...und plötzlich Pilger - Johannes Zenker - E-Book

...und plötzlich Pilger E-Book

Johannes Zenker

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Beschreibung

Einsame Buchten, endlose Strände und eine traumhafte Steilküste - der Camino del Norte im Norden Spaniens ist einer von zahlreichen Jakobswegen, die nach Santiago de Compostela führen. Johannes Zenker hat sich 2019 ziemlich blauäugig und ohne jede Wandererfahrung auf diese 830 km lange Reise begeben. Im Gepäck hat er die großen Fragen: Er möchte herausfinden, was er wirklich im Leben braucht. Und was ihn langfristig zufrieden macht. Also tauscht er die Bequemlichkeit seiner gewohnten All-inclusive-Urlaube gegen den rauen Pilgeralltag ein und findet unterwegs die Antworten, nach denen er gesucht hat - und sogar noch einige mehr. Eine unglaublich amüsant geschriebene, mitreißende Reise voller verrückter, kurioser Erlebnisse und überraschender Erkenntnisse, bei der alles, was man zum Leben braucht, in einen Rucksack passt.

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Inhalt

… und schon gehts los

10. Mai 2019 Monte Ulia – In den Fängen der Sekte

11. Mai 2019 Orio – Die Prophezeiung

12. Mai 2019 Zumaia – Der Teufelsanbeter

13. Mai 2019 Irgendwo auf einem Berg – Auge in Auge mit dem Tod

14. Mai 2019 Zenarruza – Vorsicht, Suchtgefahr!

15. Mai 2019 Larrabetzu – Das Pilgermenü des Grauens

16. Mai 2019 Pobeña – Das wars dann wohl mit der Glückssträhne

17. Mai 2019 Castro Urdiales – Die kalte Dusche

18. Mai 2019 Laredo – Der schon wieder?!

19. Mai 2019 Güemes – Alles eine Frage der Einstellung

20. Mai 2019 Santa Cruz de Bezana – Das Geheimnis des 80-jährigen Japaners

21. Mai 2019 Caborredondo – Die einsamste Pilgerin der Welt

22. Mai 2019 Serdio – Die härteste Nacht meines Lebens

25. Mai 2019 Llanes – Wiedersehensfreude ist die schönste Freude

26. Mai 2019 Pría – Der Geist des Jakobsweges

27. Mai 2019 Colunga – Die drei Musketiere

28. Mai 2019 Deva – Abschiedsschmerz

29. Mai 2019 San Martín de Laspra – Ein Tag zum Vergessen

30. Mai 2019 Soto de Luiña – Eklat am Mittagstisch

31. Mai 2019 Cadavedo – Habe ich ihn gefunden?

1. Juni 2019 La Caridad – Per Anhalter durchs Paradies

2. Juni 2019 Vilela – Der Zauberberg

3. Juni 2019 Mondoñedo – „Ich will zurück“

4. Juni 2019 Vilalba – Das Ziel rückt näher

5. Juni 2019 Miraz – Eine Lektion in Sachen Nächstenliebe

6. Juni 2019 Sobrado dos Monxes – Die Ursache allen Glücks

7. Juni 2019 Santa Irene – Willkommen in der Hölle

8. Juni 2019 Monte do Gozo – Auf den Spuren von Roland dem Revolvermann

9. Juni 2019 Santiago de Compostela – Freudentaumel

Epilog

Anmerkung

Bildteil

… und schon gehts los

KANNMICHMALBITTE jemand kneifen? Es ist 7.30 Uhr, ich bin hundemüde und sitze allen Ernstes in einem Fernbus, der mich nach Spanien kutschieren soll. Zum ersten Mal in meinem Leben verreise ich allein, und das für mindestens einen Monat. Denn ich habe mir in den Kopf gesetzt, den Jakobsweg zu gehen. Ich!

Nun bin ich mit meinen 30 Jahren zwar kein Kleinkind mehr, ein bisschen mulmig ist mir aber doch zumute. Plötzlich sind sie alle wieder da meine Zweifel: Habe ich an alles gedacht? Werde ich mich verständigen können? Und kann ich das körperlich überhaupt schaffen? Die Wahrheit ist: Ich bin noch nie gewandert und treibe auch sonst keinen Sport; offen gestanden besitze ich nicht mal ein Fahrrad. Meine Zuversicht, diesen 830 Kilometer langen Fußmarsch zu überstehen, beruht einzig und allein darauf, dass es auch Rentner schaffen. Irgendwie muss man sich ja Mut machen. Aber reicht das wirklich als Argument für eine Pilgerreise?

Für einen Augenblick ziehe ich ernsthaft in Erwägung, den geplanten Trip als riesengroße Schnapsidee abzustempeln und im letzten Moment zu türmen. Warum will ich es mir so schwer machen? Ich befinde mich am Kölner Flughafen, und noch hat sich der Bus nicht vom Fleck bewegt. Ich könnte einfach aussteigen, in den nächsten Ferienflieger springen und für ein paar Wochen irgendwo untertauchen. In einer Wellnessoase zum Beispiel auf einer einsamen Insel in der Südsee. Dort könnte ich den ganzen Tag die Füße hochlegen, anstatt sie unter Höllenqualen durch den bergigen Norden Spaniens zu scheuchen.

