Und nachts die Angst - Carla Norton - E-Book + Hörbuch

Und nachts die Angst Hörbuch

Carla Norton

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Beschreibung

Die unbeschwerte Kindheit der 12-Jährigen Reeve LeClaire fand ein jähes Ende an dem Tag, an dem sie ein perfider Triebtäter entführte und misshandelte. Erst nach Jahren der Gefangenschaft konnte Reeve fliehen und ihr Peiniger gefasst werden. Doch Jahre nach ihrer Flucht werden in Kalifornien erneut drei Mädchen entführt, von denen schließlich eins entkommen kann: Tilly. Sie ist das jüngste Opfer, schwer traumatisiert und verweigert jegliche Aussage. Schließlich bitten die Eltern des Mädchens Reeve um Hilfe. Immer tiefer gerät Reeve in die aktuellen Ermittlungen und ins Visier des brutalen Killers, der sie keine Sekunde unbeobachtet lässt …

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Zeit:7 Std. 6 min

Sprecher:Nicole Engeln

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Und nachts die Angst

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Kerstin Winter

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Inhaltsübersicht

Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. Kapitel74. Kapitel75. Kapitel76. Kapitel77. Kapitel78. Kapitel79. Kapitel80. Kapitel
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Prolog

Seattle, Washington

Sechs Jahre zuvor

Ihr Name war schon so lange aus den Schlagzeilen, dass niemand mehr nach ihr Ausschau halten würde. Zuversichtlich steckte er daher zum letzten Mal den Schlüssel ins Schloss. Die Tür schwang weit auf, aber er sah keine Notwendigkeit, sie zu sichern. Die Stufen ächzten unter seinem Gewicht, als er in den Keller hinabstieg und ihr befahl, aufzustehen und sich mit dem Gesicht zur Wand zu drehen.

Zuerst die Augenbinde. Dann die Handfesseln. Er drehte ihr beide Hände auf den Rücken und drückte die Handschellen zu, bis sie zusammenzuckte.

Dann beugte er sich zu ihr hinunter, atmete ihren Geruch ein, verharrte an ihrem Hals und bewunderte das Narbenmuster, das ihre Haut überzog. Mit dem Daumen strich er über den gewellten Wulst der frischesten, noch rosafarbenen Narbe, die von ihrem linken Schulterblatt abwärts am Rückgrat entlang zu einer besonders entzückenden Stelle knapp über dem Bund der schwarz-rosa Schlafanzughose reichte.

»Dreh dich um und mach den Mund auf«, sagte er, und als sie gehorchte, legte er ihr die Tablette auf die Zunge und befahl ihr zu schlucken. Er hatte die Dosis so berechnet, dass sie benommen genug für die Fahrt sein würde, aber nicht derart betäubt, dass er sie nachher nicht mehr wecken konnte, denn er hatte noch etwas mit ihr vor.

Er legte ihr locker seinen Arm um den Hals, leckte sich die Lippen und flüsterte: »Jetzt machen wir einen kleinen Ausflug, meine kleine Grille. Wag es nicht, auch nur zu zirpen.«

Ihre alten Turnschuhe waren längst zu klein geworden, aber er hatte nicht daran gedacht, ihr neue zu kaufen, also war sie barfuß, als er sie die Treppe hinaufdirigierte.

An der Tür hielt er inne und schaltete das Licht aus, bevor er durch die Küche nach hinten ging, wo alles vorbereitet war. Er spähte durch die Fensterläden. Draußen war es still. Das dichte Blattwerk der Bäume in seinem Garten schützte vor den Blicken der Nachbarn. Dass es regnete, war ein zusätzlicher Vorteil.

Er zog ihr einen Kapuzenponcho über den Kopf, öffnete die Tür und schob sie hinaus. Zusammen bewegten sie sich über die Veranda und die Stufen in den Garten hinab. Die Nässe aus dem Gras durchweichte seine Schuhe, als er sie über den Rasen führte und durch das Tor auf die Straße trat.

Es war weit nach Mitternacht, und er hatte alles bis ins kleinste Detail geplant, doch dies hier war der riskante Teil. Eine Straßenlaterne erhellte ein nicht zu umgehendes Wegstück. Mit nur drei Schritten waren sie wieder im Schutz der Schatten, nach drei weiteren am Wagen.

Der silberne Mercury Grand Marquis parkte quer zur Straße. Der Kofferraum war entriegelt. Er öffnete die Klappe, dann hob er ihren kleinen Körper hoch und legte sie hinein. »Bleib liegen und sei still«, murmelte er.

Er hatte früher am Abend den Kofferraum mit einer alten Decke ausgelegt, um jegliche Geräusche zu dämpfen, aber sie lag darauf auch weicher, und er hatte vor, ihr diesen Akt der Güte vor Augen zu führen, falls sie sich nachher beschwerte.

Sobald sie im Kofferraum eingesperrt war, zog er die Fahrertür auf und setzte sich ans Lenkrad. In der Dunkelheit saß er da, ließ den Blick über Häuser und Fenster schweifen und achtete auf jede noch so kleine Bewegung.

Eine Katze jagte über die Straße und verschwand im Unterholz. Ein Windhauch ließ die Blätter über ihm rascheln. Dicke Tropfen platschten auf die Windschutzscheibe. Sonst war nichts zu hören.

Er wartete noch ein paar Minuten ab, rieb sich den ungepflegten Bart. Schließlich drehte er den Schlüssel in der Zündung, steuerte den Wagen behutsam auf die Straße, schaltete die Scheinwerfer ein und bog nach links ab. Keine Menschenseele war unterwegs, aber es regnete nun stärker, und er achtete penibel auf die Geschwindigkeit und bremste sanft vor jeder Ampel, die Rot zeigte. Endlich bog er auf die Straße ein, die sich durch das Arboretum zog. In jeder Kurve zischten seine Reifen auf dem nassen Asphalt.

Daryl Wayne Flint lächelte beglückt über die zusätzliche Tarnung durch den Regen. Er war zuversichtlich, dass alles nach Plan verlief.

Der Umzug, die ganze Packerei hatten ihm Kopfschmerzen bereitet, aber nun war alles geschafft. Bald schon war sie sicher in seinem neuen Heim untergebracht, das außerhalb der Stadt ein gutes Stück von der Straße entfernt lag. Aber es war nicht nur die einsame Lage des Hauses, die das Risiko wert war, sondern auch der große Keller. Sein Boden war plan und glatt, so dass er die Ausrüstung problemlos hin- und herkarren konnte, während die Trägerbalken der Decke hervorragend geeignet waren, um die Haken anzubringen.

Trotz sorgsamer Planung hatte Daryl Wayne Flint jedoch nicht bedacht, dass die Bars in Seattle auch an verregneten Mittwochabenden bis nach Mitternacht gut besucht sein würden. Oder dass manche Gäste hartnäckig blieben, bis der Barkeeper sie endlich hinauskomplimentierte, und dass der eine oder andere zu betrunken sein würde, um fahren zu können. Und auch nicht, dass ein ganz bestimmter Autofahrer vergessen würde, die Scheinwerfer einzuschalten, und just in dem Moment das steilste Stück der 23rd Avenue herunterschlingern würde, als ein silberner Mercury ihm entgegenkam.

Flint hatte kaum Zeit zu begreifen, dass die Kollision unvermeidlich war. Das Bersten der Scheiben, als die zwei Autos ineinanderkrachten und über die Straße schleuderten, bekam er schon nicht mehr mit.

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1. Kapitel

San Francisco, Kalifornien

Dienstag vor Thanksgiving

Die Dienstage sind immer eine Bewährungsprobe, und es ist der Weg zur Praxis, der den Tag so schwierig macht, aber davon hat Reeve LeClaire, zweiundzwanzig Jahre alt, ihrem Psychiater noch nichts gesagt. Ihr Weg beginnt mit einem kurzen Marsch zum Ferry Building, wo sie eine heiße Schokolade bestellt, sie wie immer mit hinausnimmt und am Becher nippt, während sie zusieht, wie die Fähren sich aus dem Nebel materialisieren. Die Boote aus Vallejo, Larkspur und Sausalito mit ihrem morgendlichen Andrang an Pendlern ziehen eine Spur aus weißem Schaum und Möwen hinter sich her.

Als die Sonne durch den Nebel dringt, wendet Reeve ihr Gesicht zum Licht, schließt die Augen und kostet die Wärme auf ihren Lidern aus.

Niemand achtet auf sie im Strom der Menge, und fast schon ein wenig selbstgefällig macht sie sich bewusst, dass man sie ohnehin nicht erkennen würde. Kaum noch ähnelt sie dem Schulmädchen von den Suchplakaten oder dem käseweißen, verwahrlosten Kind, das auf den Titeln der Boulevardblätter prangte. Obwohl noch immer eher klein, ist sie zwei, drei Zentimeter gewachsen und hat sieben Kilo zugelegt. Ihre Zähne sind gerichtet. Sie ist gepflegt und epiliert und hat ihre Augenbrauen zu präzisen Bögen gezupft.

