Und Marx stand still in Darwins Garten - Ilona Jerger - E-Book
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Und Marx stand still in Darwins Garten E-Book

Ilona Jerger

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Beschreibung

England, 1881. Zwei bedeutende Männer leben nur wenige Meilen voneinander entfernt: Charles Darwin in einem Pfarrhaus in Kent und Karl Marx mitten in London. Beide haben mit ihren Werken, der eine zur Evolution, der andere zur Revolution, die Welt für immer verändert. Beide wissen es und sind stolz darauf. Und doch sind sie schlaflos und melancholisch. Darwin hat den Schöpfer abgeschafft, fühlt sich missverstanden und forscht inzwischen still am Regenwurm. Marx grollt der Welt, wartet ungeduldig auf ein mutiges Proletariat, das den Kapitalismus hinwegfegt, verzettelt sich beim Schreiben und kommt über Band 1 des 'Kapitals' nicht hinaus. Eines Abends begegnen sich die beiden bei einem Dinner zum ersten Mal. Schnell kreist ihre Diskussion um Gott und Gerechtigkeit — doch unausweichlich kommt es zum Streit, und der Abend endet in einem Eklat. Dennoch haben der großbürgerliche Naturforscher und der ewig klamme Revolutionär mehr gemeinsam, als sie sich eingestehen wollen.   In ihrem wunderbaren Roman verbindet Ilona Jerger Fabulierlust mit wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Erkenntnissen, die den Weltenlauf maßgeblich beeinflusst haben. Ein warmherziges und humorvolles Porträt zweier großer Männer, deren Disput zeitgemäßer nicht sein könnte.  

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Seitenzahl: 330

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Das Buch

England im Frühjahr 1881: Charles Darwin forscht schlaflos am Regenwurm und beobachtet sein Treiben in eigens dafür aufgestellten Wedgwoodschüsseln. Was ihn wirklich wachhält: Er fürchtet sich davor, als »Gottesmörder« in die Geschichte einzugehen. Selbst seine Frau Emma bittet ihn vergeblich, sich Gott wieder zuzuwenden. Neben der Schlaflosigkeit plagen ihn Übelkeit und unerträgliche Flatulenzen. Zum Glück hat er seinen Hausarzt Dr. Beckett, mit dem er diskutieren kann, ohne missverstanden zu werden. Wenige Meilen entfernt arbeitet Karl Marx am zweiten Band von Das Kapital. Nach seiner Flucht aus Deutschland lebt er seit langem als staatenloser Immigrant in London. Er hadert mit dem englischen Wetter, er vermisst seine Frau Jenny und seine längst erwachsenen Kinder, und er kommt mit dem Schreiben nicht voran. Als er ernsthaft krank wird und ihm für eine Behandlung das Geld fehlt, schickt sein betuchter Freund Friedrich Engels ihm Dr. Beckett. Der Arzt ist fasziniert von den beiden Patienten und ihren Theorien. Nicht immer nimmt er seine Schweigepflicht ernst, wenn er mit dem einen über den anderen spricht. In seinen Augen haben der großbürgerliche Naturforscher und der ewig klamme Antikapitalist mehr gemeinsam, als sie sich eingestehen wollen. Schließlich kommt es zu einem Treffen. Was als furioses Streitgespräch beginnt, nimmt eine überraschende Wendung.

Die Autorin

Ilona Jerger ist am Bodensee aufgewachsen und studierte Germanistik und Politologie in Freiburg. Von 2001 bis 2011 war sie Chefredakteurin der Zeitschrift »natur« in München. Seither arbeitet sie als freie Journalistin. Und Marx stand still in Darwins Garten ist ihr erster Roman.

Ilona Jerger

Und Marx stand still in Darwins Garten

Roman

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ISBN 978-3-8437-1582-9   

© 2017 © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Covergestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg Covermotive: © Arcangel und Fotolia

E-Book: L42 AG, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt
Cover
Das Buch/Die Autorin
Titelseite
Inhalt
Strafe für den Ketzer
Der Regenwurm
Emma und die Tauben
Der deutsche Patient
Arzt ohne Gott
Das weinende Pferd
Der Gottesmörder
Der Jude aus Trier
Das Billardspiel
Muscheln der Erkenntnis
Tischgebet mit Ungläubigen
Herzschmerzen
Der Tod und die Wette
In den Klauen der Kirche
In den Hügeln von Kent
Der untote Tote
Fakten und Fiktion
Danke
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

Strafe für den Ketzer

Charles hatte, als ihm die drei Gestalten am Zaun auffielen, gerade darüber nachgedacht, was eine Heckenbraunelle empfindet, wenn sie mehr als hundert Mal am Tag für eine Zehntelsekunde kopuliert. Diese Frage lastete noch immer auf seiner Seele, denn er hegte keinerlei Zweifel daran, dass Tiere fühlen können. Doch wie sollte er es beweisen? Nachdem er die vielen noch nicht ausgewerteten Messreihen und Notizen zu seinem fortgeschrittenen Alter in Beziehung gesetzt hatte, war ihm der Schweiß ausgebrochen. Von den unvollendeten Protokollen zum Balzverhalten blinder Käfer ganz zu schweigen.

Doch nun hatte er plötzlich andere Sorgen, denn er musste wildfremden Menschen bei der Überwindung seines Zauns zusehen. Was um Himmels willen hatte das zu bedeuten?

Während die drei sich gegenseitig halfen, nicht mit ihren Röcken und Hosen im Zaun hängenzubleiben, versuchte Charles, die Schweißperlen wegzuwischen, und wunderte sich, dass seine Hand trocken blieb, obwohl er die Nässe auf der Stirn doch deutlich spürte. Es war verwirrend. Offensichtlich, so erklärte sich Charles das Befremdliche, war er zerstreut. Ihm war, während die drei nach dem gelungenen Grenzübertritt ihre Kleidung zurechtzupften und abklopften, auf seiner Chaiselongue im Arbeitszimmer liegend, heiß und gleichzeitig kalt.

Er tastete nach der Kaschmirdecke, versuchte sie bis zum Kinn zu ziehen, doch er verhedderte sich mit den Füßen darin, so dass sie ihn, je mehr er strampelte, umso mehr gefangen hielt. Ein scheußliches Gefühl.

