Und dennoch... - Hildegard Hamm-Brücher - E-Book

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Hildegard Hamm-Brücher

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Beschreibung

Erinnern für die Zukunft

Hildegard Hamm-Brücher, die Grande Dame der deutschen Politik, blickt auf die Zeit seit dem Ende der Nazi-Diktatur zurück und wirbt eindringlich für ihre großen Lebensthemen – das Lernen aus den Irrtümern der Geschichte, die Stärkung der Demokratie und die Verteidigung der Freiheit. 2016 starb Hildegard Hamm-Brücher im Alter von 95 Jahren in München, eine „unverbesserliche, freischaffende Liberale“, wie sie sich selbst nannte, eine leidenschaftliche Kämpferin für die Demokratie.

Hans-Jochen Vogel (Ehemaliger Regierender Bürgermeister von Berlin):

„Eine Demokratin nicht nur mit dem Lippenbekenntnis, sondern wirklich mit ihrem Lebensbeispiel, die unmittelbare Bürgerbeteiligung, Zivilcourage, und das alles hat Hildegard Hamm-Brücher nun weiß Gott ein Leben lang getan.“

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Seitenzahl: 206

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Copyright © 2011 by Siedler Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenCovergestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg Lektorat: Regina Carstensen, München Satz: Ditta Ahmadi, BerlinISBN 978-3-641-06424-2V002
www.siedler-verlag.dewww.penguinrandomhouse.de

Hildegard Hamm-Brücher Und dennoch ...

Bildnachweis

Bild 1 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Bundesbildstelle, Bild 2 Andreas Heddergott, München; Bild 3 ddp images/AP/Roberto Pfeil. Trotz intensiver Recherche konnten nicht alle Rechteinhaber der Abbildungen ermittelt werden; deren Urheberrechte werden hiermit vorsorglich und ausdrücklich anerkannt.

Für meine EnkelLea Katharina undMaximilian Hamm

Inhaltsverzeichnis

BildnachweisWidmungVorwort1 - Über Glück und Enttäuschungen der ersten Nach-Hitler-Zeit2 - Über Politik als Frauenberuf: Wege zu einer freischaffenden Liberalen3 - Über den wechselvollen Umgang mit den Erblasten der Nazi-Diktatur4 - Demokratie ist keine Zauberformel: Über Bausteine und Baustellen der Demokratie als Staats- und Lebensform5 - Über die Notwendigkeit einer Demokratiepolitik und eines Demokratie-TÜV6 - Über Bildung als Bürgerrecht: Versäumnisse, Verspätungen, Aufbrüche7 - Über Glanz und Elend des politischen Liberalismus8 - »Und dennoch …« Über die letzten zwei Jahrzehnte, AusblickeANHANG - Ausgewählte Texte aus sechs JahrzehntenZeittafel mit einer Auswahl von VeröffentlichungenDankCopyright

Vorwort

Am Ende meines neunten Lebensjahrzehnts möchte ich noch einmal zurückblicken. Nicht in Form einer Autobiographie oder einer Beschreibung von historischen Abläufen, sondern als politische Zeugin meiner Lebenszeit seit 1945. Es ist eine lange Wegstrecke, in der ich die Ereignisse und Prozesse in Deutschland seit der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur als Beteiligte miterlebt habe, also ein Zeitraum von über fünfundsechzig Jahren. Er beginnt mit dem Ende des Krieges und der Teilung Deutschlands in vier Zonen und endet mit der Wiedervereinigung und der vollständigen Souveränität. Entscheidend war für mich, zu erleben, wie unsere Demokratie, die zunächst von den westlichen Siegermächten angeordnet, mit steigendem Wohlstand jedoch akzeptiert, zu guter Letzt angenommen wurde und aus eigenen Kräften Gestalt annahm. Von Anfang an nahm ich daran aktiv und engagiert teil, eine brave Mitläuferin war ich nie. Nun möchte ich auf diese Stationen noch einmal zurückblicken. Es ist also eine Art Spätlese.

