwindende Legitimation hin, die Zweifel an der inneren Souveränität des Staates aufkommen lassen kann. Bisher ist die Anzahl vergleichbarer Übergriffe in Deutschland überschaubar gewesen, aber sie sind ein deutliches Warnzeichen an die Volksvertreter, dass ihnen die Macht nur geliehen ist.

Gesellschaftliche Bedürfnisse, auch im Sinne eines Schutzraumes, muss der Staat seinen Bürgern und Bewohnern erfüllen, damit er als legitimer Vertreter wahrgenommen wird. Besonders in einer indirekten Demokratie darf selbstredend nicht jedem Fähnchen im Wind nachgegeben werden, gleichwohl aber erwarten breite, sprich demokratische Strömungen eine politische Reaktion. Eine anderenfalls einsetzende Radikalisierung wünscht sich sicher niemand.

Doch wann ist ein Anspruch legitim und wann stehen für die politische Vertretung Werte und Menschenrechte über den möglicherweise kurzfristigen Artikulationen ihrer Bürger?

Schauen wir nicht nur auf die gewählten Vertreter. Wir sind ebenfalls Akteure dieses Prozesses und nicht nur Zaungäste, die der Gesellschaft passiv oder für ihr Amüsement beiwohnen. Richtig, wir sind das Volk. Lassen wir das Aufkommen eines Transhumanismus nicht zu, entspringen jene Werte doch unserer Tradition.

Das Ende der Toleranz wurde beschworen, aber vielleicht braucht es eher eine neue Ethik, einen neuen Gesellschaftsvertrag, der die Basis eines gemeinsamen Zusammenlebens regelt, geprägt von Toleranz, aber auch von klaren Regeln. Regeln, die für alle gelten. Dann könnte ein Verstoß gegen die Gemeinschaftsstandards zum Ausschluss führen. So hätten Radikale aller Seiten keinen Platz mehr in der Mitte unserer Gesellschaft.

Michel Houllebecq sprach von der Möglichkeit einer Insel. Warum keine Insel der Möglichkeiten? Möglichkeiten können die Welt bedeuten. Sie umdeuten. Sie zu einer besseren machen. Kristallisationspunkt sein, wie das Sandkorn in der Auster, aus der eine Perle erwächst oder der Flügelschlag eines Schmetterlings, der einen Orkan entfacht. Die Theorien und Bilder sind bekannt. Niemand sollte vergessen, wie dankbar jeder selbst für seine Chancen war. Erlauben wir auch anderen, ihr Flügel auszubreiten.

Ich bedanke mich ganz herzlich bei den Autorinnen und Autoren dieses Bandes, bei: Friedrich Ani, Moritz Rinke und Eylem Özdemir-Rinke, Norbert Kron, Jo Schück, Katharina Höftmann, Melanie Mühl, Selim Özdogan, Hannah Lühmann, Judith Döker, Robin Baller, Linda Rachel Sabiers, Jule Müller, Manfred Theisen, Mark Horyna, Julia Alina Kessel, Emil Fadel, Juliane Marie Schreiber, Constantin Klemm, Fabian Herriger und bei Ramona Raabe.

Des Weiteren danke ich meiner Familie für ihre Kraft sowie Andrea und Peter, Gaja Busch, Freia Schleyerbach, Ulla C. Binder und besonders Ramona Raabe für ihre unermüdliche Unterstützung und, last but not least, Samara für alles andere.

Ich freue mich sehr über die positive Resonanz und breite Rezeption unserer Arbeit.

Wie bereits beim ersten Band dieser Reihe, der in Neuauflage ebenfalls im fineBooks Verlag erscheint, kommt ein Teil des Erlöses dieses Buches der Integrationsförderung in Form von Sprachkursen und Fortbildungen zugute.

Begleiten Sie uns auf diese belletristische Lesereise und lassen Sie sich von 24 Erzählungen inspirieren, die alles sind, nur nicht langweilig oder einseitig.

Alexander Broicher

Berlin, im Oktober 2016

Moritz Rinke

Gespräch mit einem anderen Erdoğan

Ich bin schon wieder in der Türkei. Bei der letzten Ausreise übermittelte ich dem Auswärtigen Amt noch alle Passnummern meiner Familie, Abflugort, Flugnummer etc., denn nach all den Berichten, die über die Maßnahmen nach dem Gegenputsch in der Türkei erschienen waren, dachte ich, ich würde sofort von den Grenzpolizisten verhaftet und in eines dieser überfüllten Gefängnisse geworfen werden – die Journalistin Tuğba Tekerek berichtete, sie habe mit 27 Gefangenen in einer einzigen Zelle gesessen, darunter auch eine Schwangere, die in der Hocke schlafen musste, tagelang, ohne Wasser.

