Und es gibt immer ein Danach – Teil 1 - Sabine Kirchhof - E-Book

Und es gibt immer ein Danach – Teil 1 E-Book

Sabine Kirchhof

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Mir wird schon etwas einfallen. Bis jetzt ist mir immer etwas eingefallen, egal, worum es ging", dachte ich. "Und es gibt immer ein Danach!" Einen "guten Start" ins Leben hat Sabine, die in der DDR aufwächst, nicht wirklich. Nach einem missglückten Selbstmordversuch ihrer Mutter wird sie erst einmal in einem Kinderheim untergebracht. Einige Zeit später wird sie für immer von ihrem geliebten Bruder getrennt und ihr leiblicher Vater will nichts von ihr wissen. Aber Sabine gibt nicht auf. Was auch immer ihr widerfährt, beherzt packt sie das Leben an und macht das Beste daraus, nach dem Motto: "Wenn dir das Leben eine Zitrone gibt, mach Limonade draus!" Ein ganz und gar herzergreifender Roman, den man nicht eher aus der Hand legen mag, bevor man auch die allerletzte Zeile gelesen hat.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 717

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-911-7

ISBN e-book: 978-3-99146-912-4

Lektorat: Alexandra Eryiğit-Klos

Umschlagfotos: Sabine Kirchhof

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

1. Ereignisschwere Kindheit

Der Selbstmordversuch

Es war unfassbar und tragisch, was sich an diesem Tag in unserem Haus abgespielt hatte. Unsere Mutter hatte versucht, sich das Leben zu nehmen. In ihrer großen Verzweiflung und Ausweglosigkeit hängte sie sich mit einer Wäscheleine im Schlafzimmer auf. Wie konnte es bloß zu dieser Verzweiflungstat kommen? Sie hatte doch drei Kinder, die auf sie angewiesen waren. Neben vielen anderen unschönen Erfahrungen im Laufe meines Lebens ist das die traurigste Geschichte.

Der Umzug aus dem schönen Erzgebirge glich beinahe einer Flucht. Leider hatte sie bei ihrer Planung nicht bis zu Ende gedacht. Niemand konnte es verstehen, denn hier hatte sie Hilfe und Unterstützung durch die Familie ihres Mannes. Nun aber stand sie mit drei Kindern allein da und war mit ihrer neuen Lebenssituation total überfordert. Als ungelernte Kraft arbeitete sie unter harten Bedingungen. Niemand war da, der ihr bei all ihren Sorgen und Nöten half oder ihr gut gemeinte Ratschläge gab. Der Lohn reichte nicht weit, Kindergeld gab es noch nicht und unserem Vater war unser Schicksal völlig egal. Oft war sie verzweifelt und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Einmal, als sie absolut nicht wusste, wovon sie Lebensmittel kaufen sollte, brachte sie uns in das Vorzimmer des Bürgermeisters der kleinen Stadt. Mein großer Bruder erinnert sich noch heute traurig daran, wie sie weinend sagte: „Hier haben Sie meine Kinder, ich habe für sie nichts mehr zu essen.“ Sie ließ uns zwar nicht alleine zurück, verließ das Zimmer jedoch erst, als man ihr eine zusätzliche Lebensmittelkarte und einen kleinen Geldbetrag gab. Es war nur ein Tropfen auf den heißen Stein und linderte nicht ihre Not.

Nein, so schwer hatte sie sich ihr Leben nicht vorgestellt. Auch wenn es ihr selbst nicht gut ging oder sie krank war, schleppte sie sich zu ihrer Arbeit. Nur nicht ausfallen, sie brauchte jeden Pfennig, sonst sah es noch schlimmer aus. Dann standen zu allem Übel zwei Männer plötzlich vor der Tür und machten meiner Mutter klar, dass wir ausziehen mussten. Es hatte sich herausgestellt, dass das Haus, in das wir eingezogen waren, eine Werkswohnung des nahe gelegenen Chemiebetriebes war. Man wies ihre eine Mansardenwohnung mit zwei Zimmern, Küche und ohne Bad in einem Mehrfamilienhaus zu. Dass es für uns eine Zumutung war, interessierte niemanden. Sie war unbewusst illegal in das Haus gezogen.

Doch eines Tages war sie mit ihren Nerven am Ende. Vier Jahre waren bereits nach der Trennung von unserem Vater vergangen. Bis dahin hatte er sich seiner Verantwortung völlig entzogen. Nicht einmal Alimente für seine Kinder hatte er gezahlt. Es war der Tag, an dem sie noch einmal ihrer ersten großen Liebe, dem Vater ihrer drei Kinder, gegenüberstand, denn es war der Tag der Ehescheidung. Sie hatte verloren und musste sich mit ihrem schweren Schicksal abfinden. Eiskalt nahm er alle Schuld auf sich und die Ehe wurde geschieden. Wie in einem Trancezustand kam sie vom Scheidungsgericht zurück. Niemand war da, mit dem sie reden konnte, der sie tröstete, sie einfach in den Arm nahm. Keiner bemerkte ihren schlimmen nervlichen Zustand. Zu Hause warteten ihre drei Kinder. Das Geld war aufgebraucht, neues Geld gab es erst in ein paar Tagen. Da verlor sie die Kontrolle über sich.

Ich war noch zu klein, um einordnen zu können, wie schlecht es ihr ging. Als sie nach Hause kam, warteten wir in unserer Wohnküche auf sie. Unser großer Bruder spürte, dass etwas nicht in Ordnung war. Er befahl uns, still zu sein. Mutter weinte und verließ die Küche. Sie stieg die Treppen hinauf in die obere Etage, wo sich das Schlafzimmer befand. Schweigend und verwundert schauten wir ihr nach. Aber es blieb still. Wie mit einer instinktiven Vorahnung stürzte mein großer Bruder plötzlich aus der Küche und polterte die Treppe nach oben. Ich höre noch, wir er schrie: „Muttiii, Muttiii!!“ Dann kam er wie besessen die Stufen nach unten gerannt – nein, er rannte nicht, er sprang gleich mehrere Stufen auf einmal, kam in die Küche, holte ein großes Küchenmesser und rannte wieder nach oben. Dabei schrie er immer wieder verzweifelt „Mutti“, „Mutti“. Wir beiden Kleinen schauten ihm ängstlich nach und rührten uns nicht. Dann ging alles drunter und drüber.

Klaus hatte unsere Mutter mit einem Strick um den Hals an einem Haken an der Decke hängend gefunden. Geistesgegenwärtig schnitt er sie ab. Dann rannte er zur Nachbarin, die sofort zu uns herüberkam. Unsere Mutter war ohne Bewusstsein, aber sie war nicht tot. Die Nachbarin lockerte den Strick und nahm ihn vom Hals. Unsere Mutter hatte beim Fallen keinen Schaden genommen. Dann rannte sie aus dem Haus, um einem Arzt zu holen, der in unserer Straße wohnte. Zum Glück war er zu Hause und kam gleich zu uns. Mit einem herbeigerufenen Krankenwagen wurde unsere Mutter ins Kreiskrankenhaus gebracht. Was sich dann alles in unserem Hause abgespielt hat, konnten wir beiden Kleinen nicht begreifen. Wir konnten auch nicht begreifen, was mit unserer Mutter war und warum sie mit dem Krankenwagen weggebracht wurde. Sie war doch eben noch bei uns. Wir begannen zu weinen. Unser großer Bruder saß da und wimmerte.

Bis zwei evangelische Schwestern eintrafen, kümmerte sich zunächst die Nachbarin um uns. Man brachte uns in das nahe gelegene Waisenhaus, das in dem Schloss des Gutsbesitzers Graf Helldorf untergebracht war, der 1933 Reichstagsabgeordneter und Polizeipräsident von Potsdam, später von Berlin wurde. 1938 knüpfte er Kontakte zu Widerstandskreisen an, nach dem Attentat vom 20.Juli 1944 wurde er hingerichtet.