Dafür habe ich mehrere Gründe. So habe ich in der Nach-Hitler-Zeit Erfahrungen gesammelt, die meiner Meinung nach für die politische Bewusstseinsbildung kommender Generationen wissenswert sind. Es sind Erfahrungen über unsere Demokratiewerdung auf den Trümmern der Nazi-Diktatur, über die langwierige und schwierige Abkehr von Obrigkeitsstaat und traditioneller Untertanengesinnung. Dies schließt auch die Auseinandersetzung mit der Hitler-Diktatur ein, die mit einer überwiegend missglückten Entnazifizierung sowie einer verzögerten, teilweise unzulänglichen Wiedergutmachung der Opfer des nationalsozialistischen Terrors verbunden ist. Aus eigenem Erleben schildere ich die Ursachen für Versäumnisse und Verspätungen bei überfälligen Reformen, insbesondere in der Bildungs- und Gesellschaftspolitik, und als ehemaliges FDP-Mitglied habe ich etliche Stationen des Glanzes und Elends des politischen Liberalismus miterlebt. Auch beschäftigten und beschäftigen mich noch immer die Probleme anlässlich der Wiedervereinigung des vierzig Jahre geteilten deutschen Staates; und nicht zuletzt kann ich auch auf sechs Jahrzehnte Politik als Frauenberuf zurückblicken, in denen sich in jeder Hinsicht viel getan hat.

All das sind Erfahrungen und Entwicklungen, die ich gegen Geschichtsvergessenheit, ja Geschichtslosigkeit setzen möchte. Diese, unsere Geschichtsvergessenheit halte ich nicht nur bei nachwachsenden, sondern auch bei in Verantwortung stehenden Generationen für besorgniserregend: Immer mehr Deutsche wissen immer weniger von historischen Geschehnissen der jüngsten Vergangenheit, weshalb es ihnen auch nicht möglich ist, zu beurteilen, wie diese im gegenwärtigen und künftigen politischen Geschehen weiterwirken. Besonders ist das der Fall, wenn es die dunkelsten Kapitel unserer Vergangenheit betrifft, die oftmals unterschwellig fortwirken. Diese Geschichtsvergessenheit wird wahrscheinlich dann weiter zunehmen, wenn die letzten Zeugen der Nazizeit gestorben sind und ihre mahnende Erinnerung verstummt.

Meine zeitgeschichtliche Rückschau will dagegenhalten. Sie erfolgt als pragmatisch-politische Berichterstattung, nicht als wissenschaftliche Aufarbeitung, und ist nur dann biographisch, wenn es zur Thematik gehört. Sie soll informieren und aufklären, aber auch Wertungen einer freischaffenden liberalen Politikerin anbieten.

Damit möchte ich Interesse für die Vorgeschichte von aktuellen politischen Zusammenhängen wecken, wenn es etwa um das Wiederaufleben von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus geht. Ein weiteres Thema ist die aktuell grassierende Politik(er)- und Demokratieverdrossenheit, die eine erschreckende Entfremdung zwischen Gesellschaft und demokratischen Institutionen zur Folge hat. Gemeint sind damit Parteien und Parlamente. Diese Verdrossenheit ist nicht »vom Himmel gefallen«, sondern Ergebnis einer traditionellen Abneigung der Deutschen gegen Parteien und demokratische Prozesse, die neuerlich wieder stärker aufgebrochen ist. Nur wenn man diese bedenkliche Entwicklung und ihre Wurzeln erkennt, kann sie überwunden werden. Das gilt ebenso für das notwendige Fingerspitzengefühl in internationalen Beziehungen. Ich greife hier den Nahost-Konflikt als Beispiel heraus: Um zu verstehen, weshalb die Erinnerungen an den Holocaust und die Nazi-Verbrechen in der westlichen Welt weiterschwelen und gelegentlich von Neuem aufbrechen, ist es erforderlich, diese Zusammenhänge zu kennen.

Zudem möchte ich mit meinen Berichten aber auch einen Beitrag für die Zukunft einer Erinnerungskultur leisten. Es genügt nicht, Gedenkstätten zu errichten oder Gedenktage zu zelebrieren, damit die einstigen Katastrophen nicht vergessen werden. Mein Wunsch ist es, dass kommende Generationen sich unseres wechselvollen zeitgeschichtlichen Erbes bewusst werden – und zwar bevor es verblasst und es zu Rückfällen kommen kann. Dafür ist es wichtig, die Irrwege und Irrtümer unserer Vergangenheit zu kennen, so wie es der deutsch-jüdische Kulturphilosoph Karl Popper auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte formuliert hat: Der Sinn bestünde darin, aus ihren Irrtümern dauerhaft zu lernen. Meiner Meinung nach sind Politik und Geschichte nicht voneinander zu trennen: Politik bedarf immer auch geschichtlicher Bezüge, und Geschichte ist zugleich das Ergebnis von Politik – und somit verpflichtender Lernstoff.

