Und sie wunderten sich sehr - Christina-Maria Bammel - E-Book

Und sie wunderten sich sehr E-Book

Christina-Maria Bammel

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Beschreibung

Weihnachten als Wunder wahrnehmen? Geht das heute noch? Christina-Maria Bammel zeigt, wie es gehen kann. Ihre Alltagsgeschichten für die Weihnachtsnächte wurzeln fest in unserer Zeit und sind doch durchlässig für das Lied der Engel. Sie erzählen vom Friede auf Erden und kommen ohne Kitsch aus: Schließlich kann man immer noch ärmer dran sein als das Jesuskind. Eine Lesereise, die von Bethlehem bis nach Weißrussland, von Berlin-Mitte bis an den Hudson River führt. Zum Staunen schön.

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Seitenzahl: 217

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Christina-Maria Bammel

Und sie wunderten sich sehr

Weihnachten für Realisten

Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: agentur Idee

Umschlagmotiv: © Corbis

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

ISBN (Buch) 978-3-451-61024-0

ISBN (E-Book) 978-3-451-33798-7

Inhaltsübersicht

Vorwort – eine Empfehlung zum Lesen

I Weihnachts(ver)stimmungen, oder: Warum es diese Geschichten gibt

II Beziehungsgeschichten

Man kann noch ärmer dran sein als das Jesuskind

Du bist ihm ähnlicher, als du denkst

Eine Krüppelbäumchengeschichte

Telemann, oder: Dies ist der Tag … danach

Annahme verweigert

III Geschenkt: Große Freude, die aller Welt widerfahren wird!

IV Liebesgeschichten

Ein Christbaum im September

Nachkommen

Warten in Philadelphia

Das Ende von Weihnachten

Ein Hauch von Myrrhe

V Tatsächlich: Euch ist heute der Heiland geboren

VI Rettungsgeschichten

Heilige Nacht

Herztöne

Müde Gesellschaft

Die ich noch gestern war

Familienzusammenführung

Gepuppt und gewiegt

VII Noch mal auf Anfang: Weihnachten für Realisten

Anmerkungen

|7|Vorwort – eine Empfehlung zum Lesen

Bücher kann man ja meist auf mindestens zwei Weisen lesen. Auch dieses. Wer hier und da eine Weihnachtsgeschichte für zwischendurch erfahren möchte, kann möglicherweise an fast jeder beliebigen Stelle mit dem Lesen einsetzen. So können die Alltagsgedanken vielleicht für einen Moment ausruhen und auf Abstand gebracht werden. Vielleicht tun sich Türen in verborgene Wirklichkeiten auf. Wirklichkeiten, die mitten in der Großstadt versteckt liegen.

Wer allerdings einen größeren weihnachtlichen Stadtspaziergang machen möchte, müsste wohl die Spanne einer Zeit vom Beginn bis zum Ende dieses Buches aufbringen. Denn genau das wollen die folgenden Seiten für Sie sein: ein weihnachtlicher Spaziergang durch die Großstadt.

Auf diesem Spaziergang faszinieren nicht die Schaufenster, Märkte und grundsanierten Straßenzüge. Auf diesem Spaziergang lassen sich Menschen treffen. Das Besondere an ihnen: Sie haben Zeit zum Erzählen. Und: Sie tragen in sich dieses mehr als zweitausend Jahre alte Gen der Weihnachtssehnsucht. Manche kämpfen – aus welchen Gründen auch immer – dagegen an. Andere freuen sich an ihr und wollen von dieser Freude etwas weitergeben. Die Dritten versuchen, vorsichtig und vielleicht das erste Mal für das Worte zu finden, was sie da an fast vergessener Sehnsucht in sich finden.

Menschen erzählen von ihren Beziehungen; sie erzählen davon, was sie in diesen Beziehungen verloren und vielleicht sogar wieder gefunden haben. Sie erzählen aber auch, wer oder was sie retten könnte und was sie wieder weitergehen lässt, wenn die Wege schlechter und die Herbergen unterwegs unfreundlicher geworden sind. Sie erzählen von liebevollen Begegnungen und dem Schmerz verlorener Liebe. Sie erzählen von Geschenken der besonderen Art, an denen manchmal das Maß der Liebe und manchmal das |8|Maß der abwesenden Liebe zu entdecken ist. Wenn sie zu Wort kommen, so lässt sich zwischen den Zeilen finden, was werden kann, wenn profane Zeiten heilige Zwischenräume zulassen.