Ihre Haare sind inzwischen so gut nachgewachsen, dass sie fast stolz darauf ist. Sie färbt sie oft, mal blond, mal schwarz oder – wie seit neuestem – rotbraun. Sie trägt sie sauber gestuft und stets lang genug, um die Narben zu verdecken, die in ihrem Nacken noch immer zu sehen sind.

Als die Turmuhr um neun ihre Melodie beginnt, schultert Reeve die Tasche, und beim siebten, achten, neunten Schlag hat sie das Ferry Building verlassen und überquert die Straße zur Market Street. Die Straßenverkäufer und Musiker sind zu beschäftigt, um zum Problem zu werden. Aber je weiter sie sich die Straße entlangzugehen zwingt, umso vorsichtiger muss sie werden.

Sie presst die Kiefer zusammen. Da kommt der fusselbärtige Mann mit dem Einkaufswagen, über den eine Plane gespannt ist. Der Mann treibt sich immer am Ufer herum, aber sie befiehlt sich, weiterzugehen und stur geradeaus zu blicken, obwohl ihre Haut zu prickeln beginnt.

Als Nächstes die üblichen zwielichtigen Gestalten an der Bahnstation, ein Spießrutenlauf. Sie steuert um die Menschen herum und steht plötzlich direkt vor dem großen Mann in dem schmierigen Regenmantel. Sie hält den Atem an und hastet weiter, während er ihrem Rücken »Gott segne Sie!« nachbrüllt.

Sie strafft die Schultern. Es läuft gut. Noch zwei Querstraßen, dann ist sie fast da. Sie spürt die Luft auf ihrem Gesicht. Ihre Beine sind kräftig, und sie marschiert entschlossen weiter.

Als sie am Straßencafé vorbeikommt, fängt ein gutaussehender junger Kellner ihren Blick auf und lächelt, aber sie sieht weg. Sie traut Männern nicht, die so tun, als sei sie hübsch. Sie weiß sehr gut, dass das nicht stimmt, dass ihre Nase krumm ist und ihr Kinn zu spitz.

Sie heftet den Blick auf den Gehweg und folgt eine Weile den Füßen vor ihr. Als sie wieder aufblickt, sieht sie erleichtert das Hobart-Gebäude vor sich, wo sich jeder Besucher am Empfang anmelden muss. Sie wartet an der Ampel, balanciert auf den Fußballen, beobachtet den Verkehr und überblickt den letzten gefahrenträchtigen Abschnitt. Die Ampel springt um, und sie eilt über die Kreuzung. In dem Moment, als sie die andere Seite erreicht, fährt der verdreckte Mann im Rollstuhl in ihr Blickfeld.

Reeve bleibt stehen, und ihre Brust zieht sich zusammen. Sie überlegt, ob sie die Straßenseite wieder wechseln und sich dem Haus von der anderen Seite, am Blumenstand vorbei, nähern soll. Aber der Mann schaut gar nicht zu ihr. Wenn er einfach weiterfährt, kann sie ungesehen hinter ihm vorbeihuschen.

Sie kalkuliert, holt Luft und hastet auf den Eingang zu. Sie ist noch sechs Meter entfernt, drei …, zwei …, als der Mann auf Rollen die Räder packt und herumschwingt. Seine Augen glühen. Die Backenbarthaare stehen ab wie Draht.

Reeve springt zurück, schluckt und rennt an ihm vorbei ins Gebäude, wo sie in der kühlen Eingangshalle stehen bleibt, um zu Atem zu kommen. Als sie sich etwas beruhigt hat, wendet sie sich dem Aufzug zu. Er ist alt und so klein, dass man sich schon zu dritt beengt fühlt. Sie weiß, dass sie das schafft. Sie hat ihn schon öfter benutzt. Aber heute nicht. Heute nimmt sie lieber die Treppe.

Der Wartebereich von Dr. Ezra Lerners Praxis duftet immer nach Zitrusfrüchten, und sie ist froh, dass sie früh genug angekommen ist, um das Aroma zu genießen und nach den neun Stockwerken etwas durchzuatmen. Sie nickt der Sekretärin zu, einer netten Frau mit geschwungenen Lippen, und lässt sich auf ihren Lieblingsplatz sinken.

Die Wände sind in einem blassen Jadegrün gehalten, und eine weiße Orchidee blüht in einem kobaltfarbenen Topf, der auf dem Beistelltisch steht. Sie nimmt die neueste Ausgabe des New Yorker und blättert sie durch, sieht sich die Fotos an und liest die Cartoons. Manchmal begreift sie sie alle, aber heute scheint ihr der Witz zu entgehen, und sie wirft sich vor, dass sie die Nachrichten so selten verfolgt.

Um Punkt halb zehn sagt die Sekretärin: »Miss, Dr. Lerner ist jetzt für Sie da.«

Die Privatsphäre der Patienten ist oberstes Praxisgebot, ebenfalls ein Grund, warum Reeve sich hier sicher fühlt. Die Sekretärin spricht sie niemals mit Namen an, auch wenn im Wartebereich sonst keiner ist. Nur ihre Familie, ein paar Leute von der Polizei und Dr. Lerner wissen, dass Regina Victoria LeClaire, das Kind, das mit zwölf Jahren entführt und fast vier Jahre lang gefangen gehalten wurde, offiziell den Namen geändert hat.

Sie ist nicht länger »Edgy Reggie«, das kratzbürstige Mädchen, das auf den Medienrummel reagierte, indem es Kameras umwarf. Sie würde sich jetzt als reaktionsschnell bezeichnen, nicht mehr als ungebärdig. Als ernsthaft, nicht erbittert. Sie hat sich in eine ruhige junge Frau verwandelt, die ein angenehmes, strukturiertes Dasein führt. Sie hat sogar eine Arbeit.

Als Reeve die Zeitung neben die Orchidee legt und sich erhebt, klingelt das Telefon, was eher ungewöhnlich ist, und auf ihrem Weg durch den mit Teppich ausgelegten Flur hört sie, wie der fröhliche Begrüßungstonfall der Sekretärin sich verfinstert. »Oh, nein … Oh, nein … Ja, natürlich, aber der Doktor hat einen Patienten … Ja, ich verstehe.«

Reeve legt die Hand auf den Türknauf und hält inne, um zu lauschen, aber Dr. Lerner zieht die Tür von innen auf. »Reeve«, sagt er. »Wie immer ist es eine Freude, Sie zu sehen.«

Dr. Ezra Lerner sieht eigentlich zu jung aus, um sich auf irgendeinem Fachgebiet hervorgetan zu haben, aber tatsächlich ist er eine führende Instanz auf dem Gebiet der Gefangenschaftssyndrome, weswegen Reeves Vater sich ursprünglich an ihn wandte. Er hat das straffe, kompakte Äußere eines Turners. Glattrasiert, aufmerksamer Blick. Sein kleiner Hund, eine zottelige Mischlingsdame namens Bitsy, steht hinter ihm, wedelt eifrig mit dem Schwanz und schaut mit hündischer Ehrerbietung zu Reeve auf.

Reeve bückt sich, um Bitsy zu streicheln. »Gleichfalls.«

Sie durchquert den Raum, nimmt ihren üblichen Platz auf dem Sofa ein, klopft auf das Polster neben sich, und Bitsy springt hinauf und setzt sich zu ihr.

Dr. Lerner lässt sich auf seinem Sessel nieder, beobachtet sie und fragt, wie sie schläft. Das tut er immer.

»Nichts zu berichten, keine Alpträume, keine Panikattacken. Ich hatte schon so lange keinen schlechten Traum mehr, dass ich mir schon richtig langweilig vorkomme.«

Fast normal, denkt sie, obwohl das ein Begriff ist, den Dr. Lerner niemals verwenden würde. Im Anfangsstadium dauerten ihre Gespräche immer stundenlang. Dann trafen sie sich dreimal die Woche, dann zweimal. Jetzt nur noch dienstags, was das Ausmaß ihres Fortschritts verdeutlicht.

Er stellt ihr ein paar Fragen zu ihrem neuen Job, und mit einem amüsierten Zucken der Lippen zieht sie ein gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche. »Die Hausaufgaben«, sagt sie von sich aus und wedelt mit dem Blatt. »Alles dabei.«

Sie faltet das Papier auf. »Ich habe über die Gründe nachgedacht, warum ich gerne im Restaurant arbeite. Und obwohl ich nur eine Teilzeitstelle habe, ist die Liste ziemlich lang.« Sie blickt auf und fügt hinzu: »Was ja gut ist, aber ich werde trotzdem versuchen, mich kurz zu fassen.«

Ein Lächeln huscht über Dr. Lerners Gesicht, kurz bevor sein Handy ein gedämpftes Pling von sich gibt und das Lächeln verblasst. »Tut mir sehr leid, Reeve. Bitte entschuldigen Sie einen Moment.« Er nimmt das Handy und sieht aufs Display.