Gelingen kann dies jedoch nur, wenn man die entsprechenden Fehler kennt und benennt, und auch dazu möchte ich mit meinen Berichten ein Scherflein beitragen. Nicht weil ich ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein hätte oder auf politischer Besserwisserei bestehe, sondern weil für mich das »Dennoch-Sagen« – im Sinne Max Webers – trotz aller Aufs und Abs im eigenen Lebenslauf als Prüfstein für Politik als Lebensberuf unverzichtbar ist.

Schließlich möchte ich, gemäß meiner persönlichen Befindlichkeit, noch einen weiteren Grund für meine Erfahrungsberichte hinzufügen: Viel zu lange war Politik ausschließlich Sache von Männern, auch war es ihr Privileg, sie zu deuten. Da nun aber zum Glück Frauen begonnen haben, sich politisch einzumischen, ist auch die Interpretation ihrer Sichtweise unverzichtbar geworden. Auch dazu möchte ich beitragen, dass künftig nicht nur Männer, sondern auch Frauen ihre zeitgeschichtlichen Erfahrungen, selbst wenn sie kritischer Art sind, aufarbeiten.

Insgesamt war ich achtunddreißig Jahre Volksvertreterin mit einem Mandat, das ich erstmals 1948, als Stadtratskandidatin der Münchner FDP, errungen habe: Davon war ich zweiundzwanzig Jahre Abgeordnete im Bayerischen Landtag, vierzehn Jahre im Deutschen Bundestag, elf Jahre Mitglied von Regierungen, davon fünf Jahre Staatssekretärin für Bildung und Wissenschaft in Hessen und Bonn und sechs Jahre Staatsministerin im Auswärtigen Amt. Dies ist meine Legitimation für die Behauptung, dass ich unsere repräsentative Demokratie »von der Pike auf« kennengelernt habe und über ihren Ist-Zustand Rechenschaft abzulegen vermag. Dazu sollen auch die im Anhang beigefügten vier Texte beitragen, die ich aus ungezählten ausgewählt habe, weil sie wichtige Stationen in meiner politischen Lebensbilanz belegen.

Dabei bin ich mir bewusst, dass gerade ein neues politisches, technologisches und demographisches Zeitalter anbricht, das uns und unsere Demokratien im Westen und vor allem in Europa vor neue Herausforderungen und Bewährungsproben stellt.

Demokratie und Freiheit sind lebensgestaltende Werte.

Als der Krieg zu Ende ging – auf dem Weg in die Freiheit.

1

Über Glück und Enttäuschungen der ersten Nach-Hitler-Zeit

Als der Krieg 1945 zu Ende ging, war ich knapp vierundzwanzig Jahre alt. Eine junge Frau, die nach zwölf Jahren vielfacher Drangsal, Diskriminierungen und Gefährdungen durch die Nürnberger Rassengesetze endlich ein angstfreies Leben führen konnte. Welch ein Glück! Es wurden keine Bomben mehr abgeworfen, es gab kein Blutvergießen mehr und – fast symbolisch – keine Verdunkelung. Ich spürte die Vorfreude, was es heißt, von nun an fröhlich und zuversichtlich sein zu dürfen. Ich hatte überlebt, und darüber waren alle Nachkriegsnöte, Trümmer und Mängel leicht zu ertragen. Nie wieder in meinem Leben, ausgenommen bei der Geburt meiner beiden Kinder, war ich so glücklich und dankbar wie nach der Befreiung durch die Sieger.

Große Sorgen machte ich mir nur um meine beiden Brüder, die im thüringischen Zwangsarbeitslager Rositz inhaftiert waren. Ein Jahr zuvor hatte man sie dorthin gebracht. Auch ängstigte ich mich um einen Studienfreund, der in Stalingrad verschollen war und es für immer blieb. Meine Brüder kehrten erst Wochen nach Kriegsende ausgemergelt, aber tatenfroh zurück und holten ihre zwangsweise unterbrochene Schul- beziehungsweise Studienzeit nach.