Aber halt! Ein bisschen oberflächliche Erholung ist ja gerade nicht das, was ich mir von dieser Reise verspreche. In den vergangenen sechs Jahren waren meine Frau und ich viermal im Urlaub: viermal auf den Kanarischen Inseln, viermal all-inclusive. Das war zwar jedes Mal ganz nett, eine nachhaltige innere Zufriedenheit hat sich aber nicht eingestellt. Auf Dauer macht es eben doch nicht glücklich, sich jeden Abend schon vor dem Salat das beste Stück Kuchen zu sichern. Da muss es doch mehr geben. Ich sehne mich nach echter Erholung und möchte herausfinden, was ich wirklich brauche im Leben und was Ballast ist, den ich abwerfen kann. Deshalb versuche ich es jetzt mal mit Pilgern und wähle bewusst den einfachen Lebensstil. Zwar auch in Spanien, aber immerhin.

Gott sei Dank, wir rollen los. Erleichtert lasse ich mich in mein Polster sinken und atme durch. Nun gibt es kein Zurück mehr! Wenn alles glatt läuft, werden mich drei Busfahrer innerhalb von 20 Stunden nach Irun chauffieren, eine spanische Kleinstadt kurz hinter der französischen Grenze – und das für einen absoluten Spottpreis von 53 Euro!

„Bis vor zwei Jahren hat die Fahrt das Doppelte gekostet“, erklärt mir kurz vor der Abfahrt ein schläfriger Mitarbeiter am Schalter. „Dann hat der wachsende Konkurrenzkampf zu massiven Preissenkungen geführt. Völlig verrückt“, gluckst der Mann und schüttelt den Kopf.

So ganz erschließt sich auch mir diese Rechnung nicht. Außer mir sitzt nur ein halbes Dutzend Portugiesen in diesem Bus, der Platz für mindestens 60 Personen bietet. Sieben Passagiere und drei Fahrer, von einem solchen Betreuungsschlüssel können Kindergärten nur träumen. Besonders ertragreich scheint mir das nicht zu sein. Egal! Ich will mich nicht beklagen und singe ein stilles Loblied auf die Prinzipien unserer Marktwirtschaft, die mir am heutigen Tage niedrige Preise bescheren. Sollte ich etwa doch noch zum FDP-Wähler werden? Ich will doch schwer hoffen, dass dies keine Erkenntnis ist, die der Jakobsweg in mir zutage fördern wird!

Aber was genau habe ich überhaupt vor? Einsame Buchten, endlose Strände und eine traumhafte Steilküste – das klingt eigentlich mehr nach Urlaubsparadies als nach einer Pilgerroute. Der Camino del Norte weist jedoch genau diese Merkmale auf und ist einer von zahlreichen Jakobswegen, die nach Santiago de Compostela führen. Dort liegt der Überlieferung zufolge das Grab des Apostels Jakobus, dem angeblichen Missionar der Iberischen Halbinsel. Seit dem 9. Jahrhundert pilgern Menschen zu diesem Ort, um den Apostel zu verehren und ihren Glauben unter Beweis zu stellen, oft verbunden mit der Hoffnung auf Vergebung ihrer Sünden.

Die Strecke verläuft fast parallel zum klassischen Camino Francés, nur 100 bis 150 Kilometer weiter nördlich entlang der Atlantikküste. Auf meinem Weg durchquere ich das Baskenland, Kantabrien, Asturien und Galicien; die bekanntesten Städte heißen San Sebastián, Bilbao und Gijón. Seit 2015 zählt der Camino del Norte zum Welterbe der Unesco. Er gilt zwar als anstrengender, aber auch als landschaftlich schöner und nicht so überlaufen wie der Francés.

Eine 20-Stunden-Tour im Reisebus – allein das klingt für viele nach einem Horrortrip. Ich dagegen bin von meiner Fahrt begeistert. Vor allem Frankreich gefällt mir außerordentlich gut. Seit einer Ewigkeit klebt meine Nase an der Scheibe, weil ich wie hypnotisiert auf die malerischen grünen und gelben Landschaften starre, die an meinen Augen vorüberziehen. Der Norden scheint aus einem einzigen großen Feld zu bestehen mit schier unendlicher Weitsicht. Kein Wunder, dass die französischen Präsidenten stets für ihre Landwirte kämpfen. Die kostenlose Stadtrundfahrt durch Paris bildet das Sahnehäubchen. Einzig der schale Geruch nach Urin, der aus der Bustoilette strömt, trübt das Vergnügen ein wenig. Aber immerhin weiß er meinen eigenen, nicht mehr ganz so taufrisch anmutenden Duft zu übertünchen.

Wir durchqueren unser Nachbarland komplett von Nord nach Süd. Für jemanden, der als Kind gebannt die Tour de France verfolgt hat, aber noch nie hier war, ist das ein echtes Erlebnis. Ein bisschen fühle ich mich wie Jan Ullrich, nur natürlich ohne Doping im Blut – und ohne Beinmuskeln. Aber die will ich mir ja in den kommenden Wochen erarbeiten.

Während mein Blick auf dem farbenfrohen Flachland ruht, grüble ich darüber, was ich mir außer Erholung von meiner Reise erhoffe. Schon seit Langem wünsche ich mir die nötige Zeit und Ruhe, um mich den existenziellen Fragen zu widmen: Gibt es Gott? Und hat das Leben einen Sinn? Manchmal ist mir nämlich so, als habe es mit dem Menschen gar nicht viel auf sich. Ich möchte diese Gedanken sortieren und am liebsten wieder verwerfen. Puh, klingt wie der Arbeitsauftrag für eine Doktorarbeit. Wenn ich nur daran denke, raucht mir schon der Kopf. Aber mich beschäftigen diese Fragen nun mal, und es wird Zeit, dass ich ihnen auf den Grund gehe. Brexit, Donald Trump und Klimawandel haben jetzt Sendepause – ich kümmere mich um das große Ganze!

