2,99 €
Morten Flink, selbst gebürtiger Bonner, nimmt den Leser mit auf einen spannenden und temporeichen Ausflug in die gefährliche Welt zweier Kleinganoven aus der ehemaligen Bundeshauptstadt. Leon Wendt und Max Stumm versinken trotz edler Absichten immer tiefer in dem Morast ihrer kriminellen Vergangenheit. Es geht um Mord, bewaffneten Raub, um Insiderhandel, und schließlich um einen millionenschweren Kunstraub, der all das Übel, welches sie sich und ihren Lieben zufügen, ein für alle Mal beenden soll. Doch gerade als sich ein Ausweg aus der Abwärtsspirale aufzutun scheint, kommt alles anders. Welchen Einfluss nehmen die engagierte Ermittlerin Esther Holm und der zwielichtige Schwerverbrecher Milosz Zaqiri auf das Schicksal der beiden? Gibt es ein Entkommen aus dem Sumpf des Verbrechens?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 467
Veröffentlichungsjahr: 2019
Morten Flink
Und schwarzströmt das Blut
Ein Bonner Märchen
© 2019 Morten Flink
Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7482-3002-1
Hardcover:
978-3-7482-3003-8
e-Book:
978-3-7482-3004-5
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig.
Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für alle, die täglich mit dem Teufel kämpfen, der sich Depression nennt.
Ihr seid keine Opfer, ihr seid Überlebende.
Kapitel 1
Max Stumm
Max erstarrte. Eine tödliche Gewissheit lähmte ihn. Hinter seiner Stirn über der rechten Augenbraue bohrte sich etwas in sein Hirn.
Mörder!
Verkrampft umschloss er den rauen Griff des Schraubenziehers. Er hielt ihn so fest mit der rechten Hand umklammert, dass es wehtat, so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
Es war ein sehr kompakter Schraubenzieher. Der Griff aus mattem, abgegriffenem Holz war angenehm warm und lag gut in der Hand. Die kurze Klinge aus kalt blitzendem Chrom-Vanadium-Stahl passte auf Schrauben mit Schlitz, war sechs Millimeter breit und exakt 3,8 Zentimeter lang. Faustschraubenzieher nannte man diese Art von Werkzeug im Fachjargon, das hatte er bei seiner Arbeit im Werkraum gelernt – aufgrund seiner Kompaktheit war der Schrauber insbesondere hilfreich beim Lösen oder Festdrehen von Schrauben an schwer erreichbaren Stellen. Unzählige Male hatte er ihn in der Hand gehalten, Unmengen von Schrauben mit ihm gelöst und befestigt.
Jetzt sammelte sich wie in Zeitlupe dunkles Blut an der Spitze der Klinge und tropfte hinab auf den dunkelgrau glänzenden Fußboden. Tropfen für Tropfen prallte auf den harten Untergrund. Feine, auf den ersten Blick kaum sichtbare Spritzer und winzige Tröpfchen breiteten sich strahlenförmig um die Stelle aus, wo die einzelnen Tropfen auf den Boden klatschten.
Nicht einmal das kleinste bisschen Licht drang zu Max hindurch, so fest kniff er die Augenlider zusammen. Alles, was er wahrnahm, war das dröhnende Pochen seines Herzens. Wie ein Echo hallte es in seinem Kopf wider und verdrängte alles, was ihm jemals von Bedeutung erschienen war. Jeden Gedanken. Jegliches Gefühl. Finsteres Nichts legte sich über sein Bewusstsein wie ein Schatten. Sein rasselnder Atem erfüllte den Raum und verlieh der drückenden Stille eine zusätzliche Schwere. Seine Hände zitterten. Ihm kam es vor, als würde er sich aus der Wirklichkeit in eine Welt lichtloser Schwärze verabschieden.
Kaltes Sonnenlicht, das durch das viel zu kleine, vergitterte Fenster am Ende des winzigen Raums schien, legte sich in weißen Streifen über sein Gesicht. Er presste die Augen noch fester zusammen.
Schon bald würde er diesen gottverdammten Ort verlassen. Doch zu welchem Preis? Wie die rostige Spitze eines Speers bohrte sich die Frage in sein Bewusstsein.
Max stand einfach da, regungslos, die Augen weiter fest verschlossen. Bloß das Zittern seiner Hände und das rhythmische Heben und Senken seiner Brust bei jedem Atemzug unterschieden ihn von einer leblosen Puppe. Er hätte nicht sagen können, wie lange er so dastand – ein paar Sekunden, eine Minute … eine Stunde. Die Zeit stand still und mit ihr die Welt. Nur Schwärze und das ohrenbetäubende Hämmern seines wie wild schlagenden Herzens.
In ihm tobte ein Kampf aus lähmender Angst, rasender Wut und Reue. Erdrückende Reue, die sich in diesem Moment als tief sitzender, verzehrender Schmerz in seinem ganzen Wesen manifestierte. Als dunkles Verhängnis.
Max wusste, dass er hier nicht bleiben konnte, und langsam kehrten seine Sinne zu ihm zurück. Stück für Stück erwachte er zum Leben.
Ein kaum wahrnehmbarer Duft erfüllte den Raum, metallisch, fast wie der Geruch von Kupfermünzen oder einer alten Werkzeugkiste. Er selbst roch nach dem kalten Schweiß, der seine Stirn, die Handinnenflächen und seinen Nacken bedeckte. Ihm war unendlich heiß und gleichzeitig fror er. Doch seine feuchten Hände zitterten nicht vor Kälte. Seine Kehle war so ausgetrocknet, dass der Versuch zu schlucken schmerzte.
Durch die fest verschlossenen Augen wurde ihm zwar noch immer die Sicht auf das, was vor ihm lag, versperrt, jedoch hörte er jetzt alles um sich herum. Jedes Detail, jede akustische Feinheit brannte sich unwiderruflich in seine Erinnerung. Ihm war sofort klar, dass er jedes einzelne dieser Geräusche nie wieder würde vergessen können. Im Gegenteil, sie würden mit der Zeit immer deutlicher, immer gewichtiger werden: Das beständige Tropfen des undichten Wasserhahns, der zu dem kahlen Waschbecken an der Wand gehörte. Eine Schar Tauben, die irgendwo vor dem Fenster gurrte und mit ihren Flügeln in die Luft peitschte. Dumpfe, weit entfernte Stimmen – sprachen sie zu ihm? Das Spritzen von Blut, das ihn für einen kurzen Moment an die Sprinkleranlage im Garten seiner Mutter erinnerte, dann aber schnell schwächer wurde und schließlich bloß noch als fast lautloses Plätschern zu hören war, wie bei einem kleinen Springbrunnen.
Panisches Scharren von Füßen auf spiegelglattem Boden.
Ein Geräusch trat aus dieser Schar von Tönen hervor und stellte alle anderen auf grausame Weise in den Schatten: Das langsam verstummende Röcheln eines Mannes, der einen aussichtslosen Kampf gegen den Tod führte – die Begleitmusik eines Mordes.
Max spürte das Licht, das ihm durch das vergitterte Fenster ins Gesicht schien und ihm war, als hätte die Sonne all ihre Wärme verloren.
Innerhalb von Sekunden war seine ganze Welt aus ihrer Bahn gebrochen und schleuderte unaufhaltsam auf den Abgrund zu.
Langsam öffnete Max die Augen. Vom Licht geblendet sah er im ersten Moment nichts, bis auf das grelle Weiß der Sonne, doch mit jeder Sekunde wurde seine Sicht klarer. Er hielt den Kopf gesenkt und so fiel sein Blick zuerst auf die eigenen Füße – genau in dem Moment, als das sich ausdehnende Blut seine Zehen erreichte. Sofort begannen die schwarzen Sportsocken das dickflüssige Rot aufzusaugen. Er wollte einen Schritt zurücktreten, schaffte es nicht. Seine Füße waren wie festgewachsen an diesem Fleck. Schließlich umschloss die dicke schwarze Flüssigkeit ihn vollends. Warm. Dennoch fröstelte er nur noch stärker.
Als er den Blick langsam nach oben wandern ließ, sah er auf einen schmächtigen, fast jungenhaften Körper. Mitten in dem spiegelglatten See aus dunklem Blut. Leblos. Seltsam friedlich. Erlöst.
Ohne sich dessen bewusst zu sein, ließ Max den Blick weiter schweifen, bis er in zwei weit aufgerissene Augen schaute, die ihn erbarmungslos anstarrten. Als drohten sie ihm. Als wollten sie ihm sagen, dass das hier nicht das Ende war.
Doch es war sein Ende.
Was hatte er bloß getan?
Er fühlte sich, als hätte alle Leichtigkeit seinen Körper verlassen, als würde er von einem eisernen Gewicht in ungreifbare Tiefe hinabgezogen werden.
Der schwarze See aus Blut drohte ihn zu verschlucken.
***
Begonnen hatte alles vor etwa vier Jahren.
