5,99 €
Ein vergilbtes Klassenfoto erinnert den alten Mann an seine erste kindliche Liebe. Und dann, als ob ein Vorhang aufgezogen würde, blickt er auf sein ganzes Leben zurück: Bombennächte 1944 in Stuttgart, Evakuierung nach Oberschwaben, Rückkehr in die zerstörte Stadt und Schulzeit zwischen Ruinen. Er erinnert sich an die Zeit als Student in München und die Berufsjahre als Lehrer am Gymnasium. Unterhaltsam und spannend werden die aufregenden, glücklichen und traurigen Momente in Roberts Leben erzählt. Seine privaten und beruflichen Erlebnisse spiegeln den gesellschaftlichen Wandel in Deutschland vom zweiten Weltkrieg bis heute.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 266
Veröffentlichungsjahr: 2020
Peter Baier
… und dannwinkt der Pilot
© 2020 Peter Baier
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-01059-8
Hardcover:
978-3-347-01060-4
e-Book:
978-3-347-01061-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Da, in der zweiten Reihe, die Dritte von links, das ist Sabine. Robert lächelt verlegen, obwohl er ganz allein in seinem Zimmer sitzt. Als wäre er wieder der kleine Berti von damals. Er lässt das vergilbte Klassenfoto sinken und blickt gedankenverloren aus dem Fenster. Die Nachmittagssonne taucht den herbstlichen Garten in warme Farben.
Sabine, seine erste Liebe! Er weiß nicht mehr, wie oft er sich in den siebzig Jahren danach noch verliebt hat, an Sabine aber kann er sich ganz genau erinnern. Eine Schulbank in der Fensterreihe eines Klassenzimmers taucht vor ihm auf…
Die Flasche steht schon seit dem Unterrichtsbeginn vor zwei Stunden auf der Fensterbank. Wahrscheinlich schmeckt die Brause inzwischen ziemlich lasch, doch Berti würde viele seiner Sammelbilder von Flugzeugen und Zeppelinen dafür hergeben, wenn er einmal aus der Flasche trinken dürfte. Nicht, weil er Durst hat. Nein, er hätte einfach gerne den Strohhalm im Mund, mit dem Bine, so wird sie von den andern Mädchen genannt, trinkt. Sabine ist blond, hat lange Zöpfe, große blaue Augen und eine süße Stupsnase. Sie ist etwas größer als Berti. Wenn sie ihn doch nur ein wenig mehr beachten würde!
Als die Lehrerin ihm den Platz neben dem Mädchen zuwies, klopfte sein Herz vor Freude und Aufregung. Sie gefiel ihm vom ersten Augenblick an. Doch heute ist nun schon sein dritter Tag in der neuen Klasse, und sie hat noch kein Wort mit ihm geredet. Immer ist sie mit ihren doofen Freundinnen beschäftigt, quatscht und kichert mit Ute und Susanne, die in der Bank vor ihnen sitzen.
In der großen Pause steht Berti wieder ganz allein im Schulhof. Die Mädchen hüpfen nach undurchsichtigen Regeln über die großen Steinplatten des Hofs. Da kann er nicht mitmachen. Das wäre unmännlich, die andern Jungs würden ihn verächtlich anschauen. Und die Mädchen wollen sowieso nicht, dass ein Junge mit ihnen spielt. Die Buben rennen rum, schubsen einander und schreien. Berti mag das nicht, ihm ist das alles zu wild. Er würde lieber mit den Mädchen spielen. Aber das geht natürlich nicht.
Er denkt an gestern, als er nach der Schule mit Hans zusammen auf dem Heimweg war. Lieber wäre er alleine gegangen, aber er wurde den lauten und derben Jungen einfach nicht los. Hans, einen halben Kopf größer als er, wohnt nur einige Häuser von ihm entfernt.
Der Weg von der Schule nach Hause führt durch einen kleinen Park. Dort, auf den Blättern einer Buche, sah Berti ein paar Maikäfer. Vorsichtig knipste er ein Blatt vom Baum und bewegte es ganz langsam durch die Luft, um den darauf sitzenden Käfer genau betrachten zu können.
Hans sah ihm kurz zu und griff sich dann, als ob er Berti zeigen wollte, wie man mit solchen Käfern richtig umgeht, gleich zwei von einem Zweig. Er hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger jeder Hand und drehte sie auf den Rücken, so dass man ihren dunklen Panzerbauch und die fein gezackten Beine sah. Dann steckte er das spitze Körperende des einen Käfers unter die Hornplatte am Rücken des anderen und schob, dreckig grinsend, die Enden der Maikäfer ineinander. Die Käferbeine bewegten sich wild und verzweifelt, Berti schaute den großen Jungen entsetzt an, aber er traute sich nicht zu protestieren. Schließlich warf Hans die Käfer auf den Boden und trat auf sie ein.