Falls Sie jedoch über diese Geschichten von Liebe, Verlust, Rettung und Neuanfang hinaus wundersame Geschichten suchen, sind die Seiten dieses Buches wahrscheinlich nicht ganz der passende Ort.

Klar versucht das Erzählen, auch etwas Licht in die Frage der Wunder und Zeichen von Weihnachten zu werfen. Gern werden ja alle möglichen Wundergeschichten mehr oder weniger fantasievoll in der Weihnachtszeit platziert. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Das Besondere, ja geradezu Magische dieser Zeit wird umso deutlicher auf die Bühne gehoben, je zauberhafter die Erzählungen sind.

Aber das ist nicht mein Weg. Porträts von Wundergläubigen habe ich nicht zu bieten. Denn die Städte des 21.Jahrhunderts eignen sich ebenso wenig für nachmoderne Märchenmirakel wie das Bethlehem damals zu Zeiten römischer Besatzung.

Suchen Sie nicht das Mirakel. Suchen Sie lieber Zeichen, die einen Hinweis geben auf das Weihnachtsgeheimnis, das Gegenwart bleiben will. Worin das besteht? Gott sucht die allergrößte Nähe bei den Menschen und macht dabei den unscheinbarsten Anfang.

Göttliches Ziel und Streben ist diese eine wahrhaftige Begegnung, die hält, was sie verspricht, die vielleicht jenseits aller Möglichkeiten des Denkens und Fühlens liegt, die aber dort beginnt, wo unser Denken und Fühlen Wahrhaftigkeit zumindest für möglich hält. Die Menschen dieses Buches sagen das auf andere Weise. Finden Sie heraus, wie.

Christina-Maria Bammel, Berlin im Mai 2011

|9|I

Weihnachts(ver)stimmungen, oder: Warum es diese Geschichten überhaupt gibt

Es begab sich aber zu jener Zeit und es begibt sich auch zu unserer Zeit, dass am Ende des Kalenderjahres Weihnachten vorbereitet wird. Es weihnachtet: Straßen, Markt und Wohnzimmer versuchen, das Idyll vergangener Tage nachzuzeichnen, eine Erinnerung aus einem fernen Land zu erzeugen, ein altes Suchen nach vielleicht schon Verlorenem. Es beginnt die Zeit der vielen Taten, der Feiern, geboren aus reichlich gutem Willen, Einsamkeit, Familienchaos und Verhältnissen, die ins Leere laufen – eigentlich schon das ganze Jahr, aber an Weihnachten besonders. Je aktiver überall beschworen wird, hier käme gewissermaßen das Fest der seligen Passivität auf uns zu, desto schwieriger wird es, diese Passivität tatsächlich zuzulassen.

Es braucht nicht viel Scharfsinn, um festzustellen, dass das geradezu öffentlich gewordene Weihnachtsgefühl unserer Tage mitten in aller organisierten Festlichkeit kein religiöses Gefühl birgt. Wo es doch der Fall ist, geschieht es mitunter auf verborgene Weise. Auch wenn es an Weihnachten eigentlich darum geht, wie Gott seine Beziehung zu den Menschen neu bestimmt, dreht sich die Weihnachtserfahrung der allermeisten eher um die Frage, ob und wie Familien oder Freunde wieder zusammenkommen können. Insofern ist Weihnachten ein Fest, das an der Beziehungsfront, ja, gefeiert – oder eben oft eher ausgefochten wird.

Es stimmt, nicht zu selten macht Weihnachten die Beziehungen untereinander noch komplizierter. So die oft gehörte |10|Erfahrung und das vielstimmig und zahlreich beklagte Weihnachtsresümee.

Als Pfarrerin stellt sich mir natürlich die Frage, ob es eine Brücke gibt zwischen diesem alle Jahre wieder enttäuschten Resümee von der Beziehungsfront hin zur Weihnachtsursprungsgeschichte, wie sie genauso zuverlässig alle Jahre wieder in den Kirchen erzählt wird: Gott wurde Kind. Gibt es einen Weg von uns zu dem Ereignis in Bethlehem, das in der Bibel als gewesen erzählt wird? Oder andersherum: Gibt es Wege, die von diesem Ereignis zu uns führen?