In Berlin sagte mein Sohn, der eigentlich noch gar nicht sprechen kann: »Annanenne«, jeden Tag: »Annanenne«, damit meinte er immer wieder seine türkische Großmutter. Meinem Sohn sind der Gegenputsch, der Präsident und seine Säuberungen egal, er will »Annanenne«. Diesmal habe ich nichts dem Auswärtigen Amt übermittelt, ich bin einfach so mit meinem Sohn ins Land von Annanenne gereist.

Ich kann in der Türkei sowieso besser an meinem Theaterstück über Luther schreiben als in Berlin. Es ist absurd, mitten im Auge des wütenden Autokraten finde ich meine Ruhe.

Abends gehe ich immer in ein kleines Restaurant in der Altstadt von Antalya. Der Koch, den ich den besten Koch der Welt nenne, ist Alevit aus Ostanatolien, aus Bingöl, wo er von Sunniten vertrieben worden ist, die dort lange friedlich mit den laizistischen Aleviten ausgekommen waren.

Als ich ihn nach seinem Namen frage, sagt er leise »Erdogan«, er heiße so, er schämt sich fast ein bisschen. Nachdem man ihm in Bingöl eine sunnitische Moschee direkt vor sein Haus gebaut hatte und er geflüchtet war, ging er nach Kemer, wo er Teppiche verkaufte, bis er das machte, was er am besten konnte.

Sein Sohn nimmt die Bestellungen auf, und da ich meist der einzige Gast bin, sprechen wir die ganze Zeit über den anderen Erdoğan. Der Sohn spricht auch leise. Das Schlimmste ist, sagt er, dass wir alle nur ganz leise sprechen.

»Aus Angst?«, frage ich ihn.

»Hörst du den Muezzin?«, fragt er.

Er ist nicht zu überhören, man hört kaum sein eigenes Besteck mehr beim Essen, wenn der Muezzin betet.

»Er betet nicht mehr«, sagt der Erdoğan-Sohn. Seit der Putsch niedergeschlagen worden ist, verkündet der Muezzin seine Anweisungen, was die Menschen tun sollen und was nicht. Von Tag zu Tag immer länger, immer häufiger und immer siegesgewisser.

Frage ich den Vater, was er von den religiösen Anweisungen des Muezzins hält, spricht er so leise, dass ich ihn überhaupt nicht mehr höre, so als würde man ihm, sobald er einen Laut von sich gibt, sofort wieder eine Moschee direkt vor seine Kochplatte bauen.

Gehe ich in Cafes und befrage die türkischen Freunde zu den Verhaftungswellen in Istanbul, im Stadttheater, in den Zeitungen, in den Universitäten: Man beginnt zu flüstern. Und selbst wenn ich Annanenne frage, dann senkt diese sonst so lebensstarke Frau ihr Haupt und flüstert.

Die Türkei ist mittlerweile ein Land, in dem die einen flüstern und die anderen aus dröhnenden Lautsprechern schreien.

Gespenstisch war der Nationalfeiertag der Türkei am 30. August. An diesem Tag gedenkt man der türkischen Nationalbewegung und des Unabhängigkeitskrieges unter Mustafa Kemal Atatürk gegen die fremde Besatzung. Ein kriegerischer, eigentlich kein wirklich schöner Tag der Erinnerung, aber immerhin ein Tag der Kemalisten, die der Türkei die Trennung von Staat und Religion brachten.

Die neuen »Demokraten« der Türkei ihres Präsidenten verweigerten diesen laizistischen Tag, man sah sie nicht. Und hörte auch nicht den Muezzin. Die Türkei war an diesem Tag das leiseste Land der Welt.

Moritz Rinke, geboren 1967 in Worpswede, studierte Drama, Theater, Medien in Gießen. Seine Reportagen, Geschichten und Essays wurden mehrfach ausgezeichnet. Sein Stück »Republik Vineta« wurde 2001 zum besten deutschsprachigen Theaterstück gewählt und 2008 für das Kino verfilmt. 2010 erschien sein Debütroman »Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel«, der zum Bestseller wurde. Sein Theaterstück »Wir lieben und wissen nichts« ist eines der erfolgreichsten Dramen der letzten Jahre und wird an über 50 Bühnen gespielt. Moritz Rinke lebt und arbeitet in Berlin.