Am Abend, beim Gute-Nacht-Sagen, fragte seine Mama, warum er so traurig sei. Berti erzählte von seinem Erlebnis auf dem Heimweg von der Schule durch den Park, er sah wieder die am Boden liegenden Tiere vor sich und hörte das fürchterliche Knacken der Hornpanzer, als die Schuhe von Hans sie zermalmten. Seine Mutter nahm ihn in den Arm und sagte, er solle sich von diesem brutalen Kerl fernhalten.
Berti sieht den andern Kindern zu, keiner beachtet ihn. Plötzlich wird er angerempelt. Sein Milchbecher fällt auf den Boden, die Milch fließt über die Steine. Breitbeinig steht Hans vor ihm und schnauzt ihn an, warum er so blöd im Wege stehe.
„Du bist blöd!“, ruft Berti und bereut sofort, dass ihm diese Worte rausgerutscht sind. Hans schubst ihn mit beiden Händen, so dass er mehrere Schritte zurücktaumelt.
Berti würde sich jetzt gerne unauffällig davonmachen, doch dazu ist es schon zu spät. Andere Kinder haben sich um die beiden Jungen geschart, sie stehen im Mittelpunkt einer gaffenden Gruppe. Alle wollen sehen, wie es dem Neuen in diesem Streit ergeht.
Es ist auf einmal mucksmäuschenstill. Hans steht mit erhobenen Fäusten vor Berti und lauert auf dessen Reaktion. Ohne sich umzusehen weiß Berti, dass auch Sabine im Kreis der Neugierigen steht, aus dem Augenwinkel sieht er ihre Freundinnen. Auch er nimmt die Arme hoch, es fällt ihm schwer, aber das geht nun nicht anders. Wie zwei Boxer stehen sie sich in einem engen Ring aus Zuschauern gegenüber.
Hans kommt ihm noch größer vor. Wenn der jetzt zuschlägt, ist Berti ein für alle mal als Verlierer und Schwächling abgestempelt.
„Feigling!“ Berti hat das Gefühl, die höhnische Stimme von Hans halle durch den ganzen Schulhof, Verachtung schlage ihm von allen Seiten entgegen. Es gibt kein Entrinnen, er hat nur eine Chance: er muss schneller sein als der andere.
Als Bertis rechte Faust im Gesicht von Hans einschlägt, ist der völlig überrumpelt. Damit hat er nicht gerechnet. Verdutzt greift er sich an seine Nase, spürt das aus ihr fließende warme, schmierige Blut auf seiner Hand. Auch Berti ist erschreckt von der Wirkung seines Schlages.
Hans holt tief Luft, seine Augen blitzen vor Wut, diesem mickrigen Bürschchen wird er es zeigen! Er holt weit aus.
In diesem Moment öffnet sich der Kreis der Umstehenden, ein Lehrer steht mit strenger Miene vor den Streitenden. Als er das blutige Gesicht des Größeren sieht, fordert er beide Buben auf, mit ihm zu kommen.
Die andern Kinder sind längst im Klassenraum und der Unterricht hat schon wieder begonnen, als die Direktorin Hans und Berti ins Zimmer bringt. Sie redet eine Weile mit der Lehrerin.
Berti geht zu seinem Platz. Er spürt, wie ihn alle ansehen. Am liebsten würde er jetzt stehen bleiben und laut bekannt geben, dass er einen Direktoratsverweis bekommen hat. Jawohl, einen Direktoratsverweis!
Er hat das Gefühl, ein paar Zentimeter gewachsen zu sein. Als er sich auf seinen Stuhl setzt, blicken Sabines Augen ihn zum ersten Mal direkt an. Leise fragt sie ihn, ob er von ihrer Brause trinken wolle. Er nickt, nimmt den Strohhalm in den Mund und zieht einen großen Schluck aus der Flasche. Als er dem Mädchen die Limonade zurückgibt, fühlt er sich unendlich stark. Er könnte die ganze Welt umarmen.
Der alte Mann schreckt auf. Eine vertraute Stimme hat ihn aus seinen träumerischen Erinnerungen geholt. Er sitzt vor einer Fensterbank, aber da steht keine Brauseflasche. Sein Blick fällt in einen sonnenbeschienenen Herbstgarten.
„Robert, kommst Du?“
Seine Liebste ruft aus der Küche, sie hat den Nachmittagskaffee hergerichtet.
„Sag mal, Julia“, fragt er, während er sich auf die Eckbank setzt, „wann hast Du zuletzt einen Maikäfer gesehen?“
Sie schaut ihn überrascht aus ihren großen blauen Augen an.
„Gibt’s die überhaupt noch?“
„Und kannst Du Dich noch erinnern, wie Brause geschmeckt hat?“
„Du meinst die Limo aus Brausewürfeln. Es gab Erdbeere, Zitrone, am liebsten mochte ich Waldmeister! Ach, ist das lange her…“
Zum Verlieben schön sieht sie aus, wenn sie so versonnen lächelt. Er kann kaum glauben, dass er diesen Schatz noch gefunden hat. In diesem Alter und durch diesen Zufall. Wegen einer Orchideenvase! Und, nicht zu vergessen, wegen einiger schlecht gebrannter Porzellantassen, ohne dieses Teeservice wäre alles niemals so gekommen. Wenn’s nach ihm geht, soll das seine endgültig letzte Liebesgeschichte sein.