Es waren zwei Männer und eine Frau. Den Blick auf den Boden geheftet und in auffallend geneigter, um nicht zu sagen: gekrümmter Haltung betraten sie den Sandweg. Im Ausdruck düster. Was auch von den schwarzen Gehröcken und Kopfbedeckungen herrühren mochte.

Die drei blieben bei den Haselnusssträuchern stehen und besprachen sich. Charles sah, wie die Frau sich bekreuzigte und der kleinere der beiden Männer, ein stämmiger, halsloser Bauer im Sonntagsgewand, in Richtung Eiche wies. Daraufhin schritten sie, deutlich schneller werdend, dem Hauseingang zu. Der steif liegende und fröstelnde Charles bemerkte, dass es Sonntag war und kein Gärtner anwesend, der sie hätte ermahnen können. Seine Frau Emma und Butler Joseph waren im Gottesdienst. Vielleicht waren sogar die Hausmädchen in der Kirche. Und er vollkommen allein. Selbstredend würde er auf das Läuten der Türglocke hin nicht öffnen, und wenn Polly – wo überhaupt war Polly? – ihr helles aufgeregtes Bellen hören ließe, dann würden die drei, wahrscheinlich waren es irische Bettler, sicherlich wieder abziehen, auch aus Respekt vor den Foxterrierzähnen.

Kurz vor Erreichen des Hauses zeigte der größere und dünnere der Männer plötzlich zum Gewächshaus hin. Da machten sie auf der Stelle eine Kehre. Charles rang mit der Decke und seiner Atemlosigkeit. Was wollten sie in seinem Gewächshaus? Das waren keine Bettler. Womöglich waren es Diebe.

Dann ging alles sehr schnell. Kaum im Inneren des Gewächshauses angekommen, fiel die Frau auf die Knie, bekreuzigte sich, stand wieder auf und half dem Stämmigen bei der Arbeit. Sie warfen sämtliche Töpfe, egal ob hängend oder auf Tischen stehend, zu Boden.

Immer wenn der große Dünne ein Signal gab, hielten die beiden Täter inne, senkten die Köpfe und schienen zu beten. Dann folgte der nächste Akt der Zerstörung. Kein noch so kleines Pflänzchen blieb verschont. Charles erkannte mit einem Schlag, dass es so weit war: Orthodoxe Christen waren dabei, sein Anwesen zu erobern.

Seine Kehle war trocken und brannte wie nach einem Marsch durch das Fegefeuer. Ein heiserer Notschrei befreite sich aus seinen verkrampften Bronchien. Worüber er heftig erschrak. Das Herz hämmerte, er wollte aufstehen, um wenigstens die in Salmiak eingelegten Saubohnen zu retten, sonst müsste er das Experiment, das ihn seit Wochen beschäftigte, wieder von vorne beginnen. Doch die Beine gehorchten ihm nicht.

Kurz erwog er, die Decke über den Kopf zu ziehen, damit sie ihn nicht finden konnten. Wo war Polly? Er wusste es nicht. Und vermisste sie schmerzlich. Tränen rannen in seinen Bart. Vielleicht sollte er diesen bei Gelegenheit abrasieren? Die Vorstellung, das Gesicht zu offenbaren, seine blasse Haut freizulegen, wie er es früher auf geologischen Expeditionen mit Stein- und Erdschichten getan hatte, um deren Alter und Beschaffenheit zu erkunden, schien ihm auf einmal reizvoll. Er hatte das Bedürfnis, in den Spiegel zu schauen. Doch dazu war jetzt keine Zeit.

Da hörte er, wie der Drehknauf quietschte und die Tür aufflog. Die drei konnten unmöglich durch den Haupteingang ins Haus gelangt sein. Wahrscheinlich hatte das Küchenpersonal die Hintertür offen gelassen. Kaum in Charles‘ Zimmer angekommen, fiel die Frau auf die Knie. Die beiden Männer taten es ihr nach. Den Blick zur Decke gerichtet, bekreuzigten sie sich sieben Mal. Dann erhoben sie sich. Die Frau und der Stämmige schritten zum Schreibtisch. Dort lag ein noch unaufgeschnittenes Buch. Der Stämmige nahm es, griff nach dem Messer, säbelte wüst darin herum und gab grunzende Laute von sich, während die Frau jedes Blatt, das sie finden konnte, kurz und klein riss.

In der Zwischenzeit hatte der Dünne den Schrank mit den Schubladen entdeckt und befahl dem Stämmigen, ans Werk zu gehen. Was dieser auf der Stelle tat. Er war außer sich vor Freude, als er die Mengen fein sortierter Papiere entdeckte und verstand, dass er hier den Grundstock der gotteslästerlichen Theorie vernichten konnte.

Plötzlich klirrte es. Ein in Spiritus konservierter Fink fiel herunter, nachdem die Frau mit dem Hintern ans Regal gestoßen war. Sie erschrak und brachte durch eine ungeschickte Drehung ihres Körpers das ganze Regal ins Wanken. Erst stürzten einzelne, dann mehrere Gläser gleichzeitig um. Das Getöse war überwältigend.

Aufgewühlt von den toten Fischen, den Kaninchen- und Taubenembryos sowie Dutzenden sezierter Fliegen- und Hummelaugen, fing sie an, mit den Armen zu rudern und zu wedeln, bis auch das zweite Regal mit den ausgestopften Tieren umfiel. Auf einmal brach sie zusammen und begann zu heulen.

»Memento mori«, entfuhr es dem Dünnen. Kurz danach, die Spiritussuppe mit den Tierleichen fest im Blick, ergänzte er mit der Stimme des Verkünders: »Mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen.« Charles hörte das Blut in seinen Ohren rauschen und Spiritus von den Regalbrettern tropfen.

Da kamen ihm schlagartig Zweifel. War es möglich, dass er träumte? Der Stämmige nahm Schwefelhölzer aus seiner Hosentasche und zündete grinsend eines an. Als die Flamme aufleuchtete, glänzte sein Gesicht rot, gelb und orange. Charles erschrak. Diese glühende Fratze kannte er.