Eylem Özdemir-Rinke

Eylemci

»Was passiert denn in deinem Land??« – »Sind die Türken verrückt geworden?!« – »Also, bei euch geht’s ja drunter und drüber!“ – das sind so die Fragen und Bemerkungen, die ich höre, wo immer ich hinkomme. Manche lesen die Zeitungen auch genauer und fragen so: »Wie entwickelt sich die Türkei nach Gezi?« – »Wird es eine neue Partei geben?« – »Sind die Menschen leider zu dumm für eine Demokratisierung?«

Um ehrlich zu sein: Ich rege mich über diese Fragen auf. Vermutlich fühle ich mich einerseits als Türkin angesprochen, ja, als stolze Türkin, die ihr Land, ihre Menschen verteidigen will, denn meine Freunde, meine persönliche Türkei, das ist ja eine ganz andere Türkei, wir sind ja nicht alle verrückt oder gar zu dumm. Andererseits weiß ich, dass es für Deutsche von außen betrachtet völlig verrückt erscheinen muss, was unsere Regierung veranstaltet: offene Korruption, Millionen von Dollars versteckt in Schuhkartons, die Abschaffung der Justiz, absurdeste Zensur-Gesetze, die nicht mal Putin sich durchzusetzen trauen würde; dazu die ganze Lebensfeindlichkeit: das Alkoholverbot (unser geliebter Raki!). Sogar das Küssen ist in der Türkei teilweise verboten worden.

Ja, das ist verrückt, das ist dumm, aber es schmerzt, es tut mir weh, wenn deutsche Freunde bei dem Thema Türkei die Augen verdrehen; wenn mir sogar mein eigener Mann Vorträge hält: »Also, deine Türkei ist doch eine demokratisch gewählte Diktatur! So wird das nichts mit der EU!«

Weiß ich selbst. Meine Freunde in Istanbul sind zwar toleranter, demokratischer als so mancher Deutsche, aber natürlich ist die politische Situation nach 11 Jahren AKP-Regierung schlimm und ich schaue manchmal etwas wehmütig auf Deutschland, wenn hier ein Bundespräsident zurücktreten muss, nur weil er sich auf das Oktoberfest hat einladen lassen. Erdoğan, unser Ministerpräsident, hat sich darüber bestimmt kaputtgelacht.

Als ich von Berlin nach Istanbul fuhr, um im letzten Sommer im Gezi-Park zu sein, rief ich meine Eltern in Antalya an, um zu berichten. Mein Vater weinte. Er war 1978, als ich geboren wurde, Student. Er war bei Protesten auf der Straße, aber sie konnten nichts erreichen, bald kam der Militärputsch. Er gab mir den Namen »Eylem«, das bedeutet: »Aktion, in Bewegung.« Ich sagte ihm am Telefon: »Hier im Gezi-Park sind Hundertausende!« Er sagte: »Das Fernsehen zeigt nur Pinguine und Quizshows!« Dann kaufte er sich einen Computer. Mein Vater folgte mir auf Facebook. Hat es in der Türkei schon so etwas gegeben, dass sich Eltern bei Facebook anmelden, um zu erleben, wie sich die Türkei verändert?

Was war unsere Gezi-Bewegung? War sie eine Revolution?

Nein.

Revolutionen verändern die Verhältnisse, der arabische Frühling veränderte Systeme, das ist bei uns nicht geschehen.

War die Gezi-Bewegung eine Manifestation einer neuen türkischen Generation, so eine Art türkisches 68?

Ja.

Ich sage: Die Türkei ist nun eine andere. Wir, die wir Nacht für Nacht im Gezi-Park waren, sagen: Wir sind jetzt wirklich eine andere Türkei. Wir haben endlich HOFFNUNG, auch wenn unser Ministerpräsident um sich beißt und kläfft wie ein einfältiger Hund. Aber er hat uns gehört. Er hat nun Angst, große ANGST. Und bald fallen ihm vor lauter Herumgebeiße die Zähne aus.

Wir wollten immer eine friedliche Bewegung. Kein Blut. Keine Toten. Und haben doch sechs Aktivisten (Eylemci) verloren. Wir haben immer gesagt: Wir kämpfen mit Fantasie, mit Ironie, mit spielerischem Bewusstsein.

Vielleicht war die Gezi-Bewegung eine innere Revolution. Wir haben alle in uns Lichter angezündet, uns gegenseitig die neuen Lichter gezeigt. Und wir haben der Welt gezeigt, wer dieser Recep Tayyip Erdoğan ist.