"Aber wie kommst Du denn grade jetzt auf Maikäfer und Brausewürfel-Limonade?", wundert sich Julia.
"Ich habe in alten Alben geblättert. Da bin ich auf ein Klassenfoto aus meiner Grundschulzeit gestoßen. Und dabei ist mir ein Erlebnis aus dieser Zeit eingefallen, das ich völlig vergessen hatte."
Und dann erzählt er ihr von seiner ersten Liebe. Und von vielem anderem, das ihm jetzt auf einmal wieder einfällt. Als hätte jemand eine Plane abgenommen, die alles verdeckt hat.
Marianne verdunkelt die Fenster, bevor sie das Licht einschaltet. Das ist so vorgeschrieben, auch wenn es vermutlich nichts nützt. Die Bomber finden ihre Ziele trotzdem. Meistens kommen sie bei Nacht. Bisher war ihr Stadtteil nur wenig betroffen, doch lange wird das nicht mehr gut gehen. Vor einem Monat, an einem helllichten Vormittag, sind die Bomben zum ersten Mal auf Stuttgart niedergegangen. Ganz nah, in kaum zwei Kilometer Entfernung, sind sie eingeschlagen. Viele Häuser sind in Flammen aufgegangen, ganze Straßenzüge liegen jetzt in Schutt und Asche, Breitscheidstraße, Schwabstraße, Rosenbergstraße… Mehr als 100 Tote und noch viel mehr Verletzte hat es gegeben.
Seit Wochen schon hofft Marianne darauf, dass es nun endlich klappt mit der Evakuierung ins Oberland. Onkel Herbert und Tante Erna sind einverstanden, aber sie haben noch keine Verwandten-Meldekarte geschickt. Die braucht man, um eine Abreisebescheinigung zu bekommen.
Ihr zweijähriger Sohn sitzt auf dem Boden und spielt mit Bauklötzen. Sie nimmt ihn hoch, um ihn fürs Bettchen umzuziehen. Es ist schon Oktober und ziemlich kühl in der Nacht. Sie zieht dem Kleinen den Schlafanzug über die Unterwäsche, damit er, falls sie wieder in den Luftschutzkeller müssen, dort nicht friert.
Der kleine Robert hat bisher kaum etwas bemerkt vom Krieg, doch es wird von Tag zu Tag schwieriger, die Unbeschwertheit des Kindes zu bewahren. Als um Mitternacht das Heulen der Luftschutzsirenen ertönt, versucht Marianne, ihn nicht durch hastige Bewegungen zu erschrecken, während sie ihn aus seinem Gitterbett hebt. Sie zieht ihm sein Jäckchen an, wirft sich den Mantel über und schlägt Berti in die warme Decke ein. Mit ihrem Kind im Arm eilt sie hinaus auf die dunkle Straße. Vor ihr, im unruhigen Schein von Taschenlampen, laufen schon einige Nachbarn in Richtung Luftschutzraum, der in ungefähr 150 Meter Entfernung auf der rechten Straßenseite in den Hang gebaut ist.
Die Luft in dem schwach erleuchteten Raum ist stickig, die Menschen lehnen sich eng gedrängt an die Wände oder hocken auf dem Boden. Es gibt schon fast so etwas wie eine feste Sitzordnung, die Leute nehmen immer die selben Plätze wie beim letzten Mal. Auf einer Bank ohne Lehne sitzen ein paar alte Damen, sie rücken enger zusammen, um Marianne und ihrem Kleinen Platz zu schaffen. Man kennt sich, begrüßt sich mit einem wortlosen Kopfnicken.
Erste Detonationen sind in einiger Entfernung zu hören. Berti blickt neugierig in die Runde, doch da sind mal wieder keine fröhlichen Menschen zu sehen, wie immer in dieser finsteren Höhle. Er klettert seiner Mama auf den Schoß, hüpft auf und nieder und ruft:
„Singen, Mama, Lied singen!“
Rundum heben sich die Köpfe, ein verzagtes Lächeln huscht über manches Gesicht. Die bedrückte Stimmung schlägt für einige Augenblicke in Erleichterung und Staunen um. Die Leute im Bunker scheinen sich zu freuen, dass da ein ganz kleiner Mensch, der doch noch viel hilfloser ist als sie selbst, unbeirrt gute Laune hat.
Marianne wippt mit den Knien und singt mit leiser Stimme:
„Hoppe, hoppe, Reiter…“
Die Leute blicken freundlich, einige fast bewundernd, auf die junge Frau und ihr Kind.
„Fällt er in den Graben…“, singt sie grade, da schlägt, in nächster Nähe, krachend eine Bombe ein. Die Menschen im Bunker zucken zusammen und ziehen die Köpfe ein, der kleine Berti beginnt laut zu weinen. Mariannes Herz klopft wild, sie versucht, ihren Atem zu beruhigen, damit ihre eigene Angst sich nicht auch auf ihr Kind überträgt. Sie schmiegt den Kleinen eng an sich, um ihn und sich selbst zu beruhigen. Doch sein Weinen wird lauter.