Unaufhaltsam war der Sommer seinem Höhepunkt entgegengeschritten und hatte auch an jenem Samstag wieder für Höchsttemperaturen gesorgt. Trotzdem herrschte in der verkehrsberuhigten Spielstraße eine eigenartige Stille. Vermutlich waren all die Kinder, die sonst mit ihren BMX-Rädern die neuesten Tricks ausprobierten oder mit farbiger Kreide bunte Kästchen auf den Asphalt zeichneten, samt ihrem Getöse und herzhaften Gelächter entweder im Schwimmbad oder beim Mittagessen.
Max kam gerade am Haus seiner Mutter an, um ihr, wie an so gut wie jedem Wochenende zu dieser Jahreszeit, bei der Gartenarbeit zu helfen. Dieses Mal sollte ein schmaler Weg quer durch den Garten gepflastert werden und er war für das Schleppen und Einsetzen der Pflastersteine zuständig. Natürlich. So war es gewesen, seit er denken konnte.
Max hasste diese Arbeit. Vor allem wenn ihm wie jetzt, bei weit über zwanzig Grad, schon vorher klebriger Schweiß den Rücken herunter lief. In einiger Entfernung waren zwar dunkle Gewitterwolken zu sehen, aber bis diese sich öffnen und für Abkühlung sorgten, konnten noch Stunden vergehen.
Wieso man hier draußen nicht einfach mal im Grünen sitzen und mit dem Zustand des Gartens zufrieden sein konnte, war ihm ein Rätsel, dessen Lösung er wohl niemals finden würde. Jedes Jahr das gleiche Theater: Mama hatte sich sattgesehen an ihrem Garten, und nun musste mal wieder alles umgebaut, -gegraben oder gepflastert werden. Jeden Sommer verbrachte er auf diese Weise unzählige Stunden seines Lebens. Er schaufelte, schleppte und pflasterte so, wie sie es ihm auftrug – ohne Widerworte, trotz seines Unmuts. Ihr den jedes Jahr verlässlich aufs Neue auftretenden Wunsch nach botanischer Veränderung abzuschlagen, würde ihm nicht im Traum einfallen.
Für ihn war seine Mutter der Inbegriff einer liebenden, aufopferungsvollen, treu sorgenden Frau, die wortwörtlich alles für ihre Kinder gäbe. Eine Löwin, die ihr eigen Fleisch und Blut mit dem Leben verteidigen würde, wenn nötig. Seit er denken konnte, sah er zu ihr auf. Und jetzt, da er älter wurde, sah er es als seine Pflicht, ihr zur Hand zu gehen, wenn sie seine Hilfe brauchte. Eine Pflicht, die ihm beinahe heilig war.
Das Gleiche galt für seine kleine Schwester Amelia. Wann immer sie ihn brauchte, war er für sie da – zumindest versuchte er es. Er konnte sich nicht daran erinnern, sich jemals nicht in gewissem Maße für sein Schwesterchen verantwortlich gefühlt zu haben, so sehr sie ihm auch damals, als pubertierendes Mädchen, den letzten Nerv geraubt hatte, mit Rumgezicke und sonstigen Scherereien.
Wann immer Max das Haus seiner Mutter betrat, überkam ihn das unendlich wohltuende Gefühl, zu Hause zu sein. Und er war sich sicher, das würde stets so bleiben.
Das Seltsame an diesem Sonntag war, dass niemand zu Hause zu sein schien, obwohl die Verabredung schon seit dem letzten Wochenende feststand, als Max in stundenlanger Schufterei einen Holzpavillon zusammengebaut hatte. Als auf sein wiederholtes Klingeln keine Reaktion folgte, ließ er sich mit seinem eigenen Schlüssel ins Haus. Er blieb in dem lang gezogenen Flur, der geradeaus ins Wohnzimmer führte, stehen und lauschte. Nichts.
Er biss sich auf die Unterlippe. Ein sachter Anflug von Unbehagen sammelte sich in seiner Magengegend.
Nachdem auch sein lautes Rufen nur von Stille beantwortet wurde, und sich das mulmige Gefühl gen Brustkorb auszubreiten drohte, schritt er langsam Richtung Wohnzimmer. Dort sah er das schnurlose Festnetztelefon einsam auf dem kleinen Couchtisch liegen. Seltsam. Achtete seine Mutter doch für gewöhnlich stets darauf, dass alles an seinen Platz zurückgebracht wurde, wenn man es nicht mehr brauchte. Das war schon immer so gewesen. Egal, ob es sich um sein Spielzeug aus Kindertagen oder Bücher handelte, die Amelia für ihr Studium benötigte. Ansonsten schien alles aufgeräumt wie immer und ein Telefon, das nicht in der Ladestation stand, war noch lange kein Grund zur Sorge – aber normal war es auch nicht.
Seine Kehle war enger als sonst. Max trat von einem Fuß auf den anderen und sein Blick schweifte hinaus in den Garten. Die Terrassentür stand offen und es wehte ein für die Jahreszeit ungewöhnlich kühler Wind von draußen herein.
Sie haben schon mit der Arbeit im Garten angefangen. Kein Wunder, dass mich niemand hört.
Max‘ Gesichtszüge entspannten sich. Er konnte nicht erkennen, was draußen vor sich ging, da ihn die Sonne blendete, die ihm durch die Terrassentür ins Gesicht schien, aber es war die logischste Erklärung. Wahrscheinlich waren Mama und seine drei Jahre jüngere Schwester schon mit dem Pflastern des Weges beschäftigt und er konnte die Arbeit heute früher beenden als erwartet.
Ein fast freier Sonntag? Das würde er sich nicht zweimal sagen lassen!
Der Enthusiasmus, mit dem er daraufhin im Laufschritt raus auf die hölzerne Terrasse trat, verflog auf einen Schlag: Die Palette mit den Pflasterscheinen stand unangetastet in der südöstlichen Ecke des Gartens. Spaten, Maßband, Wasserwaage und drei Säcke Zierkies lagen kreuz und quer verstreut. Wieder diese höchst atypische Unordnung. Keine Spur von seiner Mutter oder Amelia.
Er schluckte schwer, wischte sich die Hände an seinen Shorts ab und trat unentschlossenen Schrittes zurück ins Haus. Nach kurzem Zögern ging er in den Flur und steckte seinen Kopf in den schmalen Aufgang, in dem eine Wendeltreppe ins obere Stockwerk führte.
»Hallo! Jemand da?«
Seine Stimme hallte dieses Mal um einiges lauter als vorhin von den Wänden wider. Max bemerkte die wachsende Anspannung, die sich in seiner Tonlage bemerkbar machte.
Nichts.
Er nahm ein paar tiefe Atemzüge. Wieso hatte er das Gefühl, sich beruhigen zu müssen? In seinem Magen lag mittlerweile ein schwerer Eisklotz. Sein Gesicht war auf einmal seltsam kalt und als er zufällig einen Blick in den Spiegel im Flur warf, sah er, wie blass er war.
Warum zur Hölle stand die Terrassentür sperrangelweit offen, wenn niemand zu Hause war?
Er hatte sein Handy bereits in der Hand, als die Stille plötzlich durch ein schrilles Geräusch unterbrochen wurde: Seine Mutter kam ihm mit ihrem Anruf zuvor. Beinahe hätte er das Smartphone fallen lassen, so hastig tippte er auf den grünen Telefonhörer.
Jetzt würde sie ihm eröffnen, dass sie noch mal in den Baumarkt aufgebrochen waren, nachdem ihr aufgefallen war, wie verkümmert ihre rosa-weißen Kletterrosen vor sich hinwelkten. Und wenn es nicht die Rosen waren, dann war es eine andere Belanglosigkeit. Hatte er sich ernsthaft Sorgen gemacht?
Der Eisblock in seinem Magen schien seine Masse zu vervielfachen. Max war, als würde das Gewicht in seiner Körpermitte ihn zu Boden drücken. Noch bevor er ein einziges Wort sagen konnte, hatte seine Mutter die Verbindung wieder unterbrochen.
Ohne sich um die noch immer geöffnete Terrassentür zu kümmern, sprintete er durch die Haustür nach draußen, wobei er, ohne es zu merken, mit der Schulter den Schlüsselkasten von der Wand riss, und sprang förmlich in den von der Sonne aufgeheizten Ledersitz seines Mercedes C180 Elegance Edition, den er vor dem Haus abgestellt hatte.
Hastig kramte er sein Handy aus der Hosentasche und starrte auf das schimmernde Display. Er presste die Lippen zusammen. Sein Herz schlug so laut, als befände sich im Innern seines Kopfes eine überdimensionale Schlagtrommel. Zwei kurze Sätze hatte seine Mutter mit tonloser Stimme formuliert, bevor sie, ohne sich zu verabschieden, das Gespräch beendet hatte: »Du musst schnell ins Krankenhaus kommen. Ich schicke dir die Adresse.«
Max nahm gar nicht wahr, wie schnell die dunkelgrauen Wolken sich genähert hatten. Unheilschwanger bedeckten sie den Himmel, der eben noch von heiterem Blau geschmückt war. Als er mit quietschenden Reifen losfuhr, fielen erste schwere Tropfen vom Himmel und zerschlugen auf der metallenen Motorhaube des Wagens.
