Und andere Formen menschlichen Versagens - Lennardt Loß - E-Book

Und andere Formen menschlichen Versagens E-Book

Lennardt Loß

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Beschreibung

Ein Flugzeug stürzt über dem Südpazifik ab. Unter den Passagieren ist auch die 22-jährige Marina Palm. Tagelang treibt sie auf dem Ozean, festgeklammert an Sitz 9A. Dann erscheint am Horizont eine einsame Insel. Dann wäre da allerdings noch der Zahntechniker Hannes, der neben Marina im Pazifik treibt und ihr nicht nur seinen echten Namen verschweigt. Ferner Marinas Mutter, die eine Schwäche für Splatterfilme hat und literweise Schweineblut im Wohnzimmer hortet. Außerdem Vincent, waschbärenjagendes Handmodel mit einer Vorliebe für Google Earth, und schließlich Marinas Freund, ein strauchelnder Nachwuchsboxer mit einem Marketingproblem. Ein grandios schräges Ensemble und eine herrlich skurrile Geschichte, die mit Robinson Crusoe schon bald nichts mehr zu tun hat.

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Seitenzahl: 154

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Über dieses Buch

Nach einem Flugzeugabsturz über dem Pazifik treibt Marina auf eine einsame Insel zu. Aber was ist mit dem RAF-Terroristen neben ihr? Und wieso hortet Marinas Mutter literweise Schweineblut? Ebenso sonderbar: Vincent, das waschbärenjagende Handmodel und Aco, strauchelnder Nachwuchsboxer. Zusammen sind sie reichlich schräg und düster komisch.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Lennardt Loß (*1992) studierte Germanistik, Kunstgeschichte, Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Er ist freier Mitarbeiter für die FAS. Loß erhielt ein Stipendiat des Hessischen Literaturrats sowie der Roger Willemsen Stiftung und ist Preisträger des Jungen Literaturforums Hessen-Thüringen.

Zur Webseite von Lennardt Loß.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Lennardt Loß

Und andere Formen menschlichen Versagens

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die Originalausgabe erschien 2019 im Verlag weissbooks.w, Frankfurt.

© by Unionsverlag, Zürich 2021

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Krake - Amka Artist (Shutterstock); Hintergrund - Sylverarts (Shutterstock)

Umschlaggestaltung: Sven Schrape unter Verwendung des Originalumschlags, gestaltet von Julia Borgwardt, borgwardt design

ISBN 978-3-293-31103-9

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 29.05.2021, 13:15h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

Unsere Angebote für Sie

Inhaltsverzeichnis

UND ANDERE FORMEN MENSCHLICHEN VERSAGENS

11 312 Meter über dem Südpazifik April 1992

Güffingen bei Salzgitter, Deutschland Petristraße 37 4. Stock August 1996

Saltford, Kanada Sunny Acres Trailer Park Stellplatz #22 September 2014

Frankfurt am Main, Deutschland Boxarena »Im Hangar« Keller April 1992

Berlin, Deutschland Astoria Filmpalast Damentoilette Mai 2005

MS Condor Kreuzfahrtschiff 1042 Seemeilen vor Peru November 2017

Frankfurt Airport Flug LH 510 Boarding April 2012

Dank an

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Über Lennardt Loß

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11 312 Meter über dem Südpazifik April 1992

Kurz bevor der Zahntechniker Hannes Sohr die größte Katastrophe seines katastrophenreichen Daseins überlebte, schnitt er sich den Zeigefinger an der vorletzten Seite eines Shoppingkatalogs. Beworben wurde ein Bleistift aus kalifornischem Zedernholz – 179,99 Dollar, mehrwertsteuerbefreit. Sohr riss die Seite heraus, wickelte sie um seinen Zeigefinger.

Von seinem Platz aus waren es neun Sitzreihen bis zum hinteren Notausstieg. Er hatte die Rückenlehnen beim Boarding gezählt und sich die Zahl auf dem Handrücken notiert: Ein Ratschlag, den er vor Jahren von einem Piloten erhalten hatte, und Piloten gehörten zu den wenigen Menschen, denen Sohr zuhörte, obwohl sie eine Uniform trugen.