Da legt die alte Frau Grüninger, die auf der Bank neben ihr sitzt, ihren Arm um Mariannes Schulter und beginnt ihrerseits zu singen:
„Auf der schwäbsche Eisebahne…“
Sie schaukelt dazu im Takt hin und her, als ob sie auf einer Faschingsveranstaltung wäre. Ist die Alte jetzt verrückt geworden? Ein paar Sekunden lang blicken die Leute sich irritiert an, doch dann stimmen einige von ihnen, und es werden immer mehr, ein:
„Schtuegert, Ulm ond Biberach…“
Marianne ist völlig verwirrt von dem seltsamen plötzlichen Stimmungsumschwung. Aber auch sie singt jetzt leise:
"…Meckabeira, Durlesbach" und macht die Schaukelbewegungen ihrer Nachbarin mit.
Mit ihrem Gesang übertönen die Menschen im Luftschutzkeller die Explosionen von draußen, singen gegen ihre Angst an. Die Frau Grüninger staunt selbst über die ansteckende Wirkung ihres Gesangs. Sie wollte doch nur das weinende kleine Kind beruhigen. Liebevoll blickt sie, während ihre Stimme leiser wird, auf Berti. Und der hört tatsächlich auf zu weinen und schaut mit großen Augen in die Runde.
Die Detonationen entfernen sich langsam und nach einigen Minuten ist es wieder gespenstisch still. Die schwere Tür des Bunkers wird geöffnet. Als die Leute ins Freie treten, schlägt ihnen der beißende Geruch explodierter Bomben entgegen. Doch es ist kein Feuerschein in unmittelbarer Nähe zu sehen. Es ist sehr dunkel, erst in einigen Kilometern Entfernung brennen einzelne Gebäude, im Zentrum der Stadt jedoch und im Westen lodern die Flammen lichterloh.
Marianne rennt mit ihrem Kind so rasch wie möglich heim. Gott sei Dank, das Haus und ihre Wohnung sind wieder verschont geblieben.
Am nächsten Morgen stellt sie fest, dass auch alle anderen Häuser in der Umgebung unbeschädigt sind. Nur in zwei Gärten sind Bomben niedergegangen und haben tiefe Krater hinterlassen.
Es dauerte noch mehr als ein Vierteljahr, bis es endlich soweit war mit der Evakuierung. Als sie im Allgäu eintrafen, war es dort noch winterlich, doch das Frühjahr kündigte sich bereits an.
Onkel Herbert und Tante Erna besitzen das größte und gepflegteste Haus des Dorfes. Außer ihnen wohnen nur Landwirte im Dorf, der Onkel aber ist Versicherungskaufmann und betreibt eine Agentur im nahen Leutkirch. Anscheinend vermittelt er auch Kredite und vermakelt Immobilien, ganz genau blickt Marianne nicht durch, womit alles er sein Geld verdient. Auf jeden Fall scheint er zu den wichtigen Leuten im Ort zu gehören.
Tante Erna hat ihnen ein großes, helles Zimmer im Obergeschoss zur Verfügung gestellt. Von hier aus hat man einen herrlichen Blick über den großen Garten hinweg in die beschauliche Hügellandschaft rund ums Dorf.
Zwar versucht Marianne, sich nützlich zu machen, der Tante zu helfen, doch da fällt gar nicht viel an. Es ist wie Ferien auf dem Lande. Einerseits herrlich. Aber auch ein wenig peinlich. Denn bisher hat Marianne die Tante und den Onkel gar nicht richtig gekannt, sie sind ja nur "entfernt verwandt". Ein einziges Mal nur haben sie sich früher gesehen. Und nun lässt sich Marianne hier verwöhnen.
Mariannes Ahnen mütterlicherseits sind Bauern aus dem Oberland. Ihre Großmutter war das dritte von elf Kindern einer vermutlich recht armen bäuerlichen Familie und ist als junge Frau nach Stuttgart gegangen, um in der Fabrik zu arbeiten. Dort hat sie ihren späteren Mann, Mariannes Opa, kennengelernt.
Erna ist die Tochter einer jüngeren Schwester von Mariannes Großmutter. Als Marianne ein junges Mädchen war, hat ihre Oma sie mal zu einem Besuch bei ihrer Nichte Erna mitgenommen. Die war damals grade frisch verheiratet und wohnte mit ihrem Mann bereits im eigenen geräumigen Haus. Marianne blieb vor allem dieser Umstand in Erinnerung, denn sie lebte mit ihren Eltern und vier Geschwistern ziemlich beengt in einer großstädtischen Mietwohnung. Sie teilte sich ein kleines Zimmer mit ihrer jüngeren Schwester Paula, die drei Brüder hatten ebenfalls ein gemeinsames Zimmer.
Seit diesem einmaligen Besuch hatte Marianne keinen Kontakt mehr zu Erna und ihrem Mann gehabt, doch in der Not des Krieges hat sie sich nun wieder an die Verwandtschaft auf dem Land erinnert.