Und das war erst der Anfang. Jetzt müssen wir die innere Revolution nach außen tragen. Mit unseren Mitteln, das braucht Zeit. Aber wir haben die neuen Lichter, die neue Hoffnung – und die anderen, die haben nur die Angst.

Sommer 2015

Eylem Özdemir, 1978 in Antalya geboren, ist Tänzerin und Mitgründerin der Performance-Company »Zeit Getroffen Kollektiv«. Sie unterrichtet zudem an der Berlin Kids International Bilingual School. Ihre Texte erschienen im »FAZ«-Blog »10 vor 8«.

Norbert Kron

Eine Geschichte von Flucht und Hoffnung

1

Er ist gekidnappt worden, er hat erlebt, wie Menschen gefoltert wurden, er ist nur knapp dem Tod entronnen.

Der junge Mann, der an diesem Morgen das Klassenzimmer betritt, hat schwarze Augen, in denen ein unergründlicher Schimmer liegt. Er ist ein mittelgroßer, schlanker Junge, der ein breit gestreiftes T-Shirt und einen Ring am Zeigefinger trägt. Seine olivbraunen Wangen haben Schattierungen, die wie Narben aussehen. Und nach allem, was er erlebt hat, ist es wahrscheinlich, dass es Narben sind.

Berhe Gonetse ist 18 Jahre alt, und es ist klar, dass das Schimmern in seinen Augen die Dinge widerspiegelt, die er auf der Flucht gesehen hat. Damals, als er in der Geiselhaft von Beduinen war.

»Da war eine große Grube, in die sie die Toten geworfen haben. Die Beduinen scherten sich um alles einen Dreck, sie taten, was sie wollten. Sie vergewaltigten die Frauen und wenn die Frauen schwanger wurden, ließen sie viele während der Schwangerschaft sterben.«

Berhe Gonetse spricht gut Hebräisch, mit einer ernsten Coolness. Er hat Glück gehabt, ist 2011 nach seiner Odyssee durch den Sudan und Ägypten nach Israel gelangt, wo er in das Saharonim-Gefangenenlager in der Negev-Wüste gebracht wurde.

»Ich war dreizehneinhalb, aber weil ich jünger aussah und keinen Pass hatte, habe ich mich für elf ausgegeben. Da haben sie gesagt, du kommst in ein Internat.«

Als er die Altersschummelei erwähnt, schleicht sich ein Lächeln in sein Gesicht. Es tastet sich tatsächlich voran, stiehlt sich auf Zehenspitzen in seine Züge, wie ein Tier, das auf der Hut ist und prüft, ob die Luft rein ist.

Denn auch das ist klar: Er wäre an diesem Morgen nicht in die Schule gekommen, wenn da nicht die Frau mit den schwarzen schulterlangen Haaren wäre, die nun an seiner Seite steht. Auch sie hat tiefschwarze Augen, aber sie sind von einem anderen, in sich ruhenden Schwarz, einem Schwarz, das Güte ausstrahlt.

Devora Schlesinger ist seit über dreißig Jahren an der Schule. Bis vor Kurzem war sie Berhe Gonetses Lehrerin und Berhe Gonetse einer ihrer außergewöhnlichsten Schüler. Als ihre Blicke sich begegnen, spürt man, dass den jungen Mann mit der Frau ein besonderes Vertrauensverhältnis verbindet.

»Diese Schule ist mehr als eine Schule«, sagt Berhe Gonetse, »sie ist ein Zuhause.«

Die Bialik-Rogozin-Schule ist das einzige Zuhause, das Berhe Gonetse in der Fremde gefunden hat. Vor anderthalb Jahren hat er hier mit sehr guten Noten seinen Abschluss gemacht. Dank Devora Schlesinger ist die tragische Geschichte von Berhe Gonetse in vielerlei Hinsicht auch eine Glücksgeschichte. Eine Geschichte von Flucht und Hoffnung.

2

Eritrea ist ein weites heißes Land, das vom Hochland mit dem angrenzenden Sudan als Wüste zum Roten Meer hin abfällt. Über dreißig Jahre hat es um seine Unabhängigkeit gekämpft, in einem blutigen Krieg, in dem über 200.000 Menschen ums Leben kamen und in dem es sich von der Diktatur durch das Nachbarland Äthiopien befreite. Doch auch im unabhängigen Eritrea herrscht kein Frieden. Seit einem Vierteljahrhundert führt eine »Übergangsregierung«, die sich demokratisch nennt, ein Einparteienregime, das für gravierende Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Reporter ohne Grenzen stuft Eritrea weltweit als das Land ein, in dem die Pressefreiheit am brutalsten eingeschränkt wird (1).

