Und der Zug fährt weiter - Eva-Maria Naumann - E-Book

Und der Zug fährt weiter E-Book

Eva-Maria Naumann

0,0

Beschreibung

Zweiter Weltkrieg. Für die Deutschen gestaltet sich das tägliche Leben immer schwieriger. In dieser Zeit wächst Hanna, die Hauptfigur des Romans auf. Sie überlebt die Bombardierungen und entflieht schließlich mit ihrem Bruder und ihrer Mutter der zerstörten Stadt. Auf ihrem Lebensweg lernen wir Hanna als mutige, starke Frau kennen, die nie aufgibt und sich allen Herausforderungen der Gegenwart, dem Heute, stellt. Ein spannendes Buch, fantasievoll und lebensnah. Ein Buch, das der Leser nicht aus der Hand legt, fesselnd von der ersten Seite bis zur letzten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 280

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Meinen Kindern Uta und Dirk gewidmet.

Inhaltsverzeichnis

Kinderjahre

In England

In Amerika

In Deutschland

Ein neues Zuhause

1

Kinderjahre

Stille beherrschte den Raum. Nur die alte, von Hand geschnitzte Uhr aus England an der Wand machte ihr gleichmäßiges Ticktack und ließ die Zeiger unaufhörlich im Kreis wandern. Müde ruhte die Greisin in ihrem geblümten, schon etwas verschlissenen Ohrensessel. Die Sonnenstrahlen schienen auf ihre vom Leben und Alter gezeichneten hageren Hände. Sie ruhten leicht gefaltet auf ihrem Schoß. Gedankenverloren blickte die Greisin auf den blühenden Kirschbaum hinter dem offenen Fenster. Ein sanfter Wind bewegte die blütenbeladenen Äste und verlieh der weißen Pracht etwas Leichtes, Schwebendes, gab ihr das Aussehen von einem zarten Brautschleier. Die Gedanken der Greisin wanderten zurück zu ihrer Kindheit. Ihr Leben begann an ihr vorbeizuziehen, gleich einem Zug, der auf seiner Fahrt auf vielen Stationen anhält, mal länger, mal kürzer, und dann wieder seine Fahrt fortsetzt, immer weiter und weiter, um an sein Ziel zu gelangen.

Es war Krieg. Wie ein riesiger Drache kam er immer näher und näher an die Städte heran, Feuer speiend, um alles in Brand zu setzen und zu zerstören. In dieser Zeit, in der überall Sorge und Elend herrschten, wuchs Hanna mit ihrem vier Jahre älteren Bruder Heinz in einem Vorort einer Großstadt auf, in der Platanenstraße 5. In dieser Straße hatte die Straßenbahn 77 ihre Endstation. Links und rechts standen in kurzen Abständen alte Platanenbäume, die sich nach den hier endenden Schienensträngen noch ein Stück weiter fortsetzten. Ein solch alter Platanenbaum mit dichter Krone stand vor einem zweistöckigen, weiß verputzten, sauberen Doppelmietshaus. Der schöne, große Wintergarten an der Frontseite gab dem Mietshaus eher den Charakter einer großen Villa. Ein kleiner Vorgarten mit zwei jungen Birken und einem niedrigen Holzzaun grenzte das Anwesen von der Straße ab. In »Villa 5«, wie die Nachbarn dieses Haus nannten, lebte Hanna in der Geborgenheit ihrer Familie und in ihrer Kinderwelt. Noch ahnte sie nicht, wie schnell sie aus dieser herausgerissen werden sollte. Die Platanenstraße war eine ruhige Straße. In der Kriegszeit fuhren nur noch wenige Autos und nur ganz bestimmte, wie zum Beispiel das Eisauto, das in regelmäßigen Abständen die langen Eisblöcke für die Eisschränke in die Haushalte brachte – elektrische Kühlschränke, die heute in keiner Küche fehlen, gab es in dieser Zeit nicht. Oder das gelbe Postauto kam, um Pakete abzuliefern. Und jede Stunde kam die »77er« pünktlich am Schienenende an und machte eine kleine Pause, bevor sie dann wieder stadteinwärts fuhr, nachdem der Fahrer das weiße Schild mit dem Namen des Zielortes gewechselt hatte. Ankunft und Abfahrt kündigte die Tram, wie sie vielerorts genannt wurde, jedes Mal mit längerem Klingeln an, sodass die spielenden Kinder auf der Straße sie schon von Weitem hören konnten und zum Achtgeben aufgerufen wurden. Neben »Villa 5« fiel ein gelber Klinkerbau in einem wunderschönen Garten auf, der bewachsen war mit vielen Rhododendron- und anderen Zierbüschen. Im Sommer wetteiferten die Rhododendrenblüten mit der Vielfalt der Sommerblumen. Ihre hellen Farben leuchteten dann durch den Gartenzaun hindurch und luden manchen Spaziergänger zum Stehenbleiben und Betrachten ein. Hanna schenkte diesem Anwesen wenig Beachtung. Das lag daran, dass dort keine Kinder zum Spielen wohnten. Die ältere Frau Nolte lebte in dem großen gepflegten Haus ganz alleine. Viel zu groß für eine alleinstehende Witwe, wie die Nachbarn zu wissen glaubten. Frau Nolte war achtundsiebzig Jahre alt und wohnte seit Jahren nur mit ihrem Hund in dem Haus. Kinder hatte sie keine. Hanna mochte weder die hagere Frau Nolte mit dem strengen Gesicht noch ihren langbeinigen grauen Windhund. Er glich im Gesicht und mit seinem Körperbau auffallend seinem Frauchen, das hatte sie mal festgestellt.

