Und da kam Frau Kugelmann - Minka Pradelski - E-Book

Und da kam Frau Kugelmann E-Book

Minka Pradelski

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Beschreibung

Überraschend erhält Zippi die Nachricht, daß ihre kürzlich verstorbene Tante Halina ihr ein altes Fischbesteck vererbt hat. Sie reist nach Tel Aviv, um ihr Erbe selbst in Empfang zu nehmen. Kaum angekommen, da klopft es an der Tür ihres Hotelzimmers: Eine freundliche ältere, vor allem sehr dicke Dame bittet darum, eingelassen zu werden. Bella Kugelmann, so stellt sie sich vor. Zippis ungeduldiger Versuch, sie abzuwimmeln, schlägt fehl. Aber dann beginnt Frau Kugelmann zu erzählen: von ihrer Jugend im polnischen Bedzin, von Eltern und Verwandten, Schulfreunden, dem schönen Adam und der stolzen Polin, von Fettauge, von Gonna und Kotek dem Kätzchen, vom noblen jüdischen Fürstenberg-Gymnasium, dem trickreichen Mantelverkäufer Teitelbaum, den starken Bachmanns. Es herrscht ein pulsierendes, sorgloses, scheinbar völlig unbeschwertes und fröhliches Leben in dieser Kleinstadt, so kurz bevor die Deutschen Polen überfielen und das Grauen begann. Frau Kugelmann erzählt wunderbare Geschichten von einer längst vergangenen Zeit, denen sich die junge Deutsche nicht entziehen kann: Und als Frau Kugelmann plötzlich ein altes Fischbesteck erwähnt, begreift Zippi, daß es sich hier um ihre eigene Familiengeschichte handelt.

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Widmung

Das Fischbesteck

Der Zaubermantel

Unser Fürstentum

Unsere Schwänzer

Die stolze Polin

Mein schöner Adam

Ein Schnorrersohn als Fürstenberg-Schüler

Unser Pechvogel Mietek

Ein Wasserkopf namens Rapid

Dr. Goldstaub

Golda

Die Bachmanns

Der schlaue Gonna

Wie fromme Mädchen bei uns verdorben wurden

Wie dem Christengott ein Schnippchen geschlagen wurde

O Wunder

Jossel

Der Tscholentbäcker

Mit Hausschuhen nach Venezuela

Elf Monate

Kauft nicht bei den Schlesiern

Willkommen, meine Herren, in Bendzin

Minka Pradelski

Und da kam Frau Kugelmann

Roman

Frankfurter Verlagsanstalt

1. Auflage 2005

© Frankfurter Verlagsanstalt GmbH,

Frankfurt am Main 2005

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Thomas Pradel, Frankfurt am Main

eISBN 978-3-627-02123-8

1 2 3 4 5 – 09 08 07 06 05

Für Arno Lustiger, Siegmund Pluznik und alle Bendziner

Das Fischbesteck

Einen Monat nach dem Tod meiner Tante, genauer gesagt drei Stunden nach der Testamentseröffnung, informierten mich meine Verwandten über Halinas Ableben. Sie wissen, dass ich wegen meiner besonderen Essgewohnheiten fast unbeweglich bin und nicht von einem Tag auf den anderen zu einem Begräbnis nach Tel Aviv reisen kann. So hatten sie mich vergessen.

Der Anwalt, der den Nachlass meiner Tante verwaltet, hat mir mein Erbe aufgelistet: ein kleiner brauner Koffer, etwa siebzig Jahre alt, sowie ein mit rotem Samt ausgeschlagener Besteckkasten, in dem sich acht Gabeln und neun Messer eines zwölfteiligen Fischbestecks befinden.

Keines von Halinas vier Kindern begreift, warum sie mich überhaupt bedacht hat, und ich begreife nicht, warum sie mir einen alten Koffer und ein unvollständiges Fischbesteck hinterlassen hat, wo ich doch kaum reise und auch keinen Fisch anrühre. Seit meiner Kindheit weigere ich mich, Fisch zu essen. Ich wollte mit meiner Mutter, einer notorischen wöchentlichen Fischmörderin, nicht gemeinsame Sache machen. Jeden Freitagvormittag schwamm ein junger Karpfen aufgeregt in unserer Badewanne herum, bis er auf einem Holzbrett von meiner Mutter in kleine Portionen zerhackt wurde. Und ich beobachtete neugierig mit einem Anflug von Ekel jede Woche aufs Neue, wie die zerlegten Teile eine Stunde lang zuckten, als sei der Fisch noch lebendig. Nachts wünschte ich mir, die zitternden Teile würden wieder zusammenwachsen, der Fisch vom Holzbrett in die Badewanne springen und aus dem Fenster in den Fluss, um dann von der Strömung in die schlammige grüne See getragen zu werden. Von dort her käme er freitags zurück in unser Haus.

Den Koffer und den Besteckkasten hätte ich mir schicken lassen können. Aber ich will meine Erbschaft mit eigenen Händen in Empfang nehmen. Der Koffer soll mir Glück bringen, denn ich suche händeringend nach einem Ehemann. Vielleicht finde ich ihn in Tel Aviv. Vor etwa einem halben Jahr überfiel mich der brennende Wunsch zu heiraten. Aus heiterem Himmel sehnte ich mich plötzlich nach überquellendem Abwasch, endloser Bügelwäsche, und nichts erschien mir lieblicher als ohrenbetäubendes Babygeschrei. Zufällig entdeckte ich in der Nähe meiner Wohnung einen Kinderspielplatz. Entzückt beobachtete ich Kleinkinder bei ihrem unbeholfenen Spiel. Ich starrte neugierig in jeden vorbeigeschobenen Kinderwagen und konnte in kürzester Zeit bis auf den Tag genau das Alter der Kinder bestimmen. Kurz darauf erlernte ich die Babysprache. Säuglinge streckten die Ärmchen nach mir aus, Kleinkinder fingen meinetwegen das Krabbeln an oder liefen mir unsicher auf zwei wackeligen Beinchen entgegen, nur um in meiner Nähe zu sein. Stutzig wurde ich erst, als das einjährige Kind meiner Nachbarin zum Entsetzen der Eltern, mit denen ich wegen nächtlichen Lärms in Unfrieden lebe, als erstes Wort meinen schwierigen Nachnamen aussprach und mich dabei erwartungsfroh anblickte. Das ist ein Fingerzeig von meinen eigenen Kindern, sagte ich mir, sie wollen zur Welt kommen. Ich werde eine Familie gründen.