Im Hochgebirge nahe der Haupstadt Asama gibt es bedeutende Rohstoffvorkommen. Kupfer, Zink, Gold und Silber bringen chinesischen und kanadischen Unternehmen hohe Profite ein, doch bei der Bevölkerung kommt nichts davon an. Korruption und Unterdrückung führen dazu, dass der Reichtum an Bodenschätzen und Edelsteinen dem Volk vorenthalten bleibt. 5.000 Eritreer fliehen jedes Jahr aus dem Land und nehmen dabei große Gefahren in Kauf. Wer als Regierungskritiker, Deserteur oder Flüchtling verhaftet wird, verschwindet laut Amnesty International ohne Prozess in dunklen Staatsgefängnissen, aus denen viele nicht wiederkehren (2).

Es sind Menschen wie Berhe Gonetse. Solange diese Regierung regiert, kann er nicht in seine Heimat zurück. Während er erzählt, hält er den Kopf gesenkt, blickt von unten herauf. Vielleicht ist es das, woran das Schimmern seiner dunklen Augen erinnert, an den Glanz der ungehobenen Edelsteine, den die eritreischen Hochgebirge bergen. Verhangener Rauchquarz, schwarzer Obsidian – es ist ein schüchternes, aber zugleich bestimmtes Leuchten, das aus seinem Inneren aufsteigt und mehr als versteckten Schmerz andeutet, auch einen tiefen Mut.

Berhe Gonetse ist zu Beginn des Eritrea-Äthiopien-Kriegs geboren, der vom Mai 1998 bis zum Juni 2000 dauerte. Der Krieg, eine Eskalation der Streitigkeiten, die die Grenzziehung nach der Unabhängigkeit Eritreas nach sich zog, bedeutete für die Menschen im Grenzgebiet dauernde Lebensgefahr. Manche wurden in den Krieg geschickt, andere einfach ausgebeutet.

»Was dem ganzen Dorf widerfuhr, drei- bis vierhundert Familien – darüber will ich nicht sprechen.«

Er beißt sich bei diesem Satz auf die Lippen, es ist ein Ausdruck des Schmerzes über das, was er damals gesehen hat – und Gegenwehr gegen die Tränen, die ihm kommen, wenn die Bilder wieder in ihm aufsteigen. Mord, Vergewaltigung, Folter, Sklaverei: Wenn er dergleichen schon als kleines Kind erlebt hat, war es nur eine Ankündigung der grausamen Dinge, deren Zeuge er später wurde.

Berhe Gonetses Dorf wurde ins Grenzgebiet zum Sudan umgesiedelt, in die Provinz Gash-Barka.

»Es war sehr hart dort, es gab kaum Medizin. Die Jungen begannen zu revoltieren, schlugen das Oberhaupt des Dorfes, worauf das Dorf in vier Teile aufgeteilt wurde. Meine Familie landete in einem weiteren Dorf in der Nähe zum Sudan. Ich wusste immer, dass ich eines Tages weggehen würde, aber noch nicht damals, ich war noch zu jung«, sagt er und beißt sich wieder auf die Lippen. »Auch darüber möchte ich nicht sprechen.«

War er selbst an den Aufständen beteiligt, wurde er misshandelt? Hat seine Familie ihn losgeschickt, damit wenigstens einer von ihnen ein besseres Leben findet? Oder ist er abgehauen, auf eigene Faust aufgebrochen? Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass Berhe Gonetse bereits damals gekidnappt wurde. Gekidnappt von einer der Banden, die Männer und Frauen aus der Krisenregion verschleppen, auch aus den Flüchtlingslagern Shagrab und Kassala, in dem eritreische Flüchtlinge im Sudan Zuflucht finden.

Das unabhängige sudanesische Mediennetzwerk »Dabanga« berichtet auf seiner Webseite über die brutalen Methoden, mit denen kriminelle Gruppen ihre Opfer aus der Grenzregion verschleppen und auf welchen Routen sie sie nach Norden in das angrenzende Ägypten bringen (3). In der Zeit, in der sich Berhe Gonetses Odyssee nach Israel ereignete, waren solche Entführungen nach UNHCR-Angaben an der Tagesordnung. Über Zehntausend solcher Entführungsfälle soll es allein zwischen 2007 und 2014 gegeben haben, etwa dreißig pro Monat. Die sudanesische Polizei arbeitete dabei mit den Menschenhändlern vielfach Hand in Hand.