Zu den Geschwistern einen Stock tiefer in »Villa 5« pflegte Hanna ebenfalls keinen näheren Kontakt. Beide Mädchen besuchten bereits das Gymnasium und waren sehr hochnäsig, wie sie fand. Diese Meinung teilte sie mit Felix. Sie nannten sie heimlich »die Zicken«.

Felix wohnte schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite in einem neuen Einfamilienhaus. Er war mit seinen Eltern und seinen älteren Brüdern vor einem Jahr dort eingezogen. Er war ein ruhiger Junge mit rehbraunen Augen und schwarzem Lockenkopf und etwas kleiner als sie, aber dafür ein halbes Jahr älter, wie er stets betonte. Sie hatten im Kindergarten sofort Freundschaft geschlossen und waren bald unzertrennliche Spielkameraden geworden. Immer wieder erfanden sie neue Spiele und machten gemeinsam Entdeckungen in der nahen Umgebung. Meistens aber spielten sie bei Felix im Garten. Hanna liebte diesen Garten mit den Sträuchern, hinter denen sie sich verstecken konnte, auch die hohe Buschlaube, in deren Laubwerk im Sommer viele kleine weiße Kugeln dicht an dicht hingen und die, wenn man sie auf dem Boden mit den Schuhen zertrat, einen kleinen leisen Knall von sich gaben. Auch Hanna zertrat diese weißen mit Flüssigkeit gefüllten Kugeln gerne mit ihren braunen Stiefelchen und erfreute sich jedes Mal an dem »Knack«. Massenhaft zermatschte Kugeln lagen in der Sommerzeit im Gras oder auf den sandigen Gartenwegen, zertreten von Kinderschuhen.

Die größte Attraktion im Garten war aber die große grünangestrichene Holzschaukel. So wie alle Kinder das Schaukeln mögen, liebte auch Hanna es über alle Maßen. Wie ein kleiner Vogel, der seine Flügel ausbreitet, um in die Lüfte aufzusteigen, schwang sie sich mit wippenden Beinen in die Höhe. »Schau mal, wie hoch ich bin«, rief sie dann Felix zu, der anerkennend zu ihr aufsah. Manchmal schaukelten sie beide gemeinsam. Während sie auf dem Schaukelbrett saß, fest die Seile umfassend, stand er breitbeinig vor oder hinter ihr auf dem Brett, einen Fuß rechts, einen Fuß links neben ihr. Während seine Hände die Seile umklammerten, beugte er sich mit den Knien in regelmäßigen Abständen auf und nieder, und im gleichen Rhythmus schwang Hanna ihre Beine nach vorn und nach hinten, und langsam und dann immer schneller flogen sie gemeinsam in die Höhe. Waren beide vom Schaukeln müde, ruhten sie sich auf dem Gras aus oder bestiegen einen knorrigen Weidenbaum, der ganz hinten im Garten neben weißen und roten Rosensträuchern stand. Für Hanna war das Klettern auf diesen Baum nicht leicht. Felix konnte das viel besser, er war halt ein Junge und sie ein Mädchen. Sie gab sich aber jedes Mal aufs Neue Mühe, wollte es ihm gleichtun, und schon bald erreichten ihre Füße treffsicher jeden Ast. Bekam sie dabei manchmal auch eine blutige Schramme an Armen oder Beinen, dann war das für sie nicht weiter schlimm, Hauptsache, sie schaffte es, in das dichte Laubdach zu gelangen. Hier oben, versteckt in dem Blattwerk, hatten beide ihre eigene kleine Welt. Auf einem dicken Ast saßen sie nebeneinander, lasen sich vor oder redeten miteinander, wobei Hanna meistens die Unterhaltung führte, was nicht bedeutete, dass Felix dies langweilig fand. Nein, er mochte es, ihr zuzuhören, wie sie ihm mit ihrer hellen Stimme etwas vorlas oder etwas berichtete. Er dagegen hatte immer neue Vorschläge zum Spielen. So ergänzten sich beide und hatten viel Spaß miteinander.

Wenn Hanna den schönen Garten von Felix auch liebte, so gefiel ihr eins doch ganz und gar nicht. Da gab es nämlich den schwarzhaarigen Schäferhund Harro. Vor ihm hatte sie schreckliche Angst, obwohl er eigentlich ein ganz braver kinderlieber Hund war. Aber sie fürchtete sich vor seinen dunklen Augen und seinem tiefen Bellen. Meistens lag er friedlich vor sich hin träumend auf seiner Decke im Hausflur. Hatte er dagegen Langeweile – und wie kann man wissen, wann ein Hund sich langweilt – kam es vor, dass er in den Garten lief, um mit den spielenden Kindern herumzutollen. Sobald Harro in Sicht war, begann Hanna wegzulaufen, was Harro natürlich als Aufforderung zum Spielen verstand und seinen haarigen Körper schneller in Bewegung setzte und ihr nachsprang. Glücklich, einen Spielkameraden gefunden zu haben, jagte er die laut um Hilfe rufende Hanna quer über Rasen und Wege. »Holt ihn, holt ihn«, rief sie schluchzend, und ihr kleines Herz schlug erst wieder ruhiger, wenn Harro zurückgerufen wurde und wegtrottete.