Immer wieder faszinierend ist die Rollenbesetzung der Weihnachtsgeschichte: Joseph, Maria, das Kind, die Hirten, die Engel, die Könige (oder Magier) aus dem Morgenland – die man nur im Matthäusevangelium findet – und selbst die Menschen, die gar nicht weiter beschrieben werden, von denen man nur erfährt, dass sie sich wundern über das, was die Hirten ihnen erzählen.

Vater, Mutter, Kind, um die sich alles dreht, stecken in einer Patchwork-Familie. Später wird sie »heilig« genannt werden. Dabei erzählt Lukas von einer minderjährigen Schwangeren, einem Kuckuckskind und seinem sozialen Vater, von verwirrenden politischen Verhältnissen und der Erfahrung der Ohnmacht einer Mittelstandsfamilie im Getriebe der Welt. Das ist eine Herausforderung für manchen, gewöhnt an die bürgerliche Ordentlichkeit.

Noch interessanter ist, wenn man sich klar macht, dass die biblischen Autoren nach Bildern für die Beziehung zwischen Gott und Mensch suchten, die sie offenbar fanden in den Beziehungen zwischen Menschen – und zwar weniger in den so genannten intakten Beziehungen als in denen, die etwas von der Gefährdung des Lebens erzählen.

Vielleicht ist das die Brücke vom alten Text in unsere Zeit. Was geschieht, wenn wir in der Weihnachtsgeschichte die |11|Beziehungsgeschichten hören – die alten und die neuen? Können sich die betagten Worte, und jene alten Beziehungen in ihnen, neu in ein gewöhnliches Leben einlesen? Darum geht es in diesem Buch. Es ist ein Versuch, den alten Text aus der Kirche heraus und in die Stadt hinein zu holen. Es ist der Versuch, Spuren des Poetischen in den Realitäten des Lebens so zu entdecken wie auch Spuren des Realen in der Poesie einfacher Worte – seien sie alt und damalig oder jung und heutig.

Darum schreiben die hier festgehaltenen Stadt- und Großstadtepisoden auf ihre mal traurige, mal unfreiwillig komische Art die Weihnachtsgeschichte weiter. Es sind wahre Geschichten, die sich im Pfarramtsalltag einstellen und so – oder so ähnlich – geschehen können.

Natürlich haben diese Begegnungen nachwirkend in meinem Herzen eine andere Gestalt gewonnen. Wer weiß schon, ob es »genau so« gewesen ist. Tatsachenberichte sind etwas anderes als die – wahren – Erzählungen dieser Menschen. »Wahr« – das ist mehr und anderes als die wirkliche Tatsache. Manchmal muss die Wirklichkeit der jeweiligen Tatsache neu erzählt werden, damit ihre Wahrheit erkennbar wird, das also, worauf man sich verlassen kann.

Warum habe ich ausgerechnet diese Geschichten gewählt, um das Weihnachtswunder zu begreifen? Geschichten vom Verlieren und Finden, von Trauer und Tod, aber auch von zaghafter Hoffnung, von vorsichtigen Neuanfängen, jenseits der Kitsch- und Sentimentalitätsgrenzen?

Es sind die Geschichten derer, die in die Gottesdienste kommen. Gerade zu Weihnachten. Mancher buckelt seine Geschichte, der andere trägt sie wie ein Schatzkästlein in der Manteltasche. All diese Menschen kommen mit großen Erwartungen, dass sie nämlich die Weihnachtsgeschichte hören, als ob sie gerade in ihrem eigenem Leben geschehen, also wirklich geworden sei. Das ist das eine.

|12|Das andere ist klar: Jedes Menschenleben birgt Weihnachtsgeschichten – und zwar gerade in den Momenten, in denen das Leben am zerbrechlichsten erscheint. Dies gilt auch in umgekehrter Richtung: Die alte Weihnachtsgeschichte birgt die Lebensgeschichten von heute. Sie schimmern im Hintergrund der Erzählungen von damals, sie werden in ein anderes Licht gesetzt, wenn man sie mit den alten Texten ins Gespräch bringt. Darum soll es hier gehen.