Sie ist wirklich eine ganz liebe Frau, die Tante Erna, zu Berti wie eine Oma, zu ihr wie eine ältere Freundin. Der Onkel hat viel zu tun mit seinen Geschäften, doch auch er ist freundlich und hilfsbereit. Marianne ist den beiden sehr dankbar für ihre Gastfreundschaft.
Neulich hat Tante Erna ihr im Vertrauen erzählt, dass der Onkel Herbert nicht viel hält vom Führer. Er sei zwar in der Partei, aber eigentlich nur, weil alle das sind und weil es "fürs Gschäft" gut sei. Marianne war sehr verwundert, eigentlich schon fast empört, aber sie hat nichts dazu gesagt. Schließlich steht sie in der Schuld der beiden.
Für Berti ist das Leben herrlich hier. Das ist, ganz abgesehen von der ständigen Bedrohung durch Luftangriffe in der Großstadt, eine völlig andere Welt als in Stuttgart. Das Kind ist begeistert von den vielen Tieren, die es auf den Bauernhöfen rundum zu sehen gibt. Kühe, Schweine, Hühner, sogar einige Pferde. Seine Mama ist mit ihm in den ersten Tagen viel durch den Ort gegangen und hat ihm gezeigt, was für spannende Sachen es hier zu entdecken gibt.
Inzwischen kennt er sich so gut aus, dass er manchmal ganz alleine von einem Stall zum anderen spaziert. Die Bauersleute und ihre Mägde und Knechte mögen den Kleinen und passen auf, dass er den Tieren nicht zu nahe kommt in seiner Begeisterung.
Total erschöpft steht der Fremde vor der Tür. Tante Erna ruft Marianne herbei, und auch die braucht ein paar Sekunden, bis sie den Mann erkennt. Sie stößt vor Schreck einen Schrei aus, dann schließt sie ihn zitternd in die Arme und weiß nicht, ob sie vor Freude, Mitleid oder Entsetzen weint.
Paul ist fast bis zur Unkenntlichkeit abgemagert, nur noch ein kümmerlicher Rest seiner einst lockigen dunklen Haare kräuselt sich auf seinem Kopf. Dass er so unverhofft hier auftauchen konnte, verdankt er einer Schulterverletzung. Es ist zwar kein "Heimatschuss" gewesen, der das Ende des Krieges für ihn bedeutet hätte, aber der Streifschuss hat immerhin eine kurze Pause von der Front gebracht.
Sie haben ihn in ein Lazarett in Pommern eingeliefert. Nachdem die Wunde versorgt war, haben sie ihm, vermutlich weil das Lazarett überfüllt war, einen kleinen "Heimaturlaub" genehmigt. Mit einem Transportflug wurde er nach München mitgenommen, von dort war es nicht mehr weit ins Allgäu.
Was für ein Glück, dass er seine Pause vom Krieg nicht in Stuttgart, sondern im Oberland einlegen kann! Hier könnte man immer noch meinen, die Welt sei in Ordnung und friedlich.
In vier Wochen muss er sich wieder zurückmelden. Sie versuchen, ihn in der kurzen Zeit ein wenig aufzupäppeln. Die erste Mahlzeit, die Tante Erna ihm servierte, eine Portion Schweinebraten mit Kartoffelknödeln und Kraut, verschlang er mit Heißhunger und musste sich anschließend übergeben. Danach musste er sich regelrecht zwingen, langsam zu essen und gründlich zu kauen, ab dem dritten Tag erst konnte er die herzhafte Kost der Tante so richtig genießen.
Sie haben ein weiteres Bett in Mariannes Zimmer gestellt. Auf einer herrlich weichen Matratze und unter einer feinen Decke fühlt sich Paul so himmlisch geborgen, dass er an den ersten beiden Tagen nur zum Essen aufsteht. Oft erwacht er allerdings verwirrt aus unruhigen Träumen und muss sich erst bewusst machen, dass er nicht in einem russischen Heuschober oder auf dem Waldboden liegt.
Berti hat den fremden Mann in Uniform mit dem Verband um die linke Schulter am Anfang sehr ängstlich angeschaut.
„Das ist Dein Papa!“, sagte Marianne zu ihrem Sohn. Doch den schien das kein bisschen zu beeindrucken. Er hielt sich am Kleid seiner Mama fest und versuchte, sich hinter ihr zu verbergen. Glücklicherweise schien die reservierte Haltung seines Söhnchens zu seiner Begrüßung den Vater nicht sehr zu stören. Er war viel zu kaputt, um beleidigt zu sein.
Nachdem Paul dann zum ersten Mal einigermaßen ausgeschlafen aus seinem Bett aufgestanden war, sah sein Kind ihn schon viel neugieriger und mutiger an. Und kurz danach trat es dem großen Mann schon ziemlich zutraulich entgegen.
Inzwischen geht Paul mit seinem dreijährigen Sohn manchmal spazieren. Da sprechen ihn gelegentlich die Bauern der umliegenden Höfe an und verwickeln ihn in Gespräche, während sein Bub den Bauernhof erkundet. Bei einem Glas Schnaps reden die einheimischen Männer gern mit dem Soldaten auf Urlaub über die Lage an der Front und darüber, wann es denn nun endlich so weit ist mit dem Endsieg. Von solchen Gesprächen kommt Paul besonders wortkarg zurück.