Halinas Erbschaft ist ein weiteres Zeichen. Vielleicht sehe ich am Strand einen Mann, der mir gefällt, und frage ihn, ob er gerne Fisch isst, obwohl ich einen Fisch niemals anrühren werde. Wenn er geschickt mit meinem ererbten Besteck umzugehen versteht und noch dazu schöne Geschichten erzählen kann, wie die fehlenden Fischgabeln meiner Tante verloren gingen, dann heirate ich ihn auf der Stelle.

Es wohnte bereits jemand in meinem Hotelzimmer, wusch sich an meinem Waschbecken, benutzte meine Toilette und hinterließ eine sandige Spur in meinem vorausbestellten Bett, als ich am Nachmittag, durchgeschwitzt nach einem anstrengenden Flug und mit dick geschwollenen Füßen, in dem Tel Aviver Strandhotel ankam und nach meinem Zimmer verlangte.

»Das Zimmer ist bereits vergeben«, entgegnete an jenem denkwürdigen Nachmittag bedauernd der Portier. Zwei Stunden zuvor sei eine junge Dame angekommen und habe das auf den Namen Silberberg reservierte Zimmer bezogen. Leider sei auch in den nächsten Tagen kein weiteres Zimmer frei, das er mir anbieten könne.

Was sollte ich tun, das ganze Hotel zusammenschreien und auf meinem Recht beharren, dass ich die richtige Silberberg war, die ein Zimmer für zehn Tage reserviert hatte, mitten im August, im heißesten Monat, wo die feuchtglühende Hitze sich wie ein klebriger schweißtreibender Dunst auf den Körper legt und selbst das Atmen beschwerlich wird? Dem Portier sagen, dass mir allein schon deshalb zur Belohnung das schönste Zimmer mit Meeresblick gebührt, weil ich vor Antritt dieser Reise den anstrengenden Versuch unternommen habe, mich von meiner eiskalten grünen Leidenschaft zu befreien? Denn ich bin süchtig. Genauer gesagt bin ich tiefkühlkostsüchtig. Die Sucht nach tiefgefrorenem Gemüse treibt mich drei Stunden nach Mitternacht, nach einem kurzen, traumlosen Schlaf, in die Küche. Ich reiße in einem fort tiefgefrorenes Gemüse aus der Verpackung, zermalme knirschende Eisplättchen mit meinen bloßen Händen, schabe Bohnen aus ihrer eisigen Kruste, löse Mais und Brokkoli aus ihrer Eiskristallverkettung, reibe liebevoll die ineinander verkeilten Gemüseteilchen, bis sie wie einsame Monaden auseinander fallen, dann stopfe ich das erstarrte vorgegarte Gemüse in meinen Mund. Ich habe gierige Nächte mit mir erlebt, in denen keine einzige Tiefkühlpackung meiner Lust standhalten konnte, und ich habe, da alle Köstlichkeiten verzehrt waren, aus Verzweiflung die leeren Packungen wieder tiefgefroren und zur Linderung auf mein hochrotes Gesicht gelegt. Erst das fahle Licht des Morgens ernüchtert mich so weit, dass ich mich mit aufgeblähtem Bauch und zitternden Händen wieder zur Ruhe begeben kann.

Ließe ich meiner eiskalten Leidenschaft die Oberhand, so würde ich im Supermarkt in einer mannshohen Tiefkühltruhe hausen, den Kopf auf eine Kühltasche gebettet, umgeben von angebrochenen Packungen wie eine vereiste Königin im Schlaraffenland der Tiefkühlwaren.

»Ich verlange eine Gegenüberstellung mit Ausweis und Reservierungsnachweis!«, sagte ich dem Portier mit lauter, schneidender Stimme. »Bitte seien Sie doch vernünftig, wir sind ein Hotel und keine Polizeidienststelle«, antwortete dieser ungerührt.

Wenn ich laut genug schreie, dachte ich, wird die andere Silberberg aus meinem Zimmer herauskommen und sich mir mit dem Namen vorstellen, den ich seit meiner Geburt trage. Wir werden dann sehen, wer die richtige Zippy Silberberg ist, ob ich ich bin und es weiterhin bleiben kann oder ob sie es ist, die mich ab jetzt übernommen hat. Es werden sich in Windeseile unter den Hotelgästen drei Parteien bilden, die lautstark gegeneinander argumentieren, zugunsten des Portiers, gegen die falsche Silberberg oder gegen mich. Die Hotelgäste werden sich gegenseitig in Rage bringen, sich immer wüster beschimpfen und sich am Ende mit Strandtaschen, Zeitungen und Fotoapparaten bewerfen, die Halle in ein Schlachtfeld verwandeln, wo Blut ohne Ende fließt und die Verletzten von den herbeigerufenen Ärzten versorgt werden, bevor man sie in die umliegenden Krankenhäuser abtransportiert.

»Ich bestehe auf meinem reservierten Zimmer«, sagte ich.

»Sie bekommen ein besseres Zimmer zum halben Preis, eine ganze Kategorie höher, in einem anderen Hotel«, versprach der Portier, der mir ansah, dass ich gleich zu schreien anheben würde. Er telefonierte hinter vorgehaltener Hand und reichte mir dann eine Visitenkarte mit Namen und Adresse eines benachbarten Hotels.

»Gehen Sie, gehen Sie schon, Sie werden zufrieden sein«, sagte er väterlich aufmunternd zu mir. Der Hotel-boy trug bereits den Koffer zur Tür hinaus, und ich eilte mit meinem Handgepäck hinterher.

Gibt es etwa eine andere Silberberg aus Nürnberg oder Darmstadt, die für den gleichen Zeitraum ein Zimmer reserviert hat und nun mein Zimmer bewohnt, oder heißt sie Silberstein und hat dem Portier zwanzig Dollar in die Hand gedrückt, damit er ihr ein Zimmer überlässt, und er hat ihr meines gegeben, weil unsere Namen sich ähneln? Hätte ich Goldberg geheißen, dann hätte ich längst mein Zimmer bezogen und wäre womöglich um ein einziges, winziges, feines, aus einem vollen Schopf herausgerissenes Haar Frau Kugelmann niemals begegnet.