Alle Geschichten, die hier erzählt werden, gehören zu den unzähligen Mosaiksteinchen der Geschichte zwischen Gott und Mensch. Die wird natürlich nicht nur an Weihnachten erzählt, aber da ganz besonders: als eine Geschichte etwa von der Dunkelheit, die durchbrochen werden kann, als eine Geschichte, die von einer Neubegegnung schreibt, oder als eine Geschichte, die erzählt, was Versöhnung bedeutet.

Kurzum: Geschichten, die Rettung und Liebe nicht als religiöse Romantik oder romantisch-überkommene Religiosität erkennen lassen, sondern als das, was sie sind – der Horizont, der weiter reicht als die »real« genannten Fakten.

Es mag gewagt sein, davon auszugehen, dass auch in 2000Jahren noch Realisten und Träumer, sowohl vom Leben Versehrte als auch vom Leben Verwöhnte, etwas von der Verwunderung spüren – so wie die ersten Hörer damals in Bethlehem: »Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten.« Die Nachricht vom neuen Anfang, dem Anfang eines Menschen, sie ruft Geschichten, Gefühle, Stimmungen auf.

Es gibt Menschen, die niemals damit fertig werden herauszufinden und auszuloten, wo sie in dieser Weihnachtsgeschichte ihren Platz haben. Und es gibt Menschen, die fragen nach der Wirklichkeit, die noch kommen soll, und den Möglichkeiten, die schon da sind, wenn es tatsächlich |13|dabei bleibt, dass Gott in der Welt sein will. Anderen ist das gar keine Frage – und doch werden sie mit einem Mal davon eingeholt. Und wieder andere sind irgendwo dazwischen. Von solchen Menschen erzählt dieses Buch.

|14|II

Beziehungsgeschichten

»Am Anfang war das Wort…« So beginnt der Prolog des Evangelisten Johannes, der in vielen Kirchen weltweit nicht nur zur Heiligen Nacht gehört wird. Mindestens ebenso häufig hören die abendlichen und vielen nächtlichen Besucher im Gottesdienst: »Als alles still war und ruhte und eben Mitternacht war, fuhr dein mächtiges Wort vom Himmel herab…«

In diesen Worten höre ich ein Zweites; vielleicht ist es das Eigentliche: Am Anfang war Beziehung, denn dafür stehen ja Worte und das Wort; und diese Beziehung wird immer wieder neu entdeckt, neu infrage gestellt, abermals ausprobiert, manchmal gefeiert, manchmal verhöhnt. Am Anfang aller Begegnung versucht einer, den Weg zum anderen zu finden. Ob dann die Brücke zwischen beiden tatsächlich trägt, hält und alle Beteiligten auch noch gemeinsam weiterbringt, bleibt die offene Frage. Nur der Anfang ist bekannt: Beziehung.

Am Anfang war ein Gott, der nicht relationslos bleiben wollte, sondern ein Beziehungsangebot wagte – sich selbst als hilfloses Kind.

Welcher Art sind die Beziehungsangebote, die wir machen oder die wir empfangen? Welcher Art waren die Beziehungen, die in unseren Lebensanfängen aufblühten oder vielleicht am Blühen gehindert wurden? Manch einem mag das Wort von der Beziehung zu technisch oder zu alltäglich klingen. An der Sache ändert es nichts: Indem wir auf einen anderen bezogen sind, sind wir menschlich, mag diese Bezogenheit glücken oder scheitern. Ganz so wie der biblische Gott des Alten und Neuen Testaments, der nichts anderes sein möchte als bezogen auf seine Schöpfung und die, die in |15|ihr leben. Wie Beziehungen scheitern oder glücken, wie sie entstehen oder nie zustande kommen, davon erzählen die Menschen– Söhne, Töchter, Mütter – im Spiegel der einen Beziehung zwischen göttlichem Himmel und menschlicher Welt, deren Urdatum eine Geburtsgeschichte ist.

Man kann noch ärmer dran sein als das Jesuskind

Jakob zeugte Josef,

den Mann der Maria,

von der geboren ist Jesus,

der da heißt Christus.