Wie barbarisch die Kidnapper zu Werke gehen, welch grausames Schicksal die Opfer erleiden, hat der preisgekrönte Journalist Michael Obert 2013 in einer Reportage für das SZ-Magazin rekonstruiert. Obert erzählt die Geschichte eines Flüchtlings, der ein älterer Bruder von Berhe Gonetse sein könnte und in einem Flüchtlingslager auf dem Weg zur Essensausgabe »unter den Augen sudanesischer Soldaten, die von den Vereinten Nationen für den Schutz der Flüchtlinge bezahlt werden«, von sechs Männern mit Kalaschnikows verschleppt wird.

Die Männer, die dem Nomaden-Verbund des Rashaida-Stamms angehören, transportieren ihn mit enem Pick-up nordwärts. »Von einer kriminellen Bande an die nächste weiterverkauft, wird er von einem gut organisierten Netzwerk über die Grenze nach Ägypten geschafft, mit rund 150 anderen entführten Eritreern in einen als Geflügeltransporter getarnten Lastwagen gepfercht und über die Suez-Kanal-Brücke auf den Sinai gekarrt. Die einzige Frischluft kommt durch die Schlitze hinter dem Motor. Als schwer bewaffnete Beduinen die Heckklappe des Lastwagens aufreißen, sind sieben Afrikaner erstickt, darunter zwei Kinder und ein Baby.« (4)

Auch Berhe Gonetse ist wohl auf dieselbe Weise in die Hände von Beduinen im Sinai gelangt. Das Wüstendreieck, das von Rotem Meer, Suez-Kanal und Israel begrenzt wird, wird von etwa 300.000 Menschen besiedelt, von denen die meisten Viehzucht betreiben. Einige Beduinenstämme aber leben vom Menschenhandel. Berhe Gonetse schildert beim Gespräch in der Schule genau, wie die Entführer Kapital aus ihren Opfern schlagen:

»Am Anfang verlangen sie 3.000 Dollar Lösegeld. Je mehr Zeit vergeht, desto höher steigt die Summe, von 10.000 auf 15.000 Dollar. Die Verwandten müssen zahlen. Mich hielten die Beduinen in sicherem Gewahrsam, da ich für sie Arabisch-Übersetzungen gemacht habe. Aber wer das Geld nicht aufbringt, dem entnehmen sie Organe. Oder sie bringen ihn einfach um. Es wurde nach und nach eine richtige Industrie der Entführung und Vergewaltigung. Je mehr Geld sie erpressten, desto mehr gingen die Preise in die Höhe.«

Berhe Gonetse wechselt Blicke mit Devora Schlesinger, seiner ehemaligen Lehrerin, der er diese Dinge schon früher anvertraut hat. Man merkt, dass ihre Anwesenheit ihm Sicherheit verleiht, und wie schwer es ihm fällt, die Geschichte vor Fremden zu erzählen. Der Zuhörer spürt ein ähnliches Unbehagen: Seine Schilderungen sind in ihrer Grausamkeit fast zu plakativ, als dass man ihre Dimension fassen könnte. Können die Dinge, die er erzählt, stimmen? Was bedeuten sie konkret?

Tatsächlich decken sich Berhe Gonetses Schilderungen genau mit den Berichten anderer, die die barbarische Methodik dokumentieren, mit der die Schergen ihren millionenschweren Menschenhandel betreiben (5). »Das sind keine Menschen«, sagt ein Opfer, das sind „Bestien« (6). Sie schlagen ihre Entführungsopfer mit Eisenstangen oder Ketten so lange, bis diese ihnen die Telefonnummern ihrer Verwandten verraten. Sobald der telefonische Kontakt hergestellt ist, geht die Folter systematisch weiter, um die Lösegeldforderung in die Höhe zu treiben:

»Die Kidnapper drücken ihren Opfern Zigaretten in den Gesichtern aus, brandmarken sie mit glühendem Metall, überschütten sie mit kochendem Wasser. Sie umwickeln ihre Finger mit Kabeln und drücken sie in die Steckdose, bis das Fleisch schwarz wird, oder sie gießen ihnen Diesel über den Kopf und zünden sie an, während die Angehörigen der Gefolterten daheim ihre Schreie über Handy mit anhören müssen.« (7) Ein Opfer berichtet, dass es mehrere Tage lang an einem Fleischerhaken in seiner Folterzelle aufgehängt war. Von seiner Hand ist nur noch eine verstümmelte Haut- und Knochenklaue geblieben.