Als ich Frau Kugelmann das erste Mal sah, dachte ich, sie könnte gar nicht anders als Frau Kegel oder Frau Kugelmann heißen. Alles an ihr ist rund, kugelrund, Augen und Ohren, Kopf, Hüften, Beine, Bauch. Gerade so, als hätte man Kugeln aneinander gesetzt, kleine und große für Kopf und Körper und ein paar langgezogene für Arme und Beine. Einzig die Falten in Frau Kugelmanns Gesicht rebellieren gegen die rundliche Ordnung. Sie gehen eigene Wege und graben tiefe Furchen, wo immer sie wollen. Ja, und ihre Schuhe haben auch eine andere Form, es sind große ovale Schalen mit Riemchen, orthopädische Sandalen, die aus irgendeiner deutschen Schuhfabrik stammen, weil ältere Damen in Israel auf orthopädische Schuhe aus Deutschland schwören.

Zumindest hieß sie früher Kugelmann, vor langer Zeit, als sie noch in Polen wohnte und jeder seinen eigenen Namen behalten durfte. Bis zu dem Tag, als ihr Name dann lautlos hinter einer Nummer verschwand.

Aber auch in der Zeit danach, nach der Befreiung, war Frau Kugelmanns Name noch gefährdet. Bei der Einwanderung nach Israel wollte man ihr den schönen Namen Kugelmann, der ihr so gut zu Gesicht stand, abnehmen und ihn durch einen neuen, einen hebräischen, ersetzen, mit dem sie dann, wie von einem Zauberstab berührt, ein völlig neues Leben beginnen sollte.

Vielleicht hat Frau Kugelmann es abgelehnt, ihren Namen abzulegen, und der Regierung geschrieben: Sehr verehrter Herr Ben Gurion, auch wenn Sie der allererste Ministerpräsident von Israel sind und einen schönen neuen Namen tragen, ich will meinen alten Namen behalten, weil mein Name so gut zu mir passt. Vielleicht hat sie dem Brief noch ein Bild von sich beigefügt, um den Ministerpräsidenten zu überzeugen. Und das Bild hat den Präsidenten überzeugt, der Präsident hat die Einwanderungsbehörde angewiesen, Frau Kugelmann vorzuschlagen, statt ihr einen vollkommen neuen Namen zu geben, nur das Wort Kugel zu hebräisieren und das Wort Mann am Ende durch Ben, Sohn, zu ersetzen. Dann hieße Frau Kugelmann fortan Ben Kadur, Sohn einer Kugel, und dieser Name wäre dann seinem eigenen, Ben Gurion, Sohn von Gurion, sehr ähnlich, und mit einem solchen Namen könnte Frau Kugelmann doch zufrieden sein und in Israel ein gutes zionistisches Leben führen.

Frau Kugelmann hat sicher lange überlegt und dann der Einwanderungsbehörde zurückgeschrieben, dass sie Ben Gurion für den Vorschlag danke, aber warum solle sie einen Namen tragen, den sie nicht möge, und selbst wenn Ben Gurion ihr vorgeschlagen hätte, sich Tochter einer Kugel zu nennen, was er aber nicht getan hat, hätte das auch nichts geändert, der neue Name gefiel ihr einfach nicht. Und wieso sollte sie ausgerechnet mit einem solchen Namen ein neuer Mensch werden, sie könne doch auch mit ihrem alten Namen ein neuer Mensch werden und alles vergessen, was vorher gewesen war. Oder sie bleibe, was sie ist, und erinnere sich an alles, was passierte, auch daran, dass sie einst in Polen lebte, in Bendzin, und eine Schülerin des Fürstenberg-Gymnasiums war.

Und so ist sie am frühen Morgen zu mir gekommen, unangemeldet in mein sparsam möbliertes Ersatzzimmer eingedrungen mit ihrem hart umkämpften alten Namen: eine Frau, die nicht vergessen kann.

Von der Hotelleitung sei sie geschickt worden, versichert sie mir, um nachzusehen, ob das Zimmer in Ordnung sei. Sie tut so, als inspiziere sie das Bad, überprüfe Duschhaube, Seife und Toilettenpapier, den Staub in den Hängeschränken, die Sauberkeit des Aschenbechers, rückt dann aber plötzlich einen Stuhl ganz nahe an mein Bett.

»Sie sind ganz alleine hier, nicht wahr?«, fragt sie mich leise.

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Gestern bei Ihrer Ankunft in der Hotelhalle habe ich Sie beobachtet. Ich habe einen Blick für Frauen, die alleine in Hotels absteigen. Ich erkenne es an ihren Bewegungen. Alleinstehende Frauen drehen sich nicht um, sie schauen nicht nach hinten. Sie wollen nicht, dass man erkennt, dass niemand auf sie wartet.«

»Würden Sie jetzt bitte mein Zimmer verlassen«, sage ich verärgert.

»Die meisten Hotelgäste bitten mich zu bleiben.«

»Ich gehöre nicht dazu. Gehen Sie jetzt hinaus, oder ich rufe den Portier.«

Sie verlässt das Zimmer, und nach einer halben Stunde klopft es wieder.

»Ich bin noch mal vorbeigekommen. Haben Sie jetzt Zeit für mich?«, fragt sie, als ich die Tür einen Spalt öffne. Sie schiebt sich an mir vorbei ins Zimmer.

Diese Frau soll verschwinden. Ein für alle Mal, denke ich. Mit einer Handbewegung weise ich ihr die Tür.

Sie geht wieder hinaus, und ich höre, wie sie draußen umständlich einen Stuhl bis vor meine Tür rückt. Sie hockt draußen und wartet. Ich stehe auf, schaue durch das Schlüsselloch. Es ist kaum zu glauben, aber sie sitzt reglos da und wartet geduldig auf mich.

»Wie lange wollen Sie hier sitzen?«, rufe ich laut und deutlich.

»Bis Sie mich hineinlassen«, antwortet sie gelassen.