Sein Fink, der am Boden lag, fing Feuer. Seltsamerweise brannten nicht die Federn, sondern der Schnabel. Die Flamme züngelte senkrecht von der Schnabelspitze empor. Er beschloss, ein Experiment zu machen, um herauszufinden, ob das Horn verschiedener Finkenschnäbel unterschiedlich brennbar war. Wahrscheinlich müsste er dazu ein weiteres Mal nach Galapagos reisen, um frische Finken zu schießen.

Der Spiritus auf den Regalbrettern, im Teppich und auf den Papierfetzen brannte wie Zunder. Wenigstens die Erstausgabe seines Werks Über die Entstehung der Arten sollte nicht in Flammen aufgehen. Ein stechender Schmerz in seiner Brust hinderte ihn, das Buch zu retten, und ließ ihn wie von Sinnen schreien. Währenddessen brüllten die Orthodoxen im Chor: »Schuldig, schuldig!« Dann verschoben sich die Töne und der Hall wurde immer stärker. »Schuldig! Schuldig!« Seine Chaiselongue fing an zu brennen, Charles bebte und spürte, wie der Feuertod nach ihm griff.

Er erwachte.

Nass geschwitzt, mit rasendem Herzen und Kopfschmerzen, setzte er sich auf. Schon länger hatte ihn dieser Alptraum nicht mehr heimgesucht. Es hatte Zeiten gegeben, da war er regelrecht von ihm verfolgt worden. Jede einzelne Station kannte er bis ins Detail und immer hatte er noch nach Stunden den Gestank von Spiritus und verbranntem Horn in der Nase. Was ihn zusätzlich verdross, war, dass er schon während des Traums ahnte, dass es nur ein Traum war.

Und jedes Mal, an der Bruchkante zwischen Schlaf und Erwachen – jener teuflischen Stelle, an der die Menschen noch keine Macht über ihre Gedanken haben, diese aber umso mehr über den Aufwachenden –, stand ihm der Satz vor Augen: Das ist die gerechte Strafe für den Kaplan des Teufels.

Der Regenwurm

Frierend saß er im Bett, den Kopf in beiden Händen, und stöhnte. Nur die Regenwürmer würden seinen Schmerz jetzt lindern können. Charles tastete nach den Streichhölzchen, zündete die Kerze auf dem Nachttisch an, schaute auf seine Taschenuhr und war wieder einmal untröstlich, dass er damals die goldene Uhr seines verehrten Herrn Papa für einen Billardtisch verhökert hatte. Sofort versuchte er derlei Gedanken über Verhaltensweisen, die in der Vergangenheit lagen und die man naturgemäß nicht mehr ändern konnte, an ihrer Ausbreitung zu hindern. Denn hatten sie einmal die Gelegenheit bekommen, ihre deprimierende Wirkung in allen Gliedern zu entfalten, war es schwer, zu einer schöneren Sichtweise des Lebens zurückzufinden.

Charles wunderte sich, warum er in diesen durch Alpträume und Schlaflosigkeit zerstörten Nächten, in denen er doch ohnehin schon gestraft genug war, auch noch dazu neigte, sich mit Vorwürfen zu traktieren; er es nicht lassen konnte, der nächtlichen Verzweiflung über das Herumwälzen weitere drückende Gedanken hinzuzufügen. Und dies alles in der bangen Erwartung des Zerschlagenseins am folgenden Tag. Es war schrecklich. Das Erforschen des Schlafs oder eben des Nichtschlafs mit den dazugehörenden Abläufen im menschlichen Körper erschien Charles wie eine riesige wissenschaftliche Brachfläche. Dieses Feld jedoch müssten andere umgraben, auf ihn warteten im unteren Stockwerk die Regenwürmer mit ihrer stillen Tätigkeit: der Bildung von Ackererde.

Er sah, dass es drei Uhr war, stand auf, suchte, vom Kopfschmerz gereizt, im Halbdunkel nach seinem Wollschal und schlich so leise wie möglich die Treppe hinunter. Während die rechte Hand am Treppengeländer Halt suchte, überlegte er, wie lange er eigentlich noch auf den nächsten Besuch von Doktor Beckett warten musste. Dieses Mal war der Abstand etwas länger, da Doktor Beckett auf ein neues Mittel gegen Kopfschmerzen wartete, das, so hatte er angekündigt, Anlass zur Hoffnung auch bei der Behandlung chronischer Migräne gebe, besonders jener mit ausgeprägter Übelkeit. Schon dieses Hoffen verschaffte Charles eine kleine Erleichterung. Außerdem waren Doktor Becketts Hausbesuche stets willkommen und stimmten ihn, bereits Tage zuvor, in Maßen zuversichtlich. Er mochte die Gespräche mit seinem Arzt, weil dieser dem wissenschaftlichen Fortschritt zugeneigt war, und auch, weil er recht couragiert neue Heilmethoden erprobte.

Charles tastete sich vorsichtig durch sein Arbeitszimmer, um ja nicht den Boden zu erschüttern. Und um bloß nicht über einen der Töpfe zu stolpern. Dann wären die Würmer für das Experiment verloren. Jedenfalls für diese Nacht. Vielleicht hätte er bei der Bestellung des Geschirrs präzisere Angaben machen sollen. Denn weiße Schüsseln wären in dieser Dunkelheit sicherlich besser zu erkennen gewesen. Vor einigen Wochen hatte er bei der Keramikfabrik in Etruria um eine Fuhre Steingut gebeten, immerhin war seine Frau Emma eine geborene Wedgwood. In einem Brief an die Geschäftsleitung hatte er geschrieben, man solle doch bitte Ausschuss schicken, er brauche Töpfe aller Art für neue Versuche. Dass es sich dieses Mal nicht um Clematis und Primula handelte, hatte er verschwiegen. Doch vermutlich hätten die Wedgwoods ihre »Queen’s Ware« und die missratenen Kopien etruskischer Vasen auch für Würmer hergegeben, denn Charles Darwin war in jenen Tagen des Vorfrühlings 1881 schon seit Jahrzehnten ein berühmter Mann. Seine Bücher wurden in allen Erdteilen gelesen, was sich auf den Postsack auswirkte, der ihm täglich zugestellt wurde: Auf Südseeinseln rupften Botaniker Wurzeln aus der Erde, in Brasilien klebte ein Naturfreund Schmetterlingsflügel aufs Briefpapier, in Lappland vermaßen Einwohner Elchgeweihe. Aus allen Himmelsrichtungen kamen Fundstücke und Fragen. Manches war kostbar, vieles lästig. Beobachtungen zum Fußknöchelchen einer Taube oder die minutiöse Beschreibung einer Affenmähne in Kalkutta, alles landete in Down House. Und natürlich ging es in vielen Briefen, die ihn erreichten, um die Frage nach Gott: Brauchte es in der Welt, die von den Gesetzen der Evolution vorangetrieben wurde, noch einen Schöpfer?