Kriegsende in Starnberg

Mein eigenes Kriegsende erlebte ich Anfang Mai 1945 in Starnberg, wo ich, nachdem ich in München mehrfach ausgebombt worden war, mit den Resten meiner Habe ein kleines Zimmer mit einem Kachelofen bei einer fürsorglichen Schneidermeisterin bewohnte, die mich rührend mit Brennholz und Kartoffelsuppe versorgte und mir in ihrem Garten ein Gemüsebeet überließ. So hatte ich die Kriegsjahre physisch einigermaßen gut überstanden und sogar die Vorbereitung für mein mündliches Doktorexamen in Tag- und Nachtarbeit geschafft, allerdings mithilfe von kleinen Dosen des Aufputschmittels Pervitin, das von Luftwaffenpiloten zur Leistungs- und Konzentrationssteigerung eingenommen wurde.

Als die Amerikaner im Anmarsch auf Starnberg waren, besser gesagt ihre Panzer heranrollten, wurde vor unserem Haus in der Hanfelder Straße von »werwolfverpflichteten« Männern eine Panzersperre errichtet. (»Reichsführer SS« Heinrich Himmler hatte ab September 1944 sogenannte Werwolf-Kampftruppen aufstellen lassen, deren Aufgabe es war, Sabotageakte zu verüben.) Die bestand in diesem Fall aus einer aufgerissenen Straße und drei mageren Baumstämmen. Wir Anwohner bekamen von einer Werwolf-Führerin die Order, im Waschkessel heißes Wasser bereitzuhalten, um mit Hilfe einer Eimerkette bei der Einfahrt des Feindes, sollte er vor der Sperre stoppen, dieses oben in die Panzer zu schütten. Selbstverständlich dachten wir nicht daran, das zu tun. Auch waren die dünnen Baumstämmchen für die Panzer ohnehin kein Hindernis; es machte einen kleinen Knacks, und schon rollten sie ungestört in das nun mit weißen Betttüchern oder weiß-blau – also bayerisch – geflaggte Starnberg in Richtung Marktplatz. Dort spendierte der Bäcker für Sieger und Besiegte wässriges Eis und Roggenkekse ohne Brotmarken. Finis Germaniae!

Natürlich blieb es nicht bei diesem fast operettenartigen Kriegsende. In Starnberg nicht und auch nicht anderswo: Man beschlagnahmte Häuser, verhängte Sperrstunden, es gab Ausgehverbote. Nazis wurden verhaftet. Natürlich wollte keiner ein Nationalsozialist gewesen sein, und zu Juden hatte man sich immer freundlich verhalten! Die Nazizeit aber wollten – nicht nur die Starnberger – möglichst rasch vergessen. Schon in den nächsten Tagen erlebte ich erste Kostproben dieser Wandlung. Beschwingt schlenderte ich bei meinem ersten »Freigang« durch die vertrauten Straßen und bedachte alte Bekannte mit einem ungewohnten »Grüß Gott«. Weit und breit waren keine Braunhemden mehr zu sehen. Wo wohl die Wehrwolf-Führerin und ihre Mitstreiter geblieben waren?

Vor einem Lebensmittelgeschäft war eine kleine Menschenansammlung nicht zu übersehen. Ein Trüppchen ausgemergelter Gestalten in zerschlissener KZ-Kleidung drängte in den Laden und wurde von umstehenden Starnbergern ganz und gar nicht mitleidig begrüßt. »So ein Gesindel hat der Hitler ja wohl zu Recht eingesperrt« war noch der harmloseste Kommentar. Einige amerikanische Soldaten kamen den Ex-KZlern zu Hilfe und versorgten sie mit Candies. Ein paar Einheimische schämten sich für das Verhalten der Bevölkerung, jedoch nur wenige. Ähnliche Szenen gab es auch in anderen Gemeinden rund um den Starnberger See, wo die Güterzüge mit verelendeten Konzentrationslagerhäftlingen aus Dachau stehen geblieben waren. Die Eingepferchten erregten wenig Mitleid, von Unterstützung ganz zu schweigen.

Das Erschrecken hörte damit jedoch keineswegs auf. Als die ersten Berichte über die von den Alliierten befreiten Konzentrationslager bekannt wurden, schienen die Zustände, die dort geherrscht hatten, unfassbar zu sein: die Leichenberge, die Überlebenden, die am Verhungern waren, die Zustände in den Baracken, die Stätten der Qualen und Folter. Eigentlich hätte das allein genügen müssen, um die Bevölkerung ein für alle Mal vom Nationalsozialismus zu heilen. Doch es genügte nicht.