»Und was wollen Sie von mir?«

»Ich muss mit Ihnen reden.«

Sie wird keine Ruhe geben, bis ich sie eingelassen habe. Bald werden die Zimmernachbarn sich beschweren und mich für den Lärm im Flur verantwortlich machen, sie werden mir sagen, dass ich ohne Mitgefühl sei für ältere Menschen, weil ich eine alte Frau, womöglich meine Mutter, erbarmungslos vor der Tür sitzen lasse. Ich reiße also die Tür weit auf und bitte sie einzutreten.

»Sie sind doch keine Angestellte des Hotels, wer sind Sie?«

»Ich gehöre zum Hotel wie die Sofas und die Stühle.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Ich warte jeden Tag.«

»Ach, warten Sie auf den Messias?«

»Die nächsten Tage werde ich nicht warten müssen.«

»Ist er schon da, Ihr Messias?«

»Wenn Sie einverstanden sind, setze ich mich zu Ihnen und vertreibe Ihnen die Zeit.«

»Und was, wenn ich nicht will?«

»Wir bleiben beide auf dem Zimmer, und ich werde Ihnen Geschichten aus meiner Schulzeit erzählen.«

»Ich werde nicht zuhören.«

»Hören Sie sich doch erst mal eine Geschichte aus Bendzin an.«

»Mich interessiert Benzin nicht.«

»Sie müssen den Namen anders aussprechen, weicher und mit viel mehr Gefühl. Die Buchstaben sollen ineinander verschmelzen, so als würde ein Schokoladenplätzchen auf Ihrer Zunge zergehen. Hier, nehmen Sie eines und probieren Sie es.«

Sie hält mir tatsächlich ein selbstgebackenes, mit Schokolade gefülltes Plätzchen hin, ich schnuppere daran und stecke es mir in den Mund. Der Name ist gar nicht so schwer auszusprechen, denke ich. Ich hätte nie gedacht, dass ich einen polnischen Namen mit einem Plätzchen im Mund mit so einer Leichtigkeit aussprechen kann. Wenn ich doch nur süchtig nach Plätzchen wäre, nach Schokoladenriegeln, Sahnetörtchen, Eiscreme, Karamelbonbons, dann könnte ich womöglich jeden polnischen Namen aussprechen und könnte vielleicht auch andere slawische Sprachen im Nu erlernen, Kroatisch, Tschechisch, Russisch.

»Wo liegt denn Ihre Stadt?«, frage ich zögernd.

»In der Nähe von Katowice«, antwortet sie.

Kattowitz in Oberschlesien, denke ich, ganz in der Nähe der Stadt meines Vaters.

Sie soll mir nur nichts von ihrer Schule erzählen. Wie sage ich nur einer älteren Dame, einer Überlebenden, dass mich ihre ehemalige Schule nicht interessiert. Ich habe die Schule gehasst. Wenn sie anfängt von ihrer Schule zu erzählen, schnappe ich mir meinen Bikini, flüchte aus dem Zimmer, laufe hinunter an den Strand, lege mich neben die andere Silberberg, oder, noch besser, ich vertreibe sie. Selbst wenn Frau Kugelmann mich bittet oder festhält oder ans Bett fesselt und knebelt, von einer Schule will ich nichts hören. Frau Kugelmann rückt ganz nahe an mich heran, beugt sich zu mir, hält mich fest, als wolle sie mich beschwören. Sie flüstert mir ins Ohr:

»Hören Sie gut zu, was ich Ihnen zu sagen habe, laufen Sie nicht weg. Ich muss erzählen, sonst stirbt meine Stadt.«

»Und ich sterbe vor Langeweile.«

»Warten Sie, nur einen Augenblick. Ich will Ihnen etwas Außergewöhnliches über unsere Schule erzählen, etwas, was Sie noch nie gehört haben. Alle unsere Lehrer und Schüler sind am Leben. Sie leben mitten unter uns, hier in Israel.«

»Sie meinen, einige Lehrer und Schüler aus Ihrem Ort haben überlebt?«

»Nein, ich meine, alle Lehrer und Schüler aus unserem Bendziner Fürstenberg-Gymnasium sind am Leben.«

»Alle sollen überlebt haben in einem kleinen Ort in Polen? Das glaube ich Ihnen nicht.«

»Es ist ein wenig anders, als Sie sich das vorstellen. Wir, die ehemaligen Schüler, sind es, die sie am Leben erhalten. Wir erzählen uns immer wieder Geschichten über sie. Wir pusten den Staub der Jahre weg, polieren, kneten und massieren, bis alles wieder geschmeidig und gelenkig wird, und plötzlich beginnen sie sich zu bewegen.«

»Wie? Sie bewegen sich wirklich, sie werden lebendig?«

»Nicht jeder kann sie sehen. Aber Sie können es.«

»Ich?«

»Ja, Sie!«

»Woher weiß ich, dass es wahr ist, was Sie mir erzählen?«

»Es gibt unendlich viele Wahrheiten über Bendzin, und jede noch so kleine Begebenheit birgt einen Berg voller Wahrheiten. Es hat sogar einmal in Bendzin an einem einzigen Tag hundertzwanzigtausend Wahrheiten gegeben. Jetzt sind Sie sicher neugierig und wollen wissen, warum.«

»Ja«, sage ich, werde rot und fühle mich ertappt.

»Hören Sie, das war so. Von unserer Hauptstraße aus, die mitten durch Bendzin führte, sah man als Erstes die Kirche, weil sie viel höher als die Synagoge war, wegen des Kirchturms, und bestimmt auch sehr viel früher erbaut wurde. Aber vor der Kirche stand die Synagoge, ein unübersehbarer, massiver flacher grauer Bau. Und wenn wir davon ausgehen, dass die Juden nur die Synagoge gesehen haben, die Christen nur ihre Kirche und die Freien die Unendlichkeit des Horizonts, dann gibt es sehr viele Wahrheiten über Bendzin. Vielleicht sogar vierzigtausend, so viele Wahrheiten wie es Einwohner gab. Und vielleicht hat es an einem Tag im Handumdrehen sogar hundertzwanzigtausend Wahrheiten gegeben, weil die Bendziner an diesem Tag mehrmals von der Kirche zur Synagoge blickten und dann noch in den Himmel. An einem Tag, der ganz gemächlich begann und sich dann in einen wütenden Tag hineingesteigert hat, an dem die wild gewordenen Christen plötzlich nur noch die verfluchte Synagoge gesehen und sie überfallen haben, und die Juden nur die verfluchte Kirche im Auge hatten, von der ihr ganzes Unglück ausging. Und nehmen wir einmal an, sogar die Freien hätten an diesem unruhigen Tag nicht mehr auf den Horizont geblickt, sondern nach unten, in die Endlichkeit, in irgendeines der vermaledeiten Gotteshäuser, wo man das arme verführte Volk mit dem Opium der Religion betäubt, um es gefügig zu machen. Wie viele Augenblicke der Wahrheit hat es an diesem Tag gegeben? Unzählige. Am Ende wird man behaupten können, es habe in Bendzin dreißigtausend Gotteshäuser und zehntausend Horizonte gegeben, und kein einziger Bendziner wird widersprechen.«