Die Hälfte aller Narren aus der ganzen Welt schreibe ihm, um die dümmsten Fragen zu stellen, hatte Charles noch am Tag zuvor beim Dinner gemurrt. War sein Kopfschmerz besonders bohrend, kam es vor, dass er einen Briefschreiber harsch abfertigte: »Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ich nicht an die Bibel als göttliche Offenbarung glaube und daher auch nicht an Jesus Christus als den Sohn Gottes.«

Jedenfalls war, wenige Tage nach Darwins Gesuch, eine Kutsche aus der Wedgwood-Töpferei mit drei großen scheppernden Kisten in Down House eingetroffen. Und nun, in diesen schlaflosen Stunden, würde Charles seine Würmer mit einer Paraffinlampe anleuchten. Auf das Kerzenlicht in der Nacht davor hatten die Tiere nicht eindeutig reagiert. Einige hatten sich in die Erde zurückgezogen, andere nicht.

Charles nahm seine Wurmlisten aus dem Schreibtisch und legte Stoppuhr und Stift bereit. Er wollte endlich herausfinden, ob und wie diese Wenigborster, die des Nachts umherwanderten – und sei es auch nur im beengten Umkreis der Wedgwood-Schüsseln –, auf Helligkeitsreize reagierten. Dass sie taub waren, hatte er bereits bewiesen. Die Würmer hatten nicht einmal auf die Trillerpfeife seines Enkels Bernard reagiert, der ganz wild war auf diese Versuche und mit roten Backen das jeweilige Kommando des Großvaters erwartete. Aufgeregt hatte er die Luft angehalten, um im entscheidenden Moment mit aller Kraft seine Lungen in den Dienst der Forschung zu stellen. Und jedes Mal war er bitter enttäuscht, dass die Würmer nicht reagierten, so stark er auch geblasen hatte.

Emma nahm deren offenkundige Taubheit gelassener hin. Charles hatte ihr zwei Töpfe auf einen Tisch neben das Klavier gestellt, mit einer feinen Glasplatte bedeckt, damit kein Luftzug das Experiment verfälschte. Egal, ob sie Schubert oder Händel spielte, sie hörten einfach nichts. Warum auch hätte der Herrgott einem Wesen, das untertage immerzu Erde fraß, Ohren mitgeben sollen?

Charles antwortete ihr auf derlei Fragen schon lange nicht mehr, er lächelte und schwieg. Als er ihr jedoch mit verschmitztem Gesicht und begleitet von einem kleinen Wangenkuss die Töpfe direkt aufs Klavier gestellt hatte, geschah das Erhoffte. Emma schlug ein tiefes C an, woraufhin die Würmer sich sofort in ihre Löcher verkrochen. Kaum lugten sie wieder hervor, gab Charles mit zitternder Hand erneut den Einsatz, diesmal für ein G im Diskant, und wieder fuhren die Würmer rapid in ihre Höhle zurück. Charles las die Stoppuhr, jubelte, was Emma etwas übertrieben fand, und kritzelte die Ergebnisse in seine Liste, sekundengenau. Sooft die beiden den Versuch wiederholten, es war immer das gleiche Spiel: Der Regenwurm spürte offenbar Schwingungen und Erschütterungen, die durch den Resonanzboden des Klaviers via Topf und feuchte Erde zur Wurmhaut drangen, er war aber tauber als Beethoven, wie Emma hochzufrieden feststellte. Denn hörende Würmer wären ihr in Gottes wohlgestaltetem Reich widersinnig erschienen.

Im fahlen Licht des Mondes, der hälftig und schief am Himmel über der Grafschaft hing und seinem Arbeitszimmer mit all den Werkzeugen des tüchtigen Naturforschers und den in Spiritus eingelegten Zeugnissen seltener Anatomien etwas Unheimliches verlieh, nahm Charles vorsichtig Schirm und Zylinder von der Paraffinlampe ab. Er zündete den Docht an und wartete, bis die Flamme aufhörte zu flackern und sich in eine wohlgeformte ovale Gestalt verwandelte. Er mochte diesen Übergang und nahm das friedliche Licht in sich auf. Das Aufgewühlte, das ihn seit Jahrzehnten aus dem Bett trieb, diese bittere Melange aus Schlaflosigkeit, Fehlverdauung und nervösem Kopfweh, begann sich in diesem Augenblick zu mäßigen.

Charles näherte sich dem ersten umherwandernden Wurm, der blitzartig in der Erde verschwand, sobald das Licht ihn erhellte. Der nächste Wurm reagierte nicht. Der übernächste auch nicht. Dann schoss wieder einer zurück. Das Ergebnis war unbefriedigend.

Charles betrachtete in Ruhe die Darmausgüsse seiner Schützlinge und dachte nach. Vielfach wiederholte er sein Experiment, er brauchte genügend Zahlenmaterial. Doch auch wenn die Tiere sich nicht sofort zurückzogen, nach einer Weile taten sie es immer. Diese Bummler aber machten etwas, was er mit besonderer Hingabe beobachtete: Sie hoben in aller Langsamkeit, als wollten sie kein Aufhebens machen, das vordere, sich verdünnende Ende ihres Körpers vom Boden hoch und verrieten in dieser Haltung, dass ihre Aufmerksamkeit erregt war und sie eine Art von Überraschung spürten. Charles gefiel diese Vorstellung des feinfühligen, einen Grund für die Aufregung suchenden Wurms und betrachtete die Nachtwanderer anerkennend.