Noch Jahrzehnte später, als Bürger dieser Ortschaften eine Gedenkplakette für die Opfer dieser Barbarei gegen KZ-Häftlinge anbringen wollten, weigerte sich zum Beispiel in Seeshaupt jahrzehntelag eine Mehrheit der Gemeinderäte. Überhaupt: Den anfänglichen Beteuerungen, niemals ein Nazi gewesen zu sein, folgten wenige Beweise der Einsicht und der Bereitschaft zur Wiedergutmachung. Schon damals empfand ich dies als kein besonders ermutigendes Vorzeichen für eine aufrichtige Auseinandersetzung mit der Hitler-Diktatur. Wie würden wir Deutschen nun damit umgehen, fragte ich mich. Ehrliche Einsicht oder rasches Verdrängen?

Von meinem ersten »Freigang« ist noch der Besuch bei meinem Doktorvater Heinrich Wieland nachzutragen; eigentlich war es eine Suche. 1927 hatte er den Nobelpreis für Chemie erhalten, später wurde er Direktor des Chemischen Staatsinstituts der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Wieland war einer der wenigen widerständigen Professoren, die den sogenannten »Nichtariern« geholfen hatten. Als 1943 Studenten des Widerstandskreises Weiße Rose verhaftet wurden, schützte er mich, bewahrte mich vor Verhören, vielleicht sogar vor Schlimmerem. Als Nobelpreisträger und »kriegswichtiger« Forscher auf dem Gebiet von Giftstoffen und Hormonen galt er als sakrosankt. Zwar wurde ich als »Halbjüdin« von der Universität zwangsexmatrikuliert, Wieland behielt mich aber sozusagen privat als Doktorandin und zahlte mir sogar ein kleines Stipendium, wahrscheinlich aus eigener Tasche. Auf diese Weise überstand ich weitere Nachprüfungen und konnte meine experimentelle Arbeit über Vitamine in Hefemutterlaugen abschließen, die zur Herstellung von Vitaminpräparaten wichtig waren.

Wenn es an jeder deutschen Universität nur eine Handvoll so integrer Wissenschaftler vom Schlage Wielands gegeben hätte, so wären diese vormaligen Elite-Einrichtungen keine so willigen Vollstrecker von Hitlers Wissenschafts- und Hochschulpolitik geworden. Wielands Institut ist immer eine Oase der Anständigkeit geblieben, und ich hatte das große Glück, dort studieren und überleben zu dürfen. Aus Dankbarkeit und Anhänglichkeit hatte ich Starnberg zu meinem Ausweichquartier gemacht, denn dort hatte Wieland sein Sommerhaus.

Nun also stand ich vor seinem Haus in der Schießstättstraße, aus dem Jazzmusik und Gelächter dröhnte. Der Zugang war abgesperrt, und auf meine in holprigem Schulenglisch formulierte Frage, wo denn der Professor sei, deutete ein GI mit dem Daumen die Treppe hinunter: »The old man? Downstairs!« Ja, dort saß der couragierte alte Herr im Kohlenkeller mit seiner Frau und wartete darauf, von seinen Kindern abgeholt zu werden, da man sein Haus konfisziert hatte. Zum ersten Mal seit ich ihn kannte begrüßte er mich mit einem sarkastisch-humorigen »Heil Hitler, Fräulein Brücher«. Nach einer Schrecksekunde lachten wir schallend, und ich versuchte den amerikanischen Soldaten radebrechend zu erklären, dass the old man ein weltberühmter Nobelpreisträger sei, ein mutiger Anti-Nazi, der zudem am Grünen Star leide und äußerst gebrechlich sei. Das beeindruckte sie zwar nicht besonders, doch Wieland konnte alsbald zu seinen Kindern ziehen, bis sein Haus wieder freigegeben wurde. Hier hatte es wirklich den Falschen getroffen.