Sie versteift sich. Dr. Lerner hat sich noch nie in einer Sitzung ablenken lassen. »Ist das ein Notfall?«

Er runzelt die Stirn, dann schüttelt er den Kopf und legt das Handy auf den Schreibtisch. »Tut mir leid, Reeve. Bitte fahren Sie fort.«

»Aber müssen Sie nicht …?«

»Nein, nein, das kann warten.« Er holt Luft und blickt ihr in die Augen. »Sie wollten mir gerade vom Restaurant erzählen.«

Sie zögert.

»Ursprünglich hatten Sie Angst, dass es Ihnen nicht gefallen würde«, hilft er ihr weiter.

»Ähm, stimmt. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Und ich glaube, das liegt zum Teil daran, dass es emotional nicht vorbelastet ist.«

»Ah. Und was genau meinen Sie damit?«

»Na ja, japanisches Essen hat ziemlich wenig mit kalter Pizza und warmer Limo zu tun.« Sie grinst, und ein Grübchen zeigt sich in der Wange.

»Gute Erkenntnis. Was noch?«

Während sie die Liste mit der rechten Hand hält und Bitsy mit der beeinträchtigten linken streichelt, erzählt sie ihm, wie gut ihr die schlichte Förmlichkeit der Japaner, die rituellen Verbeugungen, der saubere Duft von grünem Tee gefallen. »Und ich lerne die Sprache«, fügt sie hinzu.

»Wunderbar. Japanisch ist schwer.« Er legt die Fingerspitzen aneinander. »Auf der Highschool waren Sie gut in Sprachen, nicht wahr?«

Sie wirft ihm einen mürrischen Blick zu. »Sie werden jetzt aber nicht wieder anfangen, mich mit dem College zu nerven, oder?«

»College?«

Sie verdreht die Augen und fährt fort. »Wie auch immer. Als ich über die Hausaufgaben nachdachte, habe ich festgestellt, dass ich stark auf Geräusche reagiere. Na ja, vielleicht nach der ganzen Stille, wissen Sie?« Sie hat aufgeschrieben: Dr. Lerners Stimme ist geschmeidig wie Karamell, aber das sagt sie nicht, und ihr fällt ein, wie sein Tonfall damals vor Gericht scharf wurde und jeder im Saal sich plötzlich aufmerksam aufsetzte und ihn beobachtete, während eine eigenartige Intensität wie Hitze von ihm abstrahlte.

»Aha? Was für Geräusche?«

»Zum Beispiel hat Takami-san eine ganz leise Stimme, beinahe wie ein Flüstern. Und das Messer des Sushi-Kochs klackt auf dem Schneidebrett. Die Musik im Restaurant ist fast Zen-artig. Instrumental, wissen Sie, keine dümmlichen Texte.«

»Und das können Sie genießen? Das ist ein Fortschritt.«

Sie hatte jahrelang Schwierigkeiten mit Musik und beschwerte sich, dass ihr alles wie Lärm erschien. Dr. Lerner hatte die Vermutung, dass sie an Anhedonie litt, der Unfähigkeit, Freude zu empfinden.

Sie streichelt Bitsys Kopf. »Und jetzt fragen Sie mich nach Thanksgiving.«

»Genau. Gut. Sie werden zum Essen bei Ihrer Familie sein, richtig? Irgendwelche Vorbehalte?«

Sie schüttelt den Kopf, lehnt sich zurück und erzählt ihm von der neuen Lebensgefährtin ihres Vaters. »Sie will an Thanksgiving kochen. Was uns allen auf jeden Fall etwas gibt, wofür wir dankbar sein können.«

Dr. Lerner nickt und macht seine üblichen Bemerkungen, als das Handy erneut einen Ton von sich gibt. Unwillkürlich sieht er hin. »Ich muss mich noch einmal entschuldigen, Reeve. Eine Sekunde bitte.« Er nimmt das Handy, blickt aufs Display, dann zur Tür.

Sie neigt sich nach vorne, und Bitsy wird unruhig. »Müssen Sie da nicht drangehen?«

Er zieht die Augenbrauen zusammen, wirft wieder einen Blick zur Tür. »Nicht sofort.«

»Sind Sie sicher?«

Er legt das Handy zurück, aber seine gepeinigte Miene entgeht Reeve nicht. Sie fragt sich, ob irgendwo in Mexiko oder im Iran Geiseln freigelassen worden sind, und wieder wirft sie sich vor, dass sie die Nachrichten nicht verfolgt.

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2. Kapitel

Jefferson City, Kalifornien

Otis Poes Größe leistet ihm gute Dienste. Im Sitzen überragt er jeden dieser Eindringlinge um mindestens einen Kopf. Ein Journalist nach dem anderen versucht, ihn zur Seite zu drängen – da die dürre Schlampe aus Sacramento, dort der aufdringliche Spinner von CNN –, aber keiner wird ihm sein Terrain streitig machen.

Die Story gehört ihm.

Seit der ersten Entführung arbeitet er daran. Er hat unzählige Artikel und Blogs geschrieben. Diese Geier hier wollen sich ins gemachte Nest setzen? Bitte sehr, sollen sie ruhig drängeln und schubsen. Er wird keinen Millimeter nachgeben.

Er ist wie immer früh hier gewesen und hat sich in die allererste Reihe gesetzt. Aber die Nachricht hat sich rasch verbreitet. Nun stehen draußen die Transporter der Sender, Satellitenschüsseln schießen wie Pilze hervor, und die Presseleute balgen sich zeternd um die besten Plätze.

Einige erkennen ihn natürlich. Sein rasierter Schädel, der in Form und Farbe an gebackenes Brot erinnert, ist schwer zu übersehen, vor allem in dieser kleinen gewöhnlichen Gemeinde. Ein paar Reporter schütteln ihm die Hand und versuchen, ihm Informationen aus dem Kreuz zu leiern, aber das lässt ihn kalt. Seit fast sieben Jahren spürt er Storys für den Jefferson Express auf. Er hat sich seine Kontakte erarbeitet. Wenn diese Schnorrer Informationen wollen, dann können sie ja eine Zeitung kaufen. Oder besser noch, sein Blog lesen.

Die Lautstärke steigt um zahlreiche Dezibel an, als immer mehr Zuschauer in den Raum drängen, sich an den harten Bänken vorbeischieben und sich auf jeden freien Platz quetschen. Für die übliche Pressekonferenz hätte der Saal problemlos ausgereicht, für diesen Ansturm ist er jedoch nicht ausgelegt.

Der Wachmann schickt letzte Nachzügler weg und schließt die Türen. Das Summen gespannter Erwartung liegt in der Luft, und Poe hält die Ohren offen, um Neuigkeiten herauszufiltern, während um ihn herum Meinungen und Gerüchte ausgetauscht werden. Ein Aufgebot uniformierter Deputys und Polizisten tritt ein und stellt sich hinter dem Rednerpult auf, und Poe beugt sich vor, um eine Polizistin zu beobachten, die ihn mit ihren Locken immer an seine Highschool-Liebe erinnert. Sie sieht nachdenklich aus und redet mit dem muskelbepackten FBI-Agenten.

Poe verzieht spöttisch das Gesicht. Dass das FBI wieder in der Stadt ist, hat er schon gehört.

Dreimal hat Poe miterlebt, wie die Bundesagenten in Jefferson City einmarschiert sind, um die Helden zu spielen. Sie kommen stets schnell und mit vor Wichtigkeit geschwellter Brust und ziehen dann still und leise wieder ab. Weil jeder weiß, dass ein Kind, das länger als achtundvierzig Stunden vermisst wird, nur selten lebend wiedergefunden wird. Und natürlich möchte das FBI nicht Tage und Wochen mit Warterei verplempern, um letztlich den Kopf dafür hinzuhalten, dass man mal wieder nur die verwesten Überreste findet.

Doch da sich in der Story etwas bewegt hat, haben der aufgepumpte Agent und seine Kumpels erneut den langen Weg von Sacramento auf sich genommen, um sich ein großes Stück Ruhm zu sichern.

Heuchler.

Endlich tritt Sheriff Mike Garcia, ein stämmiger Bursche in Cowboy-Stiefeln, durch eine Seitentür ein. Alle Köpfe wenden sich, als er auf das Rednerpult zugeht. Stifte werden gezückt, Kameras ausgerichtet, Blitze flammen auf, die Temperatur steigt. Der Sheriff beugt sich zum Mikrofon und testet den Ton. Fernsehreporter geben der Technik Signale, als Sheriff Garcia einleitende Bemerkungen macht und diverse Bürger und die Polizeiprominenz grüßt. Schließlich richtet er sich zu voller Größe auf und kommt zur Sache.

»Mit Freuden darf ich Ihnen heute verkünden, dass die dreizehnjährige Tilly Cavanaugh, die im vergangenen Oktober entführt wurde, lebend gefunden worden ist.«

Die Menge schnappt kollektiv nach Luft.