Matthäus 1,6

Wir feiern Weihnachten auch mit unseren Toten. Wir feiern mit denen, die vorausgegangen sind, auch wenn wir sie vielleicht nie kennen gelernt haben. Der mir das erzählt, hat ein Leben lang versucht, ein Maß für die Weite dieses Weges zu seinen Toten zu finden. Es ist die Geschichte einer Sehnsucht. Diese Sehnsucht ist nicht immer gleich stark. Mal sind die, die fehlen, uns näher, mal ferner.

So beschreibt es jedenfalls der Mann, Ende 60, der sich heute wirklich und von Herzen darüber freut, dass sein eigener Sohn Elternzeit nimmt. Er freut sich, dass Vaterschaft so selbstverständlich sein kann. Wir schlendern gemeinsam durch den Park, mit dem ihn zahlreiche Kindheitserinnerungen verbinden. Er sieht noch die alte Ruinenlandschaft, die Schutthügel, in denen er gespielt hat. Damals.

Als er vor fast sieben Jahrzehnten zur Welt kam, so konnte ihm seine Mutter immer wieder neu erzählen, da fielen brennende Christbäume aus den Flugzeugen. So nannten die Leute die Leuchtmarkierungen der Bomberverbände– Christbäume, todbringende Christbäume. Die |16|Mutter spürte damals in solchen Bombennächten das Kind in sich wachsen, und sie ahnte wohl schon, dass sein Vater, der irgendwo an der Ostfront kämpfte, aus dem gnadenlosen Krieg nicht lebend zurückkehren würde. Auf diese Geschichte hatte sich das Erinnerungsvermögen der Mutter im Laufe der Jahre eingespielt. Die erzählte sie ihrem Sohn wieder und wieder.

Der Junge wuchs im Nachkriegsmangel auf. Der Vater war anwesend in Gestalt eines schwarz umrandeten Porträtfotos auf dem Küchenbuffet. Liebevoll wischte die Mutter den Staub darum herum, liebevoll wurden die Blumen aus dem Garten der Großmutter ausgesucht, wenn der Kalender Geburtstag oder Hochzeitstag anzeigte. Sie hatte nie wieder geheiratet.

An den Weihnachtstagen stand die Krippe, bestehend aus der geschnitzten Familie und einigen mit Wollresten beklebten Schäfchen, ganz nah beim Bild des Vaters. In der Kirche sangen sie: »Er kommt aus seines Vaters Schoß und wird ein Kindlein klein, er liegt dort elend nackt und bloß in einem Krippelein…«

Und der Junge spürte: Er selbst war noch ärmer dran als das Jesuskind. Denn er muss so gänzlich ohne einen Joseph, ohne den Vater, hier sitzen. Da hatte das kleine Christkind ihm wirklich etwas voraus. Es hatte ja gleich zwei Väter. Der Joseph auf dem Küchenbuffet schien alle Zeit der Welt zu haben, seinem Jungen beim Wachsen und Werden zuzusehen. Alle Geduld und aller Schmerz über das, was war und was – die Gesichtszüge lassen es schon ahnen – kommen wird, sind eingeschnitzt in die Züge des Josephgesichts.

Der halb verwaiste Junge kannte jeden Winkel in diesem Gesicht. Aber den eigenen Vater, den er so sehr entbehrte, den kannte er nicht. Er wusste nicht einmal, wer ihm eigentlich fehlte. Nur dass ihm jemand fehlte, war so klar wie der Glasrahmen mit dem Bild des Vaters. Die Erinnerungen der Mutter, die sie ihm immer und immer wieder erzählte, die er immer und immer wieder hören wollte, wurden |17|zur standardisierten Geschichte. Sie waren die einzige Möglichkeit, den Vater und Ehemann gegenwärtig zu halten, und sei es auch nur in den immer wieder mit denselben Worten erzählten Szenen. Triviale Szenen aus dem Leben des nur kurz zusammengekommenen Paares. Neue konnte man sich ja schlecht ausdenken…

Aus dem Schuljungen wurde ein Konfirmand und später ein Student. In der stickigen Geistes-Enge der DDR eckte er an, flog Anfang der 60er Jahre von der Universität, suchte Schutz und Freiheit gleichermaßen in einem Seminar zur Ausbildung von Pfarrern und Pfarrerinnen. Nicht nur dort sehnte er sich in den schwärzesten und ohnmächtigsten Stunden immer wieder nach einem Vater, der ihm den Rücken gestärkt oder – ja – ihn vielleicht auch hier und da mal zur Zurückhaltung gerufen hätte.