Die Verrohung, die die Täter an den Tag legen, ist so wenig zu begreifen wie die Verrohung, mit der die Roten Khmer ihre Opfer auf den kambodschanischen Killing Fields abschlachteten – oder, natürlich, mit der die Nationalsozialisten ihren industriellen Völkermord in den Gaskammern von Auschwitz oder Sobibor betrieben. Das Motiv, das hinter den Verbrechen der Menschenhändler im Sinai steht, ist jedoch offenbar frei von jeder weltanschaulichen Ideologie und ausschließlich ihrer puren finanziellen Gier geschuldet. Einer der Folterknechte berichtet, dass er für seine Arbeit 120 Euro im Monat erhalte – von Mitgefühl keine Spur. »Vor einer benachbarten Kellerzelle stehen täglich Beduinen an, um Frauen zu vergewaltigen. Mit dem heißen Gummi geschmolzener Kühlerschläuche verbrennen sie ihre Brustwarzen und stoßen Eisenstangen in ihre Vaginen. Selbst wenn eine der Frauen ihren Verletzungen erliegt, lösen sie ihre Fesseln nicht. Tagelang bleiben die Überlebenden an die Toten gekettet.« (8)

Wenn man die Summen hochrechnet, die sich aus den Lösegeldern ergeben, lässt sich der Gewinn in den letzten zehn Jahren auf sagenhafte 300 Millionen Dollar schätzen (9). Können die skrupellosen Menschenhändler einmal kein Geld erpressen, tauschen sie ihre Opfer zuweilen auch gegen Fahrzeuge ein: drei Geiseln gegen einen Toyota Land Cruiser, sieben gegen einen Lastwagen (10). Wieviel obendrein jene Opfer einbringen, für die niemand Lösegeld bezahlt, ist unklar. Ihr Leben wird in noch brutalerem Wortsinn ausgeschlachtet. Menschenrechtsaktivisten berichten, dass den Geiseln Nieren und andere Körperteile entnommen worden seien, um sie auf dem Organmarkt zu verkaufen. Die Abnehmer seien ägyptische Ärzte aus Kairo, die für die Organe viel Geld bezahlen würden – nach Recherchen von CNN zwischen 1.000 und 20.000 Dollar (11). Die Rede ist sogar von einer mobilen Klinik, in der Organtransplantationen mitten in der Wüste durchgeführt würden.

In einem Massengrab außerhalb des Friedhofs der nordägyptischen Stadt Al-Arish wurden neben der Müllgrube eines Slums über tausend Tote gefunden, bei denen es sich um Entführungsopfer handeln soll. Im Jahr 2014 belief sich die Zahl derer, die auf dem Sinai spurlos verschwunden sind, auf 4.000, wie die Organisation Ärzte für Menschenrechte (PHR) schätzt. 5.000 bis 7.000 der insgesamt 50.000 bis 60.000 afrikanischen Flüchtlinge, die es in Israel gibt, haben eine Entführungsgeschichte hinter sich und haben diese überlebt (12).

3

Einer von ihnen ist Berhe Gonetse, der junge Mann im Klassenzimmer der Bialik-Rogozin-Schule. Man kann verstehen, dass er über die Dinge, der er gesehen hat, nichts Näheres erzählen will. Berhe Gonetse hat bei seiner Entführung Glück. Glück, dass er den Beduinen als Übersetzer helfen kann, Glück, dass seine Familie für ihn irgendwie das Lösegeld zusammenbringt, Glück, dass er einen Onkel in Tel Aviv hat, dem einige Jahre zuvor die illegale Einreise nach Israel gelungen ist. Dieser wird mit der Lösegeldübergabe betraut.

»Als sie meinen Onkel anriefen, sagten sie ihm, dass er das Geld an einen bestimmten Ort legen sollte. Die Entführer sind gut vernetzt, zum einen in Gaza, aber sie haben auch viele Freunde in Israel. Sie holen es ab, ohne dass sie gesehen werden.«

Obwohl der Onkel den Umschlag mit dem Geld hinterlegt, kommt Berhe Gonetse nicht sofort frei.

»Es spielt keine Rolle, wann das Lösegeld bezahlt worden ist. Man kann dann immer noch drei, vier Monate gefangen bleiben. Wenn sie das Geld für zwanzig, dreißig Leute zusammen haben, zeigt ihnen ein Beduine den Weg zur Grenze.«

Der Weg birgt eine weitere Gefahr: ägyptischen Soldaten in die Hände zu fallen. Dann geht die Odyssee weiter, findet das Martyrium kein Ende: Sie stecken die Flüchtlinge erst in ein ägyptisches Gefängnis – und schicken sie in ihr Heimatland zurück. Für einen Flüchtling wie Berhe Gonetse bedeutet das: in einem der Staatsgefängnisse von Eritrea zu verschwinden.