Erste Ernüchterung

Das Kriegsende wurde von den Deutschen höchst unterschiedlich erlebt. Wie jedoch hätte es anders sein können? Wir hatten diesen grausamen Krieg, der Europa in Schutt und Asche gelegt und der den Tod von Millionen unschuldiger Menschen verschuldet hatte, zu verantworten. Oft hatte ich das Gefühl, dass die meisten Deutschen gar nicht verstehen wollten, warum man sie nun, ohne Ansehen der Person, dafür in die Pflicht und Verantwortung nahm. So beklagten sie ihr persönliches Elend meist lauter als das politische und zerstörerische Unheil, das wir über die Menschen und Völker Europas gebracht hatten. Selten erlebte ich, nun, da wir von der Diktatur und dem Unrechtsstaat befreit waren, eine Bereitschaft, das Geschehen aufzuarbeiten, seine Ursachen zu ergründen und zu bereuen. Stattdessen hörte ich häufiges Zetern und Jammern. Und weil man dies jetzt ungestraft tun durfte, tat man bei jedem Ärgernis im Brustton der Überzeugung kund: »Und das soll Demokratie sein?«

Wir waren in den Anfängen der Nach-Hitler-Zeit mit wenigen Ausnahmen kein schuldbewusstes, reumütiges und um Aufklärung bemühtes Volk, sondern überwiegend mit den eigenen Nachkriegslasten beschäftigt und von persönlichen Beschwernissen absorbiert. Nein, die meisten waren nicht zu radikaler Umkehr bereit, auch konnten oder wollten sie das Ausmaß der persönlichen und kollektiven Schuld nicht ermessen. Die Deutschen waren zwar durch die Siegermächte von den Exzessen des Nationalsozialismus erlöst, aber ansonsten konnten sie sich weder eine pluralistische Demokratie vorstellen noch eine konsequente Abkehr vom obrigkeitsstaatlichen Denken und von rassistischer Überheblichkeit.

Als ich fünfundsechzig Jahre später Starnberger Gymnasiasten von den Erfahrungen erzählte, die ich bei Kriegsende in ihrer Stadt gemacht hatte, schauten sie mich ungläubig an. Von all dem hatten sie noch nie etwas gehört, und das fand ich bedauerlich: Sogar die selbst erlebte Zeitgeschichte haben Eltern und Großeltern nicht an ihre Kinder und Enkel weitergegeben. Es hätte sicher dazu beigetragen, den mühsamen Weg aus der Nazi-Diktatur in eine freiheitliche Demokratie anschaulich zu vermitteln.

Wie stand es nach Kriegsende um mich? Bereits 1943 hatte ich ja den Entschluss gefasst, dass ich, falls ich die Nazizeit überstehen sollte, dazu beitragen wollte, dass sich ein Unrechts- und Terrorregime in Deutschland nie wiederholen könne. Diese Entscheidung stand vor allem im Zusammenhang mit dem Freitod meiner geliebten Großmutter, bei der wir fünf »Brücher-Waisen« nach dem frühen Tod der Eltern 1933 ein Zuhause gefunden hatten. Nun sollte sie nach Theresienstadt deportiert werden, da sie – obgleich lebenslang Christin – nach den NS-Rassegesetzen als Jüdin eingestuft wurde. Vor ihrem Abtransport nahm sie sich – fast 80-jährig – mit Schlaftabletten das Leben.

Bei meinem Vorsatz hatte aber auch der Widerstand und Mut der Studenten der Weißen Rose eine Rolle gespielt, und auch die Hilfe meines Doktorvaters. Dies alles verstand ich nach Kriegsende als eine Art Vermächtnis und wollte es zur Richtschnur meines politischen Denkens und Handelns machen. Wie aber konnte das gelingen?

Anfänge in Freiheit

Der erste Friedenssommer überbot sich an Sonnenschein, Blumen und Früchten. Priorität hatte jedoch die Vorsorge für das Lebensnotwendigste, was großes Improvisationstalent erforderte: Wir trockneten Brotvorräte, machten die reiche Himbeerernte in leeren Bierflaschen ein, fällten kleine Bäume und hackten Holz für den Winter. Ich kochte eigenhändig Seife und Süßstoff, destillierte vergällten Alkohol und vermischte ihn mit gehamsterten Eiern zu Eierlikör, der reißenden Absatz fand. Das erbrachte kleine Geldbeträge oder andere notwendige Dinge. Doch damit konnte ich meine heimgekehrten Brüder und meine jüngere Schwester nicht ernähren. Wie sollte ich es schaffen, dass sie ihre Ausbildungen fortsetzen konnten?