Mit Onkel Herbert aber versteht er sich gut, der stellt keine dummen Fragen. Er ist überhaupt einer, der nicht so viel redet und sich lieber sein Teil denkt.
Auch zwischen Marianne und ihrem Mann spielen Worte keine große Rolle in diesen Tagen. Sie hat ihn nur einmal nach seinen Erlebnissen gefragt und sofort gemerkt, dass dies ein Fehler war. Er wollte nicht antworten. Nein, er kann anscheinend gar nicht antworten. Die Frontereignisse müssen so fürchterlich sein, dass Paul sie nicht in Worte fassen kann. Es war dumm von ihr, darüber reden zu wollen. Der Mann braucht seine Ruhe.
Nach drei rasend schnell vergangenen Wochen muss Paul sich wieder auf den Weg machen. Wenn er sich nicht rechtzeitig zurückmeldet, droht ihm ein Verfahren wegen Fahnenflucht. Schon bald wird er wieder zum Fronteinsatz beordert werden.
Marianne tritt ans Küchenfenster und blickt in den Garten. Es ist ein sonniger Sommertag, das Kind spielt allein auf der Wiese hinter dem Haus, als ein Brummen die nachmittägliche Stille unterbricht. Das Geräusch kommt von oben, ein Flugzeug. Es nähert sich rasch. Berti lässt Eimer und Schäufelchen fallen und winkt zum Himmel.
Auch Tante Erna ist gerade zum Fenster gekommen, als plötzlich die Schnauze des Fliegers sich nach unten neigt. Im Tiefflug kommt er direkt auf das Haus zu. Jetzt sehen sie es: das ist keine Maschine der deutschen Luftwaffe, es ist ein feindliches Jagdflugzeug! Gleich wird das Maschinengewehr losbellen, die Spur der Einschüsse wird die Wiese aufwühlen und auf das Kind zurasen! Oder eine Bombe wird einschlagen! Der kleine Junge hebt schützend die Arme über den Kopf, die beiden Frauen schreien entsetzt auf.
Die Maschine donnert über das Haus, zieht wieder hoch. Die Frauen sehen sich fassungslos und ungläubig an. Der Flieger hat keine Bombe abgeworfen! Und er hat auch nicht geschossen! Aber die schießen doch immer! Auf Fahrzeuge, auf Menschen, auf alles. Warum hat der nicht geschossen?
Und warum weint der Bub nicht? Er muss doch fürchterlich erschrocken sein! Berti sieht wie gebannt der mit lautem Dröhnen wieder in den Himmel aufsteigenden Maschine nach. Sie fliegt eine weite Kurve, das Kind folgt ihr mit seinen Blicken. Einen Moment atmet Marianne erleichtert auf, doch dann stockt ihr erneut der Atem. Der Flieger entfernt sich nicht, sondern steuert wieder auf sie zu!
„Berti, komm! Schnell, ganz schnell! Komm, Berti!!“
Doch der Junge achtet nicht auf die panischen Rufe von Mutter und Tante. Als das Flugzeug zum Sturzflug ansetzt, zeigt er keinerlei Anzeichen von Angst, er winkt begeistert nach oben. Die Maschine rast zum zweiten Mal über Haus und Garten - wieder ohne zu schießen. Dieses Mal jedoch fliegt sie keinen Bogen, sie steigt auf und wird immer kleiner, bis sie in den Wolken verschwindet. Und der kleine Berti blickt ihr nach. Fast könnte man meinen, er sei enttäuscht, weil der Flieger kein weiteres Mal kommt.
Marianne sinkt auf den Küchenstuhl und vergräbt das Gesicht in den Händen. Ihr wird schwindlig, ihr Herz rast, sie braucht Minuten, bis sie wieder einigermaßen ruhig atmet.
Was sich da eben ereignet hat, das ist ja unglaublich. Ein Wunder ist das! Aus irgend einem unerklärlichen Grund hat das Maschinengewehr des Fliegers gleich zweimal nicht funktioniert. Ihr Berti jedenfalls ist ein Glückskind, dem kann nicht viel Schlimmes passieren im Leben, er hat einen Schutzengel von unüberbietbarer Fürsorglichkeit.
Es wäre aber auch zu paradox gewesen! Sie sind schließlich hierher aufs Land evakuiert worden, um in Sicherheit zu sein. In Sicherheit vor den Bombenhageln, die immer häufiger und mit immer katastrophaleren Folgen auf die Städte niedergehen.