»Wenn ein Feuer an Bord ausbricht«, hatte der Pilot gesagt, »saugt die Klimaanlage den Rauch ein und verteilt ihn gleichmäßig im gesamten Flugzeug. Die Leuchtstreifen im Gang sind nicht mehr lesbar. Wer dann weiß, wie viele Rückenlehnen er vom Notausgang entfernt ist, überlebt mit höherer Wahrscheinlichkeit.« Sohr hatte dem Piloten geantwortet, dass sich Flugzeuge für gewöhnlich in der Luft befinden. Und dass in zehntausend Metern Höhe hinter einem Notausgang keine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit warte, sondern der Tod. Der Pilot hatte kurz geschwiegen und dann gesagt: »Besser als Ersticken, ’ne?« Seitdem zählte Sohr die Sitzreihen.

Nach acht Rückenlehnen blieb er stehen. Den blutenden, in die Katalogseite eingewickelten Zeigefinger hielt er wie eine Pistole vor sich, was die junge Frau vor der Bordtoilette offenbar verunsicherte. Sie ging einen Schritt zurück, öffnete den Mund. Ihre mittleren Schneidezähne waren länger als die seitlichen.

»Wollen Sie vor?«

»Wie bitte?« Sohr war neununddreißig Jahre alt und auf dem linken Ohr taub.

»Ob Sie vor wollen!«

»Ich?«

Die Frau zeigte auf die Toilette, dann auf die Katalogseite, die sich rot verfärbt hatte. Sohr nickte, sagte leise: »Gerne.« Als er den Türriegel auf Rot drehte, hätte Flug LH 510 eigentlich mit dem Landeanflug auf Buenos Aires beginnen sollen.

Sohr hielt seinen Zeigefinger unter den Wasserhahn. Mit der anderen Hand steckte er sich eine Schmerztablette in den Mund. Für den Flug hatte er drei Tabletten eingeplant. Das war die vierte.

Auf seinem linken Oberarm und am Rücken hatte er Verbrennungen zweiten Grades. Die Haut war vernarbt und gefühllos. In seinem Bauch steckte seit siebzehn Jahren eine Patrone vom Kaliber 6,35 mm Browning aus einer Walther PPK, genau zwischen Magen und Milz. Die Eintrittswunde war lange verheilt, doch das Projektil wanderte jeden Monat einen halben Millimeter auf seine Lunge zu. Ihm blieb noch ein halbes Jahr.

Vier Stunden bevor Sohr auf die Bordtoilette vorgelassen wurde, hatte Flug LH 510 die brasilianische Küste erreicht. Kurz danach brach der Kontakt zum Tower in Recife ab. Der Airbus A340 verschwand vom Radar. Die Flugbegleiter servierten Butterkuchen.

Im Norden von Buenos Aires arbeitete ein Tierarzt, der auf die Behandlung von Schusswunden spezialisiert war. Sohr hatte mit ihm telefoniert und seine OP-Kosten auf viertausendfünfhundert Dollar heruntergehandelt. In Deutschland hätte man ihn nach der OP vermutlich in U-Haft genommen. Denn offiziell lebte dort kein Hannes Sohr, der eine 6,35 mm Browning aus einer Polizeiwaffe in seinem Bauch hatte. Aber es gab einen Carl Fuchsler, der seit siebzehn Jahren mit einem Haftbefehl gesucht wurde. Darauf standen zwei Wörter in Großbuchstaben: »ROHRBOMBEN« und »RAF-TERRORIST«.

Sohr blickte auf. Das gleichmäßige Dröhnen der Triebwerke hatte ausgesetzt. Es war so still in der Kabine, dass er seinen Herzschlag hörte. Badum. Pause. Badum. Dann schlug sein Körper gegen die Decke.