Der Sheriff fährt lauter fort. »Gestern früh wurde Tilly Cavanaugh aus dem verschlossenen Keller eines Gebäudes am Rand von Jefferson County befreit.«

Die Menge murmelt, aber Otis Poe gähnt. Er kennt bereits die Adresse, ein abgelegenes Grundstück westlich der Stadt an der Tevis Ranch Road. Schon bei Tagesanbruch war er dort und hat Fotos gemacht.

»Das Mädchen ist am Leben«, wiederholt der Sheriff gerade. »Sie wurde ins St. Jude’s Hospital gebracht, wo man sie nach einer gründlichen Untersuchung und entsprechender medizinischer Versorgung in die Obhut ihrer Familie entlassen hat.«

Die Menschenmenge blubbert vor Aufregung. »Ist jemand verhaftet worden?«, brüllt ein Mann, und nun fangen die Reporter an, ihre Fragen abzufeuern.

»Ruhe, bitte!« Die Stimme des Sheriffs dringt durch das anwachsende Geschrei. »Bitte warten Sie ab und lassen Sie mich ausreden.« Er blickt finster von einer Seite zur anderen, und das Publikum verstummt.

»Im Zuge der Befreiung Tilly Cavanaughs ist ein Verdächtiger festgenommen worden«, fährt er fort, und alle Anwesenden scheinen gleichzeitig die Luft anzuhalten, während sie voller Angriffslust auf den Namen desjenigen warten, den sie verabscheuen werden.

Der Sheriff packt die Seiten des Rednerpults. »Es handelt sich um den fünfunddreißig Jahre alten Randy Vanderholt, Hausmeister in der Three Rivers Mall, der …«

»Hängt ihn auf!«, brüllt jemand.

»Erschießt das perverse Schwein!«, stimmt ein anderer zu.

Der Sheriff blickt zornig über die Menge. »Beruhigen Sie sich bitte. Die Ermittlung befindet sich noch im Anfangsstadium. Ich kann heute nur begrenzt Auskunft geben, möchte Ihnen aber gerne in Umrissen darlegen, was zur Befreiung Tilly Cavanaughs geführt hat.«

»Ich bitte darum«, murmelt Otis Poe kaum hörbar. Er hat die Nachricht schon vor Stunden in seinem Blog gepostet. Aber nun steht die Deadline an, seine üblichen Quellen sind ausgeschöpft, und er drängt darauf, etwas Neues zu hören. Erstklassige Ermittlerarbeit. Scharfsichtige Erkenntnisse. Ein Augenzeugenbericht, vielleicht hat jemand Schreie gehört. Irgendwas Dramatisches.

»Wird sich die Familie heute noch äußern?«, ruft ein Reporter nach vorne.

Der Sheriff ignoriert die Frage, macht eine Geste nach rechts und sagt: »An dieser Stelle möchte ich das Mikrofon an Lieutenant Paul Stephens abtreten, der das Kommando über die Sondereinheit, die Joint Special Operations Task Force, innehat.«

Poe rutscht auf seinem Platz ein wenig nach vorne und notiert: Lt. Stephens, JSOTF erntet Lorbeeren?

Ein großer, dünner Mann tritt an das Pult. Sein Adamsapfel hüpft auf und ab, aber seine Stimme ist tief und wohlklingend. »Gestern Morgen bekamen wir einen telefonischen Hinweis auf ein leerstehendes Haus.«

Poe zieht die Brauen hoch. Er hat das Haus an der Tevis Ranch Road selbst gesehen und hinter den Fenstern deutlich Mobiliar erkannt. Er drückt auf das Ende des Kugelschreibers und schreibt: Leerstehendes Haus? Eine 2. Adresse?

»Eine Immobilienmaklerin aus der Stadt, Emily Ewing …«, Lieutenant Stephens blickt auf und nickt einer gutgekleideten, knochigen Frau zu, die den Gruß erwidert, »… stellte fest, dass das Haus über gewisse, ähm, verdächtige Details verfügte.«

Poe beugt sich gespannt auf diese neuen Details nach vorne. »Man hatte der Maklerin gesagt, dass es einen Zugang zu einem Keller gäbe, aber sie konnte keinen entdecken. Mit Einwilligung des Besitzers wurde daher eine Wand entfernt, hinter der …«, Lieutenant Stephens blättert zur nächsten Seite um und überfliegt einige Absätze, bevor er fortfährt, »… Ermittler Hinweise auf ein mögliches Verbrechen fanden. Der Besitzer bestätigte daraufhin, dass das Haus zuvor vermietet gewesen war und erst seit kurzem zum Verkauf stünde, und nannte den Behörden die Kontaktdaten Randy Vanderholts.«

Lieutenant Stephens räuspert sich und schaut auf. »Wir suchten den Verdächtigen auf und erfuhren im Verhör, dass er in ein gemeindefreies Gebiet gezogen war. Der Verdächtige zeigte sich kooperativ und willigte in die Durchsuchung von Haus und Grundstück ein, und in der Folge wurde Tilly Cavanaugh lebend …«, die Stimme des Lieutenants bricht, »… lebend in einem Keller unter der Garage entdeckt.«

Der Geräuschpegel steigt an und fällt wieder ab, während Poe Zwei Adressen – Umzug mit Tilly? auf seinen Block kritzelt.

Lieutenant Stephens spricht weiter. »Das Opfer war abgemagert, aber bei Bewusstsein und ansprechbar. Auf Nachfrage bestätigte sie, Tilly Cavanaugh zu sein.«

Poe macht sich einen gedanklichen Vermerk, seine Kontakte im Krankenhaus zu befragen, ob sie Einzelheiten über Tillys Zustand kennen, während Sheriff Garcia sich beim Lieutenant bedankt und erneut ans Rednerpult tritt.

Der Sheriff rückt seine Brille zurecht. »Der Verdächtige ist noch am Schauplatz verhaftet worden. Mr. Vanderholt ist über seine Rechte in Kenntnis gesetzt worden und befindet sich jetzt im neuen County-Gefängnis in Untersuchungshaft.«

»In der Luxusherberge«, höhnt jemand.

Der Sheriff ignoriert die Spitze gegen das empörend teure neue Gefängnis. »Die Bezirksstaatsanwaltschaft bereitet die Strafanzeige vor, und wir gehen davon aus, dass die Anklage gegen Vanderholt kurz nach Thanksgiving verlesen wird.«

»Stimmt es, dass Vanderholt gestanden hat?«, ruft Poe.

Laute Stimmen hallen durch den Saal.

Sheriff Garcia bedenkt Poe mit einem finsteren Blick und neigt sich zum Mikrofon herab. »Es handelt sich hier um eine laufende Ermittlung, daher kann ich nur sagen, dass wir in der kommenden Woche aus dem Büro der Staatsanwaltschaft weitere Anklagepunkte erwarten. Und nun haben wir Zeit für einige kurze Fragen.«

Aus den Reportern platzen die aufgestauten Fragen heraus, sie winken und brüllen, und Sheriff Garcia hebt die Hände in einer Geste, die eher Kapitulation als eine Bitte um Ruhe ausdrückt. Er hat Mühe, die Ordnung aufrechtzuerhalten, während er die Fragen eine nach der anderen abhandelt.

Aber in Poes Augen weicht der Sheriff allen wichtigen Fragen aus und gibt nur die notwendigsten Fakten wieder, ohne pikante Details preiszugeben. Und versucht er nicht vor allem, es so klingen zu lassen, als sei Tillys Rettung waghalsiger und kluger Polizeiarbeit zu verdanken, nicht einfach nur reinem Glück?

Schließlich hält er es nicht länger aus und ruft: »Wie kommt es, dass der Verdächtige nicht schon vor Monaten aufgefallen ist? Warum hat man ihn nicht befragt?«

Sheriff Garcia versteift sich. »Jeder einzelne registrierte Sexualstraftäter in unserem County ist verhört worden, aber da Mr. Vanderholt nicht in diese Kategorie gehörte, hat man ihn bei den Ermittlungen in diesem Entführungsfall auch nicht vorgeladen.«

»Aber ist es nicht so, dass Vanderholt vorbestraft ist?«

»Nun ja, der Verdächtige ist in der Tat wegen Autodiebstahls verurteilt worden.« Garcias Stirn glänzt im heißen Scheinwerferlicht. »Aber er hat seine Zeit abgesessen und ist vor achtzehn Monaten aus Folsom entlassen worden.«

Die Zuschauer murren. Die Fragen der Reporter werden bissig. Sheriff Garcia tritt von einem polierten Stiefel auf den anderen, während er abstreitet, dass die Behörden geschlampt haben, dass wichtiges Beweismaterial übersehen worden ist.

Otis Poe steht auf, und seine Stimme erhebt sich über das allgemeine Grollen der Menge. »Gibt es irgendwelche Hinweise, dass Randy Vanderholt auch Abby Hill und Hannah Creighton entführt hat?«

Die Nennung der Namen löst eine neue Welle der Unruhe im Saal aus.