Bis zum Johanniter-Krankenhaus brauchte Max keine zehn Minuten. Tempolimits und Überholverbote ignorierte er genauso wie rote Ampeln und Stoppschilder. Trotzdem hing ihm das Gefühl, zu spät zu sein, lauernd im Nacken.
Er strich sich mit der flachen Hand zum x-ten Mal über den Kopf und zog scharf die Luft ein, dann öffnete er die Wagentür.
Mittlerweile hatte sich der anfänglich leichte Schauer zu einem regelrechten Sommergewitter entwickelt, samt hallendem Donner und prasselndem Niederschlag. Die Regenwand ließ alles, was mehr als hundert Meter entfernt war, hinter einer grau-weißen Barriere verschwinden. Max realisierte es kaum, als er im Laufschritt den Parkplatz des Krankenhauses überquerte.
Mit durchnässter Kleidung betrat er den Eingangsbereich der Klinik. Er fröstelte. Das Foyer des Krankenhauses lag verlassen vor ihm. Bloß ein schläfrig aussehender Mitarbeiter saß einsam an der Rezeption und schien sehnsüchtig auf das Ende seiner Schicht zu warten. Anscheinend hatten die Menschen an diesem Samstagvormittag Besseres zu tun, als sich aus irgendwelchen Gründen ins Krankenhaus einliefern zu lassen. Angehörige zu besuchen, stand wohl bei den Wenigsten auf der To-do-Liste. Wer konnte es ihnen verübeln? Schon im Eingangsbereich strömte ihm der Geruch von Desinfektionsmitteln und Krankheit entgegen. Für Max rochen Krankenhäuser immer gleich: nach Tod.
Als er zögerlich an die Rezeption trat, tropfte ihm mit Regen vermischter Schweiß von den eng zusammengezogenen Augenbrauen. Er strich sich mehrmals mit der Hand über die Kleidung, ohne dass sie dadurch glatter wurde.
Wen er suche, fragte ihn der Rezeptionist mit stumpfer Stimme. Max nannte den Namen seiner Mutter.
Leider könne man ihm nicht helfen, unter diesem Namen sei kein Eingang verzeichnet.
Max zögerte, räusperte sich, stammelte ein paar unverständliche Worte. Aber der Anruf …? Seine Brust wurde eng. Er kam sich vor wie ein überhitzter Motor. Ruckartig hob der Rezeptionist den Blick von seinem Bildschirm. Ob er sich vielleicht im Namen vertan hätte, denn man hätte hier zwar jemandem unter dem Namen Stumm, jedoch war der Vorname ein anderer.
Amelia.
Max schnappte nach Luft. Ein monotones Pfeifen, kaum hörbar, machte sich in seinem Kopf breit.
Die nächsten Sekunden erlebte er wie durch einen Vorhang.
Der Rezeptionist schickte ihn rauf in den dritten Stock, aber erst nach einigen Momenten gehorchten Max‘ Füße dem Befehl, sich in Bewegung zu setzen.
Intensivstation. Zimmer 312.
Das Pfeifen in Max‘ Kopf wurde lauter.
Alle Aufzugtüren waren verschlossen, also rannte er, so schnell er konnte, die drei Stockwerke durch das menschenleere Treppenhaus nach oben. Lediglich ein junger Patient in gestreiftem Pyjama der, versteckt vor den Blicken der Schwestern, eine Zigarette qualmte, warf Max einen missmutigen Blick hinterher, als er vorbeistürmte und beinahe gestürzt wäre, weil er mit jedem Schritt gleich drei Stufen nahm.
Vom Treppenhaus aus konnte Max seine Mutter auf dem Gang stehen sehen, noch bevor er auf den unnatürlich grell erleuchteten Korridor hinaustrat. Sie trug ihre typische Sonntagsbekleidung: sonnengelbe Flip-Flops, eine abgenutzte Jeanslatzhose mit braunen Flecken an beiden Knien von der Arbeit im Blumenbeet, darunter ein weißes T-Shirt. Ihre braunen Haare standen zerzaust in alle Richtungen ab, ihre Augen waren rot, verquollen und wurden von tiefen Furchen umrahmt, die Max noch nie zuvor so deutlich aufgefallen waren. Ihre Lippen zitterten.
Der Anblick seiner Mutter ließ ihm Herz und Knie gleichermaßen erzittern. Sie unterhielt sich mit einem recht mageren Mann mit grauem Haar und weißem Kittel. Vor sich hielt er ein Klemmbrett und blätterte hastig seine Papiere durch, während er sprach.
Max blieb im Türrahmen stehen und kniff die Augen zusammen. Versuchte sich zu beruhigen. Der schrille Ton in seinem Kopf übertönte alles.
Unweigerlich fühlte er sich an Filmszenen erinnert, in denen verzweifelte Verwandte auf die erlösende Nachricht warteten: Entweder der Patient war über den Berg … oder eben nicht.
Weder seine Mutter, noch der Arzt nahmen von ihm Notiz, als er langsam näher kam und dabei versuchte, Ruhe auszustrahlen. Er wusste noch nicht, was passiert war, aber er musste stark sein, soviel war ihm bereits jetzt klar.
Plötzlich veränderte sich das Gesicht seiner Mutter. Was vor wenigen Augenblicken noch ausgesehen hatte wie eine Mischung aus Sorge, Trauer und Verwirrung, verwandelte sich schlagartig in etwas, das Max als blankes Entsetzen interpretierte. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einer verbitterten Grimasse. In ihren Augen lag etwas Flehendes und gleichzeitig Protestierendes. Schock. Sie keuchte, versuchte zu sprechen. Ihre Hände schnellten nach vorne, als wolle sie den Doktor beschwören, sein Urteil zu überdenken, aber die Worte fanden bloß stückchenweise ihren Weg nach draußen. Sie schaukelte kaum merklich vor und zurück, während sie die zitternden Hände auf ihren Bauch presste und dabei die Ellenbogen dicht an die Seiten ihres Körpers heranzog. Ihr Teint wurde schlagartig blass. Sie sah ungesund aus. Die tapfere Löwin wirkte plötzlich unendlich zerbrechlich und schließlich gaben ihre Beine nach. Hätte der Arzt sie nicht aufgefangen, wäre sie mitten auf dem Gang umgekippt. Max rannte die letzten Meter und half dem sichtlich erschöpften Doktor dabei, sie auf einen der Stühle zu setzen, die auf dem Gang standen.
»Max!«, schluchzte sie kaum vernehmlich, als sie bemerkte, wer sie im Arm hielt. »Zum Glück bist du da!«
Inzwischen rechnete er mit dem Schlimmsten.
Es kam schlimmer.
***
Ein nicht enden wollender Strom verstörender Bilder durchfloss Max‘ Kopf. Immer noch hörte er die brüchige Stimme seiner Mutter in seinen Gedanken nachhallen. Wie ein Echo wiederholten sich die drei grausamen Worte ihrer Schilderung von dem, was seiner Schwester zugestoßen war – seiner kleinen Amelia, für die er sich verantwortlich fühlte, auf die er immer aufgepasst hatte, seitdem ihr Vater umgekommen war.
Verprügelt.
Vergewaltigt.
Lebensgefahr.
Wieder und wieder wirbelten die Worte durch seinen Kopf und zogen ihn immer tiefer in einen chaotischen Strudel aus Rachegedanken und Zorn hinab.
Niemals zuvor hatte Max seine Mutter so am Boden zerstört gesehen. Diese stolze Löwin. Ihr Gesicht hatte ausgesehen, als wäre sie auf einen Schlag um Jahrzehnte gealtert.
Von den Details ihrer Schilderung hatte er nur das Wichtigste bewusst aufgenommen:
Amelia war zur Vernunft gekommen und hatte ihrem Macker den Laufpass gegeben. Hendrik. Max hatte schon lange den Verdacht gehabt, dass der Typ nicht koscher war. Er war zwei Jahre älter als Amelia, hatte ein abgebrochenes Wirtschaftsstudium in der Tasche und keinerlei Antrieb. Nur ein einziges Mal hatte Max die zweifelhafte Ehre gehabt, Hendrik persönlich kennenzulernen, Anlass war ein gemeinsames Abendessen im Haus seiner Mutter gewesen, bei dem der Junge unablässig auf seinem Stuhl hin und her gerutscht war. Max kannte Leute, die wussten, wo Hendrik sich so rumtrieb: Spielotheken, Wettbüros … und diverse dunkle Ecken. Kurzum, Hendrik war definitiv nicht die Sorte Mann, die sich Max für seine kleine Schwester gewünscht hätte.
Klar, auch Max war kein unbeschriebenes Blatt. Vor allem seine Vergangenheit war gespickt mit diversen Taten, die man in seinem Lebenslauf besser nicht erwähnte, manche würden von Schwerverbrechen reden. Doch er hatte sich zumindest immer eingebildet, dabei charakterlich und vor allem moralisch auf der richtigen Seite zu stehen.