Manchmal bewegten die augenlosen Tiere dabei ihren Körper von einer Seite zur anderen, als ob sie nach einem Gegenstand tasteten. Er vergaß den schmerzenden Kopf und kritzelte in sein Notizbuch: »Der Regenwurm ist ein furchtsames Wesen. Da diese Tiere keine Augen haben, müssen wir annehmen, dass das Licht durch die Haut durchtritt und in irgendeiner Weise ihre Nerven reizt. So sind sie in den Stand gesetzt, zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden. Ausnahmslos ziehen sich beleuchtete Würmer innerhalb von fünf bis fünfzehn Minuten in ihre Höhlen zurück.«

Die ganze Nacht fuhren die Tiere fort, sich so zu benehmen. In den frühen Morgenstunden wurde Charles Zeuge einer Regenwurmliebe. Er verscheuchte aufkeimende Skrupel und begann, das Pärchen unter Lichtbeschuss zu setzen. Vergnügt stellte er fest, dass die geschlechtliche Leidenschaft stark genug war, ihre Furcht vor der Beleuchtung zu überwinden. Schon als sie einander den Hof machten, waren die beiden nicht bereit, sich durch Helligkeit von ihrem Ansinnen abbringen zu lassen.

Charles hatte es sich mit seiner Stoppuhr im Lehnstuhl gemütlich gemacht, und während diese die langen Minuten der Paarungszeit zählte, gähnte er zufrieden. Er stellte die Paraffinlampe neben die beiden Würmer, die Bauch an Bauch miteinander waren, nestelte leicht fröstelnd an seinem Wollschal herum und hatte genügend Zeit, den Koitus dieser rosafarbenen Erdenbürger im Licht der Evolution zu betrachten.

Bereits vor Jahren hatte er unterm Mikroskop Hoden und Eierstöcke, über die jedes Regenwurm-Individuum gleichermaßen verfügt, lokalisiert und freigelegt. Er wusste also seit langem um das Zwitterhafte dieser Wesen und dass es nicht nur möglich war, sondern durchaus, wenn auch selten, vorkam, dass ein Wurm das Geschlechtliche mit sich selbst ausmachte, also seine Eizelle mit den eigenen Spermien befruchtete. Und auf diese Weise Kopien seiner selbst anfertigte. Schon früh hatte er in seinen Notizbüchern festgehalten, dass derartige Eigenbrötler für das Weiterbestehen einer Art weniger erfolgversprechend seien als die Geselligen, die danach strebten, einen oder noch besser viele Partner zu finden, um vermittels Kopulation ihre unterschiedlichen Erbanlagen in freudiger Erregung zusammenzutragen, zu mischen und somit Neues zu kreieren.

Sein halbes Leben hatte er darauf verwendet, zu belegen, warum die einen Arten ausstarben, andere es hingegen schafften, den Herausforderungen neuer Lebensbedingungen zu trotzen und sich anzupassen. Jedenfalls wenn man die Sache über weite Zeiträume betrachtete, was Charles’ Wesen ohnehin mehr entsprach als das Schnelle und Spontane. Naturgemäß schlug sich seine Langsamkeit auch in der Art zu arbeiten nieder: Bevor er eine Idee preisgab, schon gar in Buchform, musste jahrzehntelang gedacht, geforscht und gezaudert werden.

Während sich die beiden Würmer schweigend im Schein der Lampe räkelten, nahm Charles die ordentlich zusammengefaltete Wolldecke, die auf der Lehne seines Sessels bereitlag, wickelte sie um seine kalten Schultern und ließ die Gedanken treiben. Da die Würmer in ihrer stummen Verrichtung keinerlei Ablenkung boten, lauschte Charles seinem eigenen, sich im inneren Dickicht vollziehenden, durchaus fahrigen Vortrag. In der Stille schlafloser Nächte geschah es immer wieder, dass er seine Erkenntnisse, egal, wie lange zurück er sie gewonnen hatte, vor sich hin repetierte. So als wollte der Greis sich versichern, dass all seine berühmt gewordenen Gedanken noch in ihm waren.

Auch im Schein der Paraffinlampe empfand er seine Theorie der Entwicklung allen Lebens nicht nur als folgerichtig, sondern von großer natürlicher Schönheit. Für ihn hatte die Vorstellung der fortwährenden Evolution zudem etwas Tröstliches. Wenn alles fließt. Nie etwas fertig ist. Die Reise immer weitergeht, die Natur sich im ständigen Wandel befindet. War doch durch diese kontinuierliche Umbildung immerzu die Möglichkeit zur Verbesserung gegeben.

Ihm gefiel die Vorstellung, dass auch unser Globus nicht als einmal geformter Klumpen die Sonne umkreiste, sondern durch Vulkanausbrüche, Fluten oder Felsstürze seine Gestalt fortlaufend veränderte. Nie würde er seine eigene Erschütterung vergessen, als er im Süden Chiles Zeuge eines gewaltigen Erdbebens geworden war. Als er, während seiner Weltreise, zufällig sehen konnte, wie sich die Küste durch das verheerende Beben dauerhaft anhob. Seither waren 46 Jahre vergangen, und die Empfindungen, die ihn damals überwältigt hatten, hatten sich mit den Jahrzehnten wie Sediment in seinen Gliedern abgelagert. Charles mochte es, die verschiedenen Schichten dieser Ablagerungen unter die Lupe zu nehmen, als wäre er mit dem Geologenhämmerchen im Gelände unterwegs und nähme Proben seiner eigenen Vergangenheit.