»Ja – was ist mit den anderen vermissten Mädchen?«, schreit ein Reporter. »Gibt es irgendeine Spur?«

»Hängen die Fälle zusammen?«, will eine magersüchtige Fernsehreporterin wissen und stößt ihr Mikro in Sheriff Garcias Richtung. »In den vergangenen zwei Jahren sind drei kleine Mädchen aus dieser Gegend verschwunden. Denken Sie, dass Vanderholt ein Serientäter ist?«

Die Miene des Sheriffs verdüstert sich, und er schüttelt den Kopf wie ein alter Hund. »Wie ich bereits erklärt habe, dauert die Ermittlung noch an, daher kann ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt bedauerlicherweise keine weiteren Einzelheiten geben.«

Mit einem strengen Blick auf Poe richtet er sich kerzengerade auf. »Das wäre alles für heute. Die Cavanaughs haben mich gebeten, in ihrem Namen allen für die Unterstützung in den vergangenen dreizehn Monaten zu danken. Sie werden in der kommenden Woche eine öffentliche Erklärung abgeben und sind allen dankbar, die zur Heimkehr ihrer Tochter beigetragen haben. Und ich möchte an dieser Stelle insbesondere die enge Zusammenarbeit zwischen dem FBI und den Strafverfolgungsbehörden von Jefferson County erwähnen, darunter all jene, die …«

Bla, bla, bla, schreibt Otis Poe und gähnt.

 

Als die Pressekonferenz offiziell beendet ist, steht Poe auf und geht auf den Ausgang zu. Sein Kahlkopf ragt gut sichtbar über den Tumult hinaus, als die auswärtigen Reporter nach vorne drängen, um sich Interviews zu sichern. Fernsehpersönlichkeiten scharen ihre Mannschaften um sich, lecken sich über die Lippen und bereiten sich auf die Berichterstattung vor, während die Ortsansässigen umhergehen, einander angrinsen, Lobesworte murmeln oder ihrer Betroffenheit Luft machen.

»Unfassbar.«

»Zum Glück ist das Kind in Sicherheit!«

Manche Einwohner verweisen auf ihre persönliche Verbindung zum Fall Cavanaugh. Einige haben Kinder, die mit Tilly in die Schule gegangen sind. Andere haben geholfen, die »Vermisst!«-Plakate aufzuhängen.

»Ich habe mitgesucht!«, erklärt eine Frau in einem Harley-Davidson-T-Shirt.

»Ich auch!«, meldet sich ein aknevernarbter Teenager zu Wort.

Der Geschäftsmann neben ihm reibt sich die Hände. »Stundenlang sind wir durch den Wald getrampelt, ohne einen einzigen Hinweis zu finden!«

Man klopft sich auf Schultern und schüttelt sich die Hände, während man auf die Ausgänge zugeht. Alle Anwesenden sind aufgekratzt, bis auf den großen Mann im Hintergrund, der sich Duke nennt. Er hat still und reglos dagestanden, genau zugehört und über Schadensbegrenzung nachgedacht.

Eine weißhaarige Frau mit Gehstock blinzelt zu ihm auf. »Ist das nicht einfach wundervoll?«, ruft sie entzückt. »Jetzt kann die arme kleine Cavanaugh Thanksgiving zu Hause mit ihren Eltern verbringen.«

Duke neigt leicht den Kopf. »Ja, Ma’am.« Er wendet sich zum Gehen und verlässt den Saal direkt hinter der lästigen Maklerin, wegen der die ganze Sache den Bach runtergegangen ist.

Er ist so dicht hinter ihr, dass er sie berühren könnte, wenn er den Arm ausstreckte. Er stellt sich vor, wie er seine großen Hände unter ihr glänzendes Haar schiebt und ihren dürren Hals packt, und er genießt das Bild, während sie die breite Treppe hinuntergehen. Dann schwenkt die Maklerin ab und eilt mit klackenden Absätzen davon, und Duke schlendert ihr gemächlich hinterher.

Er verlangsamt sein Tempo, um sich eine Zigarette anzuzünden, lässt sie dabei jedoch nicht aus den Augen. Einen halben Block weiter hebt sie die Hand mit dem Schlüssel und öffnet per Fernbedienung einen bernsteinfarbenen Lexus. Er sieht zu, wie sie einsteigt und sich anschnallt. Als der Motor anspringt und der Wagen zurücksetzt, merkt er sich das Nummernschild, dann dreht er sich um und geht zu seinem SUV.

Er setzt sich ans Lenkrad, zündet den Motor, macht das Fenster einen Spalt weit auf, blickt in den Rückspiegel und fädelt sich in den Verkehr ein. Schwere graue Wolken hängen am Himmel; es wird Regen geben. Doch als er nach Hause fährt, denkt er nicht ans Wetter. Stattdessen überlegt er, was er mit Randy Vanderholt machen soll, nun, da der Vollidiot sich hat verhaften lassen. Und er macht sich Sorgen, welche Geheimnisse die süße kleine Tilly wohl ausplaudern könnte.

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3. Kapitel

San Francisco, Kalifornien

Ihr Vater hat also eine neue Liebe«, sagt Dr. Lerner langsam, »und Ihre Schwester und ihr Mann werden Thanksgiving auch kommen, wie Sie sagen.«

Reeve sitzt auf dem Sofa und streichelt den kleinen Hund. Sie kann spüren, dass ihr Psychiater von sicheren Themen zu delikateren übergehen will. »Das ist aber kein Problem mehr«, sagt sie. »Meine Schwester ist jetzt Supermom geworden. Ihre Familie vereinnahmt sie viel zu sehr, als dass sie sich noch um mich Sorgen machen könnte.«

»Aha?«

»Wirklich. No problemo. Und das Baby ist so süß … wie ein glucksender Botschafter für den Weltfrieden.«

»Sie fühlen sich also wohler als letztes Jahr?«

Sie verdreht die Augen. »Sie werden mich trotzdem wieder mit den üblichen Fragen nerven, warum ich noch immer keinen festen Freund habe und so weiter. Das lässt sich nicht vermeiden.« Eine Veränderung ihrer Haltung stört Bitsy, und der Hund rückt von ihr ab und beginnt, sich die Pfote zu lecken. Verärgert fährt Reeve fort: »Aber was soll’s? Sie selbst haben gesagt, dass eine Liebesbeziehung nicht zwingend Zeichen einer Verbesserung ist und ich mich nicht auf irgendein Verhältnis einlassen soll, nur um mir zu beweisen, dass ich es hinkriege, richtig?«

Ihm wird aufgefallen sein, wie angespannt sie sich anhört, und sie erwartet, dass er darauf reagiert, aber als nichts geschieht, zuckt sie mit den Schultern. »Okay, ich benehme mich wie ein trotziges Kind.«

»Das ist ein emotional belastetes Thema für Sie. Also ist es nur verständlich.«

»Eben.«

»Und Sie haben gute Gründe für Ihre Abwehr.«

»Ganz genau.« Sie muss an ihre Narben denken und spürt, wie ihr die Hitze in den Kopf steigt. »Im Übrigen ist ja noch gar nicht gesagt, dass die übliche Mann-Frau-Beziehung bei mir überhaupt funktionieren kann, nicht wahr? Ich weiß, dass jeder von einem gesunden Sexleben spricht, aber selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass ich jemanden kennenlerne, der mir gefällt – und der mich auch toll findet –, wie soll ich ihm auch nur ansatzweise meine Situation erklären? Ich meine, was ist schlimm daran, asexuell zu sein? Es ist doch viel einfacher.«

»Es ist vollkommen in Ordnung, enthaltsam zu leben, wenn Sie das so wollen, aber Sie haben sich gerade widersprochen, denken Sie nicht?«

Sie verengt die Augen. »Wieso?«

»Einerseits drücken Sie Ihren Wunsch nach einer Verbindung aus, dann aber behaupten Sie, Sie wollten lieber asexuell bleiben, da es zu schwierig wird, sich auf eine Beziehung einzulassen. Sehen Sie den Widerspruch, der darin liegt?«

Sie rutscht unruhig auf der Couch herum und knetet die taube Stelle an ihrer linken Hand. »Okay. Und was ist so schlimm daran?«

»Wenn Sie dadurch frustriert oder wütend werden …«

»Dann habe ich in diesem Bereich noch ungeklärte Gefühle«, sagt sie knapp. »Weiß ich, ja.«

Bitsy schüttelt sich, springt zu Boden und tappt durch das Zimmer, um sich neben Dr. Lerner zusammenzurollen. Reeve beobachtet den Hund stirnrunzelnd.

»Hören Sie, Sie haben unermüdlich daran gearbeitet, die traumatische Vergangenheit zu überwinden und sich Ihr Leben zurückzuerobern«, sagt Dr. Lerner sanft. »Seien Sie stolz darauf. Sie haben keinen Grund, wütend auf sich zu sein, denn es gibt keine Fristen.«

Reeve legt die Fingerspitzen an ihre Schläfen und übt starken Druck aus, als ließen sich die Gedanken dadurch zurechtrücken.