Sie blickt mich an. Mir fehlen die Worte. Sie nutzt meine Verlegenheit aus und stellt sich rasch vor:

»Ich heiße übrigens Bella«, sagt sie mit einem breiten gewinnenden Lächeln, »und an meiner Schule war ich wegen meiner langen blonden Zöpfe bekannt. Die meisten Schüler haben irgendwann einmal an meinen Zöpfen gezogen, weil keiner glauben wollte, dass so lange und so dicke Zöpfe echt sein könnten. Ich habe darauf geachtet, dass keiner ein zweites Mal an meinen Zöpfen zieht, ein jeder durfte sich nur einmal überzeugen.« Sie blickt mich kurz an, spürt mein Interesse und fährt fort.

»Aus meiner ehemaligen Abiturklasse haben nur vier von uns die schrecklichen Zeiten in Polen überlebt: der schöne Adam, die stolze Polin und ich, ja, und meine Cousine Golda, die in Polen zurückgeblieben ist.

Als der schöne Adam und die stolze Polin noch bei guter Gesundheit waren, trafen wir uns regelmäßig in Adams Wohnung, hier in Tel Aviv. Kaum hatte der schöne Adam mich an der Tür begrüßt, so bat er mich, an meinen Zöpfen ziehen zu dürfen, obwohl ich doch schon seit langem kurze und graue Haare habe. Meist gesellte sich die stolze Polin dazu, und so standen sie zu zweit um mich herum, griffen in die Luft und zogen mit einem kräftigen Ruck genau an der Stelle, wo sich einst der dickste Teil meiner Zöpfe befand. Zogen sie allzu heftig, dann schrie ich auf vor Schmerz, aber das geschah eher selten.

Wenn wir uns auf Adams Sofa zum Reden niederließen, dann geschah etwas Merkwürdiges: Die Tür der Wohnung schloss sich von unsichtbarer Hand, und das Zimmer füllte sich mit den vertrauten Gestalten.

Wir hören plötzlich das Hämmern der Schuster, sehen die Stofffetzen der Schneider, haben den Geschmack der leckeren Speisen, die auf der Straße feilgeboten werden, im Mund, sind halb betäubt von den wohlbekannten Gerüchen und dem polnisch-jiddischen Sprachengewirr. Wir sind eingekesselt von Metzgern und Bäckern, Fabrikanten, Lastenträgern und Schnorrern. Und wenn einer von uns hustet, holen wir in Gedanken die bittere Medizin beim Apotheker Gablonski und gehen noch schnell um die Ecke beim Barbier Lachmann vorbei, um nebenan, beim Potok, ein paar Süßigkeiten zu kaufen. Manchmal ist unser Zimmer bis zum Bersten gefüllt, Schülerinnen mit dunkelblauen Blusen und roten Hutbändern drängeln sich in den Ecken, Burschen mit Schlittschuhen oder nassen Badeanzügen stürmen herein. Keitusch, der kleine Pudel von Marysia Teitelbaum, dreht sich im Kreis und weiß vor Aufregung nicht, wen er zuerst begrüßen soll. Frau Kleinowa, unsere nervöse Polnischlehrerin, ist von den Lehrern als Erste da, dann kommt unsere schöne Lateinlehrerin Fanny Sternenlicht in ihren verführerisch kurzen Stiefelchen. Wie sie es liebt, ihre jungen Schüler zu verwirren. Und da ist auch schon unser hässlicher Mathematiklehrer Professor Rado, mit seinem festen, kurzen, zielbewussten Tritt, und auch der hagere christliche Hausmeister Kowalski mit Bolek, seinem Sohn. Ja, und da sehe ich schon die Organisationen, die Zionisten und die Bundisten und wie sie alle heißen, und endlich sind auch alle verschwundenen Schüler wieder da.

Das geht so lange, bis unsere Stadt wieder erstanden ist, so wie sie früher war, eine fleißige jüdische Kleinstadt in den dreißiger Jahren mit Blick auf die nahe deutsche Grenze, in enger Nachbarschaft zu Schlesien, inmitten des rührigen Kohlenreviers, in Zaglembie, wie melodisch dieser Name noch immer für uns klingt.«

»Wir«, beeilt sich Frau Kugelmann fortzufahren, »die stolze Polin, der schlaue Gonna und ich, wohnten alle in der Malachowskiegostraße, nur ein paar Häuser voneinander entfernt. Fettauge wohnte in einem ganz vornehmen Haus, Tür an Tür mit dem Palast vom Fürstenberg, dem wir unsere Schule verdankten. Mietek, der Pechvogel, wohnte ein ganzes Stück weiter entfernt, in einem der ärmlichen, heruntergekommenen Hinterhöfe, die kein Fremder hinter der prunkvollen, reich verzierten Häuserfront vermutete. Der schöne Adam aber wohnte außerhalb, droben bei den Polen, in der Nähe der Seifenfabrik seines Vaters. Ach, fast hätte ich es vergessen, Kotek, mein bester Freund, wohnte auch in der Malachowskiego, ein wenig höher als wir, direkt am Platz, nach dem dritten Mai benannt, dem Tag, an dem sich der freie polnische Staat eine eigene Verfassung gab.