Dicke Regentropfen wie Glasperlen liefen die Fensterscheiben entlang. Hanna schaute mit ihrer Puppe Helga im Arm durch die nasse Scheibe in den kleinen Garten hinter der Ligusterhecke. Sie sah verschwommen den grob gezimmerten, rot angestrichenen Holztisch und die ebenso gestrichene Holzbank. Hier hatte sie im Sommer oft mit ihrem Malbuch und den Malstiften gesessen. Heute aber sah ihr Lieblingsplatz nass und verlassen aus. Die braungelb gefärbten Blätter der Birke neben der Bank waren zum Teil abgefallen. Die restlichen wehten lose an den feinen Ästen, die wie lange Ruten nach unten hingen. »Was wohl die beiden Hasen in ihren Ställen machen?«, fragte sie sich. Sie konnte Mucki und Hansi von hier oben nicht sehen. Ihre Behausung stand zu dicht an der Hecke. »Ob sie genug Stroh haben? Ich werde nach ihnen schauen, sobald der Regen nachlässt.«

Hannas Vater hatte eigens die hölzerne Behausung gezimmert. Durch ein Maschendrahttürchen konnten die Hasen nach draußen schauen und frische Luft schnuppern. Hansi gehörte Hanna und bewohnte den unteren Stall. Er hatte ein schneeweißes Fell und schöne himmelblaue Augen. Schon etwas ungewöhnlich für ein Kaninchen. Der schwarzweiß gefleckte Mucki mit den langen schwarzen Ohren gehörte ihrem Bruder Heinz und hatte sein Zuhause über Hansis Stall. Hanna mochte Mucki nicht so sehr. Sie fand, dass er im Vergleich zu Hansi nicht so kuschelig aussah. Trotzdem reichte sie ihm jedes Mal eine Karotte, wenn sie ihrem vierbeinigen Liebling eine zusteckte. Sie liebte es, den beiden haarigen Gesellen zuzuschauen, wie sie mit wackelnden Nasen an der Rübe mümmelten.

Der Himmel wurde zusehends dunkler, dicke schwarze Wolken hingen tief am Himmel. Der aufkommende Wind ließ die immer größer werdenden Regentropfen gegen die Scheibe trommeln. Hanna wandte sich vom Fenster ab und legte ihre Puppe in den Puppenwagen. Dann holte sie ihren großen Teddy Peter von der Sitzbank und setzte ihn auf ein hölzernes Klappstühlchen. »Du wirst jetzt fein gemacht, Peterle. Schau einmal, wie zottelig dein Fell aussieht! Ich werde es jetzt glatt machen.« Sie holte eine kleine Bürste und einen kleinen Kamm aus ihrem Puppenkoffer und begann Peterle zu striegeln, schön in eine Richtung. Und als er drohte, vom Stühlchen zu rutschen, hob sie ihren Zeigefinger und schalt ihn: »Sitz still, du weißt, dass auch Bären gepflegt aussehen müssen.« Sie fasste seine rechte Pfote und zog ihn wieder in die richtige Haltung. Seine braunen Glasaugen schauten sie gehorsam an, wie sie befriedigend feststellte. Zum Schluss, als sein Fell ordentlich war, bekam ihr Bärenjunge noch ein paar Spritzer Parfüm aus einem kleinen Flakon, den ihre Mutter ihr geschenkt hatte, hinter seine Zottelohren getupft. Mit einem zärtlichen Kuss auf sein schwarzes Schnäuzchen brachte sie ihren Liebling auf die Sitzbank zurück und ermahnte ihn: «Sei brav und sitz schön still, bis ich wiederkomme.« Dann verließ sie das Kinderzimmer und ging zu ihrer Mutter, die im Wohnzimmer mit einer Stickarbeit beschäftigt war.

Die Auswirkungen des Krieges wurden für jeden spürbarer. Die Lebensmittel, die man für die roten Lebensmittelkarten bekam, wurden immer knapper, und die Liste der nicht zu bekommenden Dinge wurde immer länger. Schokolade und andere Süßigkeiten sowie Südfrüchte gab es schon lange nicht mehr. Hanna hatte sich wie all die anderen Kinder an diese Tatsache gewöhnt.

Heute war ihr erster Schultag. Auf dem Rücken trug sie den alten Ranzen von Heinz, der jetzt wie seine Freunde mit einer Aktentasche ins Gymnasium ging. In dem rechten Arm hielt sie stolz eine goldlila Schultüte, gefüllt mit kleinen Überraschungen: einem Radiergummi, einem dicken roten Stift, einem kleinen Block, einer Glaskugel, in der, wenn man sie schüttelte, es zu schneien anfing und weiße Flocken einen grünen Tannenbaum bedeckten. Hanna trug ein rotkariertes Baumwollkleidchen mit einem breiten weißen Kragen. Zwei lustige Zöpfe mit roten Schleifen baumelten über ihren Schultern. Wie all die anderen Mädchen, die heute eingeschult wurden, setzte sie sich auf den ihr zugewiesenen Platz. Zu ihrem Erstaunen war Felix mit anderen Jungen in eine andere Klasse geführt worden, und ihre Freude am ersten Schultag war gleich getrübt, als sie erfuhr, dass die Jungen getrennt von den Mädchen unterrichtet werden. Felix würde also nicht mehr bei ihr sein. Wieso kam er in eine Jungenklasse und sie in eine Mädchenklasse? Im Kindergarten gab es doch so eine Einteilung nicht. Sie hatte sich so gefreut, mit ihm gemeinsam die Hausaufgaben zu machen, und auch er hatte fest damit gerechnet, mit ihr in einer Klasse zu sein, doch nach Jungenart fand er sich schneller mit der Tatsache ab als sie. Sie zog den ganzen Tag über ein finsteres Gesicht, verstand die Einteilung und auch die Erwachsenen manchmal nicht, aber sie wusste, dass sie gehorchen und sich unterzuordnen hatte. Weil ihr Stundenplan oft anders als der von Felix war, gingen sie selten gemeinsam zur Schule. So blieben ihnen nur die Nachmittage, wenn sie ihre Hausaufgaben gemacht hatten.