»Aber Sie sind diejenige, die Schwierigkeiten hat, Beziehungen zu knüpfen«, fährt er fort. »Und Sie sind auch diejenige, die sich selbst dafür verurteilt, erkennen Sie das?«

»Okay. Es ist nur so, dass ich …«, sie holt tief Luft und fährt fort, »… dass ich ein paar von Ihren Studien gelesen habe.«

»Tatsächlich.« Es ist eine Feststellung, als hätte er es längst gewusst.

»Die eine vom letzten Monat im American Journal of Forensic Psychology zum Beispiel.«

»Und?«

»Und ich denke, dass ich mich darin wiedergefunden habe.«

Er seufzt. »Reeve, wir haben doch darüber gesprochen. Sie wissen, dass ich ohne Ihre Erlaubnis nicht über Sie schreiben würde. Meine Artikel basieren auf anderen Fällen.«

»Ja, aber dennoch. Ich habe mich wiedererkannt, okay?«

»Und inwiefern?«

»In dem Abschnitt, in dem es um das extreme Kontrollbedürfnis geht. Und darum, ›in einer Phase arretierter Genesung‹ festzustecken.«

»So sehen Sie das?«

Sie zuckt leicht mit den Schultern. »Sie nicht?«

»Reeve, hören Sie zu. Dieser Artikel handelt von einer komplett anderen Situation, nämlich von einer jungen Frau, die von ihrem Vater eingesperrt wurde. Sie beide waren jung, Sie beide haben Schlimmes durchlitten. Aber die psychischen Auswirkungen von Inzest und Sadismus sind sehr verschieden.«

»Das ist mir alles klar.«

Er mustert sie, und sie weiß, dass er versteht, was sie nicht ausspricht: Selbst nach all den Jahren und obwohl sie weiß, dass sie in San Francisco sicher ist und Daryl Wayne Flint weit weg hinter Schloss und Riegel sitzt – die finsteren Jahre der Gefangenschaft bleiben doch ewig präsent wie ein ekeliger Geschmack, den man nicht loswird. »Vom Verstand her ist mir das klar«, setzt sie hinzu und betrachtet den persischen Teppich, die gerahmte Kunst.

Als ihr Blick wieder bei Dr. Lerner ankommt, beugt er sich ein Stück vor. »Reeve, ich weiß, dass Sie diese Studien lesen, und es spricht für Sie, dass Sie mehr über die langfristigen Auswirkungen von Gefangenschaften wissen wollen.« Er spricht freundlich, aber sehr bestimmt. »Aber nicht alles in der Fachliteratur lässt sich auf Sie anwenden.«

Sie zieht ein Gesicht. »Der Fluch, sich zu sehr mit sich selbst zu beschäftigen.«

Er sagt nichts, sondern sieht sie nur an.

»Okay. Ich weiß. Ich kann nicht davon ausgehen, dass jeder Artikel zu diesem Thema auf meine individuelle Situation übertragbar ist«, imitiert sie den Fachjargon. »Aber ich möchte einfach nicht mehr das Gefühl haben, dass es in mir einen hässlichen Fleck gibt, den niemand je begreifen kann. Ich will ein ganz normales Leben führen und eine ganz normale Erwachsene sein.« Sie sieht ihn an, dann wendet sie den Blick ab. »Ich weiß, dass Sie das Wort nicht mögen, aber Sie wissen, was ich meine.«

»Reeve, Sie sind normal. Aber Sie wurden Opfer einer einzigartigen traumatischen Situation, die Sie ungeheuer gut bewältigt haben. Das ist keine Kleinigkeit, und es ist verständlich, dass Sie noch immer Schwierigkeiten haben, sich anzupassen oder sich in Gegenwart von Männern wohl zu fühlen …«

»In Ihrer Gegenwart fühle ich mich wohl.«

»Also seien Sie nicht so streng mit sich. Entspannen Sie sich. Sie sind noch jung, und Ihr Bedürfnis nach Selbstschutz sollte Sie nicht Ihr ganzes Leben lang daran hindern, neue Beziehungen aufzubauen.«

»Warum nicht?«

Das Schweigen zieht sich wie Gummi in die Länge. Sie weiß, dass ihre Frage müßig war und er nun darauf wartet, dass sie sie selbst beantwortet, aber sie setzt sich zurück auf der Couch, hält die Luft an und schweigt dickköpfig.

Er tippt sich mit dem Daumen ans Kinn und mustert sie. »Okay, Ihre Hausaufgabe«, sagt er, wie so oft, wenn sich die Sitzung dem Ende zuneigt. »Denken Sie bitte über Ihre ganz eigene Definition einer Beziehung nach, in der sie sich wohl fühlen – eine freundschaftliche oder eine Liebesbeziehung, asexuell, bisexuell oder wie auch immer. Nichts, was nicht ginge. Und falls Sie sich mir gegenüber nicht detailliert darüber auslassen möchten, ist das in Ordnung. Denken Sie ganz allein für sich darüber nach und machen Sie sich bewusst, dass Sie selbst die Kontrolle haben. Aber gestehen Sie sich zu, über eine echte, intime Verbindung mit einer anderen Person nachzudenken, selbst wenn es im augenblicklichen Stadium reine Phantasie sein sollte. Was halten Sie davon?«

»Eine intime Verbindung?«

»Genau.«

»Ich soll sie mir vorstellen, mehr nicht?«

Er zieht nur eine Augenbraue hoch.

»Okay. Klingt harmlos. Das müsste gehen.« Sie blickt an sich herab und stellt fest, dass sie die Beine übergeschlagen und die Arme verschränkt hat. »Ich sehe bloß nach Abwehr aus. In Wahrheit ist mir ein bisschen kühl.«

Er lächelt und nickt einmal. »Gut. Wir sehen uns nächste Woche. Und ich wünsche Ihnen ein schönes Thanksgiving.«

»Ich Ihnen auch.«

Sie sind auf dem Weg zur Tür, als Dr. Lerner hinzufügt: »Oh, haben Sie noch einmal darüber nachgedacht, sich einen Hund oder eine Katze anzuschaffen?«

»Ich weiß, Sie meinen, dass es therapeutischen Nutzen hätte, aber ich brauche weder Hund noch Katze. Ich habe Persephone.«

Er presst belustigt die Lippen zusammen. »Und wie lebt es sich mit der reizenden Persephone?«

»Therapeutisch.«

Er lacht leise und öffnet die Tür.

Sobald sie in den Flur treten, hastet die Sekretärin auf sie zu. Sie hat die Hände wie im Gebet vor der Brust gefaltet. »Entschuldigen Sie bitte, Doktor«, sagte sie. »Sie haben unangemeldeten Besuch.«

Als die drei den Wartebereich betreten, erhebt sich mit verkniffener Miene ein Mann im dunklen Anzug. »Dr. Lerner?«

»Sind Sie wegen der Sache in Jefferson County hier?« Dr. Lerner tritt vor und schüttelt ihm die Hand.

»Verzeihen Sie, dass ich hier so einfach reinplatze.«

Dr. Lerner senkt die Stimme, während er in ernstem Ton mit dem Mann zu reden beginnt, und Reeve trödelt am Empfangstisch herum und spitzt die Ohren, um etwas aufzuschnappen. Um Zeit zu schinden, nimmt sie den Schlüssel zur Toilette aus einem Schälchen mit Blumenmuster, aber sie bekommt von der Unterhaltung der beiden Männer nicht mehr mit. An der Tür dreht sie sich um und sieht gerade noch, wie die beiden in Dr. Lerners Arbeitszimmer verschwinden.

Draußen im Korridor begegnet sie Dr. Lerners üblichem Halb-elf-Termin, einer unglaublich sommersprossigen Rothaarigen im Teenageralter, deren Namen sie selbstverständlich nicht kennt.

Als sie aus der Toilette zurückkommt, ist die Rothaarige nicht mehr zu sehen, und Reeve bemerkt, dass die Miene der Sekretärin seltsam düster ist. Ihr Kussmund ist zu einer geraden Linie geworden. Und als Reeve den Schlüssel wieder in das Schälchen legt, blickt sie auf und sagt: »Es tut mir furchtbar leid, Miss LeClaire, aber Dr. Lerner muss alle Termine für die kommende Woche absagen.«

Reeve blickt sie blinzelnd an. Und plötzlich fällt ihr auf, dass die Frau sie zum ersten Mal beim Namen genannt hat.

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4. Kapitel

Jefferson City

Als Duke heimwärts fährt, hat er bereits die wichtigsten Dinge erledigt. Er hat sich ein neues Handy besorgt und alle brauchbaren Kontakte übertragen. Er hat das neue Telefon in die Tasche seiner Lederjacke gesteckt und das alte mitsamt der Verpackung und dem Kassenzettel des neuen in die bunte Plastiktüte.