Es war am 20. Februar 1835 gewesen, um halb zwölf Uhr vormittags. Ein unheimliches Schwanken des Bodens hatte ihn schwindelig gemacht. Es glich der Bewegung eines Schiffes im kleinen Wellenschlag von querab, deren Folgen eigentlich nur Seekranke schildern können. Plötzlich wälzte er sich samt Pferd, auf dem er gerade ritt, auf der Erde. Kaum war er wieder aufgestanden, wurde er erneut umgeworfen. Den Mund voller Staub, folgte Stoß auf Stoß. Das Land überzogen mit Donnergrollen. Überall Menschen, die auf Händen und Knien krochen und fliegenden Balken auswichen. Das Schütteln dauerte nur zwei Minuten. Danach: die Küste mit Möbeln übersät. Neben Stühlen, Tischen, Bücherregalen lagen nahezu vollständige Hausdächer herum. Triefende Felsbrocken, an denen noch Muscheln festsaßen, waren dem Meeresboden entrissen und weit den Strand hinaufgeschleudert worden. Das Meer aufgewühlt. Der Boden an vielen Stellen in Nord-Süd-Richtung einen Meter breit aufgeplatzt und der Himmel von einer Staubwolke verdunkelt.

Überall brachen Feuer aus, Menschen schrien. Kurz danach raste eine große Welle mit unwiderstehlicher Gewalt heran, schmetterte Häuser und Bäume nieder. Die Menschen rannten, als sei ihnen der Teufel auf den Fersen. Kühe und ihre Kälber riss es ins Meer. Ein Schiff wurde auf den Strand geworfen, fortgetragen, wieder auf den Strand geworfen und abermals fortgetragen. Dann zwei Explosionen in der Bucht. Eine Rauchsäule stieg aus dem Wasser und eine weitere erinnerte an das Blasen eines riesigen Wals. Das Meer schien zu kochen, es wurde schwarz und verströmte einen fürchterlichen Schwefelgeruch. Wer mochte da nicht an die Hölle denken?

Warum tat Gott so etwas? Oder, wenn er es nicht selbst tat, warum ließ der Allmächtige es zu, dass so vielen Menschen Leid widerfuhr? Fragen, die gestellt werden mussten. Von den Anwohnern im Angesicht ihrer emporgehobenen Bucht, die eine neue Wasserlinie präsentierte. Von den Fischern, die sich in Zukunft neu orientieren mussten, weil eine Kraft, deren Ursache sie nicht kannten, Klippen fortgesprengt hatte und ehemals bedeckte Felsen freilagen. Weil große Muschelfelder, nach denen man noch vor kurzem hatte tauchen müssen, bis zu drei Meter über der Hochwassermarke in der Sonne zu faulen begannen.

Den Blick fassungslos auf ihr geschütteltes Land geheftet, schrien die Menschen »Misericordia! Barmherzigkeit! Oh Herr! Wir bitten um Gnade, allmächtiger Gott!« Doch weder lautes Flehen noch leises Huldigen konnten darüber hinwegtäuschen, dass Zweifel an der Macht Gottes aufgekommen waren. Oder an seiner Gerechtigkeit.

Da standen sie also beisammen an ihrem aufgewühlten Strand, Einheimische, die noch ein Dach über dem Kopf hatten oder keines mehr, und stritten mit entsetzten Seeleuten und überforderten Pfarrern. Wer hätte auf all ihre Zweifel eine befriedigende Antwort geben können? Sie befragten den englischen Gentleman, von dem es hieß, er sei gebildet, doch der hielt sich mit Deutungen zurück.

Der junge Darwin – wenige Tage zuvor war er in der Neuen Welt, weit weg von England, weit weg von seiner Familie, 26 Jahre alt geworden – saugte all diese Bilder in sich auf und schwor, von Wissbegier getrieben, niemals in seinem Bestreben nachzulassen, die ihnen zugrunde liegenden Naturgesetze zu verstehen. Selbst wenn die errungenen Resultate zu seiner bisherigen Gottesvorstellung und zu den 39 Glaubensartikeln der Kirche von England, auf die er als Student der Theologie an der Universität Cambridge geschworen hatte, nicht passen sollten.

Auch in dieser stillen Nacht in Down House neben dem erkalteten Kamin, der den Geruch verbrannter Buchenscheite verströmte, empfand Charles die Verworrenheit der Gefühle von damals, als die Natur ihre Pranken gezeigt hatte. Es war bitter und demütigend zu sehen, wie Werke, die zu errichten so viel Zeit und Mühe gekostet hatten, in ein, zwei Minuten umgeworfen wurden. Einerseits. Doch gleichzeitig war da dieses überwältigende Glück für den Naturforscher, Zeuge der Erdgeschichte geworden zu sein.

Er hatte im Zuschauerraum gesessen, als unser Planet einen großen Auftritt hatte. Er hatte das Drama miterlebt, bei dem sich verschiedene Gesteinsschichten einen mörderischen Kampf lieferten. Er hatte die Urgewalten gespürt, wenn die Erdkruste sich umbaut, Bruchkanten sich öffnen, Erdschichten aufplatzen, Spannungen in den Eingeweiden des Planeten sich entladen. Mund und Verstand weit offen, hatte er die Eindrücke in sich aufgesaugt. Es war das schrecklichste und interessanteste Schauspiel gewesen, das er je gesehen hatte.

Charles hob den Blick von den sich in aller Stille begattenden Regenwürmern und schaute den Mond an, der nun wie ein leicht angelaufener Apfelschnitz im Fensterrahmen seines Arbeitszimmers fahl vor sich hin schimmerte. Er beschloss, da sich das Liebesspiel hinzog, seine Buchführung über die Ausscheidungen des Regenwurms voranzutreiben. Denn die Rolle, die dieser Humusproduzent in der Geschichte der Erde, vor allem für deren Gestalt, spielte, konnte nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Seit Jahren trug er die geduldig gezählten Exkrementkügelchen in seine Listen ein. Selbstverständlich pro Wurm. Vor kurzem hatte er beim Lunch verkündet, dass alle Regenwürmer Englands und Schottlands zusammengenommen etwa 320 Billionen Tonnen Steinstückchen verschluckten, diese in geduldiger Verdauungstätigkeit durch ihren Körper hindurchschleusten, um sie alsbald akkurat zerkleinert als Humus wieder auszuscheiden. Emma hatte versucht, sich ganz auf die Suppe zu konzentrieren, als Charles den dazugehörigen Zeitraum – der die Bibel Lügen strafte – verkündete: 320 Billionen Tonnen Erde in einer Million Jahren. Eisiges Schweigen zwischen den Eheleuten war daraufhin eingetreten. Was vor allem Enkel Bernard nicht ertrug. Es war nicht das erste Mal, dass er, von solchen Stimmungen getroffen, die Serviette vors Gesicht nahm, um seine Tränen zu verbergen.