Lebensmittel waren jetzt noch knapper geworden. Nur kranke und alte Menschen bekamen ein paar Dinge mehr zugeteilt. Die Seife war rau geworden, grob wie Sand, und das helle, glatte Papier im Schulheft, in das Hanna schreiben musste, gab es nicht mehr, stattdessen graues, mit zahlreichen winzigen eingepressten Holzstückchen. Auf diesem Papier mit Tinte zu schreiben, war nicht leicht, das musste sie immer wieder feststellen. Stieß sie mit der Feder an ein Holzstückchen, entstand sehr oft ein Tintenklecks. Vorsichtig versuchte Hannas Mutter ihn, wenn er trocken war, mit einer scharfen Messerspitze wegzukratzen. Immer gelang dies nicht und was entstand, war ein kleines Loch. Aber alle Schulkinder hatten dieses Problem und die Lehrer waren nachsichtig.

Auch Textilien bekam man nur noch auf sogenannte Bezugscheine zu kaufen. Die Stoffe waren hart und fest geworden und kratzten auf der Haut. Ständig musste sich Hanna kratzen, wurde vom Unterricht oft abgelenkt. Nicht schnell genug konnte sie nach Schulschluss sich ihrer Kleidung entledigen und in das viel zu kurz gewordene alte Kleid schlüpfen. Es machte ihr auch nichts aus, dass Heinz sie »einen Storch im Salat« nannte. Die Hauptsache war, es kratzte nicht und war bequem.

Wenn es Nacht wurde, verschwanden die Städte und Dörfer in tiefer Dunkelheit. Es gab keine beleuchtete Straße mehr, keine Lichtreklame an den Geschäftshäusern, keine erhellten Schaufenster. Die »77er« fuhr jetzt abends seltener und wenn, dann mit stark abgeblendetem Licht. Die Fenster der Wohnungen wurden bei eintretender Dunkelheit mit Spanplatten oder dicken Wolldecken ritzenfrei verhängt. Das war Pflicht geworden, und wenn die eingesetzten Kontrollposten nur einen kleinen Lichtstrahl erspähten, gab es einen Verweis. Ein zweiter Verweis konnte unangenehme Folgen haben. »Durch Licht erkennen feindliche Flugzeuge aus der Luft sehr genau, dass unter ihnen Städte und Dörfer liegen, die sie dann bombardieren«, das hatte Hannas Vater erklärt. Den Heimkommenden diente in der Dunkelheit eine abgedunkelte Taschenlampe oder ein matt leuchtender Phosphorring an manchen Bäumen zur Orientierung. Auch die Bäume in der Platanenstraße hatten diesen weißen Ringanstrich bekommen.

»Vergiss nicht unsere Abmachung heute Nachmittag«, mahnte Felix auf dem Nachhauseweg von der Schule.

»Drei Uhr«, bestätigte Hanna.

Sie trafen sich pünktlich an einem bestimmten Platanenbaum am Ende der Straßenbahnschiene. Felix machte sich gleich an die Arbeit. Mit einem Taschenmesser begann er am weißen Borkenring zu hantieren. Er versuchte, ein Stück von ihm zu lösen, während Hanna Ausschau hielt, ob niemand sie beobachtete oder jemand sich ihnen näherte. »Beeil dich«, feuerte sie Felix an. Ihr kleines Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie wusste, dass sie etwas Verbotenes taten, aber sie wollten gerne so ein kleines leuchtendes Stückchen besitzen. Plötzlich kam ein Mann um die Ecke. »Achtung, da kommt jemand!«, flüsterte Hanna. Hatte der Mann sie gesehen? Felix ließ schnell das Messer in seiner Tasche verschwinden, stellte sich noch dichter vor den Baum und tat so, als ob er pinkeln würde. Der Mann ging vorbei, ohne Notiz von ihnen zu nehmen. Er hatte nichts gemerkt. Erleichtert arbeitete Felix am Borkenring weiter. Da, jetzt hatte er das zweite Stückchen herausgeschnitzt, gerade so groß, dass man es in der Hand verschwinden lassen konnte. Nun hatte jeder eins für sich.

Hanna war begeistert. »Mach mal eine offene Faust mit der linken Hand und leg sie fest auf deine rechte, in der du das Phosphorstückchen hältst, dann schau durch die Faustöffnung«, sagte sie. Felix tat, wie sie es wünschte. Beide sahen durch die eigene kleine Faustöffnung das grünlich-lila leuchtende Borkenstück. Stolz bewahrten sie später ihren Besitz jeder in einer eigenen Schachtel auf.