Es gab nur eine Möglichkeit: Ein Broterwerb musste her, und genau darum ging es mir in der zweiten Jahreshälfte 1945. Die Chemie war keine Perspektive mehr, sie war von den Alliierten als Forschung verboten worden. Aber wenn ich mit meinem Examen nicht Wissenschaftlerin werden konnte, vielleicht vermochte ich damit anderweitig zu punkten? »Versuch’s doch mal bei der amerikanischen Neuen Zeitung (NZ) mit freier Mitarbeit über naturwissenschaftliche Themen«, riet mein Bruder, der später Kunstbuchverleger wurde. Die Idee gefiel mir, und dank meines blütenweißen Fragebogens hinsichtlich meiner politischen Vergangenheit, meines Doktortitels und meiner »rassischen Verfolgung« während der NS-Zeit wollte man einen Versuch mit mir wagen. »Schreiben Sie doch mal über den jüdischen Chemiker und Nobelpreisträger Fritz Haber«, so lautete der Probeauftrag. Im Keller des Deutschen Museums in München machte ich dazu Literatur ausfindig und schrieb eine halbe Doktorarbeit, die Wochen später als kleiner Zweispalter mit dem Titel »Leben und Werk Fritz Habers, von Hildegard Brücher« in der NZ erschien. Danach folgten weitere Aufträge, bei denen ich den Lesern erklärte: Was ist Penicillin? Was ist DDT-Puder? Was ist die Atomspaltung?

Im Frühjahr 1946 wurde ich für 800 Reichsmark Gehalt und täglich ein warmes Essen als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Zeitung fest angestellt. Mein zuständiger Chef war mein Kinderschwarm Erich Kästner, der das Feuilleton leitete. Er und seine Lebensgefährtin, die Redakteurin Luiselotte Enderle, brachten mir das journalistische Handwerk bei, und mit einem für die NZ beschlagnahmten Fiat-Zweisitzer mit Stoffdach fuhren wir an den Wochenenden aufs Land, um ihre Freunde zu besuchen und ein wenig zu hamstern. Wir hatten zu dritt viel Spaß, bis Kästner die Arbeit als Feuilletonchef aufgab und wieder zu schreiben begann.

Mit Hilfe seiner und Luiselotte Enderles Exerzitien durfte ich mich auch bald an Reportagen wagen und an den täglichen Redaktionskonferenzen teilnehmen. Mit drei Artikeln erregte ich Aufsehen, darunter ein Interview mit den Atomphysikern Otto Hahn und Werner Heisenberg, die nach ihrer Internierung in der Nähe von Cambridge aus England zurückgekommen waren. Mit ihnen sprach ich über den Stand der deutschen Atomforschung. Im zweiten Beitrag berichtete ich unter der Überschrift »Ein Wall gegen Hass und Not« über das Engagement von Inge Scholl, der Schwester von Sophie und Hans, die wegen ihrer Zugehörigkeit zur Weißen Rose hingerichtet worden waren, wie auch der Mutter Magdalena Scholl, die in der Flüchtlingshilfe rastlos tätig war.

Der dritte Artikel war eine Darstellung der materiellen Schwierigkeiten in der von den beiden anderen Westzonen hermetisch abgeschlossenen Französischen Besatzungszone. Er trug den Titel: »Hinter dem seidenen Vorhang«. Nachdem der Beitrag gedruckt war, gab es einen Protest im Alliierten Kontrollrat und ein kurzzeitiges Verbot der NZ in der Französischen Zone. Das war meine erste außenpolitische Verwicklung.

Und auch sonst begann ich mich für das erwachende politische Leben zu interessieren. Parteien wurden neu oder wieder gegründet; ich besuchte sämtliche Veranstaltungen in München, die von Mitgliedern improvisiert wurden, und entschied mich für die Freie Demokratische Partei. Denn »Freiheit« war ihr und mein Losungswort.

Außerdem nahm ich an Treffen teil, bei denen es um erste christlich-jüdische Kontakte ging. Ich besuchte politische Vorträge in dem im Oktober 1945 eröffneten Amerika Haus in München oder Diskussionen in den von Kirchen neu errichteten Akademien. Durch Hans Werner Richter bekam ich Zugang zur berühmten Gruppe 47, die sich mit der Erneuerung der deutschen Literatur nach der Nazidiktatur auseinandersetzte. Kurzum: Ich nahm alles wahr, was früher verboten war.