Um 23.32 Uhr stürzte Flug LH 510 in den Pazifik. Neun Passagiere überlebten den Aufprall. Sieben befreiten sich aus dem sinkenden Wrack und tauchten an die Wasseroberfläche. Einer von ihnen war Hannes Sohr.

Das Heck ragte senkrecht aus dem Pazifik, Kerosin brannte auf dem Wasser. Sohr wäre in kürzester Zeit ertrunken, wenn nicht ein Zufall sein Leben gerettet hätte: Der Aufprall hatte Fenstersitz 9A in der Business-Class aus den Schienen gebrochen, und eine Welle spülte den Sitz gegen seinen Körper. Sohr hielt sich daran fest.

Ihre Stimme war lauter als die der anderen Überlebenden.

»HILFE!«

Pause.

»HILFE!«

Er presste die Augen zusammen, lauschte in den dunklen Pazifik. Nichts. Sohr hatte oft geschrien in seinem Leben. Als die erste Rohrbombe in die Luft ging, die er gebaut hatte. Als die Leichenwagen an ihm vorbei auf die JVA Stammheim zufuhren. Aber jetzt schrie er so laut wie nie zuvor: »HIER!«

Plötzlich schwamm sie neben ihm: Die Frau, die ihn auf die Bordtoilette vorgelassen hatte. Sie griff nach seinem Unterarm, er nach ihrem. Während Sitz 9A von der Absturzstelle wegtrieb, verstummten die Schreie der anderen Überlebenden.

Nachdem der Funkkontakt zum Tower in Recife abgebrochen war, flog der Airbus über Peru auf den Pazifik hinaus. Das Flugzeug hatte noch Kerosin für vierhundert Meilen im Tank.

Sohr hatte die erste, kurze Nacht auf dem Pazifik in einem seltsamen Dazwischen verbracht. Nicht wach. Nicht bei klarem Verstand. Seine Armbeuge hatte er um die Lehne von 9A gelegt, als ob er den Sitz in den Schwitzkasten nehmen wollte. Bauch und Beine hingen im Pazifik. Kalt war ihm nicht. Die Wassertemperatur betrug hier selten weniger als siebundzwanzig Grad Celsius. Sie würde heute noch steigen.

Er schaute an sich herab. Einen seiner Derby-Schuhe hatte er verloren, was ihn kurz ärgerte. Ein Blick nach links, ein Blick nach rechts: nur Wasser. Eigentlich nur blau. Eine Horizontlinie fehlte. Das Blau des Pazifiks ging ortlos in das Blau des Himmels über.

Ihm gegenüber, dicht hinter der anderen Armlehne, hob die junge Frau den Kopf. Ihre Augen: tiefrot, vom Salzwasser entzündet. Ihre Nase: eingedrückt, vielleicht gebrochen. Ein Schneidezahn fehlte. Sohr wusste nicht, was er sagen sollte, und sagte ein so alltägliches Wort, dass ihn eine Ahnung vom Horror der letzten Stunden beschlich: »Hallo.«

»Hi.«

»Ich würde das schnellstmöglich ersetzen lassen.«

»Was?«

»Die Zwölf.« Sohr tippte mit seinem Fingernagel auf seinen rechten, seitlichen Schneidezahn.

»Sind Sie Zahnarzt?«

»So ähnlich.«

»Zahnarztgehilfe also.«

»Zahntechniker.«

Schon am Morgen des ersten Ausbildungstags, es war im Herbst 1969 und Sohr gerade sechzehn Jahre alt, hatte er sich verliebt: in die ratternden Schleifmaschinen im Labor, in die Kunststoffstreifen und den Gipsstaub, die den Linoleumboden millimeterhoch bedeckten. In diesen dreckigen, lauten und herrlichen Beruf. Dann lernte er den Laborleiter Frank Graupner kennen.

»Ob man uns hier findet?«, fragte die junge Frau.