Nun waren wir in einer völlig unbekannten Umgebung und wussten nicht warum. Es war Dezember und es war sehr kalt. Alle Kinder des Heimes schliefen in einem großen Saal, auf der einen Seite die Jungen, auf der anderen die Mädchen. Aufgrund der besonderen Umstände durften wir bei unserem großen Bruder bleiben. Wir schliefen auf Feldbetten, die nebeneinanderstanden. Jeder hatte nur eine alte Wolldecke für unten und eine als Zudecke. Klaus legte alle drei Decken übereinander und wir deckten uns damit quer über uns zu. Ich durfte in der Mitte schlafen. Die beiden Jungen dagegen hatten Probleme, zugedeckt zu bleiben. Auch nachts hatten wir aufgrund der Kälte im Saal immer warme Sachen an. Unser Bruder kümmerte sich sehr um uns beide. Instinktiv hatte er die Vaterrolle eingenommen, er sprach jedoch nicht viel mit uns. Einige der riesigen Fensterscheiben im Schloss waren als Folgen des Krieges immer noch defekt und nur notdürftig zugestopft. Eine eiskalte Winterluft pfiff herein. Am Tag wurden die Feldbetten an die Wand geräumt. In dem großen Saal waren kleine Kanonenöfen aufgestellt, die jedoch die großen und hohen Räume nicht genug erwärmten. Wir saßen um sie herum und hielten unsere klammen Finger in Richtung der Wärme. Aus einer braunen Blechkanne mit weißen Tupfen gab es zum Frühstück Malzkaffee. Wir tranken aus Blechtassen, die so aussahen wie die Kannen. So etwas hatten die Soldaten auch, wurde uns erzählt und wir fanden das spannend. Zum Frühstück gab es meist trockenes Brot, das wir mit dem Malzkaffee beträufelten, darauf streuten wir Zucker, der ein wenig feucht war und rötlich aussah. Es gab auch Rübensaft, den wir uns sehr gerne aufs Brot strichen. Die Kaffeekanne wurde auf dem Ofen abgestellt, damit der Kaffee warm blieb. Mit beiden Händen umfassten wir unsere Tassen, um die kalten Hände zu wärmen. Mittags gab es oft Suppen und Kartoffeln in all ihren Varianten und Möglichkeiten. Aber das störte uns nicht, Hauptsache es gab etwas zu essen. Manchmal sah man den Atem im Raum. Wir froren viel. Es war ein Gefühl der Hilflosigkeit, das ich schon als kleines Kind empfand. Wo war bloß unsere Mutter und warum waren wir hier? Warum durften wir nicht nach Hause und in unseren eigenen Betten schlafen? Wir konnten diese neue Situation einfach nicht einordnen und hatten große Sehnsucht nach unserer Mutter. Klaus gab uns keine Erklärungen ab. Still und verschlossen zog er uns überall hinter sich her. Nur gut, dass wir uns wenigstens hatten. Während wir beide munter plapperten, schwieg er. Täglich ging er mit anderen Schulkindern den weiten Weg zur Schule und wir waren froh, wenn er wieder da war.

Dann kam der Heilige Abend. Alle Kinder bekamen vom Weihnachtsmann ein Päckchen, das ihre Bekannten oder Verwandten für sie im Heim abgegeben hatten. Wir drei waren die einzigen Kinder, für die der Weihnachtsmann keine Geschenke hatte. Niemand aus unserer Familie hatte erfahren, was geschehen war. von wem auch? Unser Vater hatte sich nie für uns und unser Schicksal interessiert. Wie kleine Sünder standen wir traurig und betroffen da. Auch den Erzieherinnen war die Situation unangenehm und sie versuchten, uns zu trösten. Klaus versteckte seine Betroffenheit hinter seinem verschlossenem Wesen, wir Kleinen weinten, weil wir dachten, dass wir böse waren. An diesem Abend gab es ein besonders leckeres Essen mit Süßigkeiten und Leckereien. So waren wir abgelenkt und beruhigten uns. Trotzdem schauten wir traurig zu, als die anderen Kinder ihre Päckchen auspackten. Am anderen Tag bekamen wir dann auch jeder ein kleines Päckchen. Die Erzieherinnen hatten es für uns gepackt und uns erklärt, der Weihnachtsmann hätte es vergessen. Wir waren überglücklich. Na logisch, das konnte der Weihnachtsmann doch nur vergessen haben. Unsere kleine Welt war wieder in Ordnung, zumindest ein bisschen.

Die Spiele im Schloss waren meist Bewegungsspiele, damit wir uns erwärmen konnten. Der Graben rund um das Schloss war zugefroren. Gern wäre ich darauf geschlittert, aber die Schuhe waren dürftig. Die Strümpfe, die mit Strumpfhaltern an einem Leibchen gehalten wurden, hatten manchmal Löcher an den Fersen. Die eisige Kälte zwischen dem Strumpfende und dem Schlüpfer spüre ich noch heute, wenn ich nur daran denke. Wenn keine langen Hosen vorhanden waren, hatten die Jungen kurze Hosen an. Die gingen bis zum Knie, aber eigentlich waren sie als kurze Hosen zu lang und als lange Hosen zu kurz. Dann trugen auch sie lange Strümpfen mit Strumpfhalter.

Die Erzieherinnen gingen sehr einfühlsam mit uns um. Sie ließen uns Geschwister zusammen. So hatten wir beiden Kleinen wenigstens nicht so einen Verlustschmerz. Klaus war nie herzlich und lieb zu uns, eher pflichtbewusst und kühl. Aber er war für uns da. Er war gerade acht Jahre alt und hatte alles bewusst erlebt. Die Situation war für ihn sehr schlimm, aber niemand beschäftigte sich mit ihm und seiner kleinen traurigen Seele. Er hatte einfach nur zu funktionieren.

Unsere Mutter lag im Kreiskrankenhaus Merseburg. Speise- und Luftröhre waren gequetscht und sie hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten. Andere körperliche Schäden waren zum Glück durch das Erhängen nicht entstanden. Mit den damaligen Möglichkeiten in der Heilkunst wurde sie körperlich wieder hergestellt. Zurück blieben jedoch die Narben auf ihrer Seele.

Aus der Familie kümmerte sich niemand um uns, wir bekamen nie Besuch, denn niemand wusste, was geschehen war. Auch unser Vater ließ sich nicht blicken, obwohl man ihn informiert hatte. Unser Schicksal war ungewiss, denn keiner wusste, was aus unserer Mutter würde. Ungewiss war auch, ob sie das Sorgerecht für uns wiederbekommen würde.

Es war ein frühlingshafter Tag und die Sonne schien, als wir in das Zimmer der Heimleiterin gerufen worden. Klaus nahm uns bei der Hand und zog uns wortlos hinter sich her. Wir folgten ihm ohne Protest. Dann betraten wir das mit weißen Möbeln eingerichtete Zimmer und da stand, mit einem verlegenen Lächeln im Gesicht, unsere liebe Mutter. Ja, sie stand einfach da. Wie jubelten wir, als wir beiden Kleinen sie erblickten: „Mutti!“, schrien wir und rannten auf sie zu. Mit beiden Armen umfassten wir ihre Schenkel und drückten sie ganz fest, als hätten wir Angst, sie könnte ohne uns gehen.Jetzt wird alles wieder gut! Wir dürfen nach Hause und wir schlafen bald in unserem eigenen Bett. Nie mehr so frieren! Nie wieder so eine Sehnsucht und so ein Heimweh nach ihr.Mit einer verlegenen Miene im Gesicht ging Klaus langsam auf sie zu. Er konnte nicht mehr schmusen wie früher. In dieser Zeit war er um einiges älter und reifer geworden. Bestimmt war das unserer Mutter nicht entgangen. Mit beiden Händen nahm sie seinen Kopf und drückte ihn an ihr Gesicht und Tränen rannen über ihr Gesicht. Ihr großer Junge! Wie oft hatte sie an ihn gedacht, wie er wohl die schlimme Situation meistern würde und sich um seine kleinen Geschwister kümmern würde.

Als Geschenk hatte sie uns jedem ein Paar Hausschuhe aus Filz mitgebracht. Mit einer kleinen Metallschnalle, die man ineinander fügte und umklickte, wurden die Schuhe geschlossen. Diese Hausschuhe waren für mich etwas Besonderes. Noch heute weiß ich genau, wie sie aussahen. Schade, dass der Verschluss so schnell kaputt ging. Leider waren sie auch etwas unpraktisch, weil sie bis zu den Knöcheln gingen. Kinder sind nun mal geneigt, aus Bequemlichkeit die Fersen runter zu treten. Wie auch immer, schön waren sie für mich trotzdem! Und es waren lange Zeit meine allerliebsten Schuhe. Ich brachte sie immer mit Muttis Heimkehr in Verbindung und konnte mich ewig nicht von ihnen trennen.

Rasch waren unsere weinigen Sachen zusammengepackt Noch schnell von den Erzieherinnen verabschieden und endlich ging es nach Hause. Während Klaus kaum redete, standen unsere kleinen Plappermäuler nicht still. Wir hatten unserer Mutter viel zu erzählen, weil sie doch so lange nicht da gewesen war.

Doch wie war es überhaupt zu dieser Situation gekommen?

Schicksalsschwere Zeit

Meine Eltern heirateten im Februar des Kriegsjahres 1941 im Erzgebirge. Im Oktober des gleichen Jahres wurde mein großer Bruder Klaus geboren. Er war der Stammhalter der Familie. Bei seiner Geburt wurde er freudig begrüßt und später von allen Seiten verwöhnt. Die Großeltern liebten ihren ersten Enkel sehr. Bis zu ihrem Tod war er immer ihr liebster Enkelsohn, was er sehr genoss. Bald schon merkte er, dass er ein wichtiges Familienmitglied war. Wenn meine Mutter erzählte, dass er ein ausgesprochenes Schreikind war, denke ich immer, dass er sich damals für den Rest seines Lebens verausgabt hatte. Später war er ein sehr stiller und in sich gekehrter Junge.

Die Männer, die den Krieg überlebt hatten und nicht in Gefangenschaft gerieten, kehrten allmählich zu ihren Familien nach Hause zurück. Für den einen oder anderen warteten bei der Heimkehr diverse Überraschungen. Auf meinen Vater warteten seine Frau und sein vierjähriger Sohn. Zwei Tage nach dem offiziellen Kriegsende wurde ein zweiter Sohn geboren. Von den Strapazen dieser Schwangerschaft hatte sich meine Mutter noch nicht erholt, als sie erneut schwanger wurde. Ihr kleiner Sohn war gerade mal vier Monate alt war. Ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde ich dann geboren.