Für seine unschuldige Schwester hatte er sich einen anständigen Mann gewünscht, einen, der nachts nicht dort rumhing, wo sich die kleinkriminelle Elite traf.
Nicht selten hatte Max bemerkt, wie Amelia völlig verheult zu Hause ankam und sich schluchzend in ihr Zimmer einschloss, während er mal wieder im Garten beschäftigt war oder irgendwelche neuen Möbel zusammenschraubte. Oft kam Amelia dann erst am nächsten Tag wieder heraus. Darüber sprechen, was zwischen ihr und Hendrik vorgefallen war, wollte sie dann nie. Sowohl Max als auch seiner Mutter war in solchen Fällen klar, dass es mal wieder Zoff gegeben haben musste. Eine ungesunde Beziehung. Definitiv mit Verfallsdatum – aber gewaltfrei.
Bis heute.
Max hatte zwar stets gemeint zu wissen, dass diese Liaison seiner kleinen Schwester nicht sonderlich guttat, fand aber auch, eine junge Studentin von mittlerweile einundzwanzig Jahren müsste selbst zu der Einsicht gelangen, dass man manche Leute getrost in den Wind schießen konnte, dass Trennungen eben zum Leben dazugehörten. Er hatte gehofft, sie würde dieses Kapitel möglichst schnell beenden, sich jedoch nie eingemischt.
Als Amelia gestern so weit gewesen war, Hendrik den Laufpass zu geben, hatte dieser das offenbar extrem schlecht aufgenommen. Nach dem, was Max den Schilderungen seiner Mutter entnommen hatte, war Hendrik regelrecht explodiert und hatte ohne Vorwarnung auf Amelia eingeprügelt. Mit nicht einmal sechzig Kilo war sie so zierlich, wie es ein gesundes Mädchen in ihrem Alter nur sein konnte, und hatte der Tortur nicht das Geringste entgegenzusetzen gehabt. Es hatte wohl nicht lange gedauert, bis sie unter den Schlägen das Bewusstsein verlor.
Als sie für einen kurzen Moment aus der Ohnmacht erwacht war, hatte sie sich in Hendriks Bett wiedergefunden. Mit dem Gesicht nach unten. Über sich ihr psychopathischer Exfreund. Die Hose bereits bis zu den Kniekehlen heruntergezogen.
In dem Moment als Hendrik grunzend seinen Penis in sie gebohrt hatte, hatte sie sich, mit Hilfe ihrer letzten Kraftreserven, aufgebäumt und versucht zu schreien.
Max wurde schwindelig bei dem Versuch, sich vorzustellen, wie sich seine Schwester gefühlt haben musste. Dieses schwitzende Schwein über ihr, seinen harten Schwanz in die trockene Öffnung bohrend, bis diese schließlich einriss.
Die Quittung für ihren verzweifelten Versuch, sich zu wehren, bestand darin, dass Hendrik sie von hinten an den Haaren gepackt und ihren Kopf mit voller Wucht gegen das metallene Kopfende des Bettes gestoßen hatte. Seitdem war Amelia bewusstlos. Nur kurz war sie aufgewacht und hatte ihrer Mutter im Krankenhausbett mit stockender Stimme von dem Vorfall berichtet. In äußerst knappen Worten, ohne sie anzusehen, den Blick leer ins Nichts gerichtet.
Die nüchterne Diagnose der Ärzte lautete: Schädelhirntrauma, Einriss des Afters und des Darmkanals, diverse Prellungen im Bereich des Beckens sowie des unteren Rückens, mehrere Quetschungen im Halsbereich. Alles Weitere hatte sich Max selbst zusammengereimt.
Zum Glück hatte Hendrik Nachbarn, die aufgrund des Geschreis und Gepolteres die Polizei riefen. Nicht auszudenken, was ihm sonst noch eingefallen wäre. Allerdings hatte er die Sirenen leider früh genug gehört und abhauen können. Jetzt wurde er wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit versuchtem Totschlag gesucht – allerdings nicht nur von der Polizei.
Tatsächlich hatte es nur ein paar Stunden gedauert, bis Max herausfand, wann und wo er Hendrik finden konnte. Der hatte nämlich beim Bruder eines von Max‘ Bekannten nach einem Unterschlupf gesucht, wegen Stress mit den Bullen. Kein Wort von der Vergewaltigung oder Max‘ Schwester. Ein Versteck hatte man ihm nicht anbieten können, dafür aber ein Auto für kleines Geld, für den Fall, dass er unauffällig das Land verlassen müsse. Man hatte sich für den späten Abend auf dem Parkplatz einer stillgelegten Müllverbrennungsanlage verabredet.
Schon Stunden vorher wartete Max am Treffpunkt. Unzählige Male ballte er seine Hände zu Fäusten, um sie dann wieder zu strecken, während er auf dem Fahrersitz seines Wagens darauf wartete, dass die Sonne unterging. Seine Nasenflügel bebten mit jedem Atemzug. Der schrille Pfeifton in seinem Hirn schien mit jeder Minute lauter zu werden.
Sich im Kreis drehende Gedanken an das bandagierte Gesicht seiner Schwester, an die Schläuche, die an ihr befestigt waren, drohten ihm den Verstand zu rauben. Überleben würde sie mit ziemlicher Sicherheit, man wusste aber nicht, wie stark ihr Hirn geschädigt worden war, von ihrer Psyche ganz zu schweigen.
Max näherte sich mit jeder weiteren Minute der Schwelle zur Raserei. Er kochte innerlich. Unablässiges, schrilles Pfeifen in den Ohren machte das Denken unmöglich.
Und dann waren da immer wieder diese drei Worte: Verprügelt. Vergewaltigt. Lebensgefahr.
Kein vernünftiger Gedanke. Nur wieder und wieder diese drei verhängnisvollen Worte: Verprügelt. Vergewaltigt. Lebensgefahr.
Und das Pfeifen, das seine Schädelwand von innen mit rostigen Nägeln bearbeitete.
Er warf einen Blick in den Rückspiegel und erkannte sich selbst kaum wieder: das Gesicht tiefrot und steinhart, die Pupillen fast vollständig schwarz, wie die eines Raubtieres kurz vor der tödlichen Attacke.
Dann tauchte Hendrik auf.
Zögerlich trat die knochige Gestalt aus der Dunkelheit auf den Parkplatz. Es wirkte, als zitterten seine Knie bei jedem Schritt. Andauernd fuhr er sich mit der Hand durch die Haare und übers Gesicht. Vielleicht begriff er ja langsam, was er getan hatte.
Max wartete im Wagen. Beobachtete den sich nähernden Vergewaltiger. Versuchte etwas in dessen fahlen Gesichtszügen zu erkennen, wovon er selbst nicht wusste, was es war. Bedauern?
In der Ferne hörte man das laute Aufheulen eines Motorrads. Das Gewitter, das tagsüber drohte die Stadt unter Wassermassen zu begraben, hatte sich mittlerweile wieder gelegt, aber noch nieselte es leicht vom wolkenverhangenen Himmel herab, sodass man durch die spiegelnden Scheiben nicht erkennen konnte, wer in dem Wagen saß, an den Hendrik in diesem Moment herantrat.
Max spürte den süßen Geschmack des Adrenalins, merkte, wie das Blut in seine Extremitäten schoss, fühlte das seltsame Gefühl von Befreiung, als er aus dem Wagen stieg.
In Max‘ Kopf herrschte vollkommene Stille.
***
Vor Gericht hieß es, Hendrik würde nie wieder vollends genesen. Immerhin würde er überleben, was an sich schon ein kleines Wunder wäre. Letzteres löste bei Max ehrliches Bedauern aus, alles Weitere ließ ihn kalt.
Mit unbewegter Miene lauschte er den Ausführungen des Staatsanwalts, während sein Blick über das polierte Holz der Richterbank und die gnadenlos tickende Uhr an der Rückseite des Gerichtssaals glitt. Ihm war, als könne er das Ticken des Sekundenzeigers hören, in den Pausen, die der Staatsanwalt, während seiner Darstellung dessen, was passiert war, einlegte. Viele der Knochenbrüche, Prellungen, Quetschungen und Verletzungen der inneren Organe würden wieder verheilen, aber Hendrik sei von dem besagten Abend an unumkehrbar zeugungsunfähig. Außerdem habe er neunzig Prozent der Sehfähigkeit auf seinem rechten Auge verloren. Und ob sein Kiefer jemals wieder völlig intakt sein würde, sei noch nicht abzusehen. Wie ein wildgewordenes Tier sei der Angeklagte in einem Anfall von Raserei über den mutmaßlichen Vergewaltiger seiner kleinen Schwester hergefallen – Selbstjustiz.
Die Anklage lautete auf versuchten Totschlag.
Dann war es für einen Moment ganz still. Max genoss die Ruhe.