»Wahrscheinlich sind längst Suchmannschaften unterwegs.«

»Das Wasser ist pisswarm.«

»Und?«

»Wir sind über den Atlantik geflogen.«

»Ja?«

»Der Atlantik ist kalt.«

»Wir sollten nach Flugzeugen Ausschau halten«, sagte Sohr.

»Ob man uns überhaupt sieht?«

»Bestimmt.«

»Wie hoch fliegt ein Flugzeug?«

»Keine Ahnung.«

»Zu hoch?«

»Für was?«

»Um uns zu sehen, natürlich.«

»Nein.«

»Sicher?«

»Nein.«

Frank Graupner, der Laborleiter, hatte Sohr die Hand geschüttelt. Und ihn zur nächsten Zahnarztpraxis geschickt: »Abdrücke holen.« Sohr, der damals noch Carl Fuchsler hieß, lief sofort los. Wie er die Zahnabdrücke transportieren sollte, hatte er nicht gefragt. Er hatte sich bloß gewundert, dass der Mann mit den hageren Armen und den gelben Augen so einen festen Händedruck hatte.

Erst Jahre später, als auf Graupners Totenschein »Leberzirrhose« stand, stellte sich heraus, dass er sich an den Zahnabdrücken mit Hepatitis B infiziert hatte. Bis weit in die 1970er-Jahre war es üblich, die mit Speichel, Blut und Speiseresten bedeckten Abdrücke ohne Nitrilhandschuhe ins Labor zu bringen.

Am Ende seines ersten Lehrjahrs rief ihn Frank Graupner in sein Büro. Er fragte, ob Sohr ihn nach seiner Ausbildung beerben möge. Sohr mochte nicht und kultivierte unter den Lehrlingen stattdessen den Spitznamen »SS-Graupner«. Dass der Spitzname keine Verleumdung, sondern eine Tatsache war, wusste keiner im Labor. Auf der Innenseite seines linken Oberarms hatte Graupner eine sieben Millimeter große Tätowierung, die ihn als Mitglied der SS-Totenkopfverbände auswies: »AB«. Das Blutgruppentattoo war der Grund, warum er später an den Folgen seiner Hepatitis-B-Erkrankung starb. Aus Angst, enttarnt zu werden, hatte er seit dem 8. Mai 1945 keinen Arzt mehr aufgesucht.

»Bist du«, sagte Sohr und war still.

»Bin ich was?«

»Warst du allein? Im Flugzeug?«

»Ja«, sagte sie. »Und du?«

»Auch.«

Nachdem Sohr den Spitznamen erfunden hatte, dauerte es noch ein Jahr, bis Graupner mit ihm brach. Es war am letzten Tag der Gesellenprüfung. Sohr hatte eine Woche lang Vollgusskronen und Brückenglieder modelliert, Prothesen gefräst und Metallbasen gegossen. Die Prüfungskommission bewertete seine Arbeit mit der Note »gut«. Graupner hatte ein »sehr gut« erwartet.

»Was ist los mit dir?«, hatte Graupner geflüstert und dann eines der Gipsmodule auf seinem Schreibtisch zerschlagen. Sohr fühlte sich gekränkt. Dabei wusste er genau, warum er nur mit der Note »gut« bestanden hatte. Am Vortag, dem 4. April 1972, waren in Frankfurt drei Bomben hochgegangen. Eine in einem Kaufhof, eine andere vor dem 6. Polizeirevier. Eine letzte vor dem amerikanischen Generalkonsulat. Es hatte mehrere Verletzte gegeben. Und einen Toten: Klaus Brandau, neununddreißig Jahre alt, Taxifahrer, der vor der Polizeiwache auf einen Kunden gewartet hatte. Sohr verlangte noch am selben Tag ein Treffen mit seiner Kontaktperson, um herauszufinden, welche der drei Rohrbomben seine war. Das lehnte die RAF ab. Aber er wusste es auch so. Eine Woche nachdem Graupner sein Gipsmodul zerschlagen hatte, besuchte Sohr die Trauerfeier für Klaus Brandau. Es gab Butterkuchen.