Es ehrte und schmerzte ihn, wenn seine Mutter kopfschüttelnd meinte: »Dass du immer mit dem Kopf durch die Wand musst – wie dein Vater!« Es ehrte und schmerzte ihn aber auch, wenn seine Mutter feststellte: »Du hast die Handschrift deines Vaters.«

Stolz und Traurigkeit waren eins. Der vaterlose junge Mann heiratete und wurde schließlich selbst Vater. Auf seiner Hochzeit und bei der Taufe des ersten Sohnes wurde das Bild des Vaters vom Küchenbuffet mit aufgestellt – gut sichtbar für Familie und Gäste. Alle wussten: Einer fehlt – und das ist die Normalität.

Was ebenso fehlte, war ein Grab. Je älter er wurde, desto mehr spürte er die Macht dieser Leerstelle und desto begreiflicher wurde ihm der alte Kummer seiner Mutter. Wo ist mein Vater, wo kann ich ihn betrauern? Am Küchenbuffet geht das nicht immer.

Es war nicht viel, was sie wussten. Irgendwo in Weißrussland hatte sich die Spur des Vaters verloren. Die Kriegsgräberfürsorge hatte keinen Zugang zu den gefallenen Soldaten. In den Weiten und Sümpfen Weißrusslands lagen und liegen sie zum Teil noch immer ohne Gräber. Jede dritte weißrussische Familie hat selbst ein Kriegsopfer |18|zu beklagen. Das Trauma ist noch Generationen später gegenwärtig. Nur zu klar war es, dass der Kriegsgräberfürsorge bis in die 90er Jahre hinein keine Erlaubnis erteilt wurde, nach den gefallenen Soldaten zu suchen und jeden Einzelnen zu bestatten.

Umso größer der Schock, als der Junge, der nun schon lange dreifacher Vater, ja sogar Großvater ist, einen Brief erhält. Wenige Tage vor dem Weihnachtsfest 2004.Sein Vater, der Soldat von damals, sei identifiziert worden. Der Brief berichtet, dass es eine Umbettung und schließlich eine Bestattung auf dem Soldatenfriedhof Berjosa gegeben hatte. Mehrere Tage liegt dieser Brief neben dem Bilderrahmen. Das Kerzenlicht der Weihnachtstage fällt auf das amtliche Papier, jener Nachricht aus einer anderen Welt. Die so früh verwitwete Mutter hätte sich darüber auf ihre traurige Weise gefreut, denkt er. Aber dort, wo sie jetzt ist, braucht sie keine amtliche Nachricht mehr von dem einzigen Mann in ihrem Leben.

Dann steht die Reiseplanung: Der Junge von damals möchte zu seinem toten Vater. Aufschieben will er das in seinem Alter nicht mehr. Er wird mit seinen Söhnen nach Weißrussland reisen – zum Vater. Sofort. Eine Reise von einigen Tagen, für den vaterlosen Jungen von damals eine Erinnerungsreise, ohne dass er auch nur eine einzige Erinnerung an seinen Vater hätte.

Nach einer Bahnfahrt durch weite Landschaften und graue Dörfer, versunken im Matsch von Weißrussland, erreichen sie schließlich das Ziel. Die Plakette auf der Begräbnisstelle trägt den Namen des Vaters, ein Geburtsdatum, kein genaues Sterbedatum. Sie stehen zu dritt am Grab. Drei Generationen sind verbunden. Die Lebenden sprechen ein Gebet und legen ein kleines Holzkreuz ab. In der Manteltasche steckt eine vorbereitete Rede, nur ein paar Worte. Aber der verwaiste Sohn wird die Worte nicht sagen, nicht heute. In der anderen Manteltasche steckt ein Päckchen: Es ist der alte geschnitzte Joseph vom Küchenbuffet aus Kindertagen. Der Junge von damals, der das Jesuskind |19|so brennend um seinen Vater beneidet hatte, stellt ihn behutsam unter den auf der Plakette eingravierten Namen seines unbekannten Vaters.

Trauer? Ja. Auch.