Glücklicherweise kam nie heraus, wie er erfahren hatte, wo er Hendrik finden konnte, man betrachtete es als einen unglücklichen Zufall. So konnte man ihm zumindest keine Heimtücke nachweisen. Ansonsten hätte er wegen versuchten Mordes vor Gericht gestanden.
Max schwieg während der gesamten Gerichtsverhandlung, genauso wie er es während der Verhöre bei der Polizei getan hatte. Er hatte schlichtweg nichts zu sagen. Die Sachlage war klar, die Beweise eindeutig. Sein Anwalt tat zwar sein Bestes, um mildernde Umstände geltend zu machen, doch zu einer persönlichen Stellungnahme konnte auch er seinen Mandanten nicht bewegen. Damit war jegliche Chance auf Verständnis oder Milde aufseiten der Richterbank von Anfang an dahin.
Am Ende des Verfahrens sprach der Richter – ein verfetteter Halbglatzenträger mit exakt so viel Lebenserfahrung, wie jemand, der sein ganzes Leben hinter Schreibtischen verbracht hatte, eben haben konnte – ein hartes Urteil:
Sechs Jahre Haft.
Der fette Richter spuckte Gift und Galle bei der Urteilsverkündung. »Selbstjustiz!«, giftete er mit hochrotem Kopf in Max‘ Richtung. So eine Respektlosigkeit gegenüber den Behörden und dem Rechtsstaat würde nicht mit Milde belohnt werden. Nicht in seinem Gerichtssaal. Der Angeklagte könne froh sein, nicht die Höchststrafe aufgebrummt zu kriegen. Er spuckte ihm diese Worte entgegen, als handelte es sich dabei um rostige Rasierklingen.
Was der Richter nicht wusste, war, dass der Angeklagte sich schon am Abend der Tat mit einem ausgedehnten Gefängnisaufenthalt abgefunden hatte.
Selbstjustiz ist möglich. Man muss nur bereit sein, den Preis zu bezahlen.
***
Die Justizvollzugsanstalt Rheinbach verfügte über mehr Zellen als Häftlinge und so hatte Max von Anfang an seinen eigenen Haftraum: Zelle 377. Exakt acht Quadratmeter. Dunkelgrauer, polierter Boden, weiße Raufasertapete. Ein schmales Bett, ein Holztischchen mit Metallstuhl, ein Kleiderschrank, zwei Meter hoch und einen Meter breit, ein Waschbecken, ein winziger quadratischer Spiegel, der gerade ausreichend für eine Rasur war, eine Toilette. Ein Fenster mit Blick auf den Hof, vergittert mit eisernen Stangen die an den Stellen, wo raue Hände sich hochgezogen hatten, um den Blick über die Mauer schweifen lassen zu können, zu leuchten schienen.
Max hatte Glück, über eins neunzig groß zu sein, denn das Beste an der Zelle war, dass er, wenn er sich auf Zehenspitzen stellte, von seinem Fenster aus die Baumkronen hinter der Gefängnismauer sehen konnte; wie der Wind mit ihnen spielte und wie immer wieder die verschiedensten Vögel im Geäst landeten und schließlich wieder davonflogen. Manchmal verbrachte er Stunden damit, diese Welt, die so nah und unerreichbar zugleich war, zu beobachten. Dabei wunderte er sich immer wieder, wieso Vögel, die überall auf der Welt hinfliegen konnten, nicht genau das taten.
Sein spärliches Hab und Gut bestand aus zwei Paar schwarzen Jogginghosen mit weißen Streifen an den Seiten, vier weißen T-Shirts und zwei schwarzen Pullovern sowie Unterwäsche für eine Woche, einem Röhrenfernseher mit sechsunddreißig Zentimetern Bildschirmdiagonale ohne Fernbedienung, einem Wasserkocher, einem Rasierer, einer Zahnbürste, einer Kaffeetasse und einem Löffel. Die Lebensmittel, die er beim alle zwei Wochen stattfindenden Einkauf besorgen konnte, sowie Papier und Bleistift stellten seine Luxusgüter dar. Letztere konnten, falls nötig, neu beantragt werden. Sein gesamter Besitz entsprach einem Gegenwert von vielleicht hundert Euro. Alles von Wert war ihm bei Haftantritt abgenommen worden. Gefängnispolitik.
Max schrieb viele Briefe. Besuch wollte er hier drin nicht empfangen. Von niemandem. Das hätte ihn zu sehr an das Leben außerhalb von Gittern und Stacheldraht denken lassen. Aber seine Mutter und Amelia sollten wissen, dass es ihm gut ging – ob das nun der Wahrheit entsprach oder nicht.
Doch in der Tat schlug er sich ganz passabel.
Die Tage vergingen langsam. Einer glich dem Anderen bis ins kleinste Detail und manchmal glaubte Max, bei dieser Eintönigkeit verrückt zu werden. Vor allem zu Beginn war es härter als erwartet.
Dreiundzwanzig Stunden täglich im Haftraum. Isoliert. Schlagende Türen, rasselnde Schlüssel, stickige Luft, die nach einer Mischung aus Schweiß und Metall roch. Flüsternde Stimmen. Wärter, die mechanisch Kommandos von sich gaben. Dazu das ständige auf der Hut sein vor Übergriffen durch andere Häftlinge oder das Personal. Es war wie ein unaufhörliches Balancieren auf Messerspitzen, die sich einem bei dem kleinsten Gleichgewichtsverlust in den Fuß bohren würden.
Während des einstündigen Hofgangs, bei dem die verschiedensten Freundlichkeiten und Unfreundlichkeiten unter den Häftlingen ausgetauscht wurden, blieb Max für sich. Kontakte wollte er hier nicht knüpfen.
Irgendwann begann er zu meditieren und kehrte sich immer weiter seinem Inneren zu. Er las jedes einzelne Buch der Gefängnisbibliothek, von Roman bis Juristikfachliteratur, hielt sich fit mit Schattenboxen sowie täglich abwechselnd Liegestützen, Kniebeugen, Sit-ups und Sprints auf dem Gefängnishof.
Nachdem er auf diese Weise das erste Jahr ohne Zwischenfälle hinter sich gebracht hatte, wurde ihm ein Job im Werkraum in Aussicht gestellt: Möbel zusammenschrauben. Die Arbeit machte ihm weder Freude, noch wurde sie anständig bezahlt. Allerdings konnte er so von Montag bis Freitag täglich fünf weitere Stunden außerhalb seiner Zelle verbringen. Eine Abwechslung, die er gerne annahm.
Er hatte sich in der hinter Gittern herrschenden Parallelgesellschaft Respekt verdient mit seiner Tat. Jemand, der den Vergewaltiger seiner Schwester eigenhändig zur Rechenschaft zog, galt hier drin als gerade, als echter Mann. Alle ließen ihn in Ruhe: die Mörder, die Erpresser, die Räuber, die Mitglieder der verschiedenen Rockerbanden und der libanesischen Mafia, deren langer Arm bis hinter die Gefängnismauern reichte. Wieder und wieder beobachtete Max über die Jahre, wie ihre bulligen Handlanger in Zwischenfälle verwickelt waren. Bestraft wurden immer andere, während man die Libanesen ungehindert walten ließ.
Seine Devise lautete: Abstand.
***
Die Tage vergingen und aus Wochen wurden Monate, aus immer schneller verstreichenden Monaten wurden Jahre. Er gewöhnte sich an die Stimmen, die auf dem Gang kreuz und quer durcheinander zu rufen schienen und an das metallische Echo zuschlagender Türen. Er hasste es, aber das war jetzt seine Welt.
Mittlerweile hatte er fast vier der sechs Jahre seiner Strafe abgesessen. Die immer gleiche Routine war zu seinem Lebensinhalt geworden: aufstehen, arbeiten, trainieren, meditieren, lesen, schlafen. Tristesse war die Konstante seines Alltags. Das war jetzt seine Welt. Aber er hasste es.
Als eines Morgens das dröhnende Hämmern eines Schlagstocks an der Stahltür seiner Zelle ertönte und die Essensluke von außen quietschend geöffnet wurde, erhob er sich ruckartig von der durchgelegenen, muffig riechenden Matratze. Seit Wochen wartete er auf dieses Klopfen. Durch die Luke erhielt man nämlich nicht nur Essen oder Handschellen, sondern auch Post.
Max spürte, wie seine Wangen vor Wärme kribbelten.
Immer wieder hatte er vergebens versucht, sich abzulenken und sich vor allem keine allzu großen Hoffnungen zu machen, doch nichts hatte geholfen. Weder stundenlange Meditation noch die Schrauberei im Werkraum oder Sport bis an den Rand der Bewusstlosigkeit. Die immer gleichen Tagesabläufe und das ständige Achtgeben auf jede kleinste Bewegung in seiner Umgebung nagten an ihm. Max wusste nicht, wie lange er der tagtäglichen Belastung des Knastlebens noch standhalten konnte, ohne sich selbst gänzlich zu verlieren. Seine größte Angst war, einer dieser Häftlinge zu werden, die sich voll und ganz mit ihrem Schicksal abfanden und keinerlei Perspektive mehr für sich sahen.