»Wie heißt du eigentlich?«

»Hannes.«

»Ich darf doch Du sagen?«

»Gerne.«

»Hannes also. Ich bin Marina.«

Dass er Marina seinen echten Namen verschwieg, dachte Sohr, dass er nach einem gegen jede Wahrscheinlichkeit überlebten Flugzeugabsturz und auf dem Ozean treibend weiterlog, war geisteskrank. Dann kam ihm ein neuer Gedanke. Nur ein Geisteskranker würde jetzt nicht lügen. Seine Paranoia hatte ihn vor Stammheim bewahrt. Oder noch schlimmer: vor der DDR.

»Darf ich eine Frage stellen?«, sagte Marina.

»Ja.«

»Musst du mal?«

»Wie bitte?«

»Harndrang.«

»Nein. Also doch. Geht.«

»Ich hab gerade eben.«

»Ist nicht schlimm.«

»Ich weiß.«

»Keine Scham oder so.«

»Hab ich nicht.«

»Was ist dann?«

»Ich frage mich, ob das ein Fehler war.«

Dass er einen Flug nach Argentinien gebucht hatte, war die Schuld von Erich Honecker. Hätte Honecker seinen Staat anständig geführt, dachte Sohr, stünde die Mauer heute noch. Und wenn die Mauer noch stünde, hätte das BKA nicht herausgefunden, dass zehn RAF-Terroristen in der DDR abgetaucht waren. Aber Honecker war eben ein Versager. Und so hatte das BKA in den letzten Jahren jeden Einzelnen der »RAF-Aussteiger« ausfindig gemacht und verhaftet. Sie hatten alle geplaudert. Über Jürgen Ponto und Hanns Martin Schleyer, über Schnellfeuergewehre – und möglicherweise auch über Rohrbomben. Deshalb hatte sich Sohr entschieden, die Kugel in Argentinien entfernen zu lassen. Weit weg von Europa, der RAF und seiner Vergangenheit.

Marina redete weiter: »Es könnte ein Fehler gewesen sein. Schau mal nach oben. Was siehst du?«

»Nichts. Blau.«

»Eben.«

»Wie?«

»Angenommen, heute kommt doch kein Flugzeug.«

»Es kommt eins.«

»Ich hab jetzt schon Durst.«

»Marina.«

»Ich meine nur.«

Etwa eine Stunde später sahen sie einen schwarzen Punkt am Himmel. Er wurde größer, schärfer. Sie sahen den Rumpf, die Tragflächen, die Triebwerke. Das Flugzeug war direkt über ihnen. Sie schrien es an. Es flog weiter. Eine Minute verging und noch eine und noch eine. Der Kondensstreifen über ihnen löste sich auf.

»Wir sterben hier«, sagte Marina.

Im März 1975 hatte ihn die Kugel getroffen. Der Anschlag, der ihn vermutlich zum Mörder gemacht hatte, lag über drei Jahre zurück. Ulrike Meinhof und Andreas Baader waren mittlerweile in der JVA Stammheim inhaftiert. Seit der Beerdigung von Klaus Brandau hatte Sohr mit der RAF keinen Kontakt mehr aufgenommen und war nach Wiesbaden gezogen, wo er sich zum stellvertretenden Leiter in einem zahntechnischen Labor hochgearbeitet hatte. Er war nur einmal nach Frankfurt zurückgekehrt. Zum Grab von Klaus Brandau.

Auf dem Nachhauseweg hatte ihn ein Mann abgepasst, der eine dunkle Sonnenbrille und einen olivgrünen Parka trug und so offensichtlich nach RAF aussah, dass ihn niemand für einen Terroristen hielt. Sein Name war Bernhard Bachhuber, er sprach einen südbayrischen Dialekt und erzählte etwas von »ungeheurer Befreiungsaktion«. Von »Verantwortung und Verantwortlichkeit«. Und von »offener Aggression«. Sohr hörte aufmerksam zu und sagte dann: »Drei Bomben für dreitausend Mark.« Bachhuber nannte ihn ein »imperialistisches Dreckschwein« und legte als Ort der Übergabe den Bahnhof Oberursel im Taunus fest.