Der Frost kommt schon früh in diesem Jahr. Berti erlebt seinen ersten richtigen Winter mit all seinen Kinderfreuden und Abenteuern. Marianne, deren Bauch seit dem Herbst unübersehbar wächst und die sich oft hinlegen muss, hat oft nicht genug Kraft, mit ihrem Sohn im Schnee zu toben. Dann kümmert sich Tante Erna um den Buben, spielt mit ihm Schneeballschlacht oder baut mit ihm zusammen einen Schneemann im Garten. An sonnigen Tagen fährt Berti manchmal stundenlang mit dem Schlitten vom kleinen Hügel am Rand der Wiese. Wenn er nach einem solchen Tag abends mit roten Backen in der Küche sitzt, schmeckt ihm das Essen ganz besonders gut, und danach schläft er tief und fest in seinem Bettchen.
Mitte Februar fährt Onkel Herbert Marianne mit seinem Opel "Kapitän" ins Krankenhaus nach Leutkirch. Als die Mama nach einer Woche wieder zurück gebracht wird, hat sie ein kleines Brüderchen für Berti bei sich.
Wenige Wochen später meldet der Rundfunk das Ende des Krieges. Freude und Erleichterung darüber sind jedoch nur von kurzer Dauer, schon nach wenigen Tagen werden sie durch eine neue Angst abgelöst. Radio und Zeitung melden, dass die Franzosen ins Oberland einziehen werden.
In der französischen Armee dienen angeblich sehr viele Afrikaner. Über deren Untaten sind die schlimmsten Berichte im Umlauf. Sie seien, wird erzählt, äußerst brutal, die farbigen Soldaten plünderten hemmungslos und vergewaltigten reihenweise deutsche Frauen und Mädchen.
Drei Tage später sind sie da. Nicht nur im Ort, nein, direkt bei ihnen! Innerhalb von Minuten ist die Hölle los. Panzer und Lkws fahren im Dorf ein, verteilen sich auf die verschiedenen Anwesen. Auf Onkel Herberts Hof fahren ein paar Jeeps vor, die Leitung der Division, oder wie immer sich der Trupp nennt. Die französischen Offiziere haben sich das attraktivste Anwesen im Dorf ausgesucht, und das ist nun mal das von Onkel Herbert.
Der anscheinend Höchste von den Franzosen kommt in Tante Ernas Küche, wohin sie sich geflüchtet haben. Auf französisch, ein paar Brocken Deutsch dazwischen, erklärt er, das Haus sei beschlagnahmt. Aber die Familie könne hierbleiben.
Onkel und Tante, Marianne, Berti und das Baby müssen jeweils in eine kleine Kammer umziehen. Die Küche lässt man ihnen auch. Alle anderen Räume sind ab sofort von der französischen Armee belegt.
Marianne befällt die blanke Angst. Denn die feindlichen Offiziere haben ihre „Ordonnanzen“ mitgebracht, niedrigere Dienstgrade, ihre Hilfskräfte. Und einige von denen sind Neger! Mit diesen Ungeheuern wohnen sie nun unter einem Dach!
Überall rennen plötzlich fremde Männer rum, weiße und schwarze. Türen schlagen, ständig klingen laute Stimmen durchs Haus, piepsen Funkgeräte, eine Hektik ohnegleichen.
Marianne schlägt den Kragen ihres Mantels hoch, zieht Arme und Beine eng an den Körper und macht sich klein. Es ist ein kühler und regnerischer Septembertag, eisig fegt der Fahrtwind über die offene Ladefläche des Lastwagens.
In aller Herrgottsfrühe sind sie aufgebrochen. Onkel Herbert hat sie zum Bahnhof gebracht, dann ging es mit dem Zug bis Ulm. Dort wurden sie, zusammen mit vielen anderen, auf Transportwagen der amerikanischen Army verladen.
Die Zeit der Evakuierung ist vorbei, Marianne und ihre Kinder werden wieder nach Stuttgart transportiert. Seit bald einem halben Jahr ist der Krieg nun zu Ende. Es heißt, Stuttgart sei wieder bewohnbar. Stadt und Umland sind jetzt amerikanische Besatzungszone.
Zwar gibt es ein grundsätzliches Zuzugsverbot für die Stadt, aber Leute, die evakuiert waren, dürfen wieder kommen. Und der Herr Achleitner hat geschrieben, sie könnten in die Wohnung rein. Die Gasversorgung würde immer noch nicht funktionieren, schrieb er, aber die Wasserleitung sei in Ordnung. Und er habe Holz besorgt und Briketts, davon könne auch sie etwas haben für den Ofen im Wohnzimmer.
Marianne hat erst gezögert, aber dann fand sie, sie sollte Onkel Herbert und Tante Erna nicht länger als nötig zur Last zu fallen. Die beiden haben sie lange genug beherbergt und durchgefüttert.
Die Kinder halten sich tapfer bei der anstrengenden Fahrt über holprige und kurvenreiche Straßen. Manni schläft die meiste Zeit, eingeschlagen in eine warme Decke und an seine Mama geschmiegt. Wenn der Kleine anfängt zu quengeln, gibt ihm Marianne den Schnuller, dann ist er wieder zufrieden. Die schaukelnde Fahrt und das Motorengeräusch scheinen eine beruhigende Wirkung auf ihn zu haben.