Meine momentane Beziehung zu Gott ist eher kompliziert. Ich würde mich als gut ausgebildeten Christen bezeichnen, der die Bibel halbwegs kennt und das Vaterunser recht flüssig beherrscht. Eine echte Fachkraft also, die seit Jahren auf eine Vertragsverlängerung wartet, sich aber weigert, nur mit den Stellvertretern des Chefs zu verhandeln. Dazu sind meine Zweifel an der Existenz des Bosses zu groß geworden. Einen Stift trage ich aber jederzeit bei mir, falls er doch noch aufkreuzen sollte, um mir ein Angebot zu unterbreiten.

Und ich hoffe, dass es dazu kommen wird, dass es Gott gibt und dass ich auf meiner Reise nach Santiago kleine Spuren von ihm finden werde, mag das auch naiv klingen. Der Jakobsweg scheint mir auf jeden Fall der logische Ort zu sein, um meine Detektiv-Karriere zu beginnen. Viele Menschen, die gepilgert sind, behaupten schließlich, Gott begegnet zu sein. Dann kann das doch nicht so schwer sein. Auch Hape Kerkeling will ihn auf seinem Camino getroffen haben.

Mit einem breiten Grinsen im Gesicht klettere ich nachts um 3.00 Uhr in Irun aus dem Fernbus. Endlich am Ziel, denke ich mir – was natürlich absurd ist, denn vor mir liegen Hunderte Kilometer Fußmarsch. Weiter entfernt von einer Ziellinie könnte ich gar nicht sein. Trotzdem tut es gut, nach der langen Fahrt wieder frische Luft zu atmen.

„Nur die Treppen hoch, dann kommst du zum Bahnhof“, ruft mir der beleibte, gerade am Steuer sitzende Fahrer hinterher. Meine späte Ankunft hat nämlich einen Haken: Ich habe mir kein Zimmer genommen. Im Vorfeld hatte ich gelesen, dass echte Pilger um spätestens 7.00 Uhr ihre Wanderstiefel schnüren. Mich für drei, vier Stunden irgendwo einzuquartieren, erschien mir albern. Stattdessen plane ich, die Zeit als Obdachloser am Bahnhof zu vertrödeln, bis ich bei Anbruch der Dämmerung meinen Pilgermarathon beginnen kann.

Das nächtliche Irun ist wie ausgestorben. Auf dem Weg zum Bahnhofsgebäude sehe ich niemanden, und das Einzige, was ich höre, sind meine Schritte auf dem feuchten Asphalt. Es muss geregnet haben. Die kleine Halle mit den gläsernen Schiebetüren ist leider verschlossen, sie liegt wie alles hier im Dunkeln. Was solls, dann bleibe ich eben draußen.

Gähnend lasse ich mich in der Nähe des Eingangs in einer überdachten, matt beleuchteten Ecke auf die kalten Fliesen fallen. Welch ein bezauberndes Plätzchen für meine erste Nacht. Vor meiner Nase stehen bunte Automaten mit Getränken und Süßkram, dahinter erstrecken sich die verwaisten Gleise. Zu meiner Rechten liegt die Halle, und linker Hand umrundet eine Einbahnstraße einen großen, von Pollern begrenzten Bereich für Fahrräder. Ganz schön gruselig hier in diesem schaurig-gedämpften Licht. Von Mond und Sternen ist keine Hilfe zu erwarten, dazu hat sich eine viel zu dichte Wolkendecke vor den Himmel geschoben.

Nachdem ich eine Weile vor mich hingedöst habe, zucke ich plötzlich heftig zusammen. Eine leere Flasche rumpelt lautstark über den Boden. Bitte nicht! Auf Gesellschaft kann ich jetzt gut verzichten. Sofort blicke ich Richtung Bahnsteig und sehe, wie sich ein schwarzer Schatten langsam um die Ecke des Gebäudes schiebt. Na toll! Im Schummerlicht taucht die Silhouette eines älteren Mannes auf, der mit leicht abstehenden Armen auf mich zugewankt kommt.

„Anbulantzia, anbulantzia“, stöhnt der Mann mit rauer Stimme. Wie ein Zombie nähert er sich schlurfenden Schrittes. Das darf doch nicht wahr sein!

Erschrocken springe ich hoch und starre ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Mir stockt der Atem. Seine gesamte Stirn ist blutverschmiert! Ich komme mir vor wie in einem schlechten Horrorfilm. Fehlt nur noch, dass eine der Neonröhren über unseren Köpfen anfängt zu flackern.

Erst als der Mann vor mir zum Stehen kommt, erkenne ich das ganze Ausmaß seiner bestialischen Verletzung. Ich glaube, mir wird schlecht! An der rechten Seite seiner Stirn klafft eine tennisballgroße Fleischwunde. Fassungslos schaue ich ihn an, ich habe das Gefühl, direkt auf seinen Schädel zu glotzen.

Der Verwundete selbst wirkt überraschend gefasst. Der etwa 70-Jährige sieht aus wie ein untersetzter Cowboy im Ruhestand, trägt blaue Jeans, ein rotes Karohemd, eine dunkle Weste und einen Dreitagebart.

Hektisch krame ich nach meinem Handy, um den Notarzt zu rufen. Währenddessen versuche ich, dem Mann mit Händen und Füßen begreiflich zu machen, dass ich kein Wort Spanisch verstehe. Was ihn jedoch nicht davon abhält, mich mit weiteren Sätzen in seiner Landessprache zu bombardieren.

Wie sich glücklicherweise schnell herausstellt, ist sein Englisch besser als gedacht, in jedem Fall nicht schlechter als meins, und so kommen wir ins Gespräch.

„Was ist passiert?“, frage ich und deute verzweifelt auf seine Stirn. „Sind Sie – ?“

Der Mann unterbricht mich. „Hast du vielleicht ein Taschentuch?“, fragt er keuchend.