Die Schwangerschaft war für meine Mutter nicht nur eine körperliche, sondern vor allem eine seelische Belastung. Sie wollte dieses dritte Kind nicht, denn mein Vater hatte sie verlassen, als sie schwanger wurde. Die Situation, in die ich hineingeboren wurde, war also nicht die beste. Auch die Tatsache, dass ich ein Mädchen war, tröstete sie nicht. Ich kann mich kaum daran erinnern, dass ich je als kleines Mädchen von ihr in die Arme genommen wurde, dass sie mich liebevoll an sich gedrückt hätte und ich ihre Wärme spüren konnte. Ich habe das Gefühl der Geborgenheit und Liebe als Kind nie kennengelernt. Erst viele Jahre später wurde mir das vergönnt. So eine Kindheit hinterlässt bei jedem Kind Spuren auf der Seele.

Mit der Treue nahm es mein Vater nie so genau und er hatte damals bereits Verhältnisse mit anderen Frauen. Er war ein amüsanter Mann. Durch seinen Humor, seine Heiterkeit und sein Imponiergehabe stand er vor allem bei den Frauen im Mittelpunkt. Bei ihm waren die Grenzen zwischen Wahrheit und Fantasie immer etwas verschwommen. Aber was macht das schon, wenn man verliebt ist? Alles hatte so schön angefangen. Aber es sollte ganz anders kommen, als man je geahnt hätte.

Da zahllose Männer aus dem Krieg nicht mehr heimkehrten, versuchten viele Frauen, mit allen Mitteln einen von den Übriggebliebenen zu angeln. Jedenfalls unterlag mein Vater den Waffen einer dieser Frauen und vergaß, was er meiner Mutter fünf Jahre zuvor am Traualtar geschworen hatte. Halb zog die neue Geliebte ihn und halb sank er selbst hin. Er zog gleich zu seiner neuen Liebe, die selbst eine kleine Tochter hatte. Die neue Frau war acht Jahre jünger als meine Mutter, also gerade mal 20 Jahre alt. Gegen den Jugendwahn eines Mannes ist eine Frau machtlos.

Nach der Trennung von meinem Vater erfüllte meine Mutter mehr mechanisch als bewusst ihre Pflichten. Sehr schnell musste mein großer Bruder begreifen, dass sich nicht mehr alles um seine kleine Person drehte, denn da waren noch zwei kleine Geschwister, die die Kraft der Mutter brauchten. Der Vater kam nicht mehr und sie war oft gereizt und traurig. An den kleinen Bruder hatte er sich gerade gewöhnt, da kam noch eine kleine Schwester, mit der er überhaupt nichts anfangen konnte. Und er bemerkte auch, dass die Mutter sich nicht über das neue Kind freute.

Meine Mutter hatte nur noch einen Gedanken: Sie wollte so schnell wie möglich raus aus dem Erzgebirge und zurück in ihre Heimatstadt Halle an der Saale. Ein Elternhaus, in das sie vorübergehend zurückkehren konnte, hatte sie nicht, denn sie war ein Waisenkind. Dann aber wollte sie wenigstens in der vertrauten Stadt ihrer Kindheit und Jugend leben. Alles Reden, Bitten und Flehen der Großeltern halfen nicht. Die Eltern meines Vaters, die gleich nebenan wohnten, standen ihr in den schwersten Zeiten so gut sie konnten zur Seite. Ihren Sohn konnten sie nicht verstehen. Im Dorf war es längst kein Geheimnis mehr, dass meine Mutter mit ihren Kindern in ihre Heimatstadt zurück wollte. Ein fremder Mann, der gerade im Dorf zu Besuch war, hatte von ihren Absichten erfahren und sprach sie an. Er erzählte ihr von einer Bekannten, die in einer Stadt in der Nähe von Halle in einem Doppelhaus wohnte, dessen andere Hälfte leer stand. Bald stand fest, dass die Wohnung tatsächlich frei war. Da in Halle durch die Kriegszerstörungen große Wohnungsnot herrschte, bekam meine Mutter auch keine Zuzugserlaubnis. So wollte sie wenigstens in die Nähe ihrer Heimatstadt ziehen in der Hoffnung, dass es später einmal möglich würde. Gedanken über den Vermieter machte sie sich nicht. Für sie gab es kein Halt mehr, der Umzug wurde organisiert. Vor ihr lag ein Weg voller Ungewissheit und Schwierigkeiten. Sie brauchte sehr viel Mut, diesen schweren Weg mit den drei kleinen Kindern allein und ohne Hilfe zu gehen, und dennoch ging sie ihn.

Einen Tag vor dem Umzug nahm meine Mutter gemeinsam mit uns Kindern Abschied von ihrer Wahlheimat. Ganz in der Nähe unseres Hauses befand sich ein kleiner Teich, der durch herabfließende kleine Quellen aus dem Wald gespeist wurde. Das Wasser war immer kalt und das Baden darin selten ein Vergnügen. Mit einer befreundeten Nachbarin wechselte sie gerade ein paar Worte, während wir am Ufer spielten, als ich plötzlich das Gleichgewicht verlor und kopfüber in das eiskalte Wasser fiel. Durch das ständige Gurgeln des zufließenden Wassers nahm meine Mutter das plumpsende Geräusch nicht wahr. Mein großer Bruder wollte hinterher springen und schrie nach ihr. Als sie meinen ungewollten Tauchversuch bemerkte, war ich bereits unter Wasser. Es waren nur Sekunden. Sofort sprang sie in das kalte Nass und holte mich heraus. Mit einem Klaps auf den Po gab sie mir zu verstehen, dass ich nicht auf sie gehört hatte. Hastig drückte sie das Wasser aus meinem Körper heraus und rannte mit mir auf dem Arm nach Hause. Hier wurde ich mit großer Mühe warm gerieben und ins dicke Federbett gepackt. Ein paar Augenblicke später wäre es zu spät für mich gewesen, ich wäre ertrunken. Die besorgte Nachbarin kümmerte sich um meine verdutzten Brüder.

Der Tag der Abreise war gekommen. Auf dem Güterbahnhof von Rechenberg-Bienenmühle stand ein Waggon, der mit unseren Möbeln und all unseren Habseligkeiten beladen wurde. Die Schwiegereltern, Geschwister meines Vaters und Nachbarn halfen meiner Mutter. Dann war es soweit. Schweren Herzens und mit den allerbesten Wünschen für eine glückliche Zukunft verabschiedeten sich alle von uns. Die Fahrt in die Ungewissheit begann und keiner wusste, wie sie enden würde. Nur für meine Mutter stand fest, dass es der richtige Weg sei, der Weg zurück nach Hause.

Schwerer Neubeginn

Auf der Reise in die Ungewissheit waren wir endlich auf dem Hauptbahnhof in Halle angekommen. Die Schwestern der Bahnhofs-mission kümmerten sich um uns. Eine Nacht durften wir hier schlafen, dann ging es weiter nach Mücheln im Geiseltal, wo die neue Wohnung auf uns wartete. Die gemeinsamen Möbel aus der Möbeltischlerei, in der unser Opa arbeitete, hatte sie behalten. Sie blieben immer eine Erinnerung an das schöne Erzgebirge. Irgendwie hatte sie es auch organisiert, dass die Möbel vom Bahnhof in die neue Wohnung transportiert wurden.

Nachdem unsere Mutter uns aus dem Waisenheim nach Hause geholt hatte, stand sie nun vor der Frage, wie sie ihre drei Kinder ernähren sollte. Wie alle anderen Leute in dieser Zeit, ging sie mit meinem großen Bruder auf den Feldern Kartoffeln stoppeln und Ähren sammeln. In den umliegenden Dörfern tauschte sie für Lebensmittel bei den Bauern alles, was genommen wurde, bis nichts mehr zum Tauschen da war. Hin und wieder wurde auch auf den Feldern geklaut. Die Felder wurden natürlich bewacht und es war nicht ungefährlich, erwischt zu werden.

Als wir wieder einmal nichts zu essen hatten, hörte meine Mutter von anderen Leuten, dass ein Bauer im Nachbarort Kartoffeln tauschen würde. Sie überlegte nicht lange und opferte ihre wunderschönen Geschirrteile von „Selb Bavaria“, die sie noch von ihrer Mutter hatte und die ihre einzigen Erinnerungsstücke waren, um sie gegen Kartoffeln zu tauschen.