Berti sitzt zwischen den Erwachsenen auf einer Holzbank. Er mustert mit großen Augen die amerikanischen Soldaten, die als Begleiter mitfahren. Vor allem ihre Uniformen und Pistolen haben es ihm angetan. Als einer von ihnen Berti eine Orange schenkt, freut der sich wie ein Schneekönig. Allerdings weiß er nicht so recht, was er damit anfangen soll, dieses Obst hat er noch nie gesehen, geschweige denn gegessen. Der freundlich lächelnde Ami schält die Orange und zeigt dem Kind, wie man so ein Ding isst. Vorsichtig probiert Berti, es scheint ihm zu schmecken. Das Kind strahlt über das ganze Gesicht.
Mariannes Anspannung löst sich ein wenig, sie ist plötzlich sehr müde. Sie döst auf dem schaukelnden Armylaster vor sich hin und lässt die Ereignisse der letzten beiden Jahre in ihrer Erinnerung aufscheinen. Weiterzudenken traut sie sich nicht. Sie sind unterwegs in eine sehr unbestimmte Zukunft.
Im Schlaf an den neben ihr sitzenden Mann angelehnt, schreckt sie plötzlich hoch, als der Lastwagen abbremst und in eine enge Kurve fährt. Marianne blickt sich um, orientiert sich. Der kleine Berti ist immer noch putzmunter, er scheint weitere Kontakte zu den um ihn sitzenden Erwachsenen geknüpft zu haben und sich prächtig zu unterhalten.
Unter den amerikanischen Soldaten sind auch einige Farbige. Ein wenig überrascht stellt Marianne fest, dass sie nun vor denen, ganz anders als noch vor einem halben Jahr, keine besondere Angst mehr verspürt.
Im Nachhinein muss Marianne zugeben, dass ihre Panik vor den Besatzungssoldaten unbegründet gewesen ist. Die Offiziere, die in Onkel Herberts Haus einzogen, waren durchaus freundlich, und auch ihre Untergebenen benahmen sich zu Mariannes Erstaunen tadellos.
Etwas verschämt denkt sie daran, dass einer der französischen Offiziere sogar richtig charmant zu ihr war. Unter anderen Umständen hätte sie sich sogar vorstellen können - na ja, jedenfalls war der sehr nett.
Und Berti schloss richtig Freundschaft mit einem der Neger! Seine Begeisterung für den afrikanischen Soldaten hatte Marianne zunächst sehr beunruhigt. Sie versuchte, ihren Buben von den fremden Männern fernzuhalten, doch Berti ließ sich nicht kontrollieren.
Kaum war er aufgestanden, suchte er im ganzen Haus nach „Schuschu“. Der, ein stets fröhlicher, kohlrabenschwarzer junger Mann aus dem Senegal, kümmerte sich rührend um das zutrauliche Kind. Die beiden hatten sichtlich viel Spaß miteinander. Der kleine, aufgeweckte weiße Junge mit dem hellblonden Lockenkopf gefiel ihm offenbar genauso, wie der freundliche schwarze Mann mit dem breiten Lächeln und den strahlenden Augen das Kind begeisterte. Schuschu verwöhnte Berti, wie der es noch nie erlebt hatte. Mit kleinen Geschenken in Form von Süßigkeiten, vor allem aber, indem er sich so viel mit ihm beschäftigte. Wann immer er Zeit hatte, spielte und tobte er mit dem Kleinen. Manchmal setzte er ihn sogar auf den Lenker seines Fahrrads und fuhr mit ihm spazieren.
Jeden Morgen nach dem Frühstück hatte der Bub nichts Eiligeres zu tun, als aus Tante Ernas Küche zu rennen und im ganzen Haus nach seinem schwarzen Freund Ausschau zu halten.
Für den kleinen Berti war die Zeit der Evakuierung im Oberland rundum schön, auch, oder vielleicht sogar vor allem, in der Zeit der französischen Besatzung. Auch Marianne hat sich, alles in allem, wohl gefühlt bei den entfernten Verwandten. Doch für die war die Einquartierung der jungen Familie natürlich eine Belastung, vor allem ab dem Zeitpunkt, als außerdem die Franzosen im Haus waren. Das konnte nicht ewig so weitergehen.
Was wird nun auf sie zukommen? Wie wird es ihr mit den Kindern in der Stadt gehen, ganz allein, ohne Mann? Nach seinem kurzen Heimaturlaub, das ist jetzt mehr als zwei Jahre her, hat sie von Paul nur noch eine kurze Nachricht aus Russland bekommen. In den allerletzten Kriegswochen war das. Und jetzt ist er in Gefangenschaft. Hoffentlich wird er bald entlassen.
Aber vielleicht… Nein, das darfst Du nicht denken, er lebt bestimmt noch!
Es ist später Nachmittag, als sie nach langer und anstrengender Fahrt Stuttgart erreichen. Je näher sie der Stadt kamen, desto stiller wurde es auf dem Wagen. Schon in den Vororten waren erst einzelne, dann immer mehr zerbombte Häuser zu sehen, mit jedem zusätzlichen Kilometer Richtung Zentrum nahm die Zahl der Ruinen zu.