„Natürlich“, nuschele ich verwirrt und wühle in meinem Rucksack. So richtig Herr meiner Sinne bin ich nicht mehr. Kein Wunder nach der 20-stündigen Fahrt.

Dankbar zieht er ein Tuch aus der Packung und tupft sich die Stirn. „Mierda!“, flucht er und lässt das blutdurchtränkte Tuch vor Schreck zu Boden fallen. Dem Armen scheint die Dimension seiner Verletzung gar nicht bewusst gewesen zu sein.

„Wollen Sie etwas trinken?“, frage ich nun etwas geistesgegenwärtiger, als mir meine aus dem Rucksack ragende Wasserflasche ins Auge fällt. Der Mann nickt und nimmt einen kräftigen Schluck. Als ich erneut wissen will, warum er so übel zugerichtet ist, gerät er ins Stottern.

„Ein Mann …“, quetscht er mühsam heraus und zeigt auf seine Gürteltasche, „… wollte telefonieren … Akku leer“, dann ballt er die Faust und führt sie ruckartig zu seinem Kopf. Das gibt es doch nicht, was für eine Welt!

In diesem Moment dringt aus der Ferne Sirenengeheul an unsere Ohren, und keine halbe Minute später rauschen ein Krankenwagen und zwei Polizeiautos herbei. Mit quietschenden Reifen halten sie vor uns an. Ihr Blaulicht verwandelt den Bahnhofsplatz in eine Disco.

Vier Beamte und zwei Sanitäter springen aus den Fahrzeugen und knallen die Türen zu. Sofort schieben die Rettungskräfte den Verletzten zum Krankenwagen und bugsieren ihn im Inneren auf einen Stuhl. Dann leuchten sie ihm in die Augen und verpassen ihm einen Turban.

Einer der Polizisten widmet sich mir. Als er feststellt, dass ich nichts gesehen habe, bedankt er sich und teilt mir mit, dass ich nun gehen dürfe. Wie bitte? Völlig verdattert schaue ich den Ordnungshüter an. Ganz bestimmt nicht, denke ich mir. Angesichts der drohenden Gefahr in dieser Kleinstadt könnte ich mir gerade keinen schöneren Ort vorstellen als an der Seite von vier bewaffneten Polizisten.

Meine überraschte Reaktion entgeht dem Uniformierten nicht. „Wo übernachten Sie heute?“, will er nun stirnrunzelnd von mir wissen. Etwas zögerlich erkläre ich ihm meinen glorreichen Plan, noch ein paar Stunden an diesem Bahnhof ausharren zu wollen. Sein skeptischer Blick sagt alles. Der Mann guckt, als sei das die dümmste Idee, die er je gehört habe. Wahrscheinlich war das heute nicht sein erster Einsatz wegen nächtlicher Gewalt.

So schnell wie die Einsatzkräfte gekommen waren, sind sie auch wieder verschwunden. War wohl nichts mit Rundum-Bewachung bis zum Morgengrauen. Vielleicht wäre ein Bett für die Nacht doch keine so schlechte Idee gewesen, schießt es mir kurz durch den Kopf. Dann wische ich diesen völlig abwegigen Gedanken aber wieder beiseite. Sei kein Feigling, das stehst du jetzt durch!

Ausdruckslos mustere ich die Blutspuren und das knallrote, zusammengeknüllte Taschentuch auf dem Asphalt. Ich muss an meine Frau denken, die sämtliche Bedenken geäußert hat, die man vor einer solchen Reise äußern kann. Stets habe ich sie mit den Worten besänftigt, es gebe keinen sichereren Ort auf der Welt als den Jakobsweg. Und nun ist das Erste, was mir widerfährt, dass mich ein blutig geschlagener Spanier an einem gruseligen Bahnhof um Hilfe bittet. Wenn ich ihr das erzähle, zitiert sie mich direkt zurück!

Erschöpft rutsche ich an der Mauer des Gebäudes auf den Boden und hole tief Luft. Ich fühle mich wie gerädert, dabei hat die erste Etappe noch gar nicht begonnen …

10. Mai 2019

Monte Ulia – In den Fängen der Sekte

WASFÜREINTAG, bin völlig geplättet! Sollte diese Etappe der Maßstab gewesen sein, muss ich schon morgen die weiße Fahne hissen. Mann, bin ich am Ende! Die letzten Kilometer habe ich seitwärts zurückgelegt, anders wäre ich den Berg nicht mehr hinaufgekommen. Meine Oberschenkel waren taub und hatten keine Kraft mehr, um den Rest des Beins nach oben zu ziehen. Ich konnte buchstäblich keinen Fuß mehr vor den anderen setzen – so was habe ich noch nie erlebt!

Jetzt gerade sitze ich im Garten meiner Herberge, einem prächtigen Anwesen mitten im Wald, und schreibe in mein Reisetagebuch. Hier haben die Zwölf Stämme ihr Zuhause, eine Glaubensgemeinschaft, die optisch im 12. Jahrhundert nicht weiter aufgefallen wäre. Die Männer tragen einfache Stoffhosen und Hemden in tristen Grau-, Braun- und Beigetönen. Die Frauen verhüllen ihre Körper entweder mit langen Kleidern oder mit Röcken und Blusen im XXL-Format. Hauptsache, von ihrer Weiblichkeit ist wenig zu sehen. Dass hier Bärte und lange Haare schwer in Mode sind, muss ich wohl nicht extra erwähnen. Würde man den Herrschaften Gitarren in die Hände drücken, könnten sie als Doubles der Kelly Family Konzerthallen füllen.