Die Mütter mit ihren Kindern waren allein in der Heimat, während die Väter an der Front für das Vaterland kämpften. Güterzüge mit der Aufschrift »Räder rollen für den Sieg«, beladen mit Kriegsmaterial, rollten auf den Schienen. Auf den Bahnhöfen bot sich jetzt immer das gleiche Bild, ein tränenreicher Abschied von den Fronturlaubern. Kinder und Frauen wurden zum letzten Mal an die raue, grüne Felduniform gedrückt. Ein letztes Wort, ein letztes Winken, dann setzte sich der Zug in Bewegung. Taschentücher, oft nass von Tränen, winkten den Soldaten nach. Jeder Frau war das Gleiche ins Gesicht geschrieben, die bange Frage: Wird mein Mann, mein Sohn, mein Bruder gesund oder als Krüppel oder vielleicht überhaupt nicht mehr zurückkommen? Auch Hannas Onkel Klaus war heute wieder an die Front gefahren. Mutter und sie hatten ihn heute morgen zum Bahnhof gebracht und Hanna hatte Tränen in den Augen der Mutter gesehen. Hanna war heilfroh, dass ihr Vater nicht eingezogen worden war und bei ihnen bleiben konnte. Er gehörte zu den ausgemusterten Männern. Wegen einer schweren Sportverletzung am Knie galt er zunächst als untauglich für den Krieg. So fuhr er wie gewohnt jeden Morgen mit der »77er« in die Stadtmitte zu seiner Arbeitsstelle.

Felix Vater war bei der Luftwehr. Manchmal kam er in einem schwarzen eleganten Wagen für kurze Zeit nach Hause. Wenn der Wagen auf der Straße hielt, stieg der Chauffeur eilig aus und öffnete dienstbeflissen die Wagentür und ließ bei exakter strammer Haltung seinen Vorgesetzten aussteigen, begleitete ihn ins Haus und trug für ihn Pakete in verschiedenen Größen. Mit dem Gruß »Heil Hitler«, die rechte Hand auf Augenhöhe gestreckt, verabschiedete er sich dann, stieg in den noblen Dienstwagen und fuhr davon. Felix Vater sah in seiner Uniform toll aus, fand Hanna. Der lange Säbel an der rechten Seite und die roten langen Streifen an den Außenseiten der Uniformhose fielen jedem auf. Wenn Felix Vater für kurze Stunden oder für ein paar Tage bei seiner Familie war, zog Hanna sich meistens zurück. Felix sollte seinen Vater in dieser Zeit für sich haben. Er und seine Brüder spielten dann oft mit ihm Fußball im Garten. Hanna gönnte ihnen den Spaß, hatte sie doch ihren Paps jeden Tag und brauchte keine Angst um ihn zu haben.

Das Marschieren der Soldatengruppen wie auch das Marschieren vom Jungvolk und der BDM-Mädchen auf den Straßen und die Arbeiten von Zwangsarbeitern aus Russland oder Polen unter Aufsicht gehörten zum Alltagsbild, ebenso das Verschwinden von Juden. Eines Morgens blieb in der Schule der Platz neben Hanna leer. »Sarah und ihre Eltern sind heute Nacht von der SS aus ihrer Wohnung abgeholt worden«, berichtete die Lehrerin. Hanna war tief erschrocken. Was hatte die Familie Böses getan, wohin hatte man sie gebracht? Sie mochte Sarah. Sie war immer freundlich, immer lustig gewesen, so wie all die nichtjüdischen Mädchen. Warum verfolgte man die Juden überhaupt, kennzeichnete sie mit einem gelben Stern an ihren Jacken und Mänteln? Es hing irgendwie mit dem schrecklichen Krieg zusammen, das wusste sie. Sie begann ihn aus tiefstem Herzen zu hassen. Fast täglich wurden die Großstädte jetzt bombardiert und der nächtliche Schlaf wurde durch längere Aufenthalte in den Luftschutzkellern unterbrochen. Da auch am Tag immer öfter die Sirenen heulten und die Bevölkerung in die Schutzkeller rief, gab es für die Schüler keinen regelmäßigen Unterricht mehr. Zweimal hatte Hanna zitternd im Schutzkeller verbracht und leise gebetet für sich, dass sie lebend herauskommen möge. Still und bedrückt war sie später aus der Schule nach Hause gegangen.

Die Mütter brachten im Kriegsgewirr weiter ihre Kinder zur Welt, während ihre Männer in Schutzgräben, auf freiem Feld oder im Schlamm, irgendwo fern der Heimat, für den Sieg des Vaterlandes kämpften, oft starben und nicht mehr erfuhren, dass ihnen ein Sohn oder eine Tochter geboren worden war. Vielen dieser Kriegskinder blieben nur eine Armbanduhr oder ein Soldbuch als Beweis, dass es ihren Vater, der irgendwo in fremder Erde ruhte, gegeben hat.

Weihnachten nahte. Frau Klingel, die Musiklehrerin, hatte für ein Konzert für Verwundete im Lazarett acht Schülerinnen, die ein Instrument spielten, ausgesucht, auch der Schulchor sollte mit eingebunden werden. Heute probte sie zum letzten Mal mit den Geigen- und Flötenspielern. Sie war mit der Leistung zufrieden. Hanna gehörte zu den Blockflötenspielern.