Als die Sonne senkrecht über dem Pazifik stand und Sohrs Stirn, seine Schultern und Arme verbrannte, hörte er das Zähneklappern. Marinas Lippen waren blau angelaufen.

»Scheiße«, sagte Sohr.

Von seinem neunten bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr hatte er die Knabenschule besucht, die neben dem Erziehungsheim Krügerhof im nordhessischen Rengshausen lag, in dem er aufgewachsen war. Das Johannesevangelium konnte er fast auswendig, aber warum Marina auskühlte, wusste er nicht zu sagen. Doch er hatte eine Ahnung.

Mit beiden Händen griff er nach ihrem linken Arm und zog sie vorsichtig auf den Sitz. Er keuchte, der Sitz schwankte, senkte sich tiefer in den Pazifik. Doch schließlich lag Marina auf 9A.

»Hörst du mich?«

Sie stöhnte.

»Wir kühlen aus. Ich bin größer als du. Schwerer. Bei mir dauert es länger.« Während er sprach, öffnete er mit einer Hand seinen Gürtel und schnürte ihn um die Armlehne. »Der Sitz hält nur einen von uns. Wir wechseln uns ab. Einer im Wasser, der andere auf dem Sitz. Der im Wasser macht sich mit dem Gürtel fest.«

In Oberursel hatten sie ihn erwischt. Als er die Sporttasche mit den Rohrbomben Bachhuber überreichte, zogen am Gleisende drei Zivilfahnder ihre Pistolen. Noch bevor Sohr realisierte, was geschah, hatte Bachhuber schon das Feuer eröffnet. Sohr schrie noch »Bomben!«, dann traf ihn die Kugel. Während Bachhuber ebenfalls »Bomben« brüllte, drückte er Sohr die Sporttasche auf die Brust und hielt seine Pistole dagegen. Die Zivilfahnder senkten ihre Waffen, und Bachhuber schleppte Sohr zum Parkplatz. Die Polizisten folgten ihnen in einiger Entfernung. Ohne Schüsse abzugeben. Erst als Bachhuber die Seitentür seines Opel GT öffnete und Sohr auf den Beifahrersitz hievte, durchschlugen Kugeln die Heckscheibe. Die Flucht gelang trotzdem. Die Fahnder hatten nicht Bachhuber, sondern Sohr beschattet, der mit der Straßenbahn zum Treffpunkt gefahren war. Ihren Streifenwagen hatten sie in Wiesbaden zurückgelassen.

Die folgenden drei Monate verbrachte Sohr in der »104«. Eine konspirative Wohnung in einem Hochhaus in Erftstadt, Nordrhein-Westfalen, die der RAF als Lazarett diente. Die meiste Zeit spielte er mit Bachhuber Monopoly. Von Schmerzmitteln und Antibiotika benebelt, verlor Sohr immer. Während einer Monopolysitzung stürmten sechs RAF-Mitglieder die bundesdeutsche Botschaft in Stockholm. Sie nahmen zwölf Geiseln und ermordeten zwei von ihnen. Dann explodierten die Rohrbomben, die sie mitgebracht hatten. Versehentlich. Zwei der Terroristen starben. Ob es seine Bomben waren, erfuhr Sohr nicht. Nach den drei Monaten in der »104« stattete ihn die RAF mit einer neuen Identität aus und meldete sich nie wieder.

Der Himmel über 9A schimmerte violett. Marina schien zu schlafen, und Sohr überkam ein Gefühl, das er seit Wochen nicht mehr gespürt hatte: Glück. Die Schnittwunde, seine schmerzenden Handgelenke, der sonnenverbrannte Nacken und die trockene Kehle waren ihm egal.