Charles war gerade dabei, ein wenig einzunicken, als im Kamin ein nicht vollständig verbranntes Holzscheit umfiel. Die Würmer lagen noch immer Bauch an Bauch, Charles fand ihr gemeinsames S besonders gelungen. Die gegenläufige Anhaftung geriet, wie ihm in den vielen Jahren des Beobachtens nicht verborgen geblieben war, keineswegs bei allen Würmern in gleicher Weise zur formalen Vollendung. Auch beim Regenwurm gab es in Hübschheit, Farbe und Beweglichkeit feine Unterschiede.

Charles fröstelte. Während er das heruntergerutschte grünkarierte Plaid um seine Schultern drapierte und den Wollschal enger um den Hals schlang, musste er unweigerlich an hereinbrechende Eiszeiten denken. Wehe dem Säugetier, das es während einer beginnenden Kaltzeit nicht schaffte, eine zarte, warme Unterwolle unter seinem Oberfell wachsen zu lassen! Oder sich mit Behausungen und Feuer zu behelfen. Er lehnte sich im Sessel zurück und gab Emma im Stillen recht: Möglicherweise war es etwas zwanghaft, jede Empfindung und jede noch so winzige Beobachtung augenblicklich durch die Brille der Evolution zu betrachten. »Ach, Charles«, sagte Emma in solchen Momenten, »du bist ja besessen.« Und er antwortete immer: »Von dir, mein Liebes.« Und küsste sie zärtlich. Sogar wenn Joseph in der Nähe war, der augenblicklich, um keinesfalls zu stören, nach einer kleinen Tätigkeit Ausschau hielt. Charles, in seine Decke gehüllt, schmiegte sich in seinen Sessel, lächelte und sehnte sich nach ihr. Vielleicht sollte er nach oben gehen?

Er schaute auf die Uhr, es war fünf. Keine gute Zeit, um Emma aufzuwecken. Er schaute zu Polly hinüber, die in ihrem Körbchen nah am Kamin schlief und ab und zu ihre Pfoten bewegte. Vermutlich träumte sie von der Jagd.

Als die beiden Würmer endlich in ihre Höhlen zurückschlichen, beide mit den Spermienportionen des anderen im Samentäschchen, drückte Charles die Stoppuhr. Beim Notieren der gemessenen Zeit – eine Stunde und 20 Minuten hatte das Paar sich dem Licht und der Liebe ausgesetzt – fühlte er eine zarte Vorfreude auf die kleinen Würmchen, die demnächst in seinem Arbeitszimmer das Licht der Welt durch ihre zarte Haut erspüren würden. Er löschte den Docht der Lampe und beschloss, im geräumigen Sessel noch ein kleines Nickerchen zu machen.

Emma und die Tauben

Emma hatte wie immer gut geschlafen. Es war halb sieben, als sie aufstand und ihren seidenen Morgenmantel anzog, auf dem vorne über der linken Brust eine kleine silberblaue Taube aufgestickt war. Sie querte den Flur, noch etwas steif in den Gliedern, und freute sich, dass sie ein paar Tage zuvor in London den persischen Teppich gekauft hatte, der sich nun unter ihren nackten Fußsohlen so wohlig weich anfühlte und das Knarzen der Dielen dämpfte. Sie schlich mit offenen Haaren, in denen hie und da silberne Strähnen blitzten, in Charles‘ Schlafzimmer, gedrängt von dem Gefühl, das sie ihre Morgenliebe nannte. Und von der Sorge, wie es ihrem Charley in dieser Nacht wohl ergangen sein mochte.

Sein Bett war leer. Sie fasste unter die Decke, um zu prüfen, wie warm es dort noch war. Doch es war kalt. Am zerknüllten Kopfkissen und am zerknitterten Laken, das an einigen Stellen die Matratze freigab, war die Heftigkeit des Zweikampfes zu ermessen, den sich Charles offensichtlich mit dem Schlaf geliefert hatte. Im Laufe ihrer langen Ehe hatte sie gelernt, seine Spuren zu lesen. In dieser Nacht musste er, wie so oft, die Schlacht schon früh verloren haben. Auch das offene Fläschchen mit Minzöl auf dem Nachttisch, das er gegen Kopfweh in seine Schläfen massierte, verhieß nichts Gutes. Sie verschloss es sorgfältig.

Da sie auf keine Bediensteten treffen wollte, die bereits Vorbereitungen für das Frühstück trafen und das Feuer schürten, ging Emma mit eiligen Schritten die Treppe hinunter und huschte in Charles’ Arbeitszimmer. Da schlummerte er selig im Sessel, umgeben von seinen Regenwurmtöpfen. Leise wandte sie sich um, denn sie wollte ihn nicht stören. Seit Jahren freute sie sich über jede Minute, die er schlafen konnte. Da murmelte er: »Ich bin schon wach, mein Täubchen. Du erkältest dich ja mit deinen nackten Füßen.«

Während Emma die Tür wieder schloss, sagte sie, man müsse endlich Anweisung geben, den quietschenden Knauf zu ölen, wohl wissend, dass ihr Anliegen wenig Aussicht auf Erfolg hatte, denn ihr Mann legte auf dieses Geräusch einigen Wert. Ihm verschaffte das Quietschen ein Gefühl von Sicherheit. Denn niemand vermochte in sein Allerheiligstes einzutreten, ohne Töne zu verursachen und sich ihm, wenn er allzu tief in seine Arbeit versunken war, auf diese Weise anzukündigen.

Charles rückte in seinem Sessel ein wenig zur Seite und hob die Kaschmirdecke. Emma schlüpfte darunter und gurrte. Der Sessel gab ächzende Geräusche von sich, er war nicht für zwei geschaffen. Zumal Emma im Lauf der Jahre und durch die vielen Geburten etwas in die Breite gegangen war. Sie beschlossen, auf die Chaiselongue umzuziehen. Dort angekommen, legte sie ihre Füße in seinen Schoß. Charles fing an, ihre Zehen zu massieren. Auch er liebte diese morgendlichen Momente, in denen Emma noch nicht in die Routine des Tages gefunden hatte.