Aber diese Trauer hat sich über die Jahre gewandelt. Hier an dieser Stelle, mitten auf dem winterlichen Soldatenfriedhof unter klirrendem klaren Sternenhimmel, bricht ein Moment von Dankbarkeit darüber auf, dass der Weg auf diesem Soldatenfriedhof für keinen zu Ende ist. Wir sind verbunden, sagt der Vaterlose später; wir sind miteinander verbunden – nicht durch die Kraft unserer Gedanken oder unserer Gefühle. Gott verbindet, was wir nicht verbinden und zusammenhalten können. Als es über dem Soldatenfriedhof zu dunkel wird, kehren sie um, laufen auf der unbeleuchteten Straße. Es ist schwer, sich zurechtzufinden.

Eine ältere Frau, unverkennbar ihr Rückenleiden, steht an ihrer Holzhütte und winkt die Fremden heran. Es ist noch Weihnachten hier. Sie kocht für die deutschen Besucher einen Tee. Das dauert! Eigentlich wollen die Söhne so rasch wie möglich zurück in die Stadt, zurück auf die Bahn, zurück und nach Hause in ihr eigenes Leben. Aber sie bleiben im Muff dieser Hütte, obwohl es draußen immer dunkler wird. Mit wenigen Russischbrocken verständigt man sich. Deutsch? Ja. Und ja, sie hat immer wieder dabei zugeschaut, wie dieser riesige Friedhof gebaut wurde. Und ja, es kommen immer wieder Besucher hierher in das Dorf, in dem der Alltag so still ist. Ob sie schon immer hier lebt? Sie scheint die Frage verstanden zu haben. Die Frau hebt sich mühevoll aus der leichten Verkrümmung und macht ein paar Schritte zu auf eines der wenigen Möbelstücke in der Stube. Aus einer Schublade zieht sie ein fast zerfallenes Stück Papier. Ein Brief – wohl von ihrer Mutter, datiert auf einen Frühsommertag 1941.

Die Mutter hatte damals als Krankenschwester in einem der Krankenhäuser von Minsk gearbeitet, während die kleine Tochter im Dorf bei den Großeltern bleiben sollte. |20|Wenn die Mutter wiederkommt, bringt sie aus der Stadt etwas Schönes mit. Bestimmt. Die deutsche Besetzung der Stadt Minsk dauerte nur wenige Tage. Ob ihre Mutter eine der Ersten war, die umgebracht wurden, ob sie noch Tage im Krankenhaus arbeitete und die zahllosen Opfer sehen musste – keiner wird es je wissen. Sie kam nicht zurück.

»Mein liebes Töchterlein«, so beginnt der Brief. So wie das greis gewordene »Töchterlein« diese Zeilen anschaut, wird es der einzig erhaltene Brief der Mutter sein. Nach deren Tod hatten die alten Großeltern die volle Verantwortung für das kleine Mädchen, und später hatte die nun erwachsene Frau die Verantwortung für ihre gebrechlichen, letzten Familienangehörigen. Bis auch die sterben.

Ja, in gewisser Weise kann sie sich kaum noch an andere Orte erinnern als an dieses Dorf, diese Hütte, das Haus ihrer Familie. Dann wischt sie sich noch mal über die Augen, faltet das Papier wieder zusammen und bettet es liebevoll zurück in die Schublade. Eine Schublade für die Liebe der Mutter, die in irgendeinem Massengrab liegen wird.

Der Abschied der deutschen Besucher ist still. Die Söhne gehen mit ihrem Vater die schmutzige und gefrorene Straße durch das Dorf zurück, halten kurz am Eingang des Soldatenfriedhofs. Eine solche Reise wird es sicherlich kein zweites Mal geben. Er möchte noch einmal allein zur Grabstelle, sagt der Vater. Nach wenigen Momenten ist er zurück. Der alte Joseph aus Holz soll wieder zurück nach Deutschland kommen. Er hat es sich überlegt. Oder nein, besser noch: Er spurtet die Straße zurück, oder das, was sich Straße – »uliza« – nennt, klopft an die Fensterläden der schiefen Hütte und – »s roschdestwom – frohe Weihnachten« – drückt ihr die Holzfigur rasch in die Hand, wagt es nicht, sie zu umarmen, und läuft dann zurück zu seinen Söhnen, die im Dunkeln warten.

|21|Du bist ihm ähnlicher, als du denkst

Da erschien ihm der Engel des Herrn

im Traum und sprach:

Josef, du Sohn Davids,

fürchte dich nicht,

Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen,

denn was sie empfangen hat,

das ist vom Heiligen Geist.

Matthäus 1,19.20

Vor zwei Jahren hatte Vater seine Tanne am 23. noch selbst von allen Seiten geprüft und schließlich besprochen: »Du bist aber besonders gut gelungen.« Dann folgte ein schweißtreibender Akt: Das grüne Ding, nicht selten eingefroren auf dem Balkon, musste so gefügig gemacht werden, dass es irgendwann wie von selbst im Ständer stand. Nachdem der arme Baum endlich von der Vorrichtungszange fest im Griff gehalten wurde, mein Vater ein paar Schrammen hinzubekommen und ein paar Flüche losgeworden war, kam das eigentliche Ritual: Wasser von allen Seiten. Der Baum wurde besprüht. Unter feuerwehrtechnischen Gesichtspunkten und angesichts der trockenen Heizungsluft im Wohnzimmer meiner Eltern völliger Blödsinn. Es ist die typische Heizungsluft aller Neubauten, wie sie heute noch von Rostock bis Dresden zu finden sind. In dieser Heizungsluft bin ich groß geworden. Das Wasser, das mein Vater am 23. sprühte, war am Abend desselben Tages schon nicht mehr nachweisbar. Aber was interessierten meinen Vater öde Fakten? Wie eine kleine Weihehandlung vollzog er also, was er für nötig hielt, mitten im Wohnzimmer. Das wurde damit zur Kapelle. Und mein Vater mittendrin als das priesterliche Familienhaupt, der mit Ritualen und Religiosität so viel zu tun hatte wie der Osterhase mit Silvester.

|22|Das priesterliche Familienhaupt ist tot. Ich bin 40Jahre alt und schon das zweite Mal selbst für die Weihnachtsstimmung im elterlichen Wohnzimmer zuständig. Ich stelle belustigt fest, wie ähnlich ich meinem Vater bin im Kampf mit der Tanne. Selbst meine Mutter, versunken in Monaten der Traurigkeit, amüsiert es ein bisschen, wie ich mich anstelle mit Baum und Zange. »Du bist ihm ähnlicher, als du denkst«, lacht sie. Ich lache mit. Die Zeiten, in denen ich nicht gelacht hätte, sind lange vorbei.

Ich kann meinem Vater nämlich gar nicht ähnlich sein. Genetisch geht das nicht: Ich bin ein Kuckuckskind. Klar ist mir das erst seit meinem 18.Geburtstag. Meine Eltern hatten alles getan, um dieses Geheimnis für sich zu behalten. Mein Geburtstag fällt in eine besondere Zeit im Jahr – meist zwischen den ersten und zweiten Advent. Hin und wieder hatte Vater im Scherz gesagt: Dich hat der Nikolaus gebracht. Ich hatte dazu gegrinst – aber an meinem 18.Geburtstag bekam der Scherz eine Bedeutung, die mir den Boden unter den Füßen wegzog. Er wurde – so empfand ich es damals – die Maske eines Verrats.

Ich war am Morgen des Geburtstags noch im Schlafanzug an den Briefkasten unten im Hausflur gelaufen. Ich hoffte auf Post von meiner Freundin, die den Eltern möglichst nicht in die Hände fallen sollte. Postpubertäre Geheimniskrämerei. Im Briefkasten war nichts, was von ihr sein könnte, stattdessen ein recht offiziell aussehendes Schreiben. Als 18-Jähriger gehörte es zu meiner neuen Würde – das wusste ich–, offizielle Post für die Familie lesen zu dürfen. Mit dieser Klarheit riss ich den Umschlag auf und verstand kaum etwas von den ersten Zeilen. Irgendetwas von auslaufendem Unterhalt für mich. Mich! Was hatte mein Name in diesem Brief zu suchen? Wer zahlte meinen Unterhalt? Warum lief etwas aus, von dem ich bis dahin gar nichts wusste?

Die drei Fragen legte ich zusammen mit dem Brief auf den Geburtstagstisch. Die Kerzen brannten. Meine Mutter hatte Blumen dazugestellt. Mehr für sich als für mich. Sie |23|