Politik beschäftigte die meisten Menschen damals wenig. Hierzu ein anschauliches Beispiel vom Besuch meiner ersten Wahlversammlung im ländlichen Oberbayern: Die ersten kommunalen Wahlen sollten in dieser Region bereits im Frühjahr 1946 stattfinden, in den Städten folgten sie erst im Laufe des Jahres. Der Zufall wollte es, dass mich der damalige Münchner Oberbürgermeister Karl Scharnagl einlud, an einer Fahrt zu einigen Veranstaltungen der Bayerischen Christlich-Sozialen Union (CSU) an einem Sonntagnachmittag teilzunehmen. Vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten hatte er der BVP angehört, der Bayerischen Volkspartei, bis er 1933 sein damaliges Amt als Oberbürgermeister niederlegen musste, kurzfristig im Konzentrationslager Dachau inhaftiert war, schließlich in seinem erlernten Beruf als Bäcker überlebte.

Abgesehen von dem jeweiligen Dorfpfarrer, der uns mit Hilfe seiner Haushälterin bei dieser Wahlkampftour großzügig – sogar mit Schlagrahm, damals einer Rarität – bewirtete, erschienen zu den Versammlungen immer nur einige ehemalige BVP-Freunde von Scharnagl, die auf Urbayrisch schimpften. Scharnagl beschwor sie, dass es wichtig sei, einen christlichen Gemeinderat zu wählen, das sei doch schon ein großer Fortschritt. Mehr gab es nicht zu debattieren. Kein Wort über Frauen und Politik. Das aber hätte mich am meisten interessiert, da wir Frauen über das Wahlrecht unsere Zukunft immerhin mitbestimmen konnten. Doch selbst in der Großstadt München gab es in der Kommunalpolitik noch keine einzige jüngere Frau. So blieb mir von meinen ersten Wahlveranstaltungen außer Enttäuschung nur mein gründlich verdorbener Magen in Erinnerung.

»Mädle, Sie müsset in die Politik«

Nach solcherlei wenig ermutigenden Aufbrüchen in die von den Besatzungsmächten gewünschte Demokratie folgten erste eigene politische Gehversuche. Die bahnten sich eher zufällig an. Im Oktober 1946 sollte ich für die Neue Zeitung Theodor Heuss, damals Kult(us)minister von Württemberg-Baden, über dortige Schulreformen befragen. Das Land war wie Bayern amerikanisch besetzt, und das Interview sollte in Stuttgart stattfinden.

Heuss war humorvoll und kenntnisreich. Das Gespräch dauerte lange und gipfelte in der Erkenntnis, dass er für mich der erste Deutsche war, der sich trotz des Scheiterns der Weimarer Republik rückhaltlos für den Aufbau einer Demokratie im daniederliegenden Deutschland begeisterte. Beim Abschied gab er mir im sonoren Schwäbisch den Rat: »Mädle, Sie müsset in die Politik. « Womit, wie sich erweisen sollte, meine politische Lebensweiche gestellt war. Zwar nicht von heute auf morgen, aber anlässlich der bayerischen Kommunalwahlen im Frühjahr 1948 wurde ich vom Heuss-Freund Thomas Dehler, dem Gründer der bayerischen FDP, gefragt, ob ich nicht für den Münchner Stadtrat kandidieren wolle. Obgleich ich noch keine Ahnung von der Funktion eines Stadtrats hatte, wurde ich auf den sechsten oder siebten Platz der Kandidatenliste aufgestellt. Mein Wahlkampf bestand aus fünf aus verholzten Tüten zusammengeklebten Plakaten, die an Schwabinger Ruinenwänden mit eigenhändig gekochtem Kleister angebracht wurden. Sie trugen die Aufschrift »Verjüngt den Stadtrat – wählt Hildegard Brücher« und entschieden über meine weitere Zukunft. Am Wahltag wurde ich auf den zweiten Listenplatz »vorgehäufelt«, was hieß, dass ich mit meinen knapp siebenundzwanzig Jahren die jüngste und unbedarftetste, aber sicher auch eine der motiviertesten Stadträtinnen der drei Westzonen war. Meine Lehr- und Lernzeit begann dann am 20. Juni 1948 mit 75 Mark Aufwandsentschädigung. (Heute sind es 2100 Euro Grundvergütung plus Sitzungsgelder.)