In meinem schlauen Reiseführer steht, böse Zungen würden behaupten, es handle sich bei den Zwölf Stämmen um eine Sekte. Die Wände des Badezimmers sind zumindest zugekleistert mit Botschaften von der Liebe Gottes und dem nahenden Weltuntergang. Böse Zungen also … wenn das keine Sekte ist, fresse ich einen Besen. So ganz geheuer ist mir die Gruppe jedenfalls nicht. Wo sonst könnte ich aber besser mit meiner Suche nach Gott beginnen als hier?

Heute Morgen hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich es so weit schaffen würde. Um 4.30 Uhr schließt ein Wachmann die Bahnhofshalle auf und lässt mich herein. „Sie sehen aber gar nicht gut aus“, versucht mich der ältere Herr erst gar nicht aufzumuntern. Egal. Endlich eine richtige Bank unter dem Hintern, jetzt geht es aufwärts! Der Kiosk und das Café sind leider noch geschlossen. Dafür ist es hell und mutmaßlich sicher.

Als ich kurz nach 5.00 Uhr Bewegung hinter der Scheibe des Schalters wahrnehme, springe ich begeistert auf. Jetzt oder nie! Das ist die Chance, Irun als Startort meines Abenteuers offiziell beglaubigen zu lassen. Eine korpulente Frau mit einer schwarzen, zum Zopf gebundenen Lockenpracht lässt sich gerade unmotiviert auf einen Drehstuhl plumpsen und starrt mit kleinen Äuglein ins Leere.

„Hola“, sage ich locker zur Begrüßung, gerate aber direkt ins Schwimmen. Viel mehr habe ich auf Spanisch nämlich nicht drauf. „Äh, äh“, stammele ich, während ich meinen jungfräulichen Pilgerpass in die Schale lege, „äh, do you have a – a sello?“ Munter mische ich das spanische Wort für Stempel in meinen englischen Satz, um das Bemühen zu signalisieren, den hiesigen Gepflogenheiten gerecht werden zu wollen. Möchte ja nicht am ersten Tag gleich unangenehm auffallen. Bewunderung wird mir dafür nicht zuteil. „Si“, antwortet die Dame knapp, ohne die Miene zu verziehen, und entfaltet das Dokument auf ihrem Tresen.

Rumms! Keine zwei Sekunden später hat sie ihren Stempel lustlos auf die Pappe gehämmert. Dann schiebt sie den Pass zurück und nickt mir wortlos zu. Kein Blick der Welt könnte schöner zum Ausdruck bringen: Der Nächste bitte! Dabei ist außer mir ja gar keiner hier.

Ich beschließe, mich von ihrer mürrischen Laune nicht anstecken zu lassen – immerhin wird sie mehr geschlafen haben als ich – und begutachte voller Stolz den Ausweis in meinen Händen. Da leuchtet er nun: mein erster Stempel, meine Eintrittskarte für die offiziellen Pilgerherbergen, ausgefertigt von der spanischen Eisenbahngesellschaft Renfe. Leider sieht er genauso aus, wie sich der Name des Unternehmens anhört: Renfe, ein bisschen hölzern, unelegant und nicht sehr fantasievoll. In einem blauen Rechteck prangen das Firmenlogo, das heutige Datum und der Ortsname Irun. Kein Vergleich zu den liebevoll verzierten Kunstwerken, die ich auf Fotos gesehen habe. Was solls, ich möchte mich ja noch steigern können.

Ein paar Minuten später wage ich mich trotz der anhaltenden Dunkelheit zurück an die frische Luft. Mir juckt es jetzt einfach in den Füßen. Und sollten mir finstere Gestalten über den Weg laufen, ziehe ich ihnen mit meinem acht Kilogramm schweren Wanderrucksack einfach eins über. Damit würde ich selbst die Klitschko-Brüder auf die Matte schicken.

Guter Dinge marschiere ich los und verlaufe mich prompt im stockdüsteren Güterbahnhof nebenan. Zu spät bemerke ich, dass mein Pilgerführer seine Schilderungen nicht am Bahnhof von Irun beginnt, sondern am Bahnhof von Hendaye, dem letzten Örtchen auf französischer Seite. Bravo, das ist ja ein toller Einstand! Locker fünf Minuten tapse ich über das Gelände, bis ich endlich dahinterkomme, dass sich die in meinem Büchlein beschriebene Straßenkreuzung eher nicht zwischen aufgetürmtem Geröll und Lagerhäusern verbirgt. Ich bin es eben nicht gewohnt, mich anhand von Beschreibungen und einer Karte zu orientieren.

Den korrekten Angaben folgend, erblicke ich kurz darauf an einer Hauptstraße den ersten gelben Pfeil. Um Punkt 5.30 Uhr ist es also so weit: Ich, Johannes Zenker, 30 Jahre alt, 1,93 Meter groß, Brillenträger, Journalist aus Osnabrück, Hobby-Philosoph, Ehemann seit 2006 und Vater leider nur noch eines 13-jährigen Kaninchens, starte offiziell meinen Camino del Norte, die große Schnitzeljagd durch den Norden Spaniens.

Gleich vor dem ersten Anstieg fallen mir fast die Augen aus dem Kopf: Der düstere, in den Wald hineinführende Pfad sieht aus, als hätte ein Lastwagenfahrer auf dem Gipfel seine Grünabfälle ausgeschüttet. Baumrinde, Äste, Laub und kleine Felsbröckchen pflastern den matschigen Weg bergauf. Als Krönung hat sich in die Mitte der Piste ein tiefes Rinnsal gegraben, sodass ich mich für eine der beiden Seiten entscheiden muss – zumindest so lange, bis mich auf den Weg hängendes Gestrüpp auf die andere schubst. Meine Güte, räumt denn hier nie jemand auf? Das ist der Jakobsweg!