Jetzt war es so weit. Aufgeregt, als Engel verkleidet, stand sie auf der erhellten Bühne neben den anderen Engeln in weißen langen Hemden, mit goldenen Pappflügeln auf dem Rücken und einem breiten goldenen Stirnband, in dessen Mitte ein goldener Pappstern glänzte. Die Schüler nahmen ihre zugewiesenen Plätze ein. Die ersten Tasten auf dem Klavier wurden angeschlagen, Geigen und Flöten fielen ein. Die Instrumente vereinigten sich zu einem melodischen Ganzen. Es war still im Saal. Die Soldaten lauschten den einzelnen Darbietungen. Chor und Musiker gaben ihr Bestes. Die Verwundeten in ihren Betten im abgedunkelten Raum klatschten immer wieder und wieder. Musik und Gesang verbanden sie alle miteinander. Mit dem Lied »Stille Nacht, Heilige Nacht«, welches bei Hanna jedes Mal ein besonderes feierliches Gefühl hervorrief, gingen die Lichter im Saal wieder an, und alle Soldaten sangen gemeinsam mit den Engeln die letzte Strophe des bekannten Weihnachtsliedes zu Ende. Dann stieg Engel um Engel langsam von der Bühne herab, und einer nach dem anderen ging mit einem Päckchen in der Hand zu einem Verwundeten, um ihm gesegnete Weihnachten zu wünschen. Hanna schritt langsam, aufmerksam schauend die Bettreihen entlang. Wem sollte sie ihr Päckchen geben? Ihre Augen spähten eifrig umher. Sie überlegte angestrengt. Eine kleine Falte auf ihrer Stirn wurde sichtbar. Sie bildete sich immer, wenn sie angestrengt nachdachte. Ihre goldenen Flügel begannen ganz sachte zu beben. Wem nur, wem? Vielleicht dem jungen Soldaten mit dem eingegipsten Arm und dem dicken Beinverband, der so freundlich lächelte oder dem älteren, etwas traurig dreinschauenden mit den hageren Wangen und dem dicken Kopfverband? Er schien so alt wie ihr Papa zu sein. Der jüngere Soldat mit den blauen Augen und den blonden Haaren gefiel ihr eigentlich besser. Er erinnerte sie an »Onkel Drogerie«, der sie, als sie kleiner war, nach Ablieferung der bestellten Ware mit seinem Auto bis zum Ende der Straße gefahren hatte und wieder zurück, und der jetzt im Krieg war und ihr vorige Woche einen richtigen Feldpostbrief geschrieben hatte. Stolz hatte sie ihn ihren Klassenkameradinnen gezeigt. Irgendwie tat der Soldat mit der Kopfverletzung ihr besonders leid. Die meisten Engel hatten ihre Päckchen schon abgegeben. Sie musste sich entscheiden. Ihr Mitleid siegte, sie hatte sich für den älteren Soldaten entschieden. Selbstbewusst schritt sie an sein Bett, streckte ihm ihre kleine Hand entgegen und überreichte ihm ihr Päckchen mit den Plätzchen, die ihre Mutter und sie gemeinsam gebacken hatten. »Fröhliche Weihnachten«, sagte sie und merkte, wie sie errötete. »Wie kann ich fröhliche Weihnachten gesagt haben«, schalt sie sich stumm. Wie sollte er fröhliche Weihnachten hier im Bett haben? Sie hätte gesegnete Weihnachten sagen müssen. Jetzt war es zu spät und der Soldat würde glauben, dass sie nicht mit ihm mitfühlen konnte. Da irrte er sich aber. Er tat ihr unendlich leid. Der Soldat unter der grauen, derben Wolldecke bedankte sich und schenkte ihr ein kleines Lächeln. Hannas Gesicht hellte sich wieder auf, als er begann, von seiner kleinen Tochter von daheim zu erzählen, die auf ihn warten würde und etwa so alt wie sie wäre. Traurig fügte er hinzu: »Ich habe sie schon zwei Jahre lang nicht mehr gesehen. Vielleicht erkennt sie mich gar nicht mehr, wenn ich heimkomme.« Hanna widersprach ihm schnell und versicherte ihm, dass Verona, so hieß seine Tochter, ihn ganz bestimmt wiedererkennen würde. »Kleine Mädchen können das«, sagte sie mit ernster Stimme.

Der Soldat lächelte erneut. »So, so, wenn du das sagst, dann wird das wohl stimmen.«

»Bestimmt.« Zu gerne hätte sie sich noch weiter mit ihm unterhalten und mehr über Verona erfahren und von seiner Verwundung und so, doch da kam die Aufforderung aus dem Lautsprecher, dass alle Engel sich unverzüglich verabschieden und zum Ausgang kommen sollten. Hanna reichte »ihrem Soldaten« ihre kleine Hand zum Abschied, schaute ihn noch einmal lieb an und wünschte ihm baldige Gesundung. Dann folgte sie mit wippenden Flügeln den anderen Engeln.

An diesem Abend konnte sie lange nicht einschlafen. Sie lag mit offenen Augen in ihrem Bett und verfolgte die über die Tapete und Zimmerdecke laufenden langen Lichtstrahlen. Es waren die Scheinwerfer der naheliegenden Flakabwehr, die bei Dunkelheit den Himmel nach feindlichen Flugzeugen absuchten. Weil sie Angst hatte, im dunklen Zimmer zu schlafen, blieb das Fenster stets unverdunkelt. Natürlich hatte ihre Mutter vorsorglich die Glühbirne aus der Deckenlampe geschraubt, damit keiner aus Versehen das Licht anknipste. Hanna konnte von ihrem Bett aus den Nachthimmel mit den Sternen sehen und manchmal warf der Mond sogar sein Licht auf ihre Bettdecke. Ihr eigenes Bett erschien ihr an diesem Abend viel weicher und gemütlicher als sonst. »Ob wohl der Soldat in seinem Feldbett mit der kratzigen Wolldecke starke Schmerzen hatte? Ob er an zu Hause, an Verona und seine Frau dachte?« Hanna faltete ihre Hände und betete: »Lieber Gott, lass den Krieg bald zu Ende gehen und die vielen Soldaten von den Kriegsfeldern und aus den Lazaretten wieder heimkehren. Beschütze alle, die ich lieb habe und lass heute Nacht keinen Fliegeralarm kommen. Amen.« Dann schloss sie die Augen und fiel in Schlaf, während die Scheinwerfer weiter an Wand und Decke entlang huschten.