Früh am Morgen brach sie mit uns drei Kindern auf. Der Weg auf der Straße mit dem holprigen Kopfsteinpflaster war weit, aber über die Felder konnte man abkürzen. Ein Handwagen war in dieser Zeit unentbehrlich. Der Hinweg mit dem leeren Wagen war einfach. Alle waren noch frisch und wir beiden Kleinen rannten unbekümmert nebenher. Mutter zog und Klaus schob den Wagen. So kamen wir schnell voran. Rasch war der Tausch vollzogen und ein Sack Kartoffeln lag im Wagen. Nun aber schnell wieder zurück. Es war ein ungewöhnlich heißer Septembertag. Der Hunger war ja noch zu ertragen, aber der Durst machte allen zu schaffen. Wir hatten nichts zum Trinken mitgenommen. Besonders wir beiden Kleinen jammerten vor Durst und konnten vor Müdigkeit nicht mehr laufen. Mutter setzte uns auf den Kartoffelsack. Nun war der Handwagen natürlich sehr schwer geworden. Für Mutter und unseren Bruder war der Rückweg eine Quälerei geworden und auf den Feldern kamen sie nur schleppend voran. Plötzlich stellte Mutter fest, dass sie sich verlaufen hatten. Sie waren in die falsche Richtung gegangen. Erschöpft und verzweifelt setzten sich beide auf den Boden, um sich auszuruhen und sich neu zu orientieren. Es dämmerte bereits, als endlich der schwarze Qualm aus den Schornsteinen der nahen Brikettfabrik zu sehen war. Endlich war die Siedlung erreicht. Klaus war am Ende seiner Kräfte und musste mit den Tränen kämpfen. Aber er riss sich zusammen, schließlich wusste er, dass er Mutters große Hilfe war.

Unweit von Mücheln überquerte eine Straßenbahnbrücke die Gleisanlagen der Kohlenzüge, die sowohl die Rohbraunkohle in die Brikettfabrik fuhren, als auch die fertigen Briketts in die Großbetriebe brachten. Von hier aus hatte man einen guten Überblick und konnte sehen, wenn ein Zug mit Brikett auf einem Nebengleis abgestellt war. Schnell sprach es sich herum, dass man hier nachts Kohlen „organisieren“ konnte. Es war sehr gefährlich, aber aus der Not heraus wurden viele Ängste und Strapazen in Kauf genommen. Einige Male ging es auch gut. Eines Nachts aber wurde unsere Mutter mit dem Handwagen voller Briketts erwischt. Es kam natürlich zur Strafanzeige und sie musste 300,- Mark Strafe zahlen. Das war mehr, als sie in einem Monat verdiente. Es war bitter, aber in Raten von 30,- Mark musste sie diese Strafe abzahlen.

In unserer Siedlung wurden neue Häuserblöcke gebaut, denn man benötigte für die Arbeitskräfte in der Kohleproduktion und im Chemiebetrieb dringend Wohnungen. Baumaterialien waren knapp und mutige Architekten hatten sich an die altbewährte Bauweise mit Lehm erinnert. Als alternatives Baumaterial besitzt Lehm ja bekanntlich hervorragende Eigenschaften. Er kühlt im Sommer, wärmt im Winter, bietet Schallschutz, entgiftet das Haus und ist sehr preiswert. Ganze Häuserreihen entstanden in dieser Zeit aus dem Baumaterial, das überall vorhanden war, selbst beim Aushub einer Baugrube. Sofort erkannte meine Mutter ihre Chance und bekam eine Stelle in der Küche für die Arbeiterversorgung des Baubetriebes. Die Bezahlung war gering, aber sie konnte täglich Essen, das übrig war, für uns mit nach Hause nehmen.

Eines Tages waren die Bauarbeiten beendet und die Küche wurde geschlossen. Nun stand sie ohne Arbeit und Lohn da. Eine Arbeit zu finden, war nicht schwer, denn Arbeit gab es mehr als genug. Ihren Beruf als Erzieherin wollte sie wegen des geringen Lohnes nicht wieder ausüben. So nahm sie in dem Chemiebetrieb im Nachbarort eine Tätigkeit als Bandwärterin auf, denn sie war eine ungelernte Arbeitskraft. An einem der großen Transportbänder, wo Rohbraunkohle von den Kohlehalden in die Kraftwerksöfen befördert wurde, hatte sie darauf zu achten, dass Störungen durch zu große Kohlenstücke vermieden wurden. Mit einer Eisenstange musste sie versuchen, die Kohlestücke auf dem Band gleichmäßig zu verteilen. Es war eine ausgesprochene Drecksarbeit bei Wind und Wetter. Der karge Lohn reichte kaum für uns alle. Unser Vater zahlte keine Alimente und sie benötigte für uns Kinder dringend eine Betreuung.

In diesem Betrieb wurde fast ausschließlich im Zwei- und Drei-Schicht-Rhythmus gearbeitet. Meine Mutter arbeitete im ZweiSchicht-System. Die Schichten dauerten zwölf Stunden, jeweils von 6.00 Uhr morgens bis 18.00 Uhr abends und umgekehrt. Hinzu kamen Wegezeiten von etwa einer Stunde. Nach vier Schichten gab es eine Freischicht. Das Schlafen nach der Nachtschicht war für sie schwierig. Der ständige Wechsel der Arbeitszeiten zwischen Tag und Nacht war anstrengend, vor allem, weil sie noch eine Familie zu versorgen hatte. Anfangs kam es oft vor, dass sie aufwachte und nicht wusste, ob sie gekommen war oder gehen musste. Ständig musste sie organisieren, dass wir Kinder einigermaßen versorgt waren. Das gelang nicht immer. Besonders schwierig war es, wenn wir Kleinen eine Krankheit ausbrüteten. Dann steckte sie uns beide ins Bett, damit die unvermeidbare Ansteckung schneller absolviert würde. Wir fanden das gut, denn dann war es nicht so langweilig im Bett. Wenn Kinder krank sind, brauchen sie ohnehin etwas mehr Aufmerksamkeit, die uns unsere Mutter nicht geben konnte. Die Nachbarin schaute hin und wieder vorbei, bis unser großer Bruder aus der Schule heimkam. Dann lief alles nach seinen Anweisungen. Er hatte die Verantwortung und wir hatten zu folgen. Vor ihm hatte ich immer Respekt, ja oft sogar Angst, denn er teilte schnell mal eine Ohrfeige aus. Aber er war ja auch selbst noch ein Kind. Statt zu spielen, musste er Pflichten erfüllen.

Kam unsere Mutter dann endlich nach Hause, war unsere Freude groß, aber sie war von der langen Arbeitszeit abgespannt und müde. Pflichten im Haushalt warteten auf sie und ständig stand sie unter Erfüllungsdruck und Zeitmangel. Nur ein paar Stunden schlafen, dann musste sie wieder zur Arbeit gehen. Nie hatte sie Zeit für uns und von Spielen mit uns konnte überhaupt keine Rede sein. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mit mir als kleines Kind gekuschelt oder geschmust hätte. Da war es gut, dass ich meinen nur ein Jahr älteren Bruder hatte. So habe ich es nie richtig bewusst vermisst. Keiner von uns beiden ahnte, dass wir bald für immer getrennt würden.

Dann endlich bekam meine Mutter von der Volkssolidarität zwei Plätze in einem Kindergarten, er hieß „Stalin-Kindergarten“. Es war die Villa des enteigneten ehemaligen Grubenbesitzers. Einen Teil der Einrichtung hatte er zurückgelassen. Ein großes Puppenhaus mit mehreren Etagen war das Allerschönste für mich. In einem großen Wintergarten befand sich ein Sandkasten, in dem wir auch im Winter richtig buddeln konnten. Das war ein Paradies für uns Kinder und es gab nicht nur schöne Spielsachen, sondern mittags auch warmes Essen. Das Frühstück musste mitgebracht werden, das bei uns meist aus Schnitten mit selbst gemachtem Rübensaft bestand.

Jeden Tag liefen mein ein Jahr älterer Bruder und ich Hand in Hand den weiten Weg zum Kindergarten. Für uns beide war die Welt voller Rätsel und Abenteuer und wir blieben mal hier und mal da stehen, um zu staunen und zu schauen. Immer die strenge Mahnung unserer Mutter im Ohr, kamen wir dann irgendwann an. Es war für mich eine unvergessliche Zeit, denn mein Bruder war immer bei mir. Von Kindesentführungen und -missbrauch hörte man damals nie etwas. Die Zeit war hart und jeder musste zusehen, wie er mit seinem eigenen Schicksal fertig wurde. Aber man schaute wesentlich mehr über den eigenen Tellerrand. „Der Mensch neben dir“ war keinem so egal wie heute, besonders nicht unter den Arbeiterfamilien.

Unsere Eltern

Meine Mutter hat ihren Vater nie kennengelernt. Als sie im Oktober 1918 in Halle an der Saale geboren wurde, war ihr Vater bereits Anfang April bei der „Großen Schlacht in Frankreich“ als Soldat des Ersten Weltkrieges gefallen. Später lernte ihre Mutter einen neuen Mann kennen, der jedoch nur die Mutter und nicht die Tochter wollte. Die Großeltern nahmen das kleine Mädchen zu sich. Bereits im Alter von 39 Jahren starb ihre Mutter. Als die Großeltern starben, kam sie in ein Waisenhaus in Halle, wo sie „deutsche Zucht und Ordnung“ kennenlernte. Diese Zeit war besonders schwer für sie, denn die Großeltern hatten sie auf ihre Art verwöhnt.