Zwei Hauptstraßen hatten wir, so richtige Paradestraßen, die prächtige Malachowskiego und die elegante Kollontaja, die breit genug waren, um ganze Regimenter, wenn der Staat es wollte, an Festtagen hin- und hermarschieren zu lassen. Von der Kollontajastraße aus konnte man durch die Lücken zwischen den Häusern die Synagoge sehen. Sie stand auf einem kleinen Hügel, mitten im frommen Viertel, nicht weit von den bunten Märkten, wo die Händler aus den Dörfern nicht müde wurden, ihre Waren anzupreisen, so dass die Stimmen sich gegenseitig übertönten und abgedämpft wie ferne Kinderstimmen zu uns herüberschallten. Oberhalb des Berges war die alte Burg des Königs Kazimierz zu sehen mit ihrer riesigen herrschaftlichen Parkanlage, und gleich dahinter, den Berg hinunter terrassenförmig angelegt, inmitten herrlicher Bäume, unser alter, karger Friedhof mit den Grabsteinen und den hebräischen Inschriften, alle nach Osten, nach Jerusalem ausgerichtet. Und der christliche Friedhof, abgetrennt durch einen schmalen Weg, mit Kreuzen und Blumen, sauber angelegt, dicht daneben. Ja, und noch ein wenig tiefer im Armenviertel konnte man, wenn es ganz ruhig war, unseren Fluss hören, die Schwarze Przemsza. Sie schmiegte sich ganz zart an unser Ufer und trieb mit großem Vergnügen das dunkle Wasser der Kohlengruben aus dem Nachbarstädtchen Dombrowa leise plätschernd zu uns hinüber.

Der Zaubermantel

Am Vormittag, wenn wir in der Schule waren, gehörten unsere Paradestraßen den Erwachsenen. Viele auswärtige Besucher kamen zu uns, vor allem Schlesier, um günstig Waren zu erstehen. Auch die Bauern der Umgebung kauften bei uns ein. Einer von den Geschäftsinhabern auf der Kollontaja, der Jacob Teitelbaum, war so ein richtiger Bauernfänger, aber keiner wusste wirklich genau, warum. Er war der beste und schnellste Verkäufer der Stadt. Das karmesinrote, wildgelockte Haar kurzgeschnitten und straff zurückgekämmt, stand er schmal und servil, kaum wahrnehmbar inmitten seiner Konfektionsständer.

Teitelbaum ließ seine armen jungen Verwandten, die krausköpfigen, safrangelben Brüder Samek und Poldek Teitelbaum, für ein paar Groschen auf der Straße als Rufer arbeiten. Sie schrien und gestikulierten, hielten Passanten an und lockten sie mit schmeichelnden Worten in Teitelbaums Laden. Kaum hatten sie einen Bauern für den Teitelbaum eingefangen, so verließ der binnen kürzester Zeit mit einem neu erworbenen Mantel das Geschäft, ja, er lief in Windeseile davon. Das Überraschende bei dem rasenden Einkauf war, dass der Bauer sein neu erworbenes Kleidungsstück gleich übergezogen hatte. Sogar bei der allergrößten Hitze behielten die Bauern ihren dicken, flauschigen, frisch gekauften Wintermantel an. Wie das kam?

Also, das war so. Der Teitelbaum hatte immer einige Bündel Geldnoten zur Hand. Wenn ein Bauer, aber kein Städter wohlgemerkt, einen Mantel verlangte, schob er blitzschnell zwei Banknoten in eine Manteltasche. Dann half er dem Kunden in den präparierten Mantel. Sobald der Bauer in die Manteltasche fasste, lachten ihn die herrenlosen Scheine durch den dichtgewebten Stoff an, und die Verzauberung begann. Behielt der Bauer den Mantel gleich an und wollte möglichst schnell verschwinden, ohne den Preis des Mantels zu verhandeln, dann wusste der Teitelbaum, dass der Bauer dem Zauber des Geldmantels verfallen war. Einige Bauern haben sogar geglaubt, in Teitelbaums Geldmantel das ganz große Glück zu finden und auf ein eingenähtes Säckchen Gold oder Silber zu stoßen oder zumindest auf eine vollgestopfte Brieftasche mit ein paar tausend Zloty.

Es nimmt schon Wunder, dass sich der Trick nicht herumgesprochen hat, aber kein Bauer hat je ein Sterbenswörtchen über den Kauf des Geldmantels verloren. Viel zu sehr hätte er sich wegen der Täuschung geschämt. Denn die gefundenen Geldscheine im Mantel hatten nur einen ganz geringen Wert. Um die Wahrheit zu sagen, lag er weit unter dem, was der Bauer sich beim Teitelbaum hätte aushandeln können, wenn er beim Kauf des Mantels nur einen kühlen Kopf behalten hätte.

So hat der Teitelbaum immer wieder neue Bauern für seine Mäntel gefunden. Nur hatte er sich in all den Jahren die Gesichter der Käufer einprägen müssen, um nicht ein zweites Mal auf einen an der Nase herumgeführten Bauern zu stoßen. Der hätte ganz sicher das Geld aus der Manteltasche gestohlen und wäre davongelaufen. Und der Teitelbaum hätte ihm nicht einmal nachlaufen können, um ihn des Diebstahls zu bezichtigen.

Wie ich davon erfahren habe? Poldek und Samek haben sein Geschäftsgeheimnis verraten, aber das war schon kurz vor dem Einmarsch. Sie waren nicht so gut auf den Teitelbaum zu sprechen, weil er sie nicht mehr als Rufer engagierte. Die safrangelben Brüder waren damals sehr böse auf ihren reichen Verwandten, denn sie selbst waren bettelarm. Sie waren so arm, dass sie mit gesenktem Kopf spazieren gingen, nicht weil sie sich schämten, dass sie so arm waren, und deswegen den Kopf nicht hoben, nein, sie taten es aus Not, weil sie hofften, auf dem Boden ein kleines Geldstück oder etwas Brauchbares zu finden, was einem, der einen satten Bauch hat, nicht ins Auge springt. Und sie haben aus allem, was sie auf dem Boden gefunden haben, etwas gemacht, aus einem Stück Eisen, einem Zigarettenstummel, einem achtlos fortgeworfenen alten Lappen. Und auch die rothaarigen Kinder der beiden Brüder, allen voran die Älteste, die Tochter vom Poldek, die feuerrote Laje Dresel, ist mit eben diesem Blick nach unten gegangen, weil sie gar nicht wusste, dass man sorglos mit erhobenem Kopf durch die Straßen gehen kann, und ihre vier Brüder, Cousins und Cousinen haben der feuerroten Laje Dresel alles nachgemacht, weil die Älteste die Jüngeren anführt und ihnen beibringt, was im Leben wichtig ist. So konnte man die Teitelbaumfamilie schon von weitem erkennen, und sie haben sogar, als sie einmal für kurze Zeit zu Geld gekommen sind, aus reiner Gewohnheit den Kopf nicht heben können.«

Frau Kugelmann holt tief Luft, und dann sprudeln die Worte nur so aus ihr heraus, sie verschluckt sich und versucht noch während des Abhustens weiterzureden, als fürchte sie, eine kleine Pause könne meine Bereitschaft, ihr zuzuhören, zunichte machen und sie müsse dann erneut um meine Aufmerksamkeit kämpfen. Sie rührt mich, stelle ich wider Erwarten fest.