Huuhuh, Huuhuh heulte die Sirene auf dem Dach vom rechten Nachbarhaus und weckte Hanna jäh aus dem Schlaf. Sie sprang aus dem Bett, gleich schnell ihre Eltern und Heinz. Eilig schlüpfte sie in die am Abend ordentlich bereitgelegte Kleidung und nahm wie die anderen einen kleinen Koffer, in dem das Notwendigste war: wichtige Papiere, Schmuck, Medikamente und etwas Unterwäsche. Man konnte ja nie wissen, ob »Villa 5« bei einem Angriff in Schutt und Asche gelegt werden würde. Gemeinsam schritten sie rasch durch die kalte Nachtluft zu dem Luftschutzkeller in Frau Noltes Haus, denn »Villa 5« hatte keinen. »Guck mal Mami, die vielen grünen und roten Leuchtkugeln zwischen den Sternen. Er sieht fast so bunt aus wie der Sylvesterhimmel in meinem Bilderbuch.«

»Hoffentlich kommt das Feuerwerk nicht zu uns«, raunte ihre Mutter. Hanna hörte den leisen Satz nicht richtig. Sie hatte Mühe, mit ihrer Mutter Schritt zu halten. Kaum waren sie im Keller angekommen, gerade hatte der Letzte hinter sich die Tür geschlossen, setzte schon die Flak mit ihrem Bum, Bum ein. Immer kürzer wurden die Abstände, was bedeutete, dass sich die feindlichen Flugzeuge näherten. Im Keller wurde es unruhig. Jetzt mussten die Flieger über ihnen sein. Jsch, Jsch, Bumm! Ein lauter, kräftiger Aufprall war zu hören. Die Glühbirne in der Deckenlampe flackerte, ehe das Licht ausging. Jemand tastete sich mit der Taschenlampe zu dem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes und zündete im Wasserglas eine Kerze an. Staub und mit ihm kleine Steinstückchen fielen herunter. Die Kerze erlosch. Frau Nolte fing laut an zu beten, der Windhund nebenan in der Waschküche jaulte jämmerlich und kratzte fortwährend mit seinen Pfoten an der verschlossenen Tür. Er hatte genauso schreckliche Angst wie alle anderen hier unten. Hanna vergrub ihren Kopf im Schoß ihrer Mutter. Sie hielt sich beide Ohren zu, sie wollte nichts hören, nichts sehen. Die Angst wurde immer größer und sie war nicht mehr fähig, zu denken. Sie wollte nur weg von hier unten, raus!In den Bombenhagel? Nein, sie musste aushalten wie alle anderen hier unten. Jsch, Jsch! Der Keller schien zu wackeln, noch mehr Putz und Staub fielen von Wänden und Decke, Staub, überall Staub! Die Zicken fingen an zu husten. Hanna konnte Heinz und Pa in der Dunkelheit nicht mehr sehen und rief nach ihnen. Die Mutter hielt ihr ein Taschentuch vor den Mund und die Nase. Plötzliche Stille! Jeder schien zu lauschen. Das Schießen der Flak war nicht mehr zu hören. Das bedeutete, dass die Flieger sich entfernt hatten. Würden sie wiederkommen mit neuer Bombenladung?

Hanna löste sich vorsichtig aus dem Arm der Mutter. Zwei Taschenlampen leuchteten in der Dunkelheit. Heinz richtete sich aus der geduckten Haltung auf. Er sprach leise mit dem Vater. Hanna konnte nicht verstehen, was er sagte. Nach und nach fanden die Menschen im Keller ihre Sprache wieder, und auch Frau Noltes Hund hörte auf zu jaulen. Gespanntes Lauschen. Waren die Flugzeuge wirklich weg? Warten. Ja, dieses Mal kamen die feindlichen Flieger nicht zurück. Sie hatten wohl ihren Auftrag erfüllt, ihre Bombenladung abgeworfen. Der Angriff war vorbei. Ein langgezogener Sirenenton verkündete tatsächlich Entwarnung. Gottlob, sie hatten den Angriff überstanden, sie lebten und konnten aus dem Keller wieder ins Freie.

Brandgeruch durchzog die kalte Nachtluft. »Pfui!«, Hanna hielt sich die Nase zu. »Das riecht ja fürchterlich.« Die bunten Leuchtkugeln zwischen den Sternen waren verschwunden und die Sterne hatten sich hinter den Wolken versteckt. Der Mond leuchtete matt. Müde und erschöpft, fast apathisch, stapfte Hanna neben Heinz und ihren Eltern zurück zur »Villa 5«. Sie stand noch, hatte den Bomben getrotzt, aber wie gespensterhaft sah sie im matten Mondlicht aus! Gardinenfetzen und Stücke von Verdunklungspappe hingen ausden zerbrochenen Fensterscheiben. »Mein Gott«, entfuhr es Hannas Mutter. »Wie mag es drinnen im Haus aussehen?«

Während ihr Vater und Heinz begannen, Fensterglasscherben und heruntergefallene Blumentöpfe vom Boden aufzufegen, wurde Hanna von der Mutter auf der Couch im Wohnzimmer liebevoll zugedeckt. Dieses Zimmer war das einzigste von allen, das noch heile Fensterscheiben hatte. Die Schäden an den einzelnen Häusern waren unterschiedlich groß und waren erst bei Tagesanbruch in vollem Ausmaß zu sehen.