So abgeklärt und kühl er sich nach Außen auch gab, innerlich schrie Max danach, diesen Ort endlich zu verlassen.
Mit zittrigen Fingern griff er nach dem Papier, das ihm durch den schmalen Schlitz seiner Zellentür gereicht wurde, und zwang sich zu einem gepressten »Dankeschön«. Gänsehaut bedeckte seine Unterarme.
Er holte ein paar Mal tief Luft und strich sich mit der freien Hand den Pullover glatt. Jetzt, da der Moment der Wahrheit gekommen war, beschlich ihn mutraubende Unsicherheit. Er zögerte. Wollte er wirklich wissen, was auf dem hellbraunen Stück Recyclingpapier geschrieben stand? Bis jetzt waren alle Anträge auf vorzeitige Haftentlassung, die sein Anwalt gestellt hatte, abgelehnt worden. Seine Tat war zu brutal gewesen und wirkliche Reue hatte ihm keiner der Gefängnispsychologen attestieren können. Besucht hatten ihn einige. Keinem von ihnen war es sonderlich schwergefallen festzustellen, dass Max Stumm mit sich und seiner Tat im Reinen war; offensichtlich war er sogar stolz darauf, lautete zumeist das Urteil der Seelenklempner. Zwar hatte er das so nie gesagt, aber Unrecht hatten die Psychologen mit ihrer Einschätzung nicht.
Vor gut zwei Monaten hatte er seinen Anwalt ein letztes Mal damit beauftragt, alle Hebel in Bewegung zu setzen. Danach würde er schlicht und ergreifend nicht mehr über genügend Geld verfügen, um einen Mann anzuheuern, dessen Stundensatz sich auf über dreihundert Euro belief.
Aasgeier.
Nun hing alles an diesem Fax. Max‘ Hände waren so verkrampft, dass seine Knöchel schmerzten. Das Papier war kurz davor zu zerreißen.
Früher oder später würde er den Zettel so oder so lesen müssen, da konnte er auch gleich mit dem mädchenhaften Gezaudere aufhören. Sein Bauch fühlte sich seltsam leer an.
Mit zusammengepressten Lippen und Anspannung in jeder einzelnen Faser seines Körpers drehte Max das Papier um. Es war von seinem schraubstockartigen Griff verknittert und klamm vom Schweiß seiner Hände. Er zwang sich, die Wörter zu entziffern.
Nachdem er die komplette Seite überflogen hatte, schnappte er nach Luft. Seine Knie waren wie Gummi. Glitzernde Tränen sammelten sich in den Augenwinkeln. Seine Lippen öffneten sich zu einem stillen »O.«, dann legte er sich die Hand auf den Mund und ließ einen kurzen, halb unterdrückten Schrei los, lauter als beabsichtigt – der Freudenschrei eines Mannes, der verhindern wollte, dass jemand etwas von seiner Freude mitbekam.
Sein Anwalt hatte es schließlich doch noch geschafft. In vierzehn Tagen schon sollte Max unter Auflagen entlassen werden. In seinem Innern explodierte ein Feuerwerk der Emotionen. Mit einem breiten Grinsen lehnte er sich auf seiner Matratze zurück, schloss die Augen und nickte beinahe zwanghaft.
Fast im gleichen Moment richtete er sich kerzengerade auf. Seine Augen zuckten hin und her. So sehr er sich in diesem Augenblick freute, so sehr musste er auch dafür sorgen, dass niemand etwas von dieser Freude mitbekam. Dann wüssten sofort alle Bescheid und das durfte nicht passieren. Unter keinen Umständen. Nicht hier, nicht an diesem Ort. Zu oft hatte er gesehen, was mit Häftlingen geschah, von denen bekannt wurde, dass sie bald entlassen werden sollten.
In mühsamer Kleinarbeit zerriss er den Entlassungsbescheid. Anschließend warf er die millimetergroßen Schnipsel in die Stahltoilette und spülte mehrmals. Erst als der letzte Fetzen Papier in den Tiefen der Kanalisation verschwunden war, breitete sich wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
So weit, so gut. Ab jetzt galt noch mehr als sonst: Kopf unten halten! Da er sowieso mit niemandem sprach, außer den Kollegen im Werkraum, und keiner der anderen Häftlinge gesehen haben konnte, wie er den Bescheid erhalten hatte, würde er die restlichen zwei Wochen einfach in Ruhe absitzen.
Unauffällig.
Unsichtbar.
In dieser Nacht schlief er zum ersten Mal seit viereinhalb Jahren tief und fest. Es war ein traumloser wohltuender Schlaf.
Mit dem Gefühl, als lande ein fleischiger Felsbrocken auf seiner Brust, begann der Albtraum.
In den Tiefen seines Schlafes hatte er nicht gehört, wie das Schloss behutsam geöffnet und die Tür zu seiner Zelle aufgezogen worden war. Er hatte nicht bemerkt, wie zwei dunkle Gestalten die Zelle betreten hatten und die Tür von außen geräuschlos wieder verschlossen worden war.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte er jetzt auf den schwarzen Schatten, der auf seinem Brustkorb thronte. Max japste nach Luft. Als die Gestalt, die mindestens tausend Kilo wiegen musste, seine Knie schwungvoll auf Max‘ Oberarmen platzierte, fühlte er sich wie unter einem nach Schweiß riechenden Kleinwagen begraben. Er konnte sich keinen Millimeter bewegen. Im gleichen Moment presste ihm eine Pranke den Mund zu und schnitt ihm die Luft ab. Ihm war, als bliebe der verwirrte Schmerzensschrei auf halbem Weg in der Kehle stecken. Sein Hals war staubtrocken. Er versuchte, die stärker werdende Panik zu unterdrücken, was aber nur von überschaubarem Erfolg gekrönt wurde. Sein zaghafter Versuch, sich unter dem Koloss herauszuwinden, stellte sich als hoffnungslos heraus.
Die Panik schien sich jetzt nicht mehr länger aufhalten zu lassen. Wer? Warum? Er wollte schreien, doch die Worte ertönten bloß in seinen Gedanken.
Die mit rauer, rissiger Hornhaut bedeckte Pranke umschloss seine komplette untere Gesichtshälfte wie ein Schraubstock. Seine Lungen schrien brennend nach Sauerstoff und ihm wurde schwummrig. Schwarze Pünktchen tanzten vor seinen Augen auf und ab. Max‘ Arme schmerzten unter dem Gewicht des Ungetüms und nun breitete sich das brennende Gefühl in seinem gesamten Brustkorb aus. Er schnaubte durch die Nase, rang nach Luft. Mit diesem monströsen Geschöpf auf seiner Brust und ohne den Mund öffnen zu können, würde er bald das Bewusstsein verlieren.
In diesem Moment glaubte er, jetzt und hier sterben zu müssen. Und er konnte absolut nichts dagegen tun, wusste nicht einmal, wer die Gestalt war, die dort über ihm aufragte. Alles was er wusste, war, dass er nicht den Hauch einer Chance gegen ein solches Monstrum hatte. In der Zelle, auf seinem Bett, war er vollkommen schutzlos ausgeliefert. In der Dunkelheit der Nacht erkannte er einzig und allein ein emotionsloses Paar schwarzer Augen, die sich in ihn hineinbohrten.
Das war‘s. Ich sterbe.
Gerade als Max sich damit abgefunden hatte, sein Leben würde jetzt zu Ende gehen, ertönte direkt neben seinem Ohr eine flüsternde Stimme. Zischend, sodass er unwillkürlich an eine Schlange denken musste: »Willst du leben?«, ertönte es leise und doch unüberhörbar nur wenige Zentimeter von ihm entfernt. Er spürte den Atem auf seiner Haut, roch das beißende Aroma unzähliger Zigaretten aber auch etwas Fauliges, zutiefst Widerwärtiges, etwas Krankes.
Max verstand nicht, was hier vor sich ging, versuchte trotzdem hektisch, zu nicken. Ein Ausweg aus dem sicher geglaubten Tod schien sich aufzutun.
Tatsächlich wurde der Griff um seinen Kiefer etwas gelockert.
Luft!
»Willst du in zwei Wochen nach Hause?«
Die Stimme war noch näher gekommen. Noch eindringlicher spürte er den verrottenden Atem. Die Bedeutung der Worte bohrte sich in sein Bewusstsein.
Wie konnte irgendjemand davon wissen?
»Wir wissen alles. Wir haben hier drin das Sagen«, fauchte die Stimme, als könne sie seine Gedanken lesen.
In diesem Augenblick stellte sein Verstand eine grauenvolle, furchteinflößende Verbindung her: Der Ablauf würde der gleiche sein wie immer. Seine Wahl bestand aus Gehorsam oder Bestrafung. Die libanesische Mafia hatte von seiner baldigen Entlassung Wind bekommen – wie, spielte keine Rolle – und damit war er ihr ausgeliefert. Entweder er erfüllte einen Auftrag für sie, wie auch immer der aussehen mochte, oder er konnte sich ganz schnell wieder von dem Gedanken an Freiheit verabschieden.
»Du wirst etwas für uns erledigen«, wurde die Befürchtung von der Schlange neben seinem Ohr bestätigt.
Die Stimme schwieg für einen Moment und unterstrich dadurch die Ausweglosigkeit der Situation.
»Weißt du, was passiert, wenn du dich weigerst?«
Wieder versuchte Max, zu nicken. Er wusste es.
Der Weg zum Gefängnispersonal stellte keine Option dar. Dafür verdienten die Wärter zu schlecht in ihrem Job und zu gut an den Geschäften der Mafia. Entweder er tat genau das, was die gesichtslose Stimme von ihm verlangte, und hoffte, dabei nicht erwischt zu werden, oder man erledigte den Auftrag ohne seine Hilfe und würde ihn als den Schuldigen dastehen lassen. So lief es immer. Damit wäre jede Aussicht auf Bewährung dahin. Außerdem, und das war noch viel schlimmer, würde eine zusätzliche Verurteilung auf ihn zukommen. Je nachdem, um was es hier ging, würde man sich seiner vielleicht einfach sofort entledigen. Bei einem eventuellen Mordkomplott waren unverlässliche Mitwisser äußerst ungern gesehen.
Es konnte, nein, es durfte einfach nicht um einen Mord gehen!
Den Kopf so weit wie möglich nach hinten streckend starrte Max ins Nichts. Der Schimmer des Mondes trat hinter einer vorbeiziehenden Wolke hervor und fiel durch das Fenster seiner Zelle, wodurch die Gitterstäbe pechschwarz hervortraten. Ein salziger, schmutziger Geschmack lag auf seiner Zunge und er musste ein Würgen unterdrücken.
Erneut stieg Panik in ihm auf. Sein Instinkt befahl ihm, zu kämpfen. Immer noch unfähig, den Oberkörper zu bewegen, begann er, stattdessen mit den Beinen zu strampeln, wie ein auf dem Rücken liegender Käfer. Irgendetwas musste er tun.
Der Hüne über ihm beantwortete dieses Bemühen prompt mit einem wuchtigen Kopfstoß.
Max sah tanzende Sterne, alles andere schien ins Schwarz abzugleiten. Das Letzte, was er hörte, bevor er das Bewusstsein verlor, waren die gezischten Anweisungen, die ihm die Stimme mit dem fauligen Atem tonlos zuhauchte.
Als Max am folgenden Morgen die Augen aufschlug, fühlte sich sein Kopf an, wie nach einer intensiven Begegnung mit einem Presslufthammer. Alles um ihn herum schien zu wanken. Er war kaum in der Lage sich aufzurichten, so heftig pochte es in seiner Stirn. Als er sich schließlich erhoben hatte und einen bleischweren Blick in den Spiegel warf, sah er die rote Beule, die ihn an die Geschehnisse der Nacht erinnerte. Der Albtraum war bittere Realität gewesen.
Das Licht des Tages erhellte seine Zelle, vermochte es aber nicht, sie freundlicher wirken oder die Geschehnisse der Nacht vergessen zu lassen.
Unvermittelt öffnete sich die Essensluke. Das plötzliche Geräusch ließ ihn zusammenschrecken und er brauchte eine Sekunde, um sich zu fassen. Wortlos nahm er das kalte Metalltablett entgegen, das ihm eine unsichtbare Hand reichte, und die Luke schloss sich wieder. Frühstück.
Hunger hatte er keinen, ihm war vielmehr kotzübel, doch er musste essen, also ließ er sich schwer auf den Stuhl fallen. Jeder seiner Bewegungen, seinem kompletten Dasein fehlte es an Spannung. Das Geschirr klirrte, als er das Tablett auf dem Tisch abstellte.
Sein Appetit steigerte sich zwar nicht, als er den Deckel des Tabletts entfernte und drei Scheiben vertrocknetes Graubrot, eine Messerspitze ranzig aussehende Butter sowie etwas Wurst und Käse entdeckte, doch er wollte sich zumindest ein wenig stärken. Er musste.
Die erste Scheibe knochentrockenes Brot mit Käse hatte er bereits runtergezwungen, als er sich die zweite vom Tablett nahm. Da entdeckte er den Schlüssel – man hatte ihn unter dem Brot versteckt. Zögerlich griff er danach und betrachtete das abgenutzte Stück Metall. Mehrere Male kniff er die Augen zusammen und öffnete sie wieder, als ob sich dadurch etwas an der Realität ändern ließe. Nein. Er musste gehorchen. Der Einfluss der Libanesen war einfach zu groß.
Bei genauerem Hinsehen sah auch der gräulich blasse Kochschinken komisch aus, als wäre etwas darin eingerollt. Bei dem Gegenstand, den er sogleich dem klebrigen Stück Fleischmasse entnahm, handelte es sich um den Faustschraubenzieher, den er aus dem Werkraum kannte.
Ein paar Mal ließ er das Werkzeug von einer Hand in die andere gleiten, dann legte er es neben das Tablett und starrte auf seine Hände. Er musste würgen, zwang sich die Galle herunterzuschlucken.
Das hier war tödlicher Ernst und zum Überlegen hatte er weder Zeit, noch boten sich ihm irgendwelche Alternativen.
Die Gestalten, die ihn heute Nacht überfallen hatten, waren zwar längst wieder verschwunden, doch die zischende Stimme verweilte noch immer in seinem Kopf, wo ihre Worte nachhallten wie die Explosion einer Splitterbombe. Sie hatte es ihm letzte Nacht erklärt, während er immer mehr das Bewusstsein verloren hatte.
Max würde heute einen Mann umbringen.
Den Insassen von Zelle 7.
Warum, hatte ihn nicht zu interessieren. Das Wie war bereits in die Wege geleitet worden und er hatte sich den Plan trotz seines Zustandes genau eingeprägt, schließlich hing seine Zukunft davon ab, vermutlich sogar sein Leben.
Alles, was er bräuchte, würde man ihm zukommen lassen.
Zellenschlüssel und Schraubenzieher hatte Max sorgfältig in sein Handtuch eingewickelt, als ihn der Wärter zum Duschen abholte.
Im Duschraum angekommen, nahm der Beamte Max die Handschellen ab und trat auf den Gang hinaus. Max legte das Handtuch behutsam auf den weißen Plastikstuhl vor der Kabine, zog sich aus und verschwand hinter dem Vorhang – alles vor den Augen des jungen Wärters, der schneller als sonst auf seinem Kaugummi zu kauen schien. Der musste in der Sache mit drin stecken, anders war es kaum möglich, den Plan durchzuziehen.
So lief das hier. Nach außen hin sah alles vorbildlich aus, doch wenn man genauer hinschaute, stellte man fest, dass die Libanesen alles und jeden hinter den dicken Mauern lenkten. Es war ein Sumpf aus Gewalt und Korruption, aus dem es kein Entrinnen gab, für die Vollzugsbeamten ebenso wenig wie für die Häftlinge.
In der Dusche fand Max die Handschellen. Alles wie besprochen.
Sein Kopf dröhnte noch immer und ein heftiger Würgereiz überkam ihn. Halbverdaute Brot- und Käsestückchen landeten auf dem weißgefliesten Boden der Duschkabine. Beißende Magensäure bedeckte seinen Rachen und nistete sich irgendwo zwischen Gaumen und Mundhöhle ein. Die Umgebung um ihn herum schien erneut zu tanzen.
Irgendwann nach dem Frühstück hatte das altbekannte Pfeifen in seinem Hirn wieder eingesetzt. Fast unhörbar zunächst. In diesem Moment aber drückte es von innen gegen seine Augäpfel wie ein Luftballon, der unaufhörlich anschwoll.
Beruhige dich. Atme.
Nach einer Weile sog er ein letztes Mal tief Luft ein, schluckte schwer und öffnete blinzelnd die Augen. Ihm war schrecklich heiß und er hatte Durst.
Ein Blick über den Vorhang: kein Wärter.
Zehn Minuten Zeit sollte er haben. Viel war das nicht, aber es musste reichen.
Innerhalb weniger Sekunden hatte er Jogginghose und Socken wieder angezogen. Er steckte den Zellenschlüssel in die linke Hosentasche, den Schraubenzieher in die rechte. Mit den Handschellen in der Hand verließ er die Dusche.
Vom Duschraum bis zu Zelle Nummer 7 waren es nur wenige Meter. Max schätzte, er hatte noch acht oder neun Minuten Zeit.
Er löste den Verschlussriegel und öffnete die Essensluke der Zellentür. Das metallische Geräusch kam ihm unnatürlich laut vor.
Als nichts geschah, klopfte er an die Tür und forderte »Hände!«, so autoritär, wie die Wärter in der Regel klangen.
Hatte er einen Fehler begangen?
Er wusste, er hatte nur eine Chance. Ein Blick durch die Luke würde genügen und der Mann, der zwischen ihm und seiner Freiheit stand, würde die schwarze Adidas-Jogginghose sehen. Damit wäre der Plan dahin. Dann könnte er ihm keine Handschellen anlegen, wäre gezwungen, in die Zelle zu stürmen und sich auf einen Kampf um Leben und Tod einzulassen.
Max schloss die Augen und versuchte, die dunkle Vorahnung zu verdrängen, die sich in diesem Moment in ihm breitmachte. Sein Nacken kribbelte und winzige Schweißperlen traten ihm auf die Oberlippe. Wenn das hier nicht klappte, wäre sein Leben vorbei. Das Pfeifen schnitt in diesem Moment direkt durch seine Stirn.
Die Zeit schien sich unendlich hinzuziehen und er war schon fast davon überzeugt, versagt zu haben, da hörte er Bewegung hinter der Tür. Schlurfende, zögerliche Schritte. Ein kurzer Moment der Stille.
Ahnte der Mann hinter der Tür etwas? Hatte er den Plan durchschaut?
Nach weiteren quälenden Sekunden, die Max wie eine Ewigkeit auf tausend Rasierklingen vorkamen, wurden ihm durch die Luke zwei riesige behaarte Hände entgegengestreckt. Unwillkürlich dachte Max an einen Werwolf.
Wie sollte er mit diesem Ungeheuer fertig werden?
Nach kurzem Zögern legte er die Handschellen um die Handgelenke des Mannes, der zwischen ihm und seiner Entlassung stand und verschloss sie. Dabei führte er alle Handgriffe ruhig und präzise aus. Als hätte er nie etwas anderes gemacht. Er stellte sicher, dass der Verschluss der Handschellen eingerastet war und nachdem die Hände wieder nach drinnen verschwunden waren, holte er den Zellenschlüssel aus seiner Hosentasche und steckte ihn ins Schlüsselloch. Mit der rechten Hand packte er den Schraubenzieher. Der Griff des Werkzeugs, fühlte sich vertraut an, gab ihm ein seltsames Gefühl der Sicherheit. Seine Nackenhärchen stellten sich auf und jede Zelle seines Körpers schien gespannt auf eine Art Startschuss zu warten.
Was dann geschah, kam ihm vor wie ein Wachtraum.
Er beobachte, wie seine linke Hand den Schlüssel drehte und die Zellentür öffnete, nur einen schmalen Schlitz. Auf der anderen Seite der Tür stand ein Mann, der trotz seiner hinter dem Rücken fixierten Arme angsteinflößend wirkte. Ein Monster. Fast genauso groß wie Max, also mindestens eins neunzig, extrem muskulös und ein Gesicht, mehr eine Fratze, voller Feindseligkeit. Die Gestalt in der Zelle schien die reine Boshaftigkeit zu verkörpern und funkelte Max aus winzigen Augen an.
Doch plötzlich wandelte sich Max‘ Angst völlig unerwartet in blanken, unaussprechlichen Hass. Er presste die Kiefer aufeinander, dass es knirschte. In seinen Ohren rauschte es. Es war dieses Monster, das ihm den Weg in die Freiheit versperrte.
Er zog die Zellentür weiter auf und schob sich durch den schmalen Spalt in den Raum.
Als sein Gegenüber den Schraubenzieher erblickte, änderte sich sein Blick und er wich zurück, bis er gegen die Wand hinter sich stieß. Er wurde schlagartig weiß wie ein Leinentuch und schüttelte unmerklich den Kopf hin und her. Etwas Flehendes lag jetzt in den Augen des Monsters.
Doch es gab keinen Ausweg.
Ich muss es töten!
Max stand jetzt mitten in der Zelle. Tief und laut wie ein Stier in der Arena atmete er durch die Nase ein und aus. Die verhängnisvolle Stille wurde von der Schwere seines Atems nur noch mehr untermalt.
Immer lauter werdend schien das Pfeifen hinter seiner Schädeldecke, Max zwingen zu wollen, seinen Auftrag zu erfüllen.
Das Monster zu überwinden, war leichter als gedacht.
Danach war für einen unendlichen Moment alles konturlose, allumfassende Schwärze. Stille.
Kapitel 2
Leon Wendt
Nassgeschwitzt schreckte Leon auf. Gänsehaut erstreckte sich über seinen gesamten Körper, ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter und sein Herz brannte. Vom Licht geblendet, kniff er die Augen zusammen und richtete sich halb auf. Das penetrante Piepen des Digitalweckers erinnerte ihn daran, wo er war – die Hetzjagd war vorbei.
Noch vor wenigen Sekunden war er wortwörtlich um sein Leben gerannt. Vor wem und warum konnte er nicht sagen. Alles, was er wusste, war, dass man hinter ihm her gewesen war. Schließlich hatte er versucht, sich zwischen zwei dicht beieinander stehenden Häusern hindurchzuzwängen, doch der Durchgang war immer enger und enger geworden, bis er schließlich stecken blieb, unfähig, sich aus der Sackgasse zu befreien. Als die Stimmen hinter ihm so nahe gewesen waren, dass er jeden Moment mit einem Schlag auf den Hinterkopf oder einem Schuss gerechnet hatte, rettete ihn sein Wecker vor dem Tod.
Beinahe jede Nacht suchten und fanden ihn vergleichbare Albträume und jeden Morgen wachte er müder auf, als er abends ins Bett gegangen war. So ging das jetzt seit Wochen.
Mit einem missbilligenden Blick betrachtete er sein bleiches, mit dunklen Augenringen verziertes Gesicht in dem rahmenlosen Spiegel, der gegenüber vom Bett auf dem dunkelgrauen Teppichboden stand. Was für ein erbärmlicher Anblick. Sein Bart war eindeutig schon weit über die Drei-Tage-Phase hinaus und sein lichter werdendes braunes Haar trug ebenso wenig zu einem vitalen Erscheinungsbild bei.
An sich war er ein gut aussehender Mann oder hätte es zumindest sein können. Mit ein bisschen Pflege hätte er durchaus den Anschein erwecken können, attraktiv zu sein. Davon war jedoch seit geraumer Zeit kaum noch etwas zu sehen. Die Zeiten, in denen sein äußeres Erscheinungsbild für ihn eine nennenswerte Rolle gespielt hatte, schienen seltsam weit entfernt.
Mit schweißnassem Unterhemd und zerzaustem Haar saß er auf der Bettkante und musterte sich in dem alten, staubbehangenen Spiegel. Er hatte das Gefühl, dass es mit jedem Tag schneller und steiler bergab ging.
Wenn die Karosse auf dem Weg nach unten erst mal so richtig Fahrt aufgenommen hat, ist sie kaum noch aufzuhalten.
Und dabei ging es ihm nicht um sein Aussehen – solche Dinge berührte ihn allerhöchstens noch peripher.
Verdammt noch mal, so konnte es nicht weiter gehen! Nicht mehr lange und er würde Vater werden. Letzten Monat hatte Emma den Test gemacht.
Vater.
Er.
Was für ein Gedanke.
Noch immer schrillte sein Wecker.
Als er sich stöhnend erhob und seinem unschmeichelhaften Spiegelbild gegenüberstand, wusste er, dass er etwas ändern musste. Den Wecker konnte er jetzt ausstellen. Er war auf einmal hellwach. Es war an der Zeit, sein Leben in den Griff zu bekommen.
Aber wie?
Dieser verfluchte Milosz hatte ihn in der Hand, spielte mit ihm, wie mit einem Jo-Jo.
Milosz fucking Zaqiri.
Wie hatte er nur so dumm sein können, sich auf dieses sadistische Schwein einzulassen?
Verdammter, naiver Idiot!
Wie lange war es her, dass er den größten Fehler seines Lebens gemacht hatte? Er dachte zurück an jenen Tag, als er Schmitz in seinem Büro aufsuchte …
***
»Leon, du alter Raser!«, schallte es ihm entgegen, als er im Begriff war, das Büro seines Chefs zu betreten.
Er hatte sich heute wieder einmal bei dem kleinen Fahrradkurierdienst eingefunden, um den einen oder anderen Auftrag zu erledigen. Von Zeit zu Zeit übernahm er aushilfsweise ein paar Fahrten. Alles unter der Hand, keine Sozial-, Renten- oder Krankenversicherung – aber auch keine Steuern. Cash auf die Kralle. Genauso mochte er es.
Emma war glücklich, weil er zumindest gelegentlich einer geregelten und vor allem legalen Tätigkeit nachging und nicht nur von Reserven aus vergangenen, weniger gesetzestreuen Tagen lebte. Natürlich wusste sie nichts davon, dass alles unangemeldet lief und damit nicht wirklich die Voraussetzungen einer legalen Arbeit erfüllte. Belogen hatte er sie diesbezüglich nicht, er hatte einfach bestimmte Details ausgelassen. Explizit gefragt hatte sie nie, warum sollte er sie also beunruhigen?