»Es waren ein oder zwei Kilometer bis zur Grenze, und man sagte uns, geht nicht dort entlang, da sind die ägyptischen Soldaten, sondern geht zur anderen Seite, da sind die Israelis. Die israelischen Soldaten schicken einen niemals zurück. Wenn man ärztlich behandelt werden muss, zum Beispiel wegen einer gebrochenen Hand, bringen sie einen direkt nach Beer Sheva ins Krankenhaus, wo man behandelt wird. Wer medizinisch okay ist, wird direkt ins Lager Saharonim gebracht.«

In Saharonim wird er zwei Tage befragt, er schwindelt die Soldaten in Bezug auf sein Alter an. Dann liefert ihn einer, ohne dass die Befragung zu Ende ist, im Levinsky Park in Tel Aviv ab, der Anlaufstelle für alle afrikanischen Flüchtlinge. Von dort aus sucht er sich den Weg zu seinem Onkel, wo er bis heute lebt.

So kam Berhe Gonetse, der als Christ erzogen ist, nach Israel, in ein Land, von dem er überhaupt nichts wusste. Tatsächlich, sagt Berhe Gonetse, hat er erst in der Gefangenschaft auf dem Sinai begriffen, wo er sich befindet – und dass Israel das einzige Land ist, das ihm Zuflucht bieten kann. Israel, das er vorher nur aus der Bibel kannte.

»Ich hatte Angst vor den religiösen Menschen. Anfangs traute ich mich nicht mal, das Haus zu verlassen, weil ich so Angst hatte.« Da stiehlt es sich wieder in sein Gesicht, sein Lachen. »Ich kannte nur die Geschichten aus der Bibel – dass die Juden Jesus umgebracht haben – und die anderen Geschichten, mit denen ich aufgewachsen bin.«

Was soll aus einem Jungen werden, der mit 13 Jahren in einem Land gestrandet ist, in das er nie wollte? Ein Junge, der vielleicht nie mehr zurück in seine Heimat kann? Hätte er je eine Chance im Leben gehabt, wenn er nicht an die Bialik-Rogozin-Schule gekommen wäre? Wenn er dort nicht Devora Schlesinger getroffen hätte, die – wie es der Zufall will – eine religiöse Jüdin ist?

4

Die Frau mit den tiefschwarzen Augen unterrichtet seit zweiunddreißig Jahren an der Schule. Früher trug diese nur den Namen Rogozin und war eine Schule wie jede andere auch.

»Süd-Tel Aviv war damals völlig israelisch, hier lebten keine Flüchtlinge. Ich bin Geografie-Lehrerin und habe an der Rogozin-Schule angefangen. Es gab etwa 1.000 Schüler, von der sechsten bis zur zwölften Klasse. 90 Prozent der Schulabgänger schafften es auf die Universität.«

Als die Stadtbehörde von Tel Aviv aber die Stadtviertelbindung für Schulen auflöst, beginnen viele Eltern im sozial schwachen Süden der Stadt, ihre Kinder auf Einrichtungen im Norden zu schicken. Zurück bleiben die, die sich den Wechsel nicht leisten können. Aufgrund drastisch sinkender Schülerzahlen will die Stadt die Rogozin-Schule Anfang der 1990er Jahre schließen, doch die Schüler beginnen zu demonstrieren, kämpfen um ihren Erhalt. Es ist genau die Zeit, als Israel eine große Immigrationswelle aus der früheren Sowjetunion erfasst, die die soziographische Landkarte verändert.

Viele der »Olim Chadishim«, der Neubürger aus Russland, lassen sich in Süd-Tel Aviv nieder. Die Stadtbehörde gibt der Rogozin-Schule eine neue Verfassung, aus einer normativen Lehrplanschule wird eine Mitbestimmungsschule, bei der Schüler und Lehrer den Lehrplan im gemeinsamen Dialog erarbeiten. »Diese Jahre waren eine tolle Herausforderung«, sagt Devora Schlesinger mit einem Leuchten im Blick. »Die Lehrplangestaltung war spannend. Lehrer und Schüler lernten voneinander. Aber es handelte sich immer noch um rein jüdische Kinder.«