Und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo - Jalid Sehouli - E-Book

Und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo E-Book

Jalid Sehouli

4,9

Beschreibung

Tanger ist eine der geheimnisvollsten Städte der Welt. Bewohnt von hungrigen Schmugglern, exzentrischen Literaten und glücklosen Glücksrittern, war die "weiße Perle Afrikas" lange Zeit verrufen und ist noch heute ein Magnet unzähliger außergewöhnlicher Menschen und ihrer Schicksale. Jalid Sehouli hat sich auf den Weg gemacht in die Heimat seiner Eltern, in der er selbst niemals lebte, und verwebt seine Begegnungen und Erlebnisse zu einem faszinierenden Panorama, das von Sehnsucht, Liebe, Schmerz, Heimat und Verlust erzählt.

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Jalid Sehouli

Und vonTangerfahren dieBoote nachirgendwo

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CDROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

ebook im be.bra verlag, 2016

© der Originalausgabe:

edition q im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2016

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

[email protected]

Redaktion: Hans Georg Hoffmann, Berlin

Lektorat: Gabriele Dietz, Berlin

Umschlaggestaltung: Manja Hellpap, Berlin, unter Verwendung des Gemäldes

»Terraces of Tangier« (1914) von E. Simonet und einer Grafik von Adak Pirmorady, Berlin

ISBN 978-3-8393-2125-6 (epub)

ISBN 978-3-86124-700-5 (print)

www.bebraverlag.de

Inhalt

Vorwort

Geschichten über Flucht, Schmerz, Sehnsucht und andere Bewegungen der menschlichen Seele

Rezepte

Ein kleines Dossier über mich: Jalid Sehouli

Danksagung

Literatur

Heimat der Flucht

Menschen auf der Flucht verlassen viel, meist zu viel.

Manche von ihnen sind für immer entwurzelt,

Manche von ihnen werden niemals mehr den unvergessenen undsie so betörenden Duft ihrer verlorenen Heimat riechen,

Manche von ihnen bleiben für immer auf der Flucht nach einer Heimat.

Und diese Menschen suchen nach einer Heimat,in der sie am lebendigsten sind,

und diese Menschen suchen nach einer Heimat,in der sie ihren Seelenfrieden finden,

und all das mit der nackten Angst, dass sie diesen wunderbaren Ort vielleicht niemals erreichen werden oder dieser sie nur enttäuschen wird.

Jalid Sehouli

Vorwort

Wir sitzen im Innenhof des Riad Almoulouk in Marrakesch, ganz nah dem geheimnisvollen und wohl aufregendsten Markplatz der Welt, dem Platz der Erhängten, Djemaa el Fna, dem immer pochenden Herzen Afrikas, essen unser Abendmahl am Tag vor unserer Abreise.

Wir haben den Jahreswechsel wieder einmal in Marokko verbracht, im Maghreb, was auf Arabisch Westen bedeutet und vom Wort Sonnenuntergang abgeleitet ist. Ich bin in Marokko, weit weg von meinem geliebten Deutschland, aber nah an Europa, dem Kontinent unser aller Geburt, ganz ohne sinnloses Feuerwerk und feuchten Radau, aber mit tausend mir so bekannten Gerüchen, Explosionen von Farben, stillen Geräuschen aus dem Orient und dem Rest der großen Welt.

Das Abendessen im Riad war wieder einmal wunderbar, mehr als ein Geschenk an unsere verwöhnten Gaumen. Aicha, die ehemalige Gehilfin des Hauses, ist inzwischen aufgestiegen zur Chefköchin. Der gute Geist des Hauses ist sie sowieso. Das Essen war opulent, zartes Rindfleisch mit frischen, von Zitronensaft berührten Artischockenherzen im traditionellen Tajine aus Ton, über viele Stunden zubereitet. Wenn ich jemals eine Henkersmahlzeit wählen muss, dann werde ich nach diesem Gericht fragen. Angeregt durch die feinen Speisen auf dem großen langen Holztisch war auch die Stimmung bei allen Gästen sehr ausgelassen. Ein seltsames, aber vertrautes Gefühl lag in der Luft, als ob wir uns alle schon lange, lange vor dem Bau des fast dreihundertjährigen Riads mit seinem maurischen Innenhof gekannt hätten. Man spürt sofort, dass die Architektur des Gebäudes eine Mischung aus königlichem Palast und Stadthaus verkörpert und mit seinem immer blühenden Garten, dem maurischen Innenhof und dem mit Rosenblättern besetzten Springbrunnen Schutz vor dem Außen bietet, alles nach innen ausgerichtet ist und einem dabei hilft, sein Inneres, sein Herz zu erkunden.

Meine Kinder Sara und Elias waren bereits oben in ihrem Zimmer eingeschlafen, erschöpft vom wilden Treiben des viel zu kurzen Tages. An dem großen Tisch saßen mit mir Adak, meine wunderbare Frau mit den persischen Wurzeln, Omar, der fürsorgliche, großmütige Besitzer des Riads mit dem lustigen schweizerischen Akzent, Thomas, ein erfolgreicher Musikproduzent aus Basel, und seine attraktive Lebenspartnerin. Wir unterhielten uns über Dinge, die wir jetzt oder früher erlebt hatten oder gern noch erleben wollten. So erzählte uns Thomas, dass seine Urgroßmutter als Sechzehnjährige ausriss und in der Stadt Tanger von Polizisten aufgegriffen wurde. »Wie kam sie denn nach Tanger, die nördlichste Stadt Marokkos?«, fragte ich überrascht. Er wusste es nicht, war aber dennoch stolz auf die außergewöhnliche Geschichte seiner Vorfahrin.

Noch auf dem Rückweg nach Berlin fragte ich mich, was wohl eine Schweizerin zu der damaligen Zeit nach Tanger hingezogen haben mochte. Was war der Grund, warum sie sich ausgerechnet nach Tanger aufmachte? Schlug ihr Herz in einem anderen Rhythmus als die Herzen der sie umