Und Sie sind also der Künstler? - Simon Bill - E-Book

Und Sie sind also der Künstler? E-Book

Simon Bill

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Beschreibung

Es läuft nicht gerade gut für den titelgebenden Künstler. Der Einzige, der ihm Aufmerksamkeit schenkt, ist sein Drogendealer. Bis er durch einen glücklichen Zufall ein Arbeitsstipendium an einem neurologischen Institut erhält, das alles verändert und ihm neuen Schwung verleiht. Die rettende Idee: eine von Neurowissenschaften inspirierte Ausstellung! Doch in dem verheißungsvollen Institut geht es abgedrehter zu als erwartet … Mit beißendem Humor und Scharfsinn entlarvt Simon Bill in seiner (Modern-)Art-Farce die Korruption der Londoner Kunstszene in ihrer Besessenheit vom Aufspüren des neuesten Hypes. Nebenbei erfährt man kuriose Fakten über die Funktionsweise des Gehirns.

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Seitenzahl: 475

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Simon Bill

Und Sie sind also der Künstler

Roman

Übersetzt von Friederike Moldenhauer

Das Buch

Die Zukunft von Simon Bills dem Alkohol zugeneigten Antihelden sieht nicht gerade rosig aus. Der abstrakte Maler treibt sich auf Vernissagen herum, um an kostenlose Drinks zu kommen. Seine Freundin, eine Kuratorin, hat ihn sitzen gelassen, und der einzige Händler, der ihm Aufmerksamkeit schenkt, ist sein Drogendealer. Doch durch einen glücklichen Zufall erhält er ein Arbeitsstipendium an einem neurologischen Institut, das alles verändert.

Begeistert von der neuen Umgebung und fasziniert von den Menschen, die er dort kennenlernt, vor allem von der hübschen Amnesie-Patientin Emily, wittert er die Chance, seiner Karriere (und seinem Liebesleben) neuen Schwung zu verleihen. Die rettende Idee: eine von Neurowissenschaften inspirierte Ausstellung. Doch nicht alles ist so, wie es zu sein scheint, an dem renommierten Institut …

 

Der Autor

Simon Bill, 1958 in Kingston upon Thames geboren, lebt und arbeitet als bildender Künstler in London. Er studierte am Royal College of Art und an der Saint Martin’s School of Art und fühlt sich der YBA-Gruppe junger bildender Künstlerinnen und Künstler verbunden. Er hatte Einzelausstellungen in Los Angeles, Köln, London, Manchester und eine große Retrospektive im BALTIC Centre for Contemporary Art. Und Sie sind also der Künstler? ist sein erster Roman.

 

Die Übersetzerin

Friederike Moldenhauer studierte Soziologie und arbeitet seit 1999 als freie Übersetzerin, Lektorin und Literaturveranstalterin (Machtclub, Poets on the Beach, 8 min Slam). Sie übersetzt aus dem Englischen, u.a. die Biografien von David Bowie und Robert De Niro. Für die Übersetzung von Und Sie sind also der Künstler?erhielt sie ein Stipendium der VG Wort im Rahmen von NEUSTART KULTUR.

1. Ihr Tagebuch

26. Juli

Ich bin zum allerersten Mal hier. Ich lebe zum ersten Mal. Alles ist neu für mich. Ich sitze hier in diesem Zimmer – ich weiß, das ist mein Zimmer – mit Stift und Papier, um diesen neuen Tag zu planen. Ich weiß, das hier ist das Zimmer, in dem ich wohne. Ich habe ein Bett und einen Tisch und zwei Stühle. Ein Stuhl ist dazu da, um sich an den Tisch zu setzen, und das andere ist ein Sessel. Ich schreibe jetzt auf, was ich tun werde, wenn ich dieses Zimmer verlasse.

Und es gibt einen weiteren Ausschnitt, ebenfalls zufällig ausgewählt:

14. Okt.

Ich bin zum allerersten Mal hier. Ich lebe zum ersten Mal. Alles ist neu für mich. Ich sitze hier in diesem Zimmer … (und so weiter.)

Es macht keinen Unterschied, denn sie schreibt jeden Tag mehr oder weniger dasselbe, seitdem sie wieder bei Bewusstsein ist, seit fast drei Jahren. In Belize, dem winzigen Land in Südamerika, erkrankte sie an dieser seltenen Virusinfektion. Ohne Vorwarnung brach sie zusammen, ohne irgendwelche anderen Symptome zu zeigen. Dann fiel sie in ein Koma, das fast sieben Wochen lang anhielt. Eines Tages wachte sie auf und sagte, sie habe Hunger, und es sah so aus, als würde sie sich wieder vollständig erholen. Es fiel ihr schwer, sich zu erinnern, aber das ist ziemlich normal, wenn man längere Zeit bewusstlos gewesen ist. Das muss nicht unbedingt etwas Ernstes sein. Es dauerte ein paar Tage, bis sich herausstellte, dass diese Probleme auf eine Hirnverletzung zurückzuführen waren und dass dieser Zustand wahrscheinlich für immer anhalten würde. Die Scans, die man im Gray’s Hospital gemacht hatte, ergaben, dass eine deutliche Schädigung des Hippocampus auf beiden Seiten des Gehirns vorlag. (Das abgestorbene Gewebe, das bei dieser Erkrankung zurückbleibt, wird von speziellen Gehirnzellen namens »Mikroglia« – man könnte sie als die Reinigungskräfte des Gehirns bezeichnen – »phagozytiert«, also quasi aufgegessen. Alles, was übrig blieb, waren in diesem Fall identische Löcher in jeder Gehirnhälfte.)

Das bedeutet, dass sie sich niemals neue Informationen länger als fünfzehn Minuten merken können wird. Sie kann sich an Dinge erinnern, die in ihrem Leben bis zu zwei Jahre vor ihrer Erkrankung passiert sind. Sie kann neue Sachen lernen, solange das innerhalb eines Zeitfensters von fünfzehn Minuten passiert. Aber sie wird nicht in der Lage sein, sich daran zu erinnern, dass sie sie je gelernt hat. Wenn sie also, sagen wir mal, lernen würde, eine Orange auf dem gebeugten Ellenbogen ihres rechten Arms zu balancieren, dann den Arm zügig auszustrecken, um die Orange mit der rechten Hand aufzufangen, bevor sie durch das Zimmer fliegt, dann wäre sie in der Lage, diese Tätigkeit zu wiederholen. Aber würde man ihr den Trick ein wenig später vorführen und sie fragen, ob sie das auch könne, würde sie Nein sagen. Drängte man sie dann, es einfach selbst auszuprobieren, würde sie überrascht feststellen, dass sie es kann. Sie weiß, was sie tun muss, ohne zu wissen, dass sie es weiß.

2. Auf der Vernissage

Emily ist eine der Personen, die ich zu Beginn meines Arbeitsstipendiums als Künstler am Norman Neurological Institute des Gray’s Hospital kennengelernt habe. Zum ersten Mal hatte ich davon von einem Freund gehört, mit dem ich mich auf einer Vernissage in der Black Hole Gallery unterhielt. Wir schauten uns gerade eine Reihe von Cibachrome-Abzügen an, auf denen die Daumen von Stars abgelichtet waren. Dort erzählte er mir von der Ausschreibung für dieses Residenz-Arbeitsstipendium. Angesichts meiner finanziellen Situation hielt ich es für eine gute Idee, mich zu bewerben. Meine Gemälde verkauften sich nicht, und die Leute von meiner Galerie, der Galerie, die mich »vertritt«, verloren das Interesse an mir. Immer, wenn ich vorbeischaute, schienen sie unangenehm berührt und rieten mir, andere Arbeiten zu produzieren, Arbeiten, die für die Sammler zugänglicher waren – ob meine Gemälde möglicherweise etwas zu groß seien? (Sie sind zu groß. Ich habe mir ein irrwitziges Problem mit der Lagerung eingehandelt, weil ich in der Woche mindestens zwei abstrakte Gemälde produziere, die 3 mal 3 Meter 50 groß sind.)

Ich unterhielt mich mit diesem Typen – eigentlich waren wir überhaupt nicht wirklich befreundet – aus dem einfachen Grund, weil ich mich nicht traute, zu versuchen, an die erfolgreicheren Leute, die sich in dem Ausstellungsraum aufhielten, heranzukommen. Außerdem musste ich mich mit jemandem unterhalten, sonst hätten alle gesehen, dass ich da allein herumstand. Er gehört zu der Sorte Künstler, die öffentlich geförderte Kunst machen und sich durch Förderung, Subventionen, Aufenthalts- und sonstige Stipendien finanzieren. Zuvor hatte ich nicht wirklich viel mit solchen Dingen zu tun gehabt. Ich glaubte, ich könnte auf dem glanzvolleren kommerziellen Markt erfolgreich sein, wo man mit internationalen Sammlern und europäischen Kunstmuseen und so weiter zusammenarbeitet. (Es gibt zwei verschiedene Herangehensweisen an Kunst. Zwar lassen sich die beiden Lager nicht klar voneinander abgrenzen, da sie sich in der Realität auch häufig überschneiden, aber der öffentliche Sektor steht im Großen und Ganzen der Malerei, insbesondere der abstrakten Malerei, skeptisch gegenüber, weil sie keine Aussagen über kulturelle oder sozialpolitische Themen trifft. Manchmal mache ich mir selbst deswegen Sorgen. Wie konnte ich früher zum Beispiel nur all diese gequälten Selbstporträts malen, wenn in den Nachrichten wahrscheinlich die ganze Zeit sterbende Kinder in irgendeinem Todesstreifen in der Dritten Welt gezeigt werden? Ich war zwar erst um die achtzehn, als ich diese Bilder gemalt habe, aber trotzdem … Wenn ich schon glaubte, zu leiden, was machten dann diese Kinder durch? Es sind weniger die ethischen Fragen, die mich beschäftigen, als die Logik des Ganzen.)

Ich hatte mir keine echten Chancen ausgerechnet, dieses Arbeitsstipendium in dem Krankenhaus zu bekommen. Dafür hätte ich so tun müssen, als würde ich mich dafür interessieren. Aber ehrlich gesagt: Ich war verzweifelt. Sowohl die Bank als auch die Kreditkartenfirma waren hinter mir her, und ich musste Leuten aus dem Weg gehen, von denen ich mir Geld geliehen hatte – hier mal einen Zehner und da mal einen.

Mein »Freund« notierte mir ein paar Details zu diesem Stipendium, während ich mir überlegte, ob ich versuchen sollte, ihn anzupumpen, mich dann aber dagegen entschied. Er schrieb alles auf die Rückseite der Einladung zu der Vernissage. Und am nächsten Morgen, als ich gründlich nach genügend Kleingeld für Zigaretten suchte, fand ich die Karte zerknittert in meiner Hosentasche. Ich beschloss, mir die Mühe zu sparen, doch dann, so gegen Mittag, nachdem ich viel über meine Situation nachgedacht hatte, rief ich die Nummer an, um ein Bewerbungsformular anzufordern.

Überraschenderweise (jedenfalls für mich) schaffte ich es auf die Shortlist mit fünf Künstlerinnen und Künstlern. Die Bewerbung auszufüllen war viel weniger Arbeit gewesen, als ich befürchtet hatte. Ich habe schon Dutzende Bewerbungsunterlagen für Aufenthaltsstipendien und Zuschüsse durchgelesen, nur um sie schließlich in den Papierkorb zu werfen. (Susan hatte sie immer absichtlich herumliegen lassen, damit ich sie fand. Sie hatte Angst, dass sich mein Geldmangel und meine soziale Isolation negativ auf unsere Beziehung auswirken würden. Sie dachte, es sei besser, wenn ich einen Job hätte. Das war, bevor sie sich eine andere, elegante und simple Lösung für unsere Probleme überlegte, die darin bestand, sich von mir zu trennen.) Ich hatte ein Dokument im Umfang einer Hochglanzzeitschrift erwartet, voller rätselhafter jargongespickter Fragen und mit vielen Leerzeilen, um dort Qualifikationen und Exposés für Projekte einzufügen, und der Möglichkeit, auf weiteren Seiten ins Detail zu gehen. Hier aber waren die Zeilen für meine Erläuterungen, wie meine Arbeit möglicherweise von dem Umfeld des Instituts profitieren könne, kaum länger als die Frage selbst. Trotzdem kam ich über meine Antworten ins Schwitzen – das ist nicht so wirklich mein Gebiet – und war auch nicht ganz überzeugt, als ich die Bewerbung mit Kuli ausfüllte und samt Eselsohren abschickte, aber sie musste okay gewesen sein, denn ich gehörte zu den Auserwählten, die es in die engere Wahl schafften. Ich und vier andere.

Und dann, nachdem ich die Einladung zu diesem Gespräch bekommen hatte, überlegte ich ernsthaft, nicht hinzugehen, denn ich war mir sicher, dass die anderen bestimmt mehr Erfahrung und Routine mit Interviews hatten. Abgesehen von meiner Arroganz bin ich eigentlich ziemlich schüchtern. Ich mag es nicht, ausgefragt zu werden.

3. Auf dem Weg zum Interview

Als ich beim Gray’s Hospital ankam, war ich für meinen Zwölf-Uhr-Termin eine Stunde zu früh. Ich trug das Outfit, das ich immer zu Vernissagen anzog (soll heißen, die einzigen Klamotten, die nicht über und über mit Farbe bekleckert waren), und hatte zwei Bücher dabei, die ich brauchte, um das alles durchzustehen: meinen London-Stadtplan und den Farbkatalog einer de-Kooning-Ausstellung. Einen Stadtplan habe ich immer dabei, weil ich absolut keinen Orientierungssinn habe. Man könnte meinen, »Orientierungssinn« sei nur so eine Floskel, aber ich bin mir sicher, dass einige Menschen dieses Vermögen haben. Mir zumindest fehlt die Fähigkeit, mich zu orientieren. Ich verlaufe mich die ganze Zeit, auch wenn ich nur einkaufen gehe. Wenn ich aus einer mir unbekannten Richtung in eine Straße einbiege, die ich im Prinzip kenne, bin ich erst einmal irritiert. Wenn ich es endlich geschafft habe, zu begreifen, ja, ich kenne diesen Ort hier, bin ich dennoch nicht in der Lage, mich zu orientieren, wo ich als Nächstes hinmuss, weil ich in die Straße von der falschen Seite her hineingegangen bin. Ich laufe wie ein Tourist mit meinem Stadtplan durch London, gucke immer wieder darauf und umher und schlage Straßennamen im Verzeichnis nach. Es ist ein Wunder, dass ich noch nicht überfallen worden bin.

Den de-Kooning-Katalog hatte ich dabei, weil ich einen Vortrag über Kreativität und Alzheimer vorbereitet hatte.

Ich war extra früh gekommen, um mich umzuschauen und um mir einen schnellen Schluck zu genehmigen – falls nötig. Das Krankenhaus ist in mehreren Gebäuden untergebracht. Sein Gelände sieht eher aus wie ein postmoderner Slum. Ein unglaublicher Mischmasch verschiedener Gebäude, die auf engstem Raum zusammengepfercht sind wie Flaschen in einer Getränkekiste. Zum Beispiel sind zwei eher nachvollziehbare Bauten – die So-und-so-Klinik und das So-wie-noch-Zentrum – durch einen Verbindungs-Riegel aus Ytong-Steinen versaut. Oder sie haben eine schöne neoklassizistische Villa zwischen zwei nackte Sichtbetonbauten geklemmt, die wie riesige Aktenschränke aussehen. Ältere Abschnitte sind von Parkhäusern oder von einer Wagenburg aus Baucontainern umringt. Das Krankenhaus lässt sich nicht erweitern, weil sich das Gelände mitten in London befindet. Daher werden immer mehr Gebäude dazugebaut, wann immer ein neues medizinisches Spezialgebiet hinzukommt. Dann werden neue Geschosse auf alte Gebäude gesetzt, oder Häuser werden erweitert, oder Räume werden in bestehende hineingebaut. Einige der höchsten Gebäude sind durch Fußgängerbrücken miteinander verbunden. Aus der Entfernung sehen sie Hunderten von Laubengängen mit kürzlich hinzugekommenen Belüftungsanlagen zum Verwechseln ähnlich. Es gibt auch einige von Landschaftsgärtnern gestaltete Areale, wo robuste Büsche wachsen und die Grünflächen mit matschigen Pfaden übersät sind – dort, wo Menschen einfach langgehen, um von A nach B zu kommen, anstatt die gepflasterten Wege zu benutzen. Für die grundlegenden Bedürfnisse ist gesorgt: Auf dem Gelände befinden sich einige Fast-Food-Restaurants, ein Friseur, ein Blumenladen, ein Zeitungskiosk, eine Kapelle, sogar ein Pub.

Das Ganze wird von einem hohen, massiven Gebäude dominiert, dem Gray-Tower, in dessen oberstem Stockwerk das Norman Institute untergebracht ist. Angrenzend ragt ein Anbau wie ein Brett hervor. Auf dem Dach befinden sich alle möglichen technischen Gerätschaften: Antennenanlagen und Satellitenschüsseln und was man sonst noch so angebracht hat, um mit der Kommunikationstechnologie mithalten zu können, die sich ständig ändert. Aus einem Schornstein stieg gelber Rauch auf. Er muss aus einer Verbrennungsanlage im Keller stammen, wo sie ihren ganzen Krankenhauskram verbrennen.

Das Foyer im Erdgeschoss erinnerte an eine Fähre; auf dem Teppichboden mit Schnörkelmuster waren Sitzbänke festgeschraubt. Aus einem der Imbisse drang der starke Geruch von Croque Monsieur herüber. Ich suchte die Aufzüge, aber ich muss ein Hinweisschild falsch gelesen oder falsch verstanden haben, denn plötzlich stand ich in der Notaufnahme. Nach einem Schubs öffneten sich die Schwingtüren, die sich gleich wieder hinter mir schlossen. Ich schaute mir die anderen Schilder an – irgendeinen Hinweis auf die Aufzüge musste es doch geben? Immerhin fand ich dieses Mal die Toiletten. Um mich zu beruhigen, saß ich eine halbe Ewigkeit in einer der Kabinen, dann ging ich draußen eine Zigarette rauchen.

Da draußen standen eine ganze Menge Raucher. Einer von ihnen drehte sich ruckartig zu mir um.

»Alles klar?«

Ich wandte meinen Kopf ebenfalls ruckartig in seine Richtung. »Alles klar.« Zuerst dachte ich, er würde sich auf ein Standmikrofon lehnen, dann aber sah ich, dass es sich um einen Infusionsständer handelte. Ich machte mir selbst ein wenig Mut. Ich rauchte schnell und ließ meinen Blick ins Nichts abdriften. Danach ging ich zügig wieder ins Foyer zurück. Ich ignorierte alle Schilder, machte einen inspirierten Spurt durch eine Flotille Krankenbetten hindurch, überholte sportlich einen Rollstuhlfahrer und kam direkt vor den Lifts zum Stehen.

Es hatte vierzig Minuten gedauert, um von der Eingangshalle zu den Aufzügen zu kommen, und ich war spät dran. Ich fühlte mich besser (denn vielleicht war ich zu spät, und dann würden sie mich möglicherweise wieder nach Hause schicken). Ich drückte einen Knopf, wartete ruhig, stieg allein in den Aufzug, drückte den nächsten Knopf und fuhr ganz hoch hinauf.

4. Das Institut

Die Luft im obersten Geschoss war viel besser. Als sich die Türen öffneten, wurde die ungute Krankenhausatmosphäre durch den wunderbaren Duft von frischer Farbe und neuen Möbeln verdrängt. Ich ging hinüber zum Empfangstresen und nahm mir Zeit, der schicken Empfangsdame, die intensiv mit ihrem Haar und ihren Nägeln beschäftigt war, den Grund meines Kommens zu nennen. Dass ich spät dran war, war kein Problem, denn sie hatte keine Ahnung, wovon ich sprach. Sie schien nicht den Eindruck zu haben, dass sie am Empfang in irgendeiner Weise dafür verantwortlich war, sich mit mir zu beschäftigen, namentlich mich in Empfang zu nehmen. Ich fragte sie, ob es ihr etwas ausmachen würde, zu schauen, ob jemand da sei, der etwas von der Ausschreibung wisse. Hinter mir gingen die Aufzugtüren auf, und es kam noch jemand herüber zum Tresen. Der Mann versuchte, mit ihr zu sprechen, während sie zum Telefon griff, um zu sehen, ob jemand wusste, weswegen ich hier war. Sie ignorierte ihn. Die Dame schien eine Weile zu brauchen. Der andere Typ – der andere Künstler – und ich sahen uns an und verdrehten die Augen. Er war jünger als ich (ich bin siebenunddreißig), und er war besser angezogen als ich; trotzdem hatte ich nichts gegen ihn. Dann legte sie den Hörer auf und teilte uns mit, dass gleich jemand kommen würde. (Mir war ihre unverhohlene Geringschätzung gleichgültig, weil sie sich nicht gegen mich allein richtete – und weil ich unter anderem die Zeit auf der Toilette genutzt hatte, um Wodka zu trinken.)

Aus dem Lift stiegen zwei andere Bewerberinnen, junge Frauen mit Laptops. Wir erzählten ihnen, dass es offensichtlich nichts ausmachte, wenn man zu spät dran war. Auch wir warteten darauf, dass sich jemand zeigte. Der Letzte kam. Wir erklärten ihm die Situation, er nickte, und wir warteten weiter.

Es dauerte ein bisschen, bis ich kapierte, was an der Situation komisch war. Aber dann dämmerte es mir. Wenn wir alle gemeinsam hier waren, und jedes Interview mindestens eine halbe Stunde lang dauerte, dann bedeutete das, dass einige von uns ziemlich lange, sehr lange hier warten mussten. Sobald mir das klar wurde, hätte ich fast etwas gesagt, aber dann bemerkte ich, dass sich die anderen das auch schon ausgerechnet hatten. Alle guckten genervt.

Während ich wartete, sah ich mir den Raum genauer an, in dem wir uns befanden. Das Institut war sehr gut ausgestattet, dachte ich mir. Man musste einen guten Architekten damit beauftragt haben. Da für die Oberflächen Hartholz verwendet worden war, hatte der Raum etwas Skandinavisches, und die Beleuchtung war ausgeklügelt, weil man nicht sehen konnte, woher das Licht kam. Es leuchtete einfach nur frisch, nordisch. Ich bemerkte, dass die Holzlasur dazu beitrug, dass alles noch so neu roch. Und sogar die Geräusche klangen so, als seien sie extra designt und durch irgendein Dämmsystem gefiltert worden. Der Empfangsbereich schien das zentrale Element der Etage zu sein, von dort gingen zahlreiche breite Korridore ab wie Speichen an einer Radnabe oder in einem Panopticon-Gefängnis.

Irgendwo in einem dieser Flure ging eine Tür auf. Wir drehten uns alle zu der kleinen Frau um, die heraus- und auf uns zukam. Sie ging mit schnellen Schritten, wie ein Minitorpedo schoss sie auf uns zu. Sie hatte kurzes grau meliertes Haar und trug ein akkurates graues Kostüm. Dennoch dauerte es eine Weile, bis sie auf unserer Höhe war, und dann ging sie schnurstracks an uns vorbei, öffnete eine Tür hinter dem Empfangstresen und verschwand. Ich bezweifle, dass sie uns überhaupt wahrgenommen hatte. Die Tür fiel ohne das geringste Geräusch ins Schloss. Ich betrachtete die Klinke und erkannte das Design – sehr schlicht und ziemlich ästhetisch. Ich hatte etwas Ähnliches auf Fotos vom Wittgensteinhaus in Wien gesehen.

Eine der Bewerberinnen fing an, mit den Fingern auf den Tresen zu trommeln. Aus einem anderen Flur trat nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, eine weitere Frau auf uns zu. Sie war viel runder und hatte es nicht so eilig. »Michelle« entschuldigte sich dafür, dass sie uns hatte warten lassen, und gab uns eine Führung durch das Institut. Uns hatte niemand etwas von einer Führung gesagt. Mich störte dieser Mangel an Organisation und Kommunikation nicht, aber die anderen. Eine der jungen Frauen, die, die mit den Fingernägeln getrommelt hatte, wollte wissen, was los sei. Sie sei für das Auswahlgespräch gekommen. Und zwar um zwölf. Michelle, der das überhaupt nichts ausmachte, erläuterte, dass wir erst die Führung machen und danach die Interviews in Halbstundenabständen stattfinden würden. Es wurde Protest laut, alle außer mir beschwerten sich. Die junge Frau versuchte immer weiter zu diskutieren, dann ging sie. Michelle sah ihr nach. (Das war ungefähr der Zeitpunkt, zu dem mir klar wurde, dass der Typ, der mir von dem Stipendium erzählt hatte, gar nicht dabei war. Konnte sein, dass er nicht auf die Shortlist gekommen war, aber ebenso gut war es auch möglich, dass er sich gar nicht beworben hatte.)

Da jetzt eine Bewerberin fehlte, was die Chancen für uns andere erhöhte, stimmten wir zu, uns das Institut anzuschauen, aber die anderen schienen darüber nicht glücklich. Offensichtlich hatten sie an diesem Tag auch noch andere Dinge vor. Als die Führung losging, telefonierten sie alle mit ihren Handys und verschoben Verabredungen. Alle außer mir. Ich habe noch nicht mal ein Handy.

 

Während sie uns einen der Flure entlangführte, fing Michelle an, uns »ein wenig über das Institut an sich« zu erzählen. Es war erst vor knapp einem Jahr eröffnet worden, dank einer beträchtlichen Schenkung der Norman Foundation. Diese Stiftung hatte der »Milliardär und Philanthrop« (so nannte sie ihn tatsächlich) Mr Conrad Norman kurz vor seinem Tod gegründet. Der Zweck der Stiftung ist es, die neurologische und geriatrische Forschung zu unterstützen. Das Institut ist ihr Hauptbegünstigter. Die fest angestellten Mitarbeiter umfassen zurzeit eine Direktorin, Dr. Nancy Prabhakar, einen Neurologen, Therapeuten, technische Assistenten und natürlich das Verwaltungspersonal (an dieser Stelle lächelte Michelle ein wenig, denn mit »Verwaltungspersonal« war sie gemeint). Das Institut ist sowohl Krankenhaus als auch Forschungszentrum für Neurowissenschaften und verwandte Felder und stellt seine umfassenden Einrichtungen Wissenschaftlern weltweit zur Verfügung. Zurzeit sei allerdings nur ein externer Wissenschaftler hier, ein angesehener Neurochemiker aus Atlanta namens Owen Madden.

(Eigentlich verfolge ich die Nachrichten nicht richtig, aber der Name Conrad Norman kam mir auf alle Fälle bekannt vor. Eine riesige Nummer in der Pharmabranche. Oder in der Rüstung. Es liegt eine Weile zurück, dass über ihn viel in der Presse stand. Da war irgendwas darüber, dass er sein ganzes Geld einer verrückten Sekte vermacht hatte und sein Sohn oder seine Tochter darüber nicht glücklich war.)

Michelle zeigte uns nun einige Räume. Wir waren schließlich vom Korridor in ein großzügiges und luxuriös eingerichtetes Warte- oder Wohnzimmer abgebogen. Im Prinzip, so sagte sie, sei dies der Aufenthaltsraum. Die Sitzgelegenheiten, Sessel und Couchtische waren penibel auf den Rest der Einrichtung abgestimmt. Es gab einen Breitbildfernseher, dessen Sound man über Kopfhörer hören konnte, die hinter kleinen Furnieren an den Sesseln verborgen waren. Man konnte Radio und CDs hören, es gab sowohl Wasserspender als auch Kaffeemaschinen. Auf allen Tischen waren Hochglanzmagazine arrangiert.

Eine Wand dieses riesigen Raumes bestand nur aus Glas, dahinter ging es auf einen breiten Balkon oder eine Terrasse hinaus, danach gab es nur noch Himmel. Michelle führte uns hinüber zu diesem gigantischen Fenster und hielt eine Plastikscheibe gegen einen kleinen Kasten, der an der Wand angebracht war. Schon schob sich eine drei mal drei Meter große Scheibe in unsere Richtung, um dann zur Seite zu gleiten, während sie ein leises hydraulisches Zischen von sich gab. Nachdem sie uns hinaus auf den Balkon geleitet hatte, hielt Michelle die Plastikscheibe gegen einen anderen Kasten auf der Außenwand, um die Tür wieder zu schließen. Der Balkon war nicht so gepflegt wie die Räume drinnen – hier wuchs Unkraut, und es lag eine zerfetzte blaue Plastiktüte herum. Vielleicht gehörte der Balkon zu einer anderen Station.

Als ich über das Geländer schaute, hatte ich das Gefühl, wir befänden uns in einem Heißluftballon. Da wurde mir klar, dass wir uns auf der Kante der herausragenden Etage befanden, die sich wie ein Regal vom Rest des Turmes abhob. Unter uns war Leere. Michelle sagte gar nichts. Sie zeigte uns einfach die Aussicht.

Während wir zurück durch den leeren Aufenthaltsraum gingen, wurden wir über die stationären Patienten der Klinik aufgeklärt. Obwohl es viele Patienten gab, die wegen weitverbreiteter neurologischer Erkrankungen wie Parkinson, der Huntington-Krankheit, Alzheimer, Schlaganfällen, amyotropher Lateralsklerose, Epilepsie oder MS hier lagen, war das Institut auf seltene, manchmal sogar einmalige Gehirnerkrankungen spezialisiert. Die vierundzwanzig Räume standen für Patienten zur Verfügung, deren Erkrankungen sowohl selten als auch schwer genug waren, dass sie in der normalen Welt nicht mehr zurechtkamen. Die ursprünglichen Bestimmungen sorgten dafür, dass diese Zahl gering blieb (zurzeit war es nur eine Patientin), aber man hoffte, dass aus anderen Krankenhäusern des Landes weitere Patienten hinzukamen.

Wir sahen uns einen der zahlreichen Behandlungsräume für funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) an. Auf mich wirkte das wie eine Utopie, die ideale Version der Zukunft: Über einem der strahlend weißen Geräte, das wie ein riesiges Vivil-Pfefferminzbonbon dalag, pulsierte ein lilafarbenes Licht. Als wir einen anderen Flur hinuntergeführt wurden, in dem sich in regelmäßigen Abständen Türen befanden, beschriftet mit den Zahlen 1 bis 24 wie in einem Hotel, schauten wir uns ein typisches »Gästezimmer«, also ein Patientenzimmer, an. Sehr nett. Großes Bett, Fernseher, das Badezimmer direkt nebenan. Das Einzige, was an den Zimmern nicht toll war, war, dass sie keine Fenster hatten.

Als wir weitergingen, kamen wir an einigen Arbeitsräumen vorbei, deren Türen offen standen: schöne Büros; dann wurden uns der IT-Raum und der Werkraum gezeigt. Und das, so wurden wir informiert, »ist die am besten ausgerüstete Einrichtung im gesamten Königreich, die es unseren Patientinnen und Patienten erlaubt, sich mit interaktiven Angeboten zu beschäftigen«. Doch gab es nicht allzu viel in diesem Freizeitraum zu sehen, jedenfalls keine große Aktivität. Vielleicht zehn oder zwölf Patienten saßen über den Raum verstreut an den makellosen Werkbänken und taten gar nichts. Zumindest nahm ich an, dass es Patienten waren, obwohl bis auf eine ungewöhnliche Körperhaltung, ein Zittern oder ein ausdrucksloses Gesicht die Symptome nicht offensichtlich waren (jedenfalls nicht für mich als Laie).

Michelles Hinweis darauf, dass diese Werkstatt mit der Einrichtung für handwerkliche Tätigkeiten einmalig sei, glaubte ich gern. Tatsächlich war alles hier übertrieben gut ausgestattet, weil viele Gerätschaften noch unausgepackt in Kisten herumstanden. Beispielsweise befanden sich an einer Wand ein riesiger Webstuhl, daneben eine elektrische Töpferscheibe, das Neueste vom Neuen, und ein programmierbarer Brennofen (eine alte Version kannte ich aus meiner Uni, Central Saint Martins). Daneben wiederum befand sich eine Druckerpresse, die aus Gutenbergs Zeiten zu stammen schien, nur dass sie aus hellem, feinporigem Holz neu gefertigt worden war.

Ein Patient, ein sehr alter Mann, saß teilnahmslos neben einer Stichsäge. Es war eine Säge, wie man sie dazu benutzt, komplexe Formen aus Platten zu sägen. Hierbei handelte es sich um eine moderne Reproduktion der klassischen Vorrichtung, die aussieht wie ein umgedrehtes Hochrad und von einer Tretkurbel angetrieben wird.

Anscheinend ging Michelle davon aus, dass wir als Künstlerinnen und Künstler an solchen Dingen besonders interessiert waren, deswegen drückten wir uns noch ein wenig dort herum, was noch weiter zu der trägen Atmosphäre beitrug. Die anderen Bewerber sammelten sich vor der Tür und schauten sehr gelangweilt drein (bildende Künstler beschäftigen sich normalerweise nicht sonderlich mit Handwerk). Mir wäre es ebenso gegangen, wenn mir nicht unter diesen Patienten mit ihren Zitteranfällen und Ticks eine junge Frau aufgefallen wäre, eine präraffaelitische Muse, die dort sehr ruhig saß und mit unschuldigem Blick an die Decke starrte. Ihre blassen zierlichen Hände hielt sie locker im Schoß gefaltet, um ihre schmalen Schultern floss ihr rotbraunes Haar wie ein Umhang, der sich von einem Mittelscheitel herab ergoss. Sie sah aus wie ein Blumenkind aus den 1960ern, oder hätte zumindest so ausgesehen, wenn man die Kabel ihrer Kopfhörer nicht gesehen hätte.

Während ich dastand und sie anstarrte, durchquerte eine körperlich raumgreifende und wichtig wirkende Angestellte die Werkstatt und fragte Michelle mit einem sanften jamaikanischen Akzent: »Sind die das?«, ohne uns aus den Augen zu lassen.

»Ja, die Interviews sind in einer halben Stunde, Jade.«

Jade seufzte. »Okay, ich bin dann da.«

»Toll«, gab Michelle zurück. Und dann erschrak ich, weil sie mich plötzlich fragte: »Sind wir so weit?« Weil ich der einzige Bewerber war, der weder mit seinem Smartphone noch mit seinem Laptop beschäftigt war, musste sie mich zu einer Art Gruppensprecher erkoren haben. Zumindest was den Bereich Handwerk anging. »Ja«, sagte ich. Und während wir uns durch die Tür hinaus in den Flur drängten, ließ ich mich zurückfallen, um noch einen letzten Blick auf die präraffaelitische Schönheit zu werfen, die in ihrer überirdischen Gelassenheit so regungslos wie eine Wachsfigur wirkte.

5. Warten

Im Aufenthaltsraum verteilten wir uns auf die Bänke, um zu warten, bis wir mit unserem Interview an der Reihe waren. Ich fragte mich, ob wir uns miteinander unterhalten würden, vielleicht über den gigantischen Webrahmen, aber zwei klappten wieder ihre Laptops auf und der Dritte saß mir gegenüber und checkte seine Nachrichten auf dem Handy. Ich konnte mir nicht vorstellen, womit sie sich beschäftigten; wovon jeder so eingespannt war.

Vor mir lagen einige Hochglanzmagazine auf einem Tisch ausgebreitet. Ich nahm mir das mit dem Cover, das mir am besten gefiel (jetzt war ich wieder nervös), und fing an, es durchzublättern, um allen zu zeigen, dass es mir nichts ausmachte zu warten. (Warum verhalte ich mich immer noch so, als würde ich beobachtet? Und das in meinem Alter!) Nach einigen Minuten dieser kleinen Pantomime wurde mir allmählich klar, dass ich überhaupt nicht verstand, was ich da anschaute. Weder die Worte noch die Bilder ergaben für mich einen Sinn. Während die Form mir vertraut erschien – hochwertige Fotografie, begleitet von Text in unterschiedlichen Schriftarten – blieb mir allerdings der Inhalt vollkommen unverständlich. Ich hatte davon gehört, dass das Leuten manchmal passierte, bevor sie ohnmächtig wurden. Ich schlug die Zeitschrift zu und betrachtete das Cover in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis auf den Inhalt zu bekommen – ein kleines bisschen vertraute Realität, an der ich mich festhalten konnte. Fast musste ich lachen, als ich den Titel des Magazins las. Ich schaute zu dem Mann auf, der mir gegenübersaß und auf seinem Handy herumtippte. Okay. Es liegt nicht an mir. Es liegt an der Zeitschrift. Sie hieß Neuron, eine Fachpublikation für Neurowissenschaften. Ich war ihr mächtig auf den Leim gegangen, mit ihren schicken Grafiken und der aufwendigen Fotografie. Natürlich war ich davon ausgegangen, dass es sich um ein Mode- oder Lifestyleblatt handelte. Wer hätte gedacht, dass eine so hochspezialisierte Zeitschrift so sexy aussehen konnte?

Die Abbildung auf der Titelseite war abstrakt. Es war eine Nahaufnahme eines teuren changierenden Stoffs; oder vielleicht war ein Feuerwerk abgebildet, bei dem man mangels Skyline im Hintergrund weder Größenverhältnis noch Perspektive erkennen konnte? Ich suchte auf der Seite mit dem Inhaltsverzeichnis nach der Bildunterschrift, um herauszufinden, um was es sich hier handelte, und meine Erleichterung schwand wieder. Das Bild auf der Vorderseite zeigte einen »frontal-dorsalen Schnitt des umgebenden Gewebes des lateralen Ventrikels des erwachsenen Vorderhirnes eines Nagers«. Ich blickte wieder auf und hatte einen Moment lang den Eindruck, dass der Mann gegenüber mich anschaute. Ich wette, dachte ich, er weiß, um was es hier geht. Vielleicht ist er kein Experte, aber er hat ein wenig recherchiert und sich vorbereitet. Genau in dem Moment gab die Sprechanlage ein leises Klicken von sich, und der Name der ersten Bewerberin wurde aufgerufen. Sie klappte ihr Laptop zu, suchte ihre Sachen zusammen, stand auf und ging los. Ich merkte mir, in welche Richtung sie ging.

Nachdem ich Neuron zurück an seinen Platz zwischen den anderen, sorgfältig zu einem Fächer arrangierten Magazinen gelegt hatte, nahm ich mir das nächstbeste zur Hand. Es handelte sich um Molekulare und zelluläre Neurowissenschaft(MZN). Das wirkte auf mich irgendwie zugänglicher. Zuerst sah ich mir die Fotos an, von denen mich viele erstaunten. Sie waren leuchtend, wenn nicht sogar grell pigmentiert und lösten viele Assoziationen aus. Etwas schaute meiner Meinung nach wie marmoriertes Papier aus, das man früher beim Bücherbinden verwendet hat, außer dass es von einem ungesunden Leuchten überlagert und mit kleinen schwarzen Pfeilen versehen war. Viele fast identische Porträts eines glänzenden Spiegeleis waren in Spalten und Leisten angeordnet, sie waren ähnlich markiert und beschriftet. Strähnen von farbgesättigter Wolle, die ein verrücktes Kätzchen über einen schwarzen Samtvorhang gezogen hat. Kirchenfenster, die von einem Mönch auf Droge designt wurden. Etwas, das aussah wie sprießender lilafarbener Brokkoli, abgesehen davon, dass es mikroskopisch klein und anscheinend lebendig war. Diese Bilder waren hinreißend, und ich verstand nicht, was die Abbildungen darstellten (was ihren Reiz noch verstärkte, weil sie umso mehr zu versprechen schienen).

Weil ich noch Zeit totzuschlagen hatte und mich mit irgendetwas beschäftigten musste, las ich. Auf der Suche nach einem Artikel, der mir den Einstieg ermöglichen würde, blätterte ich noch einmal zum Inhaltsverzeichnis zurück. »Bereiche neuronaler Differenzierung im Vorderhirn von Zebrafisch-Embryonen«. Das hörte sich gut an. Mich reizte der »Zebrafisch«. War er eine gestreifte Monstrosität oder einfach eine Fischart? Ich überflog die Einleitung und fing irgendwo mitten im Text zu lesen an. »… das nMLF befindet sich entlang der ventralen Grenze von pax6 …« Ich gab auf und schaute mir einfach die Bilder an. Sehr hübsch.

Ich blätterte noch eine Weile durch das Magazin auf der Suche nach hilfreichen Hinweisen oder um noch einen Blick auf die Materie zu erhaschen. Es gab zahlreiche Referenzen auf Tiere, abgesehen von Ratten und Zebrafischen (was hatte es mit denen auf sich?). Es ging um Katzen, Hunde, Affen, Mäuse, mutierte Mäuse, Drosophila – eine Fliegenart –, Tintenfische, Meerneunaugen, junge Katzen und Flusskrebse. Der Großteil davon berührte mich nicht im Geringsten. Zu den meisten Themen habe ich keine eindeutige Haltung, und Tierschutz gehört dazu (obwohl ich mich schon fragte, was sie wohl mit diesen kleinen Kätzchen anstellten). Unter den Anzeigen, die hauptsächlich für Labortechnik warben, befanden sich auch einige, die ich sehr lustig fand. Jemand warb in großen Lettern, die mit großen gezackten Blitzen umrandet waren, für ELEKTRISCHESFISCHORGAN-GEWEBE. »Kräftige Antikörper – Sie werden STAUNEN, WIE robust unsere Antikörper sein können!!!«

Es gab eine Annonce für einen Tierverhaltensforschungs-Aktivitäts-Monitor mit Fotobeam, eine Art Terrarium, dessen Innenraum mit Laserstrahlen erfasst wurde und in dem man Laborratten halten konnte. Die Anzeige versprach, der Käfig sei kugelsicher.

6. Das Bewerbungsgespräch

Ich schreckte auf, als die Lautsprecheranlage ertönte. Es klang, als wäre jemand von hinten an mich herangeschlichen und hätte meinen Namen gerufen. Ich nahm meine Sachen, stand auf und ging in die richtige Richtung (die ich mir zuvor gemerkt hatte). Ich kam zu einer Tür mit einem runden Fenster, wie ein Bullauge. Ich sah hindurch: Vier Leute saßen an der Stirnseite eines ovalen Tisches zusammen. Vor ihnen standen Wasserflaschen, lagen Stifte und Unterlagen. Ich klopfte und ging hinein. Einer schaute auf, sagte: »Hallo«, und bat mich, mich zu setzen. Fast hätte ich mich ganz ans andere Ende gesetzt, aber als ich dann sah, dass neben ihnen eine fünfte Wasserflasche stand, überlegte ich es mir schnell anders und nahm dort Platz.

Von da an schien alles ganz gut zu laufen, wenn man davon ausging, dass ich keine Chance auf das Stipendium hatte. Zunächst stellten sie sich vor. Ben – ein junger Stationsarzt, athletisch, fesch, sehr enthusiastisch. Jade: die imposante Frau von den West Indies, die wir gerade in der Werkstatt gesehen hatten (entgegen meinen Befürchtungen zeigte sie keinerlei Anzeichen von Ungeduld darüber, dass sie hier sein musste, während Wichtigeres zu erledigen war). Hilary: käsebleich und neurotisch, vom London Arts Board, dem städtischen Kulturamt. Conrad: dunkelhaarig, mürrisch, seltsam alterslos, eigentlich wie ein Riesenbaby. Er kam mir bekannt vor.

Hilary brachte den Ball ins Rollen, indem sie etwas über das Leitbild des Aufenthaltsstipendiums erzählte, seinen Schwerpunkt, performative Reichweite zu ermöglichen. Sie fragte mich, wie ich als Künstler von der Arbeit in diesem Institut profitieren könne und was meine wichtigsten Maßnahmen und Zielsetzungen seien. In meiner Antwort verwendete ich die meisten Begriffe, die sie genannt hatte, allerdings in einer anderen Reihenfolge. Blöde Kuh.

Jade wollte wissen, wie ich damit zurechtkommen würde, mit Menschen mit neuronalen Defiziten zu arbeiten, und ob ich in dieser Hinsicht schon Erfahrungen gesammelt hätte. Ich erzählte ihr, dass obgleich ich keine professionelle Erfahrung auf diesem Gebiet hatte, ich einen jüngeren Bruder hätte, der unter schwerem Autismus litt. Er gehörte nicht zu den Autisten, die unter der milden Form der Krankheit litten, die alle möglichen anspruchsvollen Verhaltensweisen an den Tag legten oder ein Talent für Arithmetik. Er sei schwer autistisch. Er sei überhaupt nicht in der Lage, sich sprachlich verständlich zu machen und könne manchmal sehr gewalttätig werden. Mehr sagte ich nicht, weil ich das ganze Zeug aus einer Fernsehreportage hatte, die ich mir aber gar nicht bis zum Ende angesehen hatte. Jade stellte mir keine weiteren Fragen. Ich nehme an, dass jeder nur eine stellen durfte.

Ben fragte mich, wie meine Arbeit als Künstler mit den Neurowissenschaften zusammenhing. Nun, das war die Frage, auf dich mich vorbereitet hatte, und ich holte meinen de-Kooning-Katalog hervor.

 

Die Idee, den Katalog mitzubringen, basierte auf einem Erlebnis aus meiner Zeit an der Kunsthochschule. Ich saß in meinem Atelier und sah mir Reproduktionen in einem Katalog an. (In der Hochschule hat jeder Student sein »Atelier«, einen armseligen Arbeitsplatz, der von denen der Nachbarn mit 2 Meter 50 mal 1 Meter 20 großen Sperrholzplatten abgetrennt ist.) Einer der Dozenten, ein Maler, der seine kurze Erfolgsphase Mitte der 1980er-Jahre gehabt hatte, kam herein, um mir eine Weile über die Schulter zu schauen.

»Du weißt, dass er unter Alzheimer litt, als er das gemalt hat?« Er schlenderte weiter.

Von Alzheimer hatte ich keine Ahnung. Aber ich war (und bin es eigentlich immer noch) ein großer Fan von Willem de Kooning. Er war einer der wichtigsten abstrakten Expressionisten, seine Arbeiten waren das Nonplusultra, was echte Malerei im ursprünglichen Sinne anging. Tatsächlich wird er häufig als der »letzte große Maler« bezeichnet. Jackson Pollock war der größere Erneuerer, aber im Prinzip hatte er nur ein paar Jahre lang gut gemalt. Bis 1950 rackerte er sich mehr oder weniger nur wie ein ungeschicktes Arbeitstier ab; ihm fehlte offensichtlich ein außergewöhnliches Talent. Sobald er sein Metier, das Tropfen und Spritzen, entdeckt und dann ein Dutzend Meisterwerke oder so produziert hatte, wurde er sich dessen bewusst und kam nicht weiter. Mit seinen breiten, vollen, öligen Pinselstrichen gelang de Kooning auf der anderen Seite der Spagat zwischen der traditionellen Malerei an der Staffelei und dem Action Painting aus dem Stegreif. Dabei blieb er jahrzehntelang, ohne von seinem Weg abzuweichen.

Als ich den Text im Katalog las, womit ich mich normalerweise nicht lange aufhielt, fand ich einige Bemerkungen über die Krankheit, darüber, dass er Probleme mit seinem Gedächtnis hatte, ohne dass der Name der Erkrankung fiel. Sie wurde nur thematisiert, um hervorzuheben, wie der Künstler gegen sein Unglück anging, während er weiterhin seine unerschütterliche Zuversicht behielt und so weiter. Ich tat mich ein wenig um. In der Institutsbibliothek gab es nichts darüber. Schließlich fand ich ein Buch in einem Rot-Kreuz-Laden, Leben mit Alzheimer, das viel Wert auf Listen legte. Ich schlug die Symptome nach. Zuerst zeigen sich folgende Warnsignale:

extremes Misstrauen und Angst vor anderen Menschen

Unfähigkeit, Vorhaben zu Ende zu führen, sei es den Garten zu pflegen, etwas zu nähen oder ein Fest zu organisieren

Probleme, Gedanken bis zu Ende zu denken

Beginn einer Depression

plötzlich einsetzender Alkoholmissbrauch bei Personen, die zuvor wenig getrunken haben

aggressives Verhalten, ohne dass ein offensichtlicher Grund dafür besteht

unglaubliche Berichte über böse Dinge, die andere gemacht haben sollen

Das sind die Warnsignale. (Und wir alle kennen solche Tage, nicht wahr?) Diese Anzeichen unterscheiden sich nicht sehr von den deutlichen Symptomen von Alzheimer, die da wären:

Vernachlässigung der Körperhygiene

längerer Aufenthalt im Bett ohne offensichtlichen Grund

Ängstlichkeit oder Nervosität ohne offensichtlichen Grund

Unfälle im Haushalt, wie z.B. einen Topf auf dem brennenden Herd stehen zu lassen oder Haushaltsgeräte nicht auszuschalten

Unstimmigkeiten von Erinnerungen oder Verhaltensweisen

eine bestimmte Sorte Lebensmittel horten, z.B. achtzehn Dosen Bohnen oder acht Netze Orangen

Stimmungswechsel, die nichts mit äußeren Einflüssen zu tun haben

(Noch mal: Wir alle haben solche Tage, oder?) In der nächsten Phase von Alzheimer kommt die Demenz. Man wird dement. Weder weiß man, was die Ursache für Alzheimer ist, noch ist man sicher, ob es nicht auch verschiedene Ursachen gibt. Das, was passiert, ist jedenfalls, dass das Hirn abstirbt. Das Schlimmste daran ist, dass die geistige Klarheit aus- und wieder einsetzt, zumindest in den Stadien vor der Demenz. Das heißt, dass man sich in klaren Momenten selbst dabei zusieht, wie man stirbt – wenn das Hirn tot ist, ist man selbst tot. In diesem Buch wurde eine weitere Erkrankung dargestellt, deren Symptome denen von Alzheimer ähneln, die aber eine eindeutige Ursache hat: das Korsakow-Syndrom. Es wird durch Alkoholmissbrauch verursacht. Willem de Kooning trank. Angeblich trank er eine Flasche Whisky am Tag.

Außerdem habe ich auch noch einige andere Dinge herausgefunden: In einem Interview entschuldigte er sich für seine gelegentliche Vergesslichkeit, und es gab eine Dokumentation über seine letzten Lebensjahre von einem der Assistenten in seinem Studio, es war seine Tochter, glaube ich. Darin wurde allerdings auch nicht viel mehr verraten.

Als ich mir seine späten Werke noch mal anschaute, versuchte ich, unfreiwillige Hinweise auf den Verfall und die Demenz zu erkennen, doch finden konnte ich keine. Ich versuchte, roboterhafte grobe Gesten oder Plumpheit auszumachen, aber das Spätwerk, auch wenn es nicht zu seinen besten Arbeiten gehört, ist immer noch voller Einfälle – ungewöhnliche kompositorische Kniffe und Balanceakte, ein ausgeprägter Sinn für das unvorhersehbare Hin und Her einer improvisierten Abstraktion. Dies hier war keine hirnlose Wiederholung einer auswendig gelernten Formel. Es wirkt immer noch frisch. Es stammte von einem Mann, der sich nicht mehr an seinen eigenen Namen erinnerte, der gewaschen, angezogen und gefüttert werden musste.

Natürlich waren viele Symptome kaum wahrnehmbar, bis die Krankheit voll ausbrach. Alzheimer ist bekannt dafür, dass es auch unter idealen Bedingungen schwierig ist, eine Diagnose zu erstellen. De Kooning war zum Regenten über die Kunstwelt aufgestiegen, ein verwöhnter Millionär, der selbst keinen Finger mehr rühren musste, weil er dafür seine Leute hatte. Es gab also nie eine richtige Gelegenheit, bei der seine Krankheit aufgefallen wäre: Er musste nichts einkaufen oder sich um alltäglichen Papierkram kümmern. Ungewöhnliche Schlafenszeiten, Saufgelage, Depressionen, seltsame Kleidung, irrationale Anfälle – all das wird bei einem älteren, millionenschweren Genie akzeptiert. Die Krankheit war möglicherweise schon weit fortgeschritten, bevor sie überhaupt bemerkt wurde. Und außerdem gab es keinen Anlass, misstrauisch zu werden, ob Willem allmählich nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, solange er noch ein oder zwei Meisterwerke in der Woche produzierte, die eine halbe Million das Stück brachten. Bis Alzheimer (oder Korsakow) sich unwiederbringlich manifestiert hatte, waren Jahre vergangen, in denen er nichts selbst machen musste, außer zu malen: Pinsel reinigen, Leinwand auf Rahmen spannen, einen Käufer treffen, auffegen. Um ein 1 a de-Kooning-Gemälde zu bekommen, brauchte man nichts weiter zu tun, als den alten Knaben vor eine leere Leinwand zu stellen, ihm einen der berühmten langstieligen Pinsel in die Hand zu drücken und zuzugucken, wie er loslegte.

 

All das fand ich recht beunruhigend. Ich saß in meinem Atelier, schaute mir meine eigenen, sehr gequälten mannshohen Improvisationen an und fand, dass sie plötzlich keine Aussagekraft mehr hatten. Was hat das zu bedeuten, wenn Arbeiten wie diese von einem Automaten produziert werden konnten, der weder Verständnis von der Vergangenheit noch von der Zukunft hatte? Ein malender Affe. Eine Gelddruckmaschine.

Mein Dozent kam wieder vorbei und sah, dass ich in exakt derselben Haltung dasaß, mir dieselbe Seite aus demselben Katalog anschaute. »Du siehst aus, als hättest du dich seit einer Woche nicht mehr bewegt.« Wir lachten ein wenig über den Scherz und sprachen danach darüber, was es zu bedeuten hatte, dass de Kooning einen de Kooning malen konnte, ohne zu wissen, dass er de Kooning war. Ich kann mich nicht an den exakten Wortlaut oder die Argumente meines Dozenten erinnern, aber er bezog eindeutig Stellung in dieser Sache und beeindruckte mich damit mächtig. Er war der Meinung, dass das Werk von de Kooning keinesfalls von der Tatsache eingeschränkt oder untergraben wurde, dass es von einem Menschen geschaffen wurde, dessen Hirn nicht mehr vollständig intakt war, weil de Kooning ein Genie war. Für ihn war ein Genie eine Art Priester, die Verbindung zu einer höheren Macht. Kunst entsteht nicht durchden Künstler, sondern fließt nur durch ihn hindurch. Kunst kommt von irgendwo anders her. Ästhetische Qualität beinhaltet eine metaphysische Garantie. Die Tatsache, dass de Kooning große Werke erschaffen konnte, während er kurz davor war, völlig dement zu werden, ermöglichte es ihm, aus seiner kleinen leeren Zelle – keine Vergangenheit, keine Zukunft, kein Begriff von der Welt da draußen – heraus diese große Quelle anzuzapfen. Das beweist einmal mehr, dass es funktioniert.

Ich fand diese Sichtweise problematisch: Konnte ein Mensch sein Leben lang dement und trotzdem ein Genie sein, oder musste er zuvor mental klar und zurechnungsfähig gewesen sein? Wie konnte es außerdem sein, dass die Fähigkeiten dieses Kerls Stück für Stück ausgelöscht wurden, und ausgerechnet seine Fähigkeit, großartige Kunst zu erschaffen, blieb bis zuletzt erhalten? Man würde doch annehmen, das sei das Erste, was verschwindet. (Und nachdem ich mich seitdem mit dem Thema beschäftigt habe, weiß ich, dass das niemand erklären kann.)

Ich machte mir über Für und Wider Gedanken, aber in der abschließenden Betrachtung unter Berücksichtigung aller Faktoren kam ich zu dem Schluss, dass ich meinem Dozenten glauben musste, denn seine Meinung stimmte mit einer Erfahrung überein, die für mich sehr wichtig war. Es geht um ein Gefühl, das ich manchmal hatte, wenn ich an meinen großen improvisierten Abstraktionen arbeitete: Das Gefühl, dass ein Strich, eine bestimmte Farbe genau so richtig und notwendig war, als wäre sie von außen vorherbestimmt. (Ich maß diesem Gefühl Bedeutung bei, obwohl ich, wenn ich jetzt darüber nachdenke, wusste, dass es hinsichtlich der Qualität kein guter Ratgeber war. So häufig war ich mir bei einigen Gemälden ganz sicher gewesen. Ich hatte genau dieses Gefühl, ich war mir so sicher, dass es als Kunstwerk einen Wert darstellte. Dann schaute ich es mir Wochen später an und sah, dass es totaler Mist war. Andere Künstler haben mir ähnliche Gefühle bezüglich ihrer Arbeiten und Projekte beschrieben. Ich kenne sie, und sie machen ausnahmslos Mist, depressiven Realismus und so.)

 

Ich war gerade dabei, an diesem Interview Spaß zu haben und richtig warm zu werden, als sie anfingen, auf die Uhr zu gucken. Ich hatte irgendwie erwartet, dass Conrad die letzte Frage stellen würde, weil er wieder dran war, aber seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, langweilte er sich maßlos. Vielleicht hatte er auch keine Fragen mehr, stattdessen stellte Jade die nächste:

»Eine letzte Frage noch: Können Sie einen Webstuhl bedienen?«

»Nein.«

Das war vielleicht kein guter Abschluss, aber auf der anderen Seite hatte ich Zweifel daran, ob einer der anderen Bewerber diese Frage mit Ja beantwortet hatte. Ich stand auf und ging hinaus, noch ganz durcheinander vom Adrenalin. Dann feierte ich meinen Erfolg, indem ich mich in dem Pub, der sich unten im Krankenaus befand, volllaufen ließ – allein.

7. Auf der Vernissage

Zufällig traf ich meinen »Freund« einige Wochen später auf einer Vernissage wieder. (In der Terminus Gallery zeigte ein Absolvent der Kunsthochschule Sicherheitshelme aus Mürbeteig.) Er stand wie ich nicht in einem Grüppchen, sondern in der Nähe von Koryphäen aus der Kunstwelt und aufstrebenden Talenten.

Ich erzählte ihm die Neuigkeiten, dass ich eine Residency bekommen hatte, indem ich die Umstände, wie ich es herausgefunden hatte, etwas schillernder darstellte. Tatsächlich hatte ich eigentlich mehr oder weniger die Hoffnung aufgegeben gehabt, insbesondere, als ich mir das Bewerbungsgespräch und meine Antworten erneut ins Gedächtnis rief: Zuerst war ich witzig gewesen, dann hatte ich die Jury belogen und schließlich hatte ich sie mit meinen Erinnerungen an das Studium gelangweilt. Nachdem ich knapp einen Monat lang nichts von ihnen gehört hatte, rief ich dort an. (Meine E-Mails konnte ich nicht checken, da ich weder einen Computer noch eine E-Mail-Adresse hatte.) Die Empfangsdame ging ran – ich erkannte ihre Stimme wieder –, und ich teilte ihr mein Anliegen mit. Sie hatte keine Ahnung, wovon ich sprach, und war fest davon überzeugt, dass ich mich verwählt hatte. Ich musste sie überreden, loszugehen und jemanden zu suchen, der mit der Sache betraut war. Offensichtlich konnte sie mich nicht einfach durchstellen. Es gab eine lange Pause, während der ich im Hintergrund gelegentlich undeutlich Stimmen hören konnte, die sehr weit weg klangen. Mit Knirschen und Kratzen wurde der Hörer wieder aufgenommen, und Michelle sagte:

»Ja.«

»Oh, hallo. Ich wollte nur, ich wollte nur hören, ob ich das Arbeitsstipendium bekommen habe. Ich weiß nicht, ob …«

»Ja.«

»Ja?«

Ein Seufzen. »Ja.«

»Oh. Großartig. Ich habe es also bekommen?«

»Ja.«

Nachdem ich ein wenig überrascht aufgelegt hatte, wurde mir klar, dass ich noch einmal anrufen musste. Ich wusste gar nicht, wann es losgehen sollte oder so. Vielleicht konnte ich mir das aussuchen? Und wann bekam ich das Geld? Das Geld war ziemlich wichtig.

Mir war es peinlich, gleich anschließend zurückzurufen, also ließ ich einen Tag verstreichen. Bis dahin hätte ich mir etwas überlegt. Ich hatte nämlich das Gefühl, dass für diese Sache ein wenig Eigeninitiative nötig sein würde.

8. Diavorträge

Ich überlegte mir, mit einem Vortrag anzufangen. Diavorträge sind ein Pfeiler der Kunsterziehung. Sie sind niemals interessant oder sinnvoll, aber sie haben ihre Vorteile, insbesondere für jemanden wie mich, der bei Vorträgen nervös wird. Sie finden im Dunkeln statt, und man kann hinter den Zuschauern stehen. (Im Rahmen meiner Karriere als Gelegenheitsdozent an Kunstschulen im ganzen Land – Plymouth, Reading, Hull – hatte ich bereits Dutzende von Diavorträgen gehalten. Meistens hatte ich nur Aufträge für einen Tag: Man fängt mit einem Diavortrag an und hat dann fünf oder sechs Einzelgespräche mit den Studierenden. Dabei unterscheiden sie sich nicht sehr voneinander; es gibt zwei Typen: die Hochnäsigen und die Introvertierten. Die Soziopathen und die Bettnässer.) Als ich folglich am nächsten Tag anrief und es mir gelang, mich zu Michelle durchstellen zu lassen, verkündete ich, ich würde einen Diavortrag halten. Sie sagte, sie würde es Ben weiterleiten. Offensichtlich sollte ich von nun an mit Ben zu tun haben. Was das Geld anging, hatte sie überhaupt keine Infos für mich.

 

Als Nächstes rief ich Susan an, um ihr zu erzählen, dass ich das Arbeitsstipendium bekommen hatte, so wie sie es sich für mich vorgestellt hatte. Aber als sie endlich ans Telefon ging, klang sie nicht sehr erfreut. »Oh«, sagte sie einfach nur, als ihr klar geworden war, dass ich dran war. Eigentlich, dass schon wieder ich dran war. Offensichtlich hatte ich sie schon am Abend zuvor angerufen, um ihr zu sagen, dass ich das Stipendium erhalten hatte. Erst so gegen halb neun, dann gegen halb zehn und dann noch mal um Viertel vor zehn. Stille bis drei Uhr morgens und dann noch mal um vier Uhr. Ich nehme an, ich hatte zur Feier des Tages ein bisschen was getrunken. Ich musste die Tatsache feiern, dass ich anfing, mein Leben ein bisschen besser in den Griff zu bekommen.

 

Kaum hatte mein »Freund« auf dieser Vernissage meine guten Nachrichten vernommen, erzählte er mir seine Neuigkeiten. Sein neues Projekt. Er arbeitete an einem Werk über globalen Kapitalismus. Er hatte in der Nähe von Bradford eine isoliert gelegene Sozialbausiedlung gefunden. Dort gab es nichts außer einem einzelnen Laden. Ein Tante-Emma-Laden für ungefähr dreitausend Menschen. Der Verkaufsschlager dort war White Lightning Cider. Sein Projekt – für das er ordentlich Fördergelder bekommen hatte – bestand darin, die ganzen Produkte, die sich in diesem Laden befinden, aufzukaufen und sie in ein bewachtes Lagerhaus zu schaffen. Vor Ort ist dieses Projekt mit Begeisterung aufgenommen worden, vor allem von den Beauftragten der betreffenden Kulturbehörden und -institutionen und insbesondere von einer Lokalgröße. Ihr gehörte der Laden. Neben der Videoüberwachung im Geschäft wollte mein »Freund« eine Webcam installieren lassen, die einen Tag lang live das leere Geschäft filmt.

Bis er mit seiner Geschichte am Ende war, hatte ich drei Bier auf Kosten des Galeristen getrunken. Ich fragte ihn, wie viel Geld er von der Stiftung Northern Arts Fund, dem Arts Council und den Leuten von der Webcam-Firma bekommen hatte. Die Summe war viel höher als die, die ich für mein Arbeitsstipendium über ein Jahr bekommen sollte.

9. Diavortrag

Ich vereinbarte einen Termin mit Ben. Ursprünglich war meine Hoffnung gewesen, mit ihm bei dieser Gelegenheit meinen Aufenthalt im Allgemeinen zu besprechen, aber er schien so beschäftigt, dass wir nur einen Termin für meinen Vortrag abmachten. Ich suchte dreißig Fotos aus, dreißig Bilder aus meinem Gesamtwerk markiger abstrakter Gemälde. Davon gab es Hunderte. (Ich bin immer überrascht, wenn ich mir meine Werke der letzten fünfzehn Jahre, in denen ich die Malerei als Beruf gehabt habe, vor Augen führe. Einfach diese Menge! Jedes Gemälde hat seine eigene Geschichte, seine eigene Archäologie aus Gesten, Aussagen und Revisionen, jedes ist eine Dokumentation sich mehrfach überlappender Gedankengänge. Ich beschäftigte mich eine Weile damit, neue Bilder zu erschaffen, indem ich zwei Dias übereinanderlegte und sie mir vor dem Fenster ansah. Dasselbe versuchte ich mit drei Dias, was dazu führte, dass noch mehr Knoten, Schleier und Maschen entstanden. Dann dasselbe mit vier, mit fünf. Bei dem sechsten Dia war das Ergebnis nur eine dunkle Fläche.)

Ich kam mit meinen Dias dreißig Minuten zu früh im Institut an. Ich hatte nichts vorbereitet, was ich über meine Bilder sagen wollte. Es ist immer am besten, das zu sagen, was einem gerade einfällt. Manchmal stellt man fest, dass man aus dem Stegreif genau dasselbe sagt wie beim letzten Mal. Der Vortrag ist eine exakte Wiederholung, mit genau denselben Pausen und genau demselben Hüsteln. Manchmal allerdings fällt einem etwas Neues ein.

Die Empfangsdame gab mir eine genaue Wegbeschreibung, wie ich zu Bens Büro kam, nachdem ich sie vehement darum bekniet hatte. Als ich mich auf den Weg machte, lernte ich den Zuschnitt des Gebäudes ein wenig besser kennen; ich hoffte, Bens Zimmer zufällig finden zu können. Mehr als einmal kam ich währenddessen an den Untersuchungszimmern mit den fMRT-Geräten vorbei. Auch beim Empfang kam ich noch mehrere Male vorbei, allerdings stets aus einer anderen Richtung. Aber dann machte ich immer wieder kehrt, um nicht schon wieder an der Empfangslady vorbeigehen zu müssen.

Gerade als ich zum siebten Mal an der fMRT-Flucht vorbeikam, entdeckte ich Ben ganz am Ende eines sehr langen Flures, und er kam auf mich zu. Er war viel zu weit weg, als dass ich ihm Hallo hätte sagen können, ohne schreien zu müssen. Also winkte ich ihm zu und setzte ein Lächeln auf, das ich aufrechterhalten konnte, bis er auf Rufweite herangekommen war.

Ich habe keine Ahnung, warum ich Ben von vornherein so hasste. Vielleicht lag es daran, dass er jünger als ich war und besser aussah. Ich konnte sein unkompliziertes Wohlbefinden nicht ertragen, seine Bräune, seine kleinen Ohren. Oder vielleicht lag es auch daran, dass ich sofort praktisch alle, die ich kennenlerne, nicht leiden kann. (Es gibt doch diesen Spruch, dass man viel Zeit spart, wenn man jemanden nicht leiden kann. Aber im Prinzip spart man nur Zeit in dem Fall, wenn man jemanden wirklich nicht leiden kann, auch wenn man ihm ganz unbefangen begegnet ist. In anderen Fällen verschwendet man Zeit, denn man muss eine größere Strecke auf dem Spektrum zwischen Liebe und Hass zurücklegen. Und man weiß nie, wie viel Zeit man gespart oder verschwendet hat, denn wenn man jemanden auf den ersten Blick nicht leiden kann, brauchen die Leute umgekehrt auch nur einen Augenblick, um einem auch mit Abneigung zu begegnen. Jedenfalls …)

»Hi!« Er streckte mir seine riesige Hand entgegen. Ich schlug ein, und er schüttelte sie, quetschte meine Finger und zerrte an meiner Schulter. Ich hatte geahnt, dass er das tun würde.

»Alles bereit? Super.« Er zeigte mir den Raum, wo der Vortrag stattfinden sollte. Es handelte sich um einen anderen großen Konferenzraum mit ovalem Tisch. Ich fragte ihn, wo der Diaprojektor sei. Sie hatten keinen. Er war davon ausgegangen, dass ich einen mitbringen würde. Daran hätte ich denken müssen. Warum sollten sie dort auch einen Diaprojektor haben, wo man doch heutzutage alles digital wiedergeben kann? Ben schien das nichts auszumachen. Er sah mich eine Minute lang an, dann sagte er: »Warten Sie kurz«, und verschwand.

Dann wartete ich kurz. Ich setzte mich und wartete eine ganze Weile. Dum-di-dum. Dum-di-dum. Ich wagte es nicht, aufzustehen, um ihn zu suchen. Ich hielt nach ihm Ausschau, reckte meinen Kopf aus der Tür, als würde der Raum hinter mir wieder verschwinden, sobald ich hinausging. Ich hoffte, von meinem Standort aus die Toiletten entdecken zu können. Aber das Einzige, was ich sehen konnte, waren geschlossene Türen ohne Schild. Ich musste auf die Toilette. Ich ging zurück, setzte mich an das Kopfende des Tisches und wartete. Ich wippte mit dem Fuß und schnalzte mit der Zunge.

Ein Mann schaute herein. »Bin ich hier richtig? Ich wollte zum Kunstvortrag.«

»Ja. Ben ist gerade raus, um einen Diaprojektor aufzutreiben.«

»Aha. Verstehe.« Er kam herein und setzte sich. Er war von kräftiger Statur, mittleren Alters, und sofort dachte ich, er müsse Taxifahrer sein oder vielleicht Kneipenwirt. Oder Klempner. Ich fragte ihn, ob er wisse, wo die nächsten Toiletten seien. Mithilfe seiner Anleitung fand ich ohne Probleme hin und wieder zurück. Geduldig saß er dort mitten am Tisch.

»Und Sie sind also der Künstler?«

»Ja, das bin ich.«

»Was für Kunst machen Sie denn?«

Das kann eine schwierige Frage sein. Man kann im Allgemeinen nicht von allzu viel Vorwissen ausgehen, aber dann darf man auch nicht zu herablassend klingen. »Ich bin Maler. Abstrakte Malerei.«

»Oh, aha.«

Ich glaube, das war okay.

»Ich male auch.«

O nein!

»Monet.«

»Sie mögen Monet?«

»Fantastisches Zeug.« Auf einer Reise hatte er mit seiner Frau Monets Garten in Giverny besucht. In seinem eigenen Garten hatte er hinten einen kleinen Teich mit Lilien angelegt. Den malte er im Stil von Monet. Wir sprachen noch eine Weile über Monet. Er wusste viel über diesen Maler, mehr als ich jedenfalls.

Schließlich wirkte er ganz sympathisch auf mich. Aber er war offensichtlich weder ein Arzt, noch gehörte er zum Verwaltungspersonal, und er konnte auch nicht in anderer Funktion im Krankenhaus arbeiten, als Portier oder Hausmeister, weil er, wie er mir erzählte, in Rente war. Ich musste also fragen.

»Und Sie … Sind Sie …?«

»Ambulanz-Patient. Neuronales Defizit.«

»Was bedeutet das?« Ich hatte den Begriff erst einmal zuvor gehört, und zwar in meinem Bewerbungsgespräch. Er litt unter einem »neuronalen Defizit«, das »Prosopagnosie« heißt. Erkrankt man daran, ist man nicht mehr in der Lage, Gesichter zu erkennen. Prosopagnosie basiert auf einer Schädigung des Gehirns, die klar umrissen auf eine bestimmte Region begrenzt ist. Alles andere konnte der Mann einwandfrei sehen. Nur mit Gesichtern hatte er ein Problem.

Ich wurde nachdenklich. Sah er anstatt charakteristischer Merkmale eines Gesichts nur leere Flächen, als schaute er auf einen Perückenkopf? Oder erkannte er die einzelnen Elemente einfach nur nicht als Gesicht? Warum konnte er andere Dinge ausmachen, aber nicht das Gesicht seiner Frau? Woran lag das also?