Die Schwester ihrer Mutter beschloss, das Mädchen in ihrer Familie aufzunehmen. Sie hatten selbst zwei Töchter, wovon die eine zwei, die andere vier Jahre jünger war als meine Mutter. Der Mann der Tante war von Beruf Klempner. Leicht war es nicht, noch einen Esser mehr am Tisch zu haben. Der Onkel war der alleinige Verdiener der Familie. Wie es damals üblich war, herrschten Disziplin und Strenge und der Vater hatte eine Sonderstellung. Gegessen wurde, was auf den Tisch kam, und das war der springende Punkt. Meine Mutter erinnerte sich oft, dass es Tränen gab und sie die Speisen, die sie nicht mochte, so lange vorgesetzt bekam, bis der Hunger sie hineintrieb. Auch die Tatsache, dass sie nicht das eigene Kind war, bekam sie hin und wieder zu spüren. Es ist nicht einfach, ein fremdes Kind aufzunehmen, auch wenn es aus der Verwandtschaft ist. Immerhin waren es nun drei Mädchen, die miteinander auskommen mussten. Im Zweifelsfalle hielten die beiden Geschwister natürlich zusammen und die Schuldfrage war sofort geklärt. Es gab die eine oder andere Bestrafung, doch Schläge oder Misshandlungen gab es nie. Allein die Anwesenheit des Onkels reichte aus, um diszipliniert zu sein.

Nach dem Krieg arbeitete der Onkel in einer Russenkaserne als Klempner. Arbeit gab es genug. Wie es bei den Russen üblich ist, gab es Wodka und Onkelchen trank auch gern mal über den Durst hinaus. Davon war die Tante nicht begeistert, aber es kam zwischen den beiden nie zu Auseinandersetzungen. Auch ich habe nie erlebt, dass sie sich stritten oder unhöflich zueinander waren. Die Tante ertrug alles mit eiserner Disziplin und Zurückhaltung. Alles wurde in seinem Sinne und zu seinem Wohle geregelt, denn er brachte schließlich das Geld nach Hause.

In den ersten Jahren nach dem Krieg war es ein wahrer Segen, einen Garten zu haben, denn der ernährte die Familie. Das gesamte Obst und Gemüse fanden Anwendung und die Gelees, die die Tante bereitete, waren himmlisch. Unkraut jäten, Beeren und Gemüse ernten und putzen erledigte ich gern, denn mir war es wichtig, ein gern gesehener Gast zu sein. Die Anerkennung tat mir gut und der Vergleich zu den anderen Enkelkindern ging immer zu meinen Gunsten aus. Die Tante freute sich über meine Geduld, Handarbeiten zu erlernen, und ohne Murren trug ich ihre selbst gestrickte Unterwäsche, die auf der Haut unangenehm kratzte.

Die Erzählungen meiner Mutter über die Zeit bei den Pflegeeltern waren immer von größter Hochachtung und Dankbarkeit geprägt. Sie liebte und achtete beide sehr. Für mich und meine beiden Brüder waren sie wie Großeltern. Obwohl sie drei Enkelkinder hatten, spürten wir nie, dass wir nicht willkommen waren. Besonders schön war es, wenn ich zufällig mit ihrer Enkeltochter zusammentraf. Eigentlich war kein Platz für zwei, aber wenn es sich dann mal so ergab, war es für uns beide immer etwas Besonderes. Wir verstanden uns sehr gut und noch heute kann ich mich an ihr fröhliches Lachen erinnern. Ich war die Jüngere und sie verehrte heimlich meinen großen Bruder. Nur die Tante war von unserer Ausgelassenheit zuweilen genervt. Meist geriet ich in den Verdacht, die Anstifterin bei unseren Späßen zu sein, aber ich machte alles wieder durch meinen Fleiß wett. Vor dem Onkel hatte ich höchsten Respekt, jedoch nie Angst. Schon als Kind wusste ich instinktiv, welchen Rang ich hatte und richtete mich danach.

Nach der Schule besuchte meine Mutter zunächst eine Haushaltsschule und begann dann eine Ausbildung als Kindererzieherin. Sie war mit Leib und Seele eine Hallenserin. Hier wurde sie geboren, verbrachte hier ihre Kindheit und Jugend und hier lernte sie ihre erste und einzige große Liebe, meinen Vater, kennen. Bis zu ihrem Tod liebte sie ihre Heimatstadt innig. Da sie nicht wieder nach Halle zurückkehren konnte, fuhr sie, sooft es ihre Zeit erlaubte, hierher, denn hier wohnten auch ihre Pflegeeltern. Sie zu besuchen oder einen Stadtbummel zu machen, half ihr schon, die Sehnsucht nach dieser Stadt ein wenig zu lindern. Sie starb in Halle und fand auch hier ihre letzte Ruhestätte. Ich bin mir sehr sicher, dass es ihr allergrößter Wunsch gewesen wäre, aber wir haben nie darüber gesprochen. Der Tod war immer ein Tabuthema. Wenn sie doch einmal angefangen hat mit dem Satz: „Wenn ich einmal tot bin“ habe ich sie nicht weiterreden lassen, da mir das Thema sehr wehtat. Sie war für mich immer ein wenig unsterblich.

Unser Vater war von Beruf Schneider. Im Zweiten Weltkrieg war er als Gefreiter, später als Oberfeldwebel in Frankreich stationiert. Meine Mutter erzählte mir, dass er für meinen großen Bruder Pakete mit Kindersachen aus Frankreich geschickt hatte. Da die Nazis auch in Frankreich die Menschen in deutsche Konzentrationslager deportierten, befürchtete sie, dass die Kindersachen von diesen armen Menschen einfach genommen oder aus den Häusern geplündert worden waren. Wenn sie ihrem kleinen Sohn diese Sachen anzog, plagte sie oft das schlechte Gewissen. Immerhin war ihr Pflegevater ein überzeugter Kommunist und Gegner des Krieges. Meine Mutter war nie im „Bund Deutscher Mädel“ und froh, dass sie die Aufmärsche der Nazis nie erlebt hatte. Das beschauliche Erzgebirge war weit abseits der Front. Die Begeisterung meines Vaters sah sie mit gemischten Gefühlen, aber sie liebte ihn und er war nicht fanatisch. Ihre arische Abstammung konnte sie vor der Hochzeit nachweisen, ohne die keine Eheschließung mit meinem Vater möglich gewesen wäre. In der Abstammungslehre stand: „Arische Abstammung liegt vor, wenn alle vier Großeltern deutschen oder artverwandten Blutes sind.“

Eines Tages fand meine Mutter in der Uniform ihres Mannes Bilder von Hinrichtungen. Menschen knieten hinter einem frisch ausgehobenen Graben, die Hände hinter dem Kopf und warteten auf den tödlichen Schuss. Auf einem anderen Foto sah sie die Leichen in dem Graben liegen. Als Zeichen der Macht hatten sich auch Soldaten mit fotografieren lassen, ihr Mann war nicht dabei. Die Fotos riefen Entsetzen bei ihr hervor, aber sie wagte nicht, ihn zu fragen, wie er zu diesen Fotos kam. Viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Warum hatte er diese abscheulichen Bilder bei sich? Waren es vielleicht die Sachen von ermordeten Kindern? Fragen über Fragen und sie hatte immer das Gefühl, als klebe Blut an den Kindersachen. Dennoch war sie ja froh, dass sie für ihr Kind Kleidung bekommen hatte. Wenn da nur nicht diese Gewissenskonflikte gewesen wären.

Meine Mutter erzählte mir, dass sie oft überlegt hatte, diese Bilder aus Rache gegen meinen Vater zu verwenden, um ihn zu schädigen, weil er sie mit ihren drei Kindern sitzen ließ. Vor allem, als sie erfuhr, dass er mit Gründung der DDR sofort seine Fahne in den Wind hängte, denn gleich nach dem Krieg wurde aus einem überzeugten Soldaten der Wehrmacht ein überzeugter Genosse der SED. Er tat alles, um über die Partei Kariere zu machen. Allein die Tatsache, dass er der Vater ihrer Kinder ist, hielt sie von ihrem Vorhaben ab.

Während meine Mutter keinen Zuzug in ihre einstige Heimatstadt bekam, fand mein Vater nach dem Ende des Krieges in Halle eine Arbeit und zog hierher. Er bekam eine Anstellung bei der „Konzert- und Gastspieldirektion“ Halle im Klubhaus der Gewerkschaften. Hier muss es auch zu seiner Berufsumwandlung vom Schneider zum Schauspieler gekommen sein, denn als ich geboren wurde, war er von Beruf Schauspieler, ein Jahr zuvor noch Schneider. Gelernt hat er jedenfalls diesen Beruf nicht. Ich vermute, dass er sich einfach als Schauspieler ausgab.

Ich habe für meinen Vater nie existiert. Nur einmal wollte ich ihn im Rahmen einer Ausstellung aufsuchen, die in seinem Klubhaus stattfand. Ich war mit meiner Oberschulklasse hier. Die einzige Frage, die er mir stellte, war: „Wie lange muss ich noch für dich zahlen?“ Ich hatte vor diesem Treffen Herzklopfen und bildete mir ein, er wäre stolz auf mich, wenn er hörte, in was für eine berühmte Schule ich ging. Da ich unangemeldet kam, war er gerade zu Tisch. Ich erkannte ihn sofort. Als er auf mich zukam, wusste ich kaum, wie ich ihn ansprechen sollte. Ich erzählte ihm irgendwelche Belanglosigkeiten von mir und wann ich mein Abitur machen würde. Er fragte mich noch, ob er mir eine Limonade kaufen solle. Ich lehnte dankend ab und er beendete das Gespräch mit dem Hinweis, dass er nun weiterarbeiten müsse.