Nun fährt er in Richtung Süden. Er biegt vom alten Highway ab und fährt eine Weile parallel zu den Bahngleisen, dann wendet er sich nach Osten zum Fluss und gelangt auf den Riverside Drive. Die ersten paar Meilen sieht man gepflegte Häuschen hinter gestutzten Rasenflächen, aber die Vorstadtsiedlung zerfasert immer mehr, und schließlich verengt sich die Straße. Die wenigen Häuser hier sind umgeben von dichtem struppigem Buschwerk, alten Eichen und hohen Nadelbäumen. Straßenschilder sind von Kugeln durchlöchert. Zäune dürsten nach Farbe. Es gibt nur wenige Nachbarn, und wer hier wohnt, kümmert sich um seine eigenen Angelegenheiten.

Duke lenkt seinen Chevy Tahoe von der Straße und drückt auf die Fernbedienung, die an der Sonnenblende klemmt. Die schweren Holztore öffnen sich, und der SUV holpert über die unebene Auffahrt. Am Ende des vier Morgen großen Grundstücks steht das ranchartige Haus, das er von seinen Eltern geerbt hat. Der Besitz liegt am Flussufer, so dass es ärgerlicherweise keinen Keller hat, aber Duke ist einfallsreich genug, um diesen Mangel auszugleichen.

Er parkt im Carport neben dem Van und steigt aus, wobei er die Einkaufstüte mitnimmt. Er hinterlässt nie Müll in seinem Auto.

Er geht die Seitentreppe hinauf, entriegelt die Tür und betritt sein Haus durch den Windfang. Im Haus ist es genauso kalt wie draußen, also zieht er seine Lederjacke gar nicht erst aus, sondern geht direkt durch zum Kontrollraum, den er ebenfalls aufschließt. Er betritt den großen Raum, der auf der einen Seite einen Fitnessbereich mit antistatischen Trainingsgeräten hat und auf der anderen Seite mit allerneuester Computertechnik ausgerüstet ist. Es summt wie in der Kommandozentrale der NASA.

Er durchquert den Raum zu einem Aktenschrank aus Metall, schließt ihn auf und findet, was er sucht, in der zweiten Schublade. Er sperrt den Schrank ab, lässt den Schlüssel in seine Tasche gleiten und klappt die Akte auf. Ohne den Seiten auch nur mehr als einen flüchtigen Blick zu gönnen, zupft er einen Klarsichtbeutel mit einem silbernen USB-Stick heraus und steckt ihn zu seinem alten Handy in die bunte Plastiktüte. Anschließend verlässt er den Raum, und seine Stiefel klingen dumpf auf den Holzbohlen des Bodens.

Das Wohnzimmer verfügt über einen gemauerten Kamin mit einer großen Feuerstelle, vor der er Akte und Plastiktüte absetzt. Duke hat schon als Kind gelernt, Feuer zu machen. Er öffnet die Klappe, nimmt Kleinholz und größere Scheite vom Stapel neben dem Kamin und schichtet fachmännisch Papier, Äste und Brennholz. Er reißt ein Streichholz an und sieht zu, wie das Feuer aufflammt. Er wartet, bis es richtig brennt, dann gibt er die Quittung für das Handy und die Papiere aus der Akte hinzu.

Nachdem er die Klappe geschlossen hat, trägt er die Plastiktüte wieder durchs Wohnzimmer, durch die Küche, durch den Windfang und durch die Seitentür hinaus.

Wolken verdunkeln den Himmel, als er zu seinem Chevy Tahoe zurückkehrt und die Plastiktüte auf den Betonboden hinter den Vorderreifen legt. Er setzt sich ans Steuer, startet den Motor und setzt zurück. Dass die dicken Reifen das Handy zermalmen, ist in der Fahrerkabine nicht spürbar.

Wieder im Haus, überprüft er, ob die SIM-Karte zerstört ist, bevor er den Inhalt der Plastiktüte in den Hausmüll leert, wo der Synthetikschrott zwischen altem Kaffeesatz und fettigen Hähnchenknochen verschwindet. Zufrieden wendet Duke seine Aufmerksamkeit dem nächsten Problem zu. Randy Vanderholt.

Vander-Depp hat ihn bei Tillys Umsiedlung von einem Haus zum anderen nach Strich und Faden belogen. Er hatte behauptet, supervorsichtig gewesen zu sein, die ehemaligen Räumlichkeiten geschrubbt und gereinigt und als besondere Vorsichtsmaßnahme die Holztäfelung im Keller herausgerissen und durch Gipskarton ersetzt zu haben. Er hatte versprochen, das ganze Haus innen neu zu streichen, so dass der renovierte Keller nicht weiter auffallen würde.

Doch Vander-Depp hatte es sich leichtgemacht. Er hatte nur das Nötigste geputzt, und anstatt den Keller zu entkernen, hatte er bloß den Eingang zugemauert.

Was nur ein Vollidiot tun konnte.

Das war das Risiko, wenn man mit jemandem wie Vanderholt arbeitete. Dumme Menschen waren zwar leichter zu kontrollieren, verursachten allerdings Probleme, wenn sie versuchten, clever zu sein. Ja, sicher, Vanderholt war es tatsächlich gelungen, Tilly von einem Keller zum anderen zu schaffen, ohne erwischt zu werden, aber er war unverzeihlich schlampig gewesen. Hatte Beweise hinterlassen. Und schlimmer noch: Er hatte die eine Person angelogen, der er nie, niemals auf die Zehen hätte treten dürfen.

Vollidiot.

Dukes Magen knurrt, und das Geräusch kommt seiner Stimmung nahe. Er stapft zum Kühlschrank und sucht darin herum, bis er die Zutaten gefunden hat, aus denen sich ein Sandwich machen lässt. Er bestreicht den Schinken mit Meerrettich und zerdrücktem Knoblauch, legt eine Scheibe Chili-Schnittkäse darauf und packt alles zwischen zwei Scheiben Brot. Er isst über der Spüle, während er überlegt, welche Möglichkeiten er hat.

Das Problem ist, dass Vander-Depp nun hinter Gittern sitzt und sich somit in einer Situation befindet, in der er noch mehr Schaden anrichten kann. Denn jeder Cop mit einem Minimum an Hirn sieht auf den ersten Blick, dass Randy Vanderholt den IQ eines Toasters hat. Es wird nicht lange dauern, bis man erkennt, dass die Dumpfbacke Hilfe gehabt haben muss.

Also hat es oberste Priorität, an den Deppen heranzukommen, bevor irgendein übereifriger Cop ihn zum Reden bringt. Das wird nicht einfach werden, aber Duke kennt jede Menge leicht zu manipulierende Leute im Knast und im unmittelbaren Umfeld. Wachen. Insassen. Er kann durchaus ein paar Fäden ziehen.

Er erinnert sich an ein Gespräch, das er neulich mit seinem Cousin – einem langjährigen Gefängniswärter – geführt hat, und seine Lippen zucken amüsiert. Pädophile haben im Knast nichts zu lachen. Niemanden wird es überraschen, wenn Randy Vanderholt blutet.

Das Mädchen dagegen stellt ein komplizierteres Problem dar.

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5. Kapitel

Je näher Dr. Ezra Lerner Jefferson City kommt, umso schlechter wird das Wetter. Der Wind schubst seine Cessna Skyhawk herum wie ein Spielzeug. Er presst die Zähne zusammen und packt das Steuer fester, ohne die Instrumente aus den Augen zu lassen.

Er hat gewusst, dass es so werden würde, aber wenn möglich fliegt er am liebsten selbst, vor allem wenn er an Orte wie Jefferson City gerufen wird, die nur selten kommerziell angeflogen werden und die man andernfalls nur durch elend lange Fahrten auf dem Freeway erreichen kann. Dennoch könnte er jetzt eine Pause gebrauchen. Er wirft einen Blick auf die unberührte Thermoskanne und sehnt sich nach einer schnellen Dosis Koffein, aber das Flugzeug bockt, und er beschließt, es besser nicht zu wagen.

Außerdem ist er fast da. Er ist schon öfter nach Jefferson geflogen und hat die Platzrunde für den Anflug klar im Kopf. Er funkt den Tower an und kontrolliert die Höhe.

Der Wind flaut ab, und die Maschine sinkt hinab in eine dicke, feuchte Wolkenschicht. Er fliegt blind. Die Cessna lässt sich gut handhaben, aber er ist trotzdem froh, als er auf dreitausendzweihundert Fuß aus der Wolkendecke heraus ist. Jetzt hat er klare Sicht. Der Fluss windet sich durchs Tal wie eine fette grüne Schlange. Unter ihm taucht die Landebahn auf. Um sie herum gruppieren sich hufeisenförmig schneebedeckte Berge, deren Gipfel in den Wolken verschwinden.

Dr. Lerner neigt die Cessna zur Landebahn hinab. Geübt vollführt er die Wende, sinkt abwärts, korrigiert leicht den Kurs, als Böen das Flugzeug zur Seite drücken, richtet die Maschine zur Landebahn aus und beginnt den Endanflug.