Als es hell geworden war, sah man an den meisten Hauswänden zahlreiche Löcher von Einschlägen, verrutschte Dachziegel, kaputte Fenster. Auf den Grundstücken gab es abgeknickte Bäume, eine Birke im Vorgarten der »Villa 5« hatte es auch erwischt, Granatsplitter und leere Hülsen von Bomben, Scherben und nochmals Scherben lagen überall auf den Straßen und Vorgärten der Häuser. Eine Brandbombe hatte ein Geschäftshaus drei Straßen weiter getroffen. Viele Nachbarn waren in der Nacht dort hingeeilt, um zu helfen und zu löschen. Auch Hannas Vater war unter den Helfern gewesen. Überall im Haus atmete man jetzt den ekeligen Brandgeruch ein, der von diesem zerstörten Haus ausging, aber sie konnten froh sein, ihr Zuhause behalten zu haben. Die Glaserei in der Seitenstraße hatte jetzt mehr als genug zu tun. Den ganzen Tag lang schnitt Herr Müller mit einem ihm zugeteilten Zwangsarbeiter Fensterglas zu und setzte es ein. Jeder wollte der erste Kunde sein, um den schrecklichen Brandgeruch und die kalte Luft aussperren zu können. Hannas Mutter hatte Glück. Schon mittags kam Herr Müller mit seinem Holzbein angehumpelt und setzte die Scheiben in die noch heilgebliebenen Rahmen ein.

Hanna und Felix suchten nach Granatsplittern. »Nach dieser Nacht muss es viele geben«, sagte Felix, und er hatte recht.

»Was ist denn das?« Hanna stieß verächtlich mit ihrem Fuß eine ausgebrannte Brandbombe weg. Was wäre geschehen, wenn sie auf »Villa 5« oder auf das Haus von Felix’ Eltern gefallen wäre und alles in Brand gesetzt hätte? Nein, sie brauchte sich diese Frage nicht zu stellen, sie wusste es genau. Möbel, Spielsachen, alles was ihr lieb und teuer ist, wäre mit all dem anderen zerstört worden. Wie hasste sie diesen Krieg, in dem ihr alles weggenommen werden konnte, was ihr ans Herz gewachsen war! Dieser Krieg brachte ihr und all den anderen Menschen nur Schmerz und Leid. Spielten Jungen etwa so gerne mit Schießgewehren, weil sie später gerne in den Krieg ziehen wollten? Sie konnte sich das nicht vorstellen. Wollte Felix das vielleicht auch? Sie fragte ihn.

»Nee«, sagte er, »ich hasse ihn genauso wie du.«

Hanna war beruhigt. Sie wollte später keine Angst um Felix haben.

»Hey, ich habe zwei dolle Dinger gefunden.« Er lief zu Hanna und zeigte ihr stolz die zwei Granatsplitter, einen mit fünf und einen mit drei Zacken. Den Fünfer ließ er in seiner Hosentasche verschwinden. Den Dreier schenkte er ihr großzügig. Beide suchten noch eine Weile weiter, aber es lagen keine interessanten Splitter mehr herum. So stellten sie bald die Suche ein. Zum Spielen hatten sie heute nicht so richtige Lust. Jeder schien mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt zu sein. Der Schrecken der Nacht saß ihnen noch in den Gliedern und sie mussten offensichtlich das Geschehene jeder für sich selbst verarbeiten.

«Hanna, Heinz, hört mir mal zu«, sagte Hannas Vater beim Abendessen. »Dieser Angriff in der letzten Nacht war der schwerste von allen bisherigen. Wir können froh sein, dass unser Haus noch steht und wir noch am Leben sind. Ich habe heute Morgen in der Innenstadt Schreckliches gesehen. Eine Vielzahl der Häuser hat es schwer getroffen. In vielen Straßen gibt es nur noch Trümmerhaufen, unter denen Menschen tot oder noch lebendig liegen. Wo gestern noch Häuser standen, sind heute nur noch schwelende Trümmerberge. Ich sage euch, es war schrecklich, das zu sehen. Mutter und ich haben beschlossen, dass sie mit euch von hier wegfährt, und zwar in den Schwarzwald zu Tante Lena. Dort in dem Dorf seid ihr sicherer vor Luftangriffen als hier.«

Was? Sie sollte mit Mutter und Heinz ohne ihren Pa von hier weggehen, sich von ihren Puppen und all den Spielsachen trennen? Und, oh Schreck, auch von Felix! Das konnte doch nicht sein. Hannas Herz begann wild zu klopfen. Das konnte ihr Vater nicht ernsthaft verlangen.

Doch er sprach weiter: »Ich habe Tante Lena vorhin angerufen und mit ihr alles besprochen. Sie wird euch am Donnerstag am Bahnhof in Empfang nehmen.«

Es stand also unweigerlich fest. Hilfesuchend wanderten Hannas Blicke zu ihrer Mutter hinüber. »Vater hat recht, es ist das Beste für uns«, sagte sie leise zu Hanna.