Unser Fürstentum

»Jeden Morgen«, sagt sie, »auf dem Weg zu unserem Gymnasium, begegnete ich der feuerroten Laje Dresel. Sie besuchte mit ihren beiden jüngeren Schwestern das Beth Jakow, eine Schule für fromme Töchter. Das Beth Jakow wurde von einem Wohltäter eingerichtet, der Joine Breitschwanz hieß. Der edle Spender war ein zu einigem Reichtum gekommener Metzger, ein Wurstfabrikant, dem seine fünfzehn wohlgeratenen Kinder beim Einpökeln der dicken Würste fleißig zur Hand gingen. Er stellte den frommen Mädchen das oberste Stockwerk seiner Wurstfabrik für den Unterricht zur Verfügung. Laje Dresel und ihre Geschwister mussten wohl ganz schön abgehärtet gewesen sein, wenn sie in einem Gebäude lernen konnten, in dem unten im Keller das Blut der geschächteten Tiere floss, dachte ich und erschauerte jedes Mal, wenn sich unsere Wege kreuzten.

Es ist kaum zu glauben, aber wir verdanken unser vornehmes Gymnasium einem missratenen Geschwisterpaar. Der Vater der ungezogenen Kinder hieß Abraham Fürstenberg und war bei weitem der reichste und mächtigste Industrielle in unserer Stadt. Der vornehme Fürstenberg war ein Mann der guten Tat. Man nannte ihn einen schönen Juden, obwohl er kahl und fettleibig war, denn er war ein Wohltäter, ein Gönner, ein Mäzen, ein Mann, der Gutes tat. Jedes Jahr ließ er nach Sukkot, unserem Feiertag, der den Herbst ankündigt, allen Organisationen, ob frei oder fromm, einen Viert Kohle von seinen Kohlegruben zukommen, mit dem man fast den ganzen Winter heizen konnte, so ein wohltätiger Mann war er. Fürstenberg, stets mit einem karierten Taschentuch zur Hand, mit dem er seine immerfort tränenden roten Augen wischte, hatte einen sicheren Blick für den Ankauf maroder Fabrikgelände. Er parkte sein edles, dunkelblaues Automobil, das er eigenhändig fuhr, mitten auf dem Gelände, stieg aus, inspizierte das Gebäude, ging in sich und achtete auf den Tränenfluss seiner Augen. Versiegte der Tränenfluss, so wusste er, dass die heruntergekommene Fabrik, für die keiner einen Pfifferling gab, sich bald in eine Goldgrube verwandeln würde, den Arbeitern Lohn und Brot, der Stadt Prosperität und ihm, dem reichen Fürstenberg, noch mehr Geld einbringen würde, und so kaufte er sie dem verdutzten Besitzer auf der Stelle ab.

Fürstenberg war ein Mann mit Visionen, er glaubte an die Erziehung einer neuen jüdischen Generation. Er war geradezu vernarrt in den Gedanken, aus jüdischen Kindern gute, fortschrittsgläubige Juden zu machen. Seine eigenen Kinder allerdings ließen sich von ihm trotz Drohungen und Strafen nicht auf den rechten Weg bringen. Sie bereiteten ihm eine bittere, herbe, tief schmerzende Enttäuschung. Aus seinem faulen Sohn Schlomo, einem Wodkatrinker und Kartenspieler, der nur nachts auflebte und dafür tagsüber schlief, konnte Fürstenberg keinen anständigen Juden machen. Und seine Tochter Gutka, ein wohlgeratenes, graziles Mädchen, an dem er anfangs viel Freude hatte, heiratete zu seinem Entsetzen einen kräftigen christlichen Polen, der als Packer in Fürstenbergs Lackfabrik arbeitete. Nach der Heirat mit dem Polen wurde Gutka aus dem Palast ihrer Eltern verstoßen.

Fürstenberg wollte sich seinen Traum aber nicht von seinen missratenen Kindern zerstören lassen. Er enterbte sie kurzerhand und spendete der Jawneschule einen Teil seines Vermögens. Die Jawneschule, meilenweit entfernt von den orthodoxen Religionsschulen mit ihrer alten Denkdisziplin, war weltlich, modern und auf den Fortschritt hin ausgerichtet. Dafür war sie, fast könnte man sagen zur Strafe, im obersten Stockwerk eines baufälligen Gebäudes untergebracht, in so uralten, hässlichen, unhygienischen Räumen, dass es die Schüler beim Unterricht nur so grauste. Im Treppenhaus allerdings hatten sie morgens ihr Vergnügen, denn in jedem Stockwerk gab es etwas Lustiges zu sehen. Im ersten Stock unterrichtete der Sali Maiteles die Bendziner Dienstmädchen im Gesellschaftstanz. Sie kamen an ihrem freien Tag zu ihm, um für ein paar Groschen das Tanzen zu erlernen. Maiteles, dürr, mit weißem wallenden Haar, gebärdete sich schulmeisterlich streng, doch wer in seine Nähe kam, konnte in seinen unruhigen Augen eine armselige Angst entdecken. Es war die scheue Angst eines gejagten Menschen. Den großen Hut trug er schräg in die Stirn gezogen, um das gepuderte Gesicht abzudecken. Und wenn man nur lange genug blieb, gab es schon mal ein paar Rüschen an seinem Bein zu sehen, das freute die Kinder sehr. Was wussten wir denn schon, was mit ihm war.