Der Übergang von Luft zu Land, von Vogel zu Fahrzeug, verursacht ihm stets ein Kribbeln im Bauch. Er erhöht die Klappenstellung, drosselt das Tempo, richtet sich auf und wartet auf das dumpfe Rumsen der Reifen, die auf den Asphalt treffen. Doch eine starke Bö hebt und kippt die Maschine leicht. Er fängt sie auf, findet die Mittelachse wieder und bringt die Maschine abrupt hinunter. Das rechte Rad setzt auf der Bahn auf, das linke kracht herab, dann greift die Schwerkraft, und die Cessna läuft schaudernd aus.

Am Ende der Bahn kommt sie nahezu zum Stehen, und Dr. Lerner wendet und tuckert langsam auf eine Ansammlung von Gebäuden zu. Er steuert die Maschine auf das Vorfeld, manövriert sie auf den Parkplatz für Besucher und stellt den Motor ab.

Nachdem er die notwendigen Eintragungen in sein Logbuch gemacht hat, öffnet er das Cockpit und steigt aus. Er wandert um die Maschine herum, kontrolliert alles und sichert das Ruder, dann nimmt er seine Tasche und überquert die Rollbahn auf ein verwittertes Gebäude mit großer Fensterfront zu.

Eine stämmige, ernst dreinblickende Frau in Regenmantel und glänzenden Stiefeln tritt in die Kälte hinaus, um ihn zu begrüßen. Sie stellt sich als stellvertretende Bezirksstaatsanwältin von Jefferson County vor, ihr Name ist Jackie Burke. Dr. Lerner schüttelt ihr die Hand, und sie stecken die Köpfe zusammen, um sich kurz auszutauschen, bevor sie das Gebäude betreten.

Nur zwei Männer warten in der Lounge, aber Dr. Lerner hätte Gordon Cavanaugh auch in einem Zimmer voller weißer, mittelalter Väter ausgemacht. Er sitzt mit gebeugtem Rücken vor seiner Kaffeetasse, und seinen Gesichtsausdruck, eine Mischung aus Schock, Erleichterung und tiefer Erschöpfung, hat Dr. Lerner schon oft gesehen.

Burke stellt Tillys Vater vor, und er schaut auf, sagt aber nichts. Der Mann neben ihm, ein uniformierter, durchtrainiert wirkender junger Bursche, erhebt sich.

»Das ist Deputy Hudson«, erklärt Burke. »Er arbeitet in diesem Fall eng mit der Staatsanwaltschaft zusammen. Ich sorge dafür, dass er die relevanten Akten bereithält, wenn Sie nachher in mein Büro kommen. In der Zwischenzeit hilft er uns in logistischen Dingen.«

»Betrachten Sie mich als Ihr Bindeglied zur Staatsanwaltschaft«, sagt der junge Deputy und ergreift herzlich die Hand des Doktors. »Ich bin Ihr Fahrer und Fremdenführer. Wann immer Sie etwas brauchen, solange Sie hier sind, rufen Sie mich einfach an.«

Dr. Lerner bedankt sich und wendet sich an Mr. Cavanaugh. »Wenn es Ihnen beiden nichts ausmacht, würde ich gerne einen Moment lang allein mit Mr. Cavanaugh sprechen.«

Burke und Hudson nicken und steuern auf den Flur Richtung Haupteingang zu, während sich Dr. Lerner zu einer Kaffeekanne begibt, die auf einem Ecktisch steht. Als er sich eine Tasse eingeschenkt hat und zu Mr. Cavanaugh umdreht, haben die beiden die Lounge für sich.

»Meine Frau ist bei Tilly zu Hause«, beginnt Mr. Cavanaugh von sich aus. Er blickt in seine Tasse, die er mit beiden Händen umfasst hält.

»Das ist gut. Für beide, denke ich.« Dr. Lerner nippt an dem Kaffee und wartet ab.

Cavanaugh mustert den Arzt. Seine Augen sind blaugrau und wachsam. »Jackie Burke ist eine gute Staatsanwältin, und sie sagt, dass Sie der Beste auf Ihrem Gebiet sind. Dass Sie vielen entführten Kindern geholfen haben. Zum Beispiel Beth Goodwin. Und dem anderen Mädchen auch, Reggie LeClaire.«

»Das ist richtig. Den beiden und anderen.« Dr. Lerner hält Cavanaughs Blick fest und spricht langsam. »Es gibt nur wenige Überlebende von lang andauernden Gefangenschaften, daher gibt es nicht so viele Kollegen, die sich auf die Behandlung spezialisiert haben.«

Cavanaugh schnaubt. »Das habe ich auch schon festgestellt. Nur damit Sie’s wissen – meine Frau ist nicht gerade begeistert, dass ein männlicher Seelenklempner zu uns kommt, um sich um unsere Tochter zu kümmern.«

»Das ist nur verständlich. Und ich nehme ihre Bedenken ernst. Wir lassen es langsam angehen und warten ab, wie es läuft.«

Eine Pause, der Mann atmet aus. »Mehr können wir im Moment wohl sowieso nicht tun.«

»Sie haben viel durchgemacht. Und nun, da Tilly wieder zu Hause ist, liegt ein langer Weg der Genesung vor Ihnen. Wir gehen in dem Tempo voran, mit dem Sie alle am besten zurechtkommen.«

»Tja.« Cavanaughs Blick schweift ab, kehrt zurück. »Okay.«

»Gut.« Dr. Lerner nickt aufmunternd. »Kompliment, dass Sie sich so schnell therapeutische Hilfe holen. Nicht alle Eltern reagieren unter diesen Umständen so aufgeklärt.«

Cavanaughs Augen fixieren ihn. »Und was geschieht nun?«

»Ich würde gerne Ihre Familie kennenlernen – Ihre Frau und Ihre Tochter und auch Ihren Sohn. Danach sprechen wir unter vier Augen wieder und entscheiden, welchen Schritt wir als Nächstes gehen. Und ich kann Ihnen versichern, dass alles, was Sie sagen, absolut vertraulich behandelt wird, solange Sie nichts anderes wollen. Was halten Sie davon?«

»Ja, okay. Klingt vernünftig.«

»Schön. Und jetzt sagen Sie mir doch – wie schlägt Tilly sich?«

»Schwer zu sagen. Sie ist still. Ein bisschen schreckhaft, ein bisschen anhänglicher, denke ich. Gesundheitlich scheint es ihr ganz gutzugehen, aber sie ist viel zu dünn.«

»Ist sie in ärztlicher Behandlung?«

»Sie war im Krankenhaus, und die Ärzte dort haben sie untersucht und ihr verschiedene Medikamente gegeben. Aber das waren keine, na ja, Spezialisten oder so was.«

»Und wie lautet der Befund dieser Ärzte?«

»Sie ist unterernährt und hat kleinere Verletzungen. Brandwunden.« Cavanaugh verzieht unwillkürlich das Gesicht. »Außerdem leidet sie wahrscheinlich unter einem posttraumatischen Schock. Jedenfalls sagt sie nicht viel und will das Haus nicht verlassen.« Stirnrunzelnd blickt er zu Dr. Lerner auf. »Aber das ist ja wahrscheinlich zu erwarten.«

»Auf jeden Fall. Mit Ihrer Erlaubnis kontaktiere ich das Krankenhaus und bitte um Einsicht in ihre Krankenakte. Bis dahin machen Sie sich bitte klar, dass Sie – Tilly und Ihre ganze Familie – sich gerade erst in der Frühphase eines Genesungsprozesses befinden, der sich sehr lange hinziehen kann.«

»Ja, das ist mir bewusst.«

»Am besten drängen Sie Ihre Tochter nicht zum Erzählen. Erlauben Sie ihr, sich dann zu öffnen, wenn sie es selbst will, und lassen Sie sich nicht von der juristischen Maschinerie unter Druck setzen. Tilly wird mehr sagen, wenn sie sich wieder sicherer fühlt. Im Augenblick muss sie nur spüren, dass Sie ihr bedingungslose Liebe entgegenbringen und sie bei allem unterstützen.«

»Wir haben uns diese Website angesehen – vom Zentrum für vermisste Kinder – und ein paar gute Tipps bekommen.«

»Sehr gut. Das freut mich.«

Dr. Lerner bemerkt, dass Gordon Cavanaugh sich aufrichtet und die Schultern zurücknimmt. Als hätten sie es abgesprochen, heben beide gleichzeitig die Kaffeetasse und trinken – Bild und Abbild, zwei Männer von gleicher Statur, die sich über den Tisch hinweg ansehen.

»Da ist noch was.« Cavanaugh setzt seine Tasse ab.

»Ja bitte?«

»Ich hatte ja eben schon gesagt, dass meine Frau Bedenken hat.«

»Ja?«

»Sie glaubt, dass Tilly mit Ihnen ein Problem haben könnte.«