»Du konntest nicht schlafen?«, fragte Emma milde, während hinter den Hügeln von Downe die Sonne aufging.

»Nein. Ich habe ein wenig weitergeforscht.«

»An den Regenwürmern?«

»Ja. Und mich ein wenig erinnert.«

»An unser Kennenlernen?«

»Nein, an das Erdbeben von Chile.«

Emma knurrte. Charles massierte den kleinen Zeh, der im Alter krumm geworden war, und genoss die Anmut des beginnenden Tages.

»Ach, liebster Charley! Ich habe Angst.«

»Wovor denn, mein Täubchen?«

»Weil ich nicht weiß, wie viel Zeit wir noch zusammen haben.«

»Aber das weiß man doch nie.«

»Das ist wahr. Doch muss ich dem berühmtesten aller lebenden Wissenschaftler erklären, in welchem Maß die Wahrscheinlichkeit abnimmt, dass unsere gemeinsame Zeit auf Erden noch lange dauert?«

Darwin zog seine weißen, in letzter Zeit sehr wild gewachsenen Augenbrauen hoch, die Emma lustig fand, tat einen tiefen Seufzer und massierte weiter. Die ersten Sonnenstrahlen erreichten die Chaiselongue und streiften Emmas Gesicht, das, noch weich von der Nacht, ihm eine Handvoll Küsse entlockte.

Emma lächelte, als er begann, ihre Fesseln zu streicheln.

»Und wovor fürchtest du dich?« Charles sprach etwas undeutlich und nun durchaus widerwillig, denn er wusste um ihre Antwort. Er hätte dieses kleine Glück am Morgen lieber von schweren Gedanken ungestört genossen.

»Dass unser Abschied für immer sein wird«, sagte Emma, deren Gesicht fahl wurde, obwohl die Sonnenstrahlen in diesem Moment ihre Nase, die Charles besonders mochte, hübsch in Szene setzten. Sie musste niesen. Und stellte danach ihre wohligen Laute ein, obwohl er mit seinen Händen zu ihren Waden gewandert war, was sie sonst besonders gern mochte.

Auch Charles verfiel in Schweigen. Was hätte er auch sagen sollen, ohne sie zu verletzen? Es war nicht das erste Mal, dass sie versuchten, dieses heikle Thema des Abschieds zu besprechen.

»Ich weiß ja, dass du nicht an das Paradies glaubst«, ließ Emma aus der quälenden Stille heraus verlauten, die nur kurz unterbrochen wurde, weil Polly in ihrem Körbchen vor dem Kamin ein wenig herumnestelte, um dann friedlich weiterzuschlafen. »Aber weißt du denn auch, was das für mich bedeutet?«

Charles schwieg.

»Ich werde alle wiedersehen. Meine Eltern. Meine Geschwister. Und vor allem unsere toten Kinder. Nur dich werde ich vermissen.« Sie wollte die Tränen nicht mehr zurückhalten. »In dem Moment, in dem einer von uns beiden stirbt, ist es ein Abschied auf immer.«

Charles zog aus der Brusttasche seines Nachthemds ein Taschentuch. Abwechselnd wischte er ihr über beide Wangen, die an diesem Morgen noch schmaler wirkten als sonst. Während er wischte, betrachtete er die vielen Augenfältchen, die sich zu den Schläfen hin gabelten und ihn, auch weil das Wasser darin stand, an ein weit verzweigtes Flussdelta erinnerten.

»Wie soll ich unseren Abschied ertragen, wenn es keine Hoffnung gibt?«

Charles schwieg.

»Seit Jahren begleitest du mich nur noch bis zur Kirchentür. Würdest du mir die Freude bereiten, nächsten Sonntag mit mir hineinzugehen?«

»Ach, Emma.«

»Bitte!«

»Was würde das ändern?«

»Dass Gott sehen kann, dass du dich wenigstens bemühst.« Emmas Stimme wurde dringlicher.

»Ich habe mich mein Leben lang bemüht.«

Emma schwieg.

Charles schwieg.

Emma hob an zu argumentieren, und Charles fürchtete ihre Sätze, denn wie immer in solchen Augenblicken konnte er bereits die Enge fühlen, in die sie ihn drängte. »Mir scheint, dass deine Forschungen dich dazu geführt haben, jedes Problem nur noch von der wissenschaftlichen Seite zu betrachten. Und dass du nicht die Zeit und die Geduld hattest, neben all den Tauben, Rankenfußkrebsen, Hummeln und Würmern noch andere wichtige Fragen zu stellen. Oder gar die Sorgen deiner Liebsten zu erwägen.«

Charles schwieg.

»Aber ich hoffe, dass du deine Meinung noch nicht als endgültig ansiehst.«

Charles schwieg.

»Ich wünsche mir so sehr, dass die Gewohnheit des Forschers, nichts, aber auch gar nichts zu glauben, bis es bewiesen ist, deinen Geist nicht zu stark beeinflusst hat. Ich spreche von denjenigen Dingen, die man nicht auf die gleiche Weise sezieren kann wie Entenmuscheln.«

Charles tat einen Seufzer.

»Charley, wir sind alt. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Du hast alles erreicht, was du dir gewünscht hast. Gott wird dir verzeihen, wenn du dich jetzt an ihn wendest. Er wird milde sein, wenn du dich doch noch aufmachst, ihn zu suchen.«

Charles hustete und zog seinen Schal enger um den Hals. Es fror ihn auch am Kopf. Kurz fasste er an seine kahle Kopfhaut, als prüfte er deren Temperatur. Dann sagte er, ein wenig ungeduldig: »Ach, Emma, ich bin in diesen Fragen nicht begabt.«

»Aber du brauchst keine Begabung. Jeder Mensch, der bereit ist zu suchen, wird belohnt.«

Charles schwieg.

»Liebster, du wirfst unsere Zukunft weg! Alles, was dir doch auch wichtig ist! Oder willst du deine Tochter Annie und mich nicht mehr wiedersehen?«

Charles schwieg.

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