Das Ganze fand vor seinem Büro statt und dauerte nicht länger als fünf Minuten. Mein Klassenlehrer hatte noch vorher gefragt, ob er mit meinem Vater reden solle. So einfach aus Höflichkeit, erläuterte er. „Nein, ist nicht nötig“, meinte ich. Hinterher kam ich mir regelrecht schäbig vor, dass ich mich hatte hinreißen lassen zu denken, mein Vater könnte sich freuen, mich zu sehen. Wenn ich darüber nachdachte, war mir jedes gesagte Wort peinlich. „Hätte ich ihn nur nicht besucht“, dachte ich immer wieder. Aber ich hatte einfach nur meinen Vater sehen wollen. Ist das etwa nicht normal? Ich fühlte mich so verletzt und deprimiert. Nach dieser kurzen Begegnung hatte ich nie wieder Kontakt zu ihm. Bei einer Tanzveranstaltung in seinem Haus ignorierte er mich, obwohl ich gemeinsam mit meinen beiden Brüdern da war. Das Einzige, was uns miteinander verband, waren die Alimente. Manchmal tat die Erkenntnis, für den Vater nicht zu existieren, sehr weh. Ich hatte ihm doch nie etwas getan. Nicht ich, sondern er war für meine Existenz verantwortlich.

Die Entscheidung

Als uns unsere Mutter aus dem Waisenhaus holte, kehrten wir nicht wieder in das Doppelhaus zurück, wo wir beinahe unsere Mutter verloren hätten. Unser neues Zuhause war jetzt die uns zugewiesene kleine Mansardenwohnung mit den schrägen Außenwänden. Von einem langen Flur aus konnte man die Räume betreten. Zur Straße hin gab es nur zwei Dachluken in der Schräge der Decke, was wir Kinder sehr bedauerten, denn das Leben spielte sich damals oft auf der Straße ab. Autos gab es kaum. Aus den Luken konnte man folglich auch nicht die spielenden Freunde beobachten, wenn man Stubenarrest hatte. Diese Wohnung war leider auch die einzige von den fünf Wohnungen im Haus, die weder ein Bad noch ein Kinderzimmer hatte. Dennoch war es herrlich, endlich wieder im eigenen, frisch bezogenen Bett zu schlafen. Beim Anblick der vertrauten Möbel hatte ich sofort ein Gefühl der Geborgenheit, wir waren wieder daheim!

Das Jugendamt hatte versucht, eine optimale Lösung für unsere Mutter zu finden. Zunächst wurde dafür gesorgt, dass mein Vater seinen Zahlungsverpflichtungen in Bezug auf die Alimente nachkam. Für jedes Kind hatte er 20 Mark zu zahlen. Das war nicht viel, aber immerhin etwas. Unsere Mutter hatte zwar ihre Kinder wieder zurückbekommen, das war jedoch nur vorübergehend. Mit einem Gerichtsbeschluss hatte man festgelegt, dass ein Kind zum Vater gehen musste, aber welches? Sie musste sich entscheiden und sie entschied sich für ihr mittleres Kind, meinen geliebten Bruder Dieter. Um ihm den Abschied zu erleichtern, hatte man ihr angeraten, ihn auf die Trennung vorzubereiten. So freute sich der kleine Junge unbändig, dass er zu seinen Vater durfte, den er kaum kannte. Irgendwie war ihm zu Ohren gekommen, dass der Vater „Schauspieler“ war. Von nun an hängte er bei der Frage nach seinem Namen immer „Schauspieler“ an und hieß somit – „Dieter Kirchhof – Schauspieler“. Er konnte es kaum erwarten, dass sein Vater kam, um ihn zu holen. Ich zählte für ihn nicht mehr und auch zu unserer Mutter wurde der kleine Kerl schon sehr kess.

Eines Tages war es dann soweit. Mutter hatte ihr bestes Kleid angezogen und Klein-Dieter war auch feierlich herausgeputzt. Ein Koffer mit all seinen Sachen stand bereit, auch ein paar Spielsachen nahm er mit. Alle warteten auf den Moment, dass es klingelte. Meine Mutter war sehr nervös. Klaus hatte seinen Vater lange nicht gesehen. Ich war unbeteiligt und wusste auch nicht, was da passiert, denn ich kannte ihn ja überhaupt nicht. Ein bisschen beneidete ich Dieter, weil er ein neues Abenteuer vor sich hatte, und das ohne mich. In Wirklichkeit war es für ihn eine Reise in eine ungewisse Zukunft ohne Mutter und ohne seine Geschwister. Der kleine Junge konnte schließlich nicht ahnen, was da auf ihn zukam. Er war gerade sechs Jahre alt geworden.

Endlich klingelte es und vor der Tür stand er – unser Vater. Ich sah ihn zum ersten Mal in meinem Leben. Klaus gab ihm die Hand und machte artig einen Diener. Mit leuchtenden Augen sah Dieter ihn an und ahmte seinen großen Bruder nach. Vater schaute mich nur ganz kurz an. Ich fand, dass er ein wenig aussah wie unser Opa, nur jünger. Er war sehr förmlich. Für Mutter war es eine peinliche Situation. Schließlich stand sie dem Mann gegenüber, den sie einst so sehr geliebt hatte. Gemeinsam hätten sie diese drei Kinder normalerweise großgezogen, aber nun war alles anders gekommen.

Wir Kinder wurden in die Küche am anderen Ende des Flures geschickt, schließlich gab es einiges zu beraten, wie zum Beispiel über die Besuchsmodalitäten. Mucksmäuschenstill warteten wir wie auf ein Wunder. Dann wurde Dieter gerufen. Freudig lief er zu seinem Vater und wollte auch gleich losgehen. Er drängelte zum Aufbruch. Die Situation war spannungsgeladen. Klaus schwieg, wie immer. Sicher ist ihm alles sehr nahe gegangen, schließlich war er einst der geliebte Sohn gewesen. Vergebens wartete er auf ein paar nette Worte von seinem Vater.

Dieter hatte kaum Zeit, sich von uns zu verabschieden. Nun rasch noch den Koffer geholt. Auch sein Federbett durfte nicht fehlen. Ein Federbett gehörte als Grundausstattung damals zu jedem, der die Familie verließ. Er drückte uns noch schnell. Vater verabschiedete sich kurz von uns, dann fiel hinter beiden die Tür ins Schloss. Betretene Stille trat ein. Wir konnten dem Bruder nicht einmal hinterherwinken, weil ja kein Fenster zur Straße hin war. Meine Mutter tröstete mich, dass wir Dieter bald in Halle besuchen würden.

Ab jetzt war alles anders. Ich war auf eine ganz besondere Art allein. Meine zweite Hälfte war weg, für immer weg. Ich kannte ja ein Leben ohne Dieter nicht. Als ich geboren wurde, war er bereits da und wir waren unzertrennlich. Erst in den folgenden Tagen spürte ich schmerzhaft den Verlust meines engsten und liebsten Spielgefährten. Noch heute kann ich mich an dieses traurige Gefühl in meiner Brust erinnern. Ich hatte ständig Sehnsucht, so eine Art Heimweh nach ihm. Wie oft sang ich noch Jahre danach, wenn ich an ihn dachte, das Kinderlied: „Wo mag denn nur mein Christian sein, in Hamburg oder Bremen?“ Bei dem Refrain kamen mir oft vor Sehnsucht die Tränen.

Leider kam es für Dieter ganz anders, als er es sich erträumt hatte. Er bekam eine Stiefmutter wie sie im klassischen Märchen verkörpert wird. Seine Begeisterung war bald hin, denn auf ihn wartete eine strenge und lieblose Kindheit. Der Vater erzog ihn mit harter Hand und strengen Regeln. Oft bekam er Prügel und Stubenarrest war an der Tagesordnung. Die Stiefmutter, die gegen ihren Willen einen Stiefsohn bekam, konnte ihm keine Liebe geben. Sie hatte selbst eine Tochter. Unser Vater liebte sie, als wäre sie sein eigenes Kind. Sie wollten kein zweites Kind und ließen es meinen Bruder täglich spüren. Die neue Situation war mit richterlichem Beschluss herbeigeführt worden und so wurde der ungewollte Familienzuwachs auch behandelt.

So dauerte es nicht lange, bis Dieter Heimweh nach seiner richtigen Familie, vor allem aber nach seinen Geschwistern bekam. Eines Tages stand er plötzlich vor unserer Tür und strahlte über sein kleines Gesicht, als unsere Mutter ihm öffnete. Er drückte sie ganz fest. Zwar freute sie sich über sein Kommen, wunderte sich aber, dass er allein war. Natürlich fragte sie sofort, ob er die Erlaubnis dazu hatte. Dieter bejahte das und wir freuten uns, dass er da war. Ganz fest habe ich ihn gedrückt und ihm erzählt, wie sehr ich auf ihn gewartet habe. Ich war unglaublich froh, dass er endlich gekommen war. Ein wenig kam er sich dabei auch wichtig vor.