Schritt für Schritt kämpfe ich mich durch dieses Chaos der letzten drei Stürme. Zweige zerbrechen knackend unter meinen Füßen, und immer wieder spüre ich, wie sich spitze Steine in meine Sohlen bohren. Trotzig lache ich auf. Für solches Terrain gibt es also Wanderstiefel. Ich selbst trage nämlich keine, sondern baue zum Entsetzen einiger Freunde auf meine sportlichen grauen Alltagsschuhe. Der Grund: Sie sitzen wie angegossen, und ich hoffe, dank ihnen nicht so anfällig zu sein für Blasen. In jedem Fall verstehe ich jetzt, wozu diese huckeligen Teststrecken in Sportgeschäften gut sind. Die habe ich immer für maßlos übertrieben gehalten.

Gekleidet bin ich in eine schwarze Trekkinghose und eine ebenfalls schwarze Fleecejacke. Darunter trage ich ein stachelbeerfarbenes Funktionsshirt. Irgendwie, finde ich, sehe ich gar nicht aus wie ein Pilger, sondern eher wie mein Opa auf dem Weg zur Krankengymnastik. Passenderweise fühle ich mich auch so nach mehr als 24 Stunden ohne Schlaf.

Nach etwa einem Kilometer erreiche ich außer Atem das Heiligtum von Guadalupe, eine Kapelle zu Ehren der Jungfrau Maria. Hier gibt es auch endlich einen Wasserhahn, an dem ich meine Vorräte auffüllen kann. Den ersten kräftigen Schluck spucke ich allerdings direkt wieder aus. Ist ja widerlich! Das Wasser ist gechlort und schmeckt wie frisch aus dem Babybecken eines Hallenbades gezapft. Aber nützt ja nichts, ich muss genügend trinken! Also fülle ich meine Flasche bis zum Anschlag.

Was mich dann erwartet, spottet jeder Beschreibung: Die Strecke auf den 547 Meter hohen Jaizkibel ist einfach der Knaller. Noch nie habe ich einen Weg – oder sagen wir besser eine von Pflanzen befreite Schneise – so steil und gnadenlos direkt bergauf führen sehen. Gesäumt wird der Trampelpfad von Wiese, Unkraut, Sträuchern und vereinzelten Bäumen, dem normalen Bewuchs dieses Berges eben.

Tollkühn stürze ich mich ins Abenteuer und stoße sofort an meine Grenzen. Hier geht es derart steil nach oben, im Grunde trete ich fast auf der Stelle. Das größte Problem: Der aufgeweichte Lehmboden ist verdammt rutschig. Ich drohe ständig, den Halt zu verlieren. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als mich mit Händen und Füßen von Stein zu Stein und von Grasbüschel zu Grasbüschel zu hangeln, meist auf allen Vieren. Immer wieder muss ich auch meine Finger in den breiigen Boden krallen, um nicht in den Abgrund zu stürzen. Ich ächze, stöhne und fluche. Verliefe die Strecke waagerecht, sähe ich aus wie ein krabbelndes Kleinkind, das beim Versuch, aufrecht zu gehen, dauernd auf die Nase fällt.

Nach kurzer Zeit halte ich mit bebendem Oberkörper inne. Was mache ich hier eigentlich? Vor jeder Bewegung habe ich höllische Angst, dass ich fallen könnte. Das hat mit Pilgern doch nichts zu tun. Das ist purer Abnutzungskampf, sowohl körperlich als auch mental. Habe ich den Jakobsweg etwa unterschätzt? Mir wurde immer gesagt, die erste Etappe des Camino Francés in den Pyrenäen sei brutal. Das hier kann nicht viel einsteigerfreundlicher sein. Hätte ich etwa doch die Variante um den Berg herum nehmen sollen?

Mit hochrotem Kopf und schweißnasser Stirn ziehe ich mich eine gefühlte Ewigkeit später an einem Baumstamm auf den rettenden Gipfel. Ich kann es nicht fassen, ich habe es geschafft! Erleichtert stütze ich meine schmutzigen Hände auf die Knie und japse nach Luft. Selbst das Chlorwasser geht jetzt runter wie Öl. Vor meinen Augen erstreckt sich eine riesige Hochebene voll saftigem Gras und Gänseblümchen. Das muss das Paradies sein!

Schnaufend wende ich mich um und schüttele den Kopf. Kaum zu glauben, dass ich ohne Sicherheitsgurt und Haken diese senkrecht emporschießende Wand heraufgeklettert bin. Der Hang ist übersät von meinen tief in den Matsch getrampelten Fußspuren. Ich kann genau nachvollziehen, an welchen Stellen ich beinahe weggerutscht wäre.

Dann schweift mein Blick in die Ferne, und ein eiskalter Schauer läuft mir über den Rücken. Ich erstarre und bin sprachlos. Was für eine Aussicht! Auf die malerische Bucht, an der die winzigen Dächer von Irun, Hondarribia und Hendaye liegen, auf die prächtige, leicht von Nebel verhangene Bergwelt der Pyrenäen und auf das offene tiefblaue Meer. Dieser Rundumblick, diese Fernsicht, einfach atemberaubend! So weit das Auge reicht, nichts als Wiesen, Wälder, Flüsse, Hügel, Täler und der Ozean – eine märchenhafte Landschaftsmalerei, in unterschiedlichen Grün- und Blaunuancen strahlend. Als wäre das nicht schon kitschig genug, brechen in diesem Moment auch noch Sonnenstrahlen durch die grauen Wolken. Keine zehn Kilometer, und ich bin zum ersten Mal überwältigt! Wahrscheinlich bin ich aufgrund meiner Müdigkeit auch ein leichtes Opfer.

Mit einem Glänzen in den Augen lasse ich mich auf einen moosigen, etwas feuchten Stein fallen. Ich brauche dringend eine Pause und würde in meinem Zustand alles als Stuhl akzeptieren. Außerdem ist das Panorama magisch. Ich kann mich gar nicht sattsehen an dem Blick in die Ferne. Er lässt mich jede einzelne Schweißperle vergessen, die mir vor Angst und Anstrengung von der Stirn getröpfelt ist. Und zum ersten Mal wird mir so richtig bewusst: Ich bin in Spanien und laufe den Jakobsweg. Ich bin dankbar dafür, diese von Ruhe und Ursprünglichkeit geprägte Welt in den kommenden Wochen mein Zuhause nennen zu dürfen – anstatt jener geschäftigen und lauten zwischen den Häusern. Städte als eine Schar ruhig daliegender und weit entfernter Dächer, die den Blick auf das hektische Treiben der Straßen, den lärmenden Verkehr und die blinkenden Schaufenster versperren, so könnte es immer sein.

Die Hochebene ist ein echter Traum. Ich genieße die Frische, die Ruhe und den Anblick der sich sanft im Wind wiegenden Gräser. Ich könnte Purzelbäume schlagen, so glücklich bin ich, hier zu sein. Ich komme an brüchigen Wachtürmen aus dem 19. Jahrhundert vorbei und treffe auf eine Horde wilder Pferde. Etwa 15 Tiere, darunter einige Fohlen, rupfen munter Büschel aus dem Boden und mampfen friedlich vor sich hin. Zäune gibt es hier oben keine, und so pirsche ich mich bis auf wenige Meter an sie heran. Mehr Natur geht nicht! Endlich stellt sich auch so etwas wie ein Laufrhythmus ein. Daran war im Kampf mit den Höhenmetern nicht zu denken. Bei annähernd 20 Grad habe ich perfektes Wanderwetter.

Der erste Pilger, der mir begegnet, ist ein alter Asiate mit grauschwarzen Haaren. Er bewahrt mich davor, eine falsche Abzweigung zu nehmen, und lotst mich aus 30 Metern Entfernung zurück auf den richtigen Weg. „He, he, Camino, Camino!“, ruft er und schwenkt wie wild seine Arme durch die Luft.

Als ich ihn genauer betrachte, traue ich meinen Augen nicht. Jetzt sehe ich schon doppelt, denke ich und gebe mir einen Klaps auf den Hinterkopf. Doch es ändert nichts. Das schmächtige Kerlchen mit den dünnen Beinchen trägt nicht nur einen Rucksack auf dem Rücken, sondern noch einen weiteren vor der Brust! Dabei ist er höchstens 1,65 Meter groß und dürfte kaum mehr als 50 Kilo wiegen. Entweder ist der völlig übergeschnappt oder er ist als Kind in einen Kessel voll Zaubertrank gefallen. Wie der es hier hochgeschafft hat, ist mir ein Rätsel. Habe ich etwa das Seil übersehen oder den Aufzug? Oder habe ich meine Leistung einfach kolossal überschätzt?

Der Aufstieg war anstrengend und mühselig, aber der Weg hinunter auf einer Geröllpiste ist um ein Vielfaches schmerzhafter. Bei jedem Schritt werden meine Zehen erbarmungslos gegen die Front meiner Schuhe gepresst. Auch in den Knien zieht es heftig. Teilweise ist das Gefälle derart stark, dass ich unfreiwillig anfange zu rennen, weil ich keine Chance habe, zum Stillstand zu kommen. Wie auf Inline Skates rolle ich die Abhänge hinunter und muss mich gegen Baumstämme werfen, wenn ich bremsen will. In diesem halsbrecherischen Hindernisparcours erfordert jeder Schritt höchste Konzentration. Ein Pilgerstab zum Kontrollieren des Tempos wäre jetzt Gold wert. Oder ein Schlitten, das ginge auch. Rund fünf Kilometer lang treibt mich der Weg auf diese Weise zurück auf die Höhe des Meeresspiegels.

Nach einem Rundgang durch Pasaia, einem malerischen Fischerdörfchen mit bunten, eng aneinandergereihten Häuschen, die dank der umliegenden Berge aussehen wie in den Fels gehauen, sehe ich den Asiaten wieder. Er steht am Ufer des breiten Hafenbeckens und unterhält sich angeregt mit drei jungen Frauen. Gemeinsam warten sie an einem Anleger auf die nächste Fähre, mit der wir vom Ortsteil Donibane in den Ortsteil San Pedro schippern müssen. Zum ersten Mal trägt der kühle Wind eine salzige Note an meine Nase, und das Meer ist zum Greifen nah. Großartig!

Nicht, dass ich lauschen wollte, aber ich wüsste schon gerne, was es mit diesem ungewöhnlichen Menschen auf sich hat. Mit seinen beiden Rucksäcken sieht er aber auch zu putzig aus, wie ein Känguru mit Nachwuchs. Und seine Dreivierteljeans würde mir allenfalls bis zu den Knien reichen.

„My name is Hiroto. I’m from Japan, I’m 80 years old“, stellt er sich mit einem drolligen Akzent den Pilgerinnen vor. Aha, er kommt also aus Japan, das habe ich mir … – was hat der bitte gesagt? Mir klappt die Kinnlade herunter. Der Mann mit den beiden Rucksäcken soll 80 Jahre alt sein? Das kann unmöglich wahr sein, so quietschfidel wie der die Steigungen überwindet. Aber bitte: Ob der ebenfalls verdutzten Blicke seiner Gesprächspartnerinnen wiederholt er es noch mal: „Yes, 80. I am 80 years old.“ Ich bin baff und schaue voller Bewunderung zu ihm hinüber.