Ein Stockwerk darüber residierte der ehrenwerte Sportverein Hakoach. Die Schüler träumten davon, eines Tages in diesem bedeutenden Verein Mitglied zu sein. Vorerst aber stellte ihnen der Sportverein nur die Räume für den Turnunterricht zur Verfügung. Im vorletzten Stockwerk waren die Schuster und Schneider untergebracht, ihnen wurde bei der Arbeit zugeschaut, bis zum allerletzten Läuten, und manchmal, wenn es wenig Arbeit gab, durften sie die Nadel durch ein Stück Stoff ziehen.

Fürstenberg fand, man könne bei so einem Lebensunterricht die Jawneschüler niemals zu guten Juden mit modernem Weitblick erziehen. Und weil sie sich geistig und körperlich frei entfalten sollten, baute er für sie ein prächtiges Schulgebäude, dreigeschossig, hell, mit hohen Fenstern, einem großzügigen Pausenhof und einem einladenden Sportplatz. Kurz, das modernste Gebäude unserer Stadt, auf das wir alle stolz waren und deshalb unser Fürstentum nannten. Wir Schüler benutzten bescheiden den Seiteneingang, während unsere hochgeschätzten Lehrer und der Ehrfurcht einflößende Herr Direktor unser kleines Königreich wie Aristokraten durch das weitgeschwungene verglaste Hauptportal betraten.«

»Ach, hören Sie auf, Frau Kugelmann«, unterbreche ich sie, »Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie Ihre Schule nie durch das Hauptportal betreten haben!«

Eine Frage wird ja wohl noch erlaubt sein, denke ich, als sie mich verärgert anblickt. Schließlich befinden wir uns in meinem Zimmer. Ich habe hier das Hausrecht.

»Niemals«, antwortet sie ungehalten. »Schauen Sie, wir haben unsere Lehrer verehrt. Sie stammten fast alle aus Galizien, unserem intellektuellen Reservoir, deshalb haben wir sie alle mit dem Titel Professor angeredet«, sagt sie schnell und will nach ihren Zöpfen greifen.

»Einen Moment noch. Sagen Sie, wer von Ihren Lehrern hat denn überlebt?«

»Ich glaube, es ist an der Zeit zu gehen«, sagt sie getroffen, blickt mich unruhig an, steht auf und verlässt, einen Abschiedsgruß murmelnd, das Zimmer.

Sie duldet keine Fragen, die nicht in ihrem Sinne sind. Aber ich lasse mir doch nicht den Mund verbieten. Sie raubt mir meine kostbare Zeit. Morgen lasse ich sie nicht mehr in mein Zimmer. Ich stehe auf, um nachzusehen, ob sie auf dem Flur auf mich lauert. Glücklich, endlich allein zu sein, versperre ich sorgfältig meine Zimmertür. Nun kann ich mich ungestört meinen Gewohnheiten widmen.

Wann immer ich ein fremdes Hotelzimmer betrete, studiere ich zunächst mit aller Gründlichkeit den Fluchtplan. Präge mir genau die Fluchtwege ein, bereite mich sorgfältig auf ein möglicherweise plötzlich ausbrechendes Feuer vor und übe den Ernstfall. Ich befeuchte ein Gästehandtuch, lege es um Mund und Nase, überprüfe mit der Stoppuhr, wie viel Zeit ich benötige, um den rettenden Ausgang zu erreichen. Einmal habe ich mich so intensiv vorbereitet, dass ich einen Brand mit einem schnell um sich greifenden Feuer regelrecht herbeigesehnt habe. Vom Flurtelefon aus habe ich einen Flächenbrand gemeldet. Den Anweisungen des Personals folgend bin ich nicht in Panik geraten, habe Ruhe bewahrt, das Feuerlöschgerät nach Vorschrift betätigt, den weißen Schaum in alle Ecken verspritzt und mich zusammen mit anderen gefährdeten Hotelgästen von der eintreffenden Feuerwehr mit einer Drehleiter von meinem Balkon in Sicherheit bringen lassen.

Zu Hause, in Frankfurt, habe ich eine Direktleitung zur Feuerwehr. Im Übrigen lebe ich bescheiden von einer kleinen Erbschaft meiner früh verstorbenen Eltern, die ich sorgsam verwalte. In geschäftlichen Dingen habe ich eine durchaus glückliche Hand. Darum achte ich darauf, dass sich das Geld nicht allzu schnell vermehrt, sonst gäbe ich den erwirtschafteten Gewinn für eine großräumige Wohnung aus, deren Zimmer ich, abgesehen vom Schlafzimmer, allesamt in moderne Einbauküchen verwandeln würde, bis zur Decke gefüllt mit doppelwandigen Gefrierschränken. Möglichst sieben an der Zahl, damit ich jede Nacht in einer anderen Küche meiner Lust nachgehen könnte.

Am Nachmittag bin ich unter dem Vorwand, ich sei Diabetikerin und müsse meine Insulinspritzen im Hotelkühlschrank unterbringen, aus Neugierde in die Hotelküche hinuntergegangen.

»Sie haben doch einen Kühlschrank im Zimmer«, wundert sich Daud, der junge Küchengehilfe mit dem großen Adamsapfel und einem kleinen Ohrring im linken Ohr.

»Ja, aber die sperrige Tasche mit meinen Medikamenten passt nicht in die knapp bemessenen Regale. Ich kann nur eine Tagesration in meinem Zimmer aufbewahren«, antwortete ich und blicke ihn dabei hilfesuchend an. Daud gibt sich geschlagen und erlaubt mir die gesamte Kühleinrichtung einer gründlichen Inspektion zu unterziehen. Fisch und Fleisch haben eigene moderne Gefrierkammern, in denen man in der dampfenden Kälte, gebückt wie in einem Tierkäfig, umhergehen kann. Das junge gefrorene Gemüse liegt herzzerreißend stiefmütterlich behandelt in einem uralten Gefrierschrank, der keine gleichbleibende Kühlung mehr garantiert.

»Das Einfrieren von Gemüse lohnt sich kaum, das Hotel wird jeden Morgen mit frischem Gemüse vom Markt beliefert«, erklärt er.

»Wozu dann der Gefrierschrank?«

»Wir müssen alles ständig vorrätig haben.«

»Können Sie mir bitte den Küchenschlüssel geben, damit ich unabhängig von Ihrer Arbeitszeit an meine Medikamente komme?«