Unsere Mutter konnte es nicht fassen, dass ihr kleiner Sohn allein mit der Straßenbahn gekommen war. So war es auch nicht mit dem Vater vereinbart worden. Sie hatte einmal im Monat Besuchsrecht, von einem Alleinbesuch des Kindes war nicht die Rede. Er war ja für so etwas auch noch viel zu klein. Von Halle zu uns musste man etwa zwei Stunden fahren und einmal umsteigen. Sie bohrte so lange nach, bis er mit der Sprache herausrückte.

Sooft sie konnte, war sie mit uns nach Halle zu ihren Pflegeeltern gefahren. Dieter hatte sich den Weg gemerkt. Er war zu Hause ausgerissen, ohne dass es sein Vater oder die Stiefmutter bemerkt hatten. Unsere Mutter machte ihm klar, dass sie ihn wieder zurückbringen mussste, auch wenn es ihr sehr wehtat. Es war nun einmal so festgelegt worden.

Traurig gestand Dieter, dass er ganz große Sehnsucht nach uns hatte. Aber es nutzte nichts; er musste zurück zu seiner neuen Familie. Bald machte sich meine Mutter mit ihm auf den Weg. Sie gab ihm noch ein Paket Sachen mit, die meinem großen Bruder nicht mehr passten. Schließlich war unser Vater von Beruf Schneider. In Halle angekommen, zeigte Dieter unserer Mutter den Weg, wo er jetzt wohnte. Zornig nahm der Vater ihn entgegen und sie fuhr zurück. Später erzählte sie, dass sie auf dem Rückweg geweint hatte, aber sie konnte nichts ändern. Sie musste ja froh sein, dass man ihr nach dem Selbstmordversuch nicht alle Kinder weggenommen hatte.

Dieter bekam Prügel und eine Woche Stubenarrest. Das erzählte er uns, als wir ihn besuchten und es tat uns sehr leid. Aber die Strafe half nicht. Er riss noch mehrmals aus. Die Sehnsucht nach seiner Familie war bei einem so kleinen Jungen einfach zu groß.

Eines Tages stand er wieder einmal mit einem kleinen Töpfchen Alpenveilchen vor unserer Tür. Ganz verschmitzt erzählte er, dass sein Freund Geburtstag habe und er deshalb Geld für Blumen bekommen hätte. Also dachten die Eltern, dass er bei seinem Freund wäre. Der Schwindel kam jedoch wieder raus. Danach kam der Vater voller Zorn zu uns. Die Stiefmutter war auch dabei. Wir Kinder mussten das Zimmer verlassen. Da ich durch Gespräche meiner Mutti mit anderen Frauen wusste, dass diese Frau uns den Vater weggenommen hatte, war ich wütend, dass sie da war. Der Vater hatte uns kaum beachtet. Mein großer Bruder litt besonders wieder unter dieser Kälte. Für mich war er ein fremder Mann, ich sah ihn ja erst zum zweiten Mal.

All das, was mein kleiner Bruder in seiner Kindheit erleben musste, hat ihn für sein ganzes Leben geprägt. Seine Sehnsucht nach Liebe, Wärme, und Geborgenheit bestimmte sein Leben, genauso wie seine Rastlosigkeit. Da er als Kind selbst weder Liebe noch Verständnis zu spüren bekam, konnte er diese wichtigen Eigenschaften später auch nicht seinen eigenen Kindern vermitteln.

Schutzengel gehabt

Eines Tages kam ich mit einem dicken Hals auf der linken Seite aus dem Kindergarten heim. Bald war auch mein Gesicht angeschwollen und ich bekam Fieber. Meine Mutter rief einen Arzt und ehe ich mich versah, war ich im Krankenwagen unterwegs ins Kreiskrankenhaus. Leider war hier kein Bett für mich frei. Eilig fuhr der Krankenwagen in ein Behelfskrankenhaus, das in einer Baracke untergebracht war. Eine Kinderstation gab es hier nicht, nur ein Bett in einem Sechsbettzimmer der Frauenstation war frei und die Frauen freuten sich, dass zur Abwechslung mal ein Kind zu ihnen gelegt wurde. Die Lymphdrüse an meinem Hals war vereitert und ich wurde noch am gleichen Tag operiert, jedoch ohne Erfolg. Die Ursache konnte nicht beseitigt werden und mein Zustand verschlechterte sich. Eile war geboten. Da es sehr schlimm um mich stand, hatte man meine Mutter verständigt, die sich sofort auf den Weg machte. Das Behelfskrankenhaus lag nahe der kleinen Stadt Freyburg an der Unstrut und die Anreise dorthin war sehr umständlich. Als meine Mutter mich sah, war sie fassungslos. Man erklärte ihr, dass sie sich auf alles gefasst machen müsse. Vier Operationen musste ich über mich ergehen lassen, bevor sich die Situation entspannte. Mein Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit geschwollen.

Da ich ein sehr zartes Kind war, lag die Vermutung nahe, dass ich unterernährt sei, doch ich war zum Leidwesen meiner Mutter ein schlechter Esser. Eine Frau im Zimmer pflegte mich besonders voller Liebe und Hingabe. Bald bemerkte sie, dass meine Mutter nicht oft kommen konnte, weil sie arbeiten musste. Die Frau konnte keine Kinder bekommen und hatte sich in den Kopf gesetzt, meine Mutter zu bitten, mich zur Adoption freizugeben. Oft erzählte sie mir, dass sie einen großen Bauernhof mit vielen Tieren habe. Ich könnte ein kleines Hündchen bekommen und auch Katzen seien da. Es gebe immer gute Wurst und frische Milch. Dann hätte ich auch ein eigenes Zimmer und viel Platz zum Spielen. Auch ihr Mann war von ihrer Idee angetan und beide konnte es kaum erwarten, mit meiner Mutter darüber zu reden. Je mehr die beiden um mich bemüht waren, desto mehr sehnte ich mich nach meiner eigenen Mutter. Die Fürsorge und Liebe dieser Frau taten mir gut, denn meine Mutter hatte kaum Zeit für mich, dennoch liebte ich sie über alle Maßen und konnte mir nicht vorstellen, sie je zu verlieren. Als meine Mutter von dem Anliegen hörte, dachte sie, es sei nur ein Scherz und lachte darüber. Aber die Frau betonte mit Nachdruck, dass sie es ernst meine und mich gern als Kind annehmen würde. Sie versprach, dass es mir bei ihr gut gehen würde. Es sollte mir an nichts fehlen und sie könnte mich ja auch hin und wieder besuchen. Das Ehepaar hatte sich in diesen Gedanken regelrecht verliebt. Da ich schon als kleines Kind sehr redselig war, hatte ich ausgeplaudert, dass mein Vater meine Mutter „in Stich gelassen habe“, und so glaubten sie, dass sie meiner Mutter damit auch helfen würden. Meine Mutter gab mich nicht her und für alle Frauen im Zimmer war es ein Schauspiel der besonderen Art. Bald danach konnte ich das Krankenhaus verlassen, denn das Bett wurde dringend gebraucht.

Einige Jahre später hatte ich noch einmal einen Schutzengel. Ich war etwa zehn Jahre alt. Es war Sommer und ich wollte mir an der Wasserleitung in unserem Garten eine Möhre abwaschen. Als sie mir aus der Hand fiel und ich sie aufheben wollte, griff ich in eine schmutzige Glasscherbe und verletzte mich. Schnittverletzungen waren bei mir keine Seltenheit und so spülte ich das Blut unter dem fließenden Wasser ab und vergaß bald den leichten Schmerz. Nach einigen Tagen entzündete sich jedoch die Schnittwunde und bekam einen gelben Rand. Ich fühlte, dass sie fiebrig wurde und in der Wunde pochte es. Es dauerte nicht lange, da entdeckte ich einen Streifen, der bereits bis in die Armbeuge reichte. Irgendjemand hatte mir mal erzählt, dass ein roter Streifen von einer Wunde in Richtung Herz eine Blutvergiftung sei. Dann müsse man schnell zum Arzt gehen, damit man nicht daran sterbe. So richtig wollte ich das nicht glauben, dennoch wurde ich unsicher. Meine Mutter hatte sich gerade für die Nachtschicht zum Schlafen hingelegt. Sie schlief immer zwei Stunden vor der Nachtschicht und befahl äußerste Ruhe. Mit Herzklopfen wartete ich, dass sie endlich aufwachen würde, um ihr den roten Streifen zu zeigen. So schlimm konnte es nicht sein, denn sie gab mir meinen Versicherungsausweis, schickte mich zu unserem Hausarzt und ging zur Arbeit.

Voller Angst rannte ich den ganzen Weg dorthin. In der Zwischenzeit fühlte ich mich richtig krank. Ich bildete mir ein, Schüttelfrost und Fieber zu haben. Als die Schwester sah, dass der Streifen bereits am Oberarm war, wurde ich sofort als nächster Patient in das Sprechzimmer gerufen. Damals war es keine Seltenheit, dass sich Kinder allein um sich selbst kümmern mussten, wenn die Eltern auf Arbeit waren. Der Arzt kannte mich und meine Mutter bereits seit einigen Jahren und wunderte sich deshalb keineswegs, dass ich alleine kam. Die Sprechstundenhilfe war die Frau des Arztes. Sie war ein wenig untersetzt und hatte einen kräftigen Busen, in den sie meinen Kopf drückte, als ich eine Spritze in die Hand bekam. Mit einem Auge sah ich das Skalpell, das aussah wie ein Klappmesser. Der Arzt schnitt damit in meine Hand. Trotz der Spritze tat es schrecklich weh. Vor Schmerz schrie ich in den Busen der Frau. Dann wurde die Wunde genäht und ich biss tapfer die Zähne zusammen. Als Belohnung bekam ich hinterher nicht nur einen Bonbon, sondern auch einen schicken weißen Verband mit einer Schiene. Jetzt waren mir das Mitleid und die Neugierde der Leute, besonders aber meiner Freundinnen, sicher. Der Arzt und seine Frau bestätigten mir Tapferkeit und ich war froh, alles überstanden zu haben. Meiner Mutter sollte ich ausrichten, dass es eine Blutvergiftung und „allerhöchste Eisenbahn“ gewesen war. Ich lief allein nach Hause. Zum Fäden ziehen ging meine Mutter dann mit und erschrak bei den Worten des Arztes doch ein wenig. Ich brauchte zu Hause nichts zu machen, sie half mir beim Anziehen und das war schön. Also wieder einmal Glück gehabt. Man braucht nun mal seinen Schutzengel!

Einen Schutzengel benötigte dann auch einmal mein Bruder Klaus. Es war Winter und der Feuerwehrlöschteich in unserer Siedlung war zuge­froren. Weit und breit war es die einzige Möglichkeit, wo man schlittern und Schlittschuhlaufen konnte, was ja alle Kinder reizt. Die Eisdecke war jedoch nicht besonders dick. Klaus war stolzer Besitzer von Schlittschuhen, was damals noch etwas Besonderes war. Leider rissen die scharfen Krallen oft die Absätze der Schuhe ab, man nannte sie auch „Backenreißer“. Schuhe waren teuer und man hatte in jeder Saison meist nur ein Paar, und die wurden getragen, bis es nicht mehr ging. Nachdem mein Bruder also einen prüfenden Blick und ein paar Steine auf den zugefrorenen Teich geworfen hatte, rannte er nach Hause, holte seine Schlittschuhe und stiefelte stolz zum Teich. Heimlich folgte ich ihm, denn er nahm mich ungern mit. Es waren bereits einige Kinder da, die versuchten zu schlittern. Mit einem kleinen Sechskantschlüssel leierte Klaus die Schlittschuhe an seinen Schuhen fest, betrat vorsichtig das Eis und machte ein paar wacklig gleitende, unbeholfene Bewegungen. Zunächst hielt die Eisdecke, aber bei jedem Schritt knisterte, knackte und summte es leise. Er ignorierte das drohende Geräusch. Plötzlich aber krachte es richtig und mein Bruderherz brach ein. Ein Feuerlöschteich ist ja bekanntlich nicht sehr groß, aber manchmal dennoch tief. Klaus steckte bis unter die Achseln im eiskalten Wasser. Zum Glück war der Teich nicht randvoll mit Wasser. Mit jeder verzweifelten Bewegung, sich mit den Ellenbogen hochzustemmen, brach das Eis Stück für Stück ab. Zwei Jungen, die vom Rand aus dem riskanten Unternehmen meines Bruders zugeschaut hatten, holten geistesgegenwärtig eine herumliegende Zaunlatte und schoben sie ihm auf dem Eis entgegen. Klaus klammerte sich daran fest, robbte auf dem Eis so weit es ging vorwärts und die beiden zogen ihn mit vereinter Kraft heraus. Mit einer verlegenen Miene, triefend vor Nässe und klappernd vor Kälte stand mein unglücklicher Bruder da. Es war Nachmittag und unsere Mutter war auf Arbeit. Die anderen Kinder, die ebenfalls die Eisfläche betreten hatten, wichen erschrocken zurück. Voller Angst hatte ich dem Treiben zugesehen. Ich rannte zu ihm hin und gemeinsam liefen wir schnell nach Hause. Schlotternd und klappernd versuchte er sich in der warmen Küche von den nassen Sachen zu befreien. So gut es ging, wusch er sie im Waschbecken aus. Das Wasser im Löschteich war nie sauber, denn es war ja ein stehendes Gewässer. Entsprechend rochen die Sachen dann auch. Wir mussten uns beeilen, denn bald kam unsere Mutter nach Hause. Sie durfte nichts merken, denn sie hatte uns verboten, zum Löschteich zu gehen. Jedes Jahr brachen dort Kinder im Eis ein. Sicher hätte er ein paar hinter die Ohren bekommen, sie fackelte nie lange. Die Wasserspuren auf der Treppe hatte ich auch schnell beseitigt. Alles ging gut. Die Sachen wurden auf den Trockenboden nebenan zum Trocknen aufgehängt und mit einem heißen Fußbad und dem Rücken am warmen Kachelofen im Wohnzimmer hatte sich mein Bruder bald wieder erwärmt. Zwischen uns beiden herrschte tiefster geschwisterlicher Frieden. Nun hatten wir ein gemeinsames Geheimnis und ich konnte sogar mal meinen Mund halten. Später war die ganze Sache völlig vergessen – war ja auch nicht weiter wichtig. Auf das Eis ging mein Bruder so schnell nicht wieder, zumindest nicht, wenn es nicht dick gefroren war.

Ein anderes Mal löste Klaus beinahe eine Katastrophe aus. Es war an einem Silvestertag. Geld für Knallkörper gab es nie. Es hatte sich unter den Freunden meines Bruders herumgesprochen, wie man Knallkörper selbst herstellen konnte. Man brauchte nur „Unkraut-Ex“, das es problemlos in jeder Drogerie gab. Das war ein Unkrautvernichtungsmittel in kristalliner Form. Mit ein wenig Wasser wurde es aufgelöst, Löschpapier oder auch Zeitungspapier damit getränkt und anschließend getrocknet. Bald sah man, wie sich auf dem Papier winzige Salzkristalle bildeten. Die weitere Verarbeitung bis zum Knaller war das große Geheimnis der Jungen, aber es funktionierte. Zündete man das fertige Kunstwerk an, gab es einen lauten Knall und es schoss sogar davon. Dabei stank es fürchterlich. Die Sache war nicht ungefährlich und wurde uns Kindern streng verboten, weil es zu schweren Brandverletzungen kommen konnte.

Mein Bruder hatte beschlossen, sich solche Knaller herzustellen. Es war bereits später Nachmittag, noch nichts war für den nächtlichen Spaß fertig und bald wollte er sich mit seinen Freunden treffen. Ein paar Blätter waren getrocknet. Die Ofenplatte in der Küche glühte beinahe, als Klaus eine Idee hatte. Er legte eine getränkte große Seite Zeitungspapier vom „Neuen Deutschland“, der größten Zeitung der DDR, auf den Ofen, um den Trockenvorgang zu beschleunigen. In rasender Geschwindigkeit trocknete das Papier und ehe wir uns versahen, entstand mit einem fauchenden Geräusch eine riesige Stichflamme. Wir erschraken uns beinahe zu Tode. Neben dem Ofen war zum Glück das Waschbecken. Geistesgegenwärtig drehte er den Wasserhahn auf und goss mit beiden Händen mehrfach Wasser auf das brennende Papier, das dann stinkend und in kleinen Fetzen auf der Ofenplatte lag. Wir rissen das Fenster auf, wedelten mit Küchentüchern den Qualm hinaus und kratzten eifrig das verbrannte Papier vom Ofen. Unsere größte Sorge war, dass Mutter etwas bemerkte. Mit Sicherheit wäre es uns beiden schlecht ergangen. Gemütlich saß sie im warmen Wohnzimmer am anderen Ende des langen Flurs und hatte gerade ein wenig geschlafen. Vorsichtshalber verließen wir die Küche nicht, sodass der Geruch im Raum blieb. Als sie später in die Küche kam, waren alle Spuren beseitigt und wir setzten eine harmlose Miene auf. Es roch zwar noch etwas merkwürdig, aber wir behaupteten, dass der Geruch von draußen käme. In der Winterzeit roch es oft nach Kohlendioxid, denn in den Häusern gab es nur Kohleheizung. Klaus drohte mir noch Prügel an, wenn ich etwas verraten würde. Später traf er sich mit anderen Jungen aus der Klasse und war mit sich und der Welt vollkommen zufrieden, schließlich hatte er ein paar Knaller und keinen häuslichen Ärger. Obwohl ich immer eine Plaudertasche war, wagte ich nicht, meiner Mutter von dem ungewollten gefährlichen Feuerwerk in der Küche zu erzählen. Meinen Bruder habe ich nie verraten, weil ich gern seine liebe Schwester sein wollte. Doch seine liebe Schwester zu sein, ließ er nie zu.

Allein am Heiligen Abend