Während der Überfahrt verwickele ich den Mann in ein Gespräch. Er wolle heute noch bis San Sebastián laufen, ich könne ja mitkommen, schlägt er mir freundlicherweise vor. Unglaublich, das sind noch mindestens zehn Kilometer, das schaffe ich nie. Schweren Herzens lehne ich das Angebot ab. Fast 20 Kilometer habe ich seit 5.30 Uhr, also seit gut sechs Stunden, auf dem Buckel, und die Überquerung des Jaizkibels hat mich wirklich geschlaucht. Gefühlt tut alles weh: meine Füße, meine Knie und meine Schultern, die sich an das Gewicht des Rucksacks erst gewöhnen müssen. Als die Fähre anlegt, kippe ich sogar fast hintenüber ins Wasser, weil ich beim Aufstehen zittrige Beine habe. Nein, ich möchte nicht mehr laufen, ich möchte nur noch irgendwo ankommen, zum ersten Mal seit 30 Stunden duschen und ein kleines Nickerchen halten. Ich entscheide mich für die Herberge der Zwölf Stämme, das müssten noch vier Kilometer sein.

Zu meinem Bedauern erweisen sich auch die als vier Kilometer zu viel. Am Ortsausgang führen direkt am Meer massive Treppenstufen aus Stein, die hier wahrscheinlich schon seit 1000 Jahren die Menschheit quälen, den Berg hinauf. Und es kommt, wie es kommen muss: Während mich die Kräfte verlassen, löst sich die Hoffnung, dass ich schaffen müsste, was auch Rentner schaffen, vor meinen Augen in Luft auf. Der 80-jährige Hiroto fliegt die Stufen förmlich nach oben und zeigt mir, während er eigentümliche Hajaja-hajaja-Laute von sich gibt, die Hacken. Es ist zum Heulen! Mein inneres Bücherregal, gefüllt mit den besten Motivationsratgebern der Welt, stürzt jämmerlich in sich zusammen. Woher nimmt der Mann bloß diese Energie? Beeindruckend!

Mit hängenden Schultern bleibe ich zurück. Meine Beine sind nicht mehr zu spüren, und nur unter Zuhilfenahme der Hände gelingt es mir, sie auf den nächsten Absatz zu hieven. Ich fühle mich wie Baron Münchhausen, der sich an seinen eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen versucht. Es dauert eine Ewigkeit, bis ich die letzte Stufe erklommen habe.

Oben angekommen, kann ich den Blick auf das im Sonnenschein funkelnde Meer und die steilen, begrünten und kilometerweiten Klippen kaum genießen. Ich bin kaputt und will mich nur noch irgendwie ins Ziel retten. Die nächste Steigung in einem Wald nehme ich dann seitwärts in Angriff, anders komme ich keinen Schritt mehr voran. Ich kann mich nicht daran erinnern, mich jemals in solch entwürdigenden Körperhaltungen befunden zu haben wie heute. Gott, muss ich bescheuert aussehen!

Nach insgesamt 25 Kilometern biege ich im Schneckentempo auf das Grundstück der Zwölf Stämme ein. Am Ende der langen Einfahrt kommt mitten im Grünen ein gelb gestrichenes Landhaus zum Vorschein, das rundherum mit braunen Längs- und Querbalken versehen ist. Nach vorne hin befindet sich eine große Fensterfront. Davor steht unter einem vorgelagerten Dach mit Markise ein Tisch, an dem eine Gruppe Menschen sitzt und isst.

Ein Mann mit dichtem weißen Bart springt auf der Stelle von seinem Stuhl und winkt mich energisch herbei. „Hello there“, ruft er mir schon von Weitem entgegen. „Komm und setz dich zu uns.“

Der etwa 70-Jährige in einfachen Leinen-Klamotten streckt mir freundlich die Hände entgegen und weist mir den Platz ihm gegenüber zu. „Deinen Rucksack stell einfach vor die Tür.“ Dankbar und ausgelaugt lasse ich mich auf den Stuhl fallen. Endlich angekommen, nach einem schier unglaublichen achtstündigen Fußmarsch. Und es ist nicht mal 14.00 Uhr, als ich mein Arbeitspensum beende. An schlechten Tagen zu Hause schlüpfe ich um diese Zeit gerade aus dem Schlafanzug.

Aber was für eine dämliche Idee, direkt am ersten Tag so weit zu laufen. Hoffentlich habe ich mein Pulver nicht schon verschossen. Und doch bin ich auch stolz, stolz auf meinen Willen, stolz auf meinen Körper. Ich bin einen 550-Meter-Berg hoch- und wieder heruntergeklettert. Für den Anfang gar nicht schlecht.

Wie sich die Menschen hier um mich kümmern, ist rührend. Eine kleine Frau stellt mir sofort eine Limonadenmischung aus Kiwisaft und Matetee vor die Nase, eine andere reicht mir ein Sandwich mit gekochtem Schinken und Käse. Beherzt greife ich zu und fühle mich wie im siebten Himmel. Seit einer Autobahnraststätte im französischen Nirgendwo hatte ich nichts mehr zwischen den Zähnen.

Mit dem älteren Mann unterhalte ich mich ein wenig über die Zwölf Stämme, denn er ist sozusagen der Chef hier. Als er merkt, dass ich aus Deutschland komme, wird er ganz wehmütig. „O, ich liebe Deutschland“, gerät er ins Schwärmen. „Sieh nur, meine Frau ist Deutsche“, deutet er auf seine Sitznachbarin, die mir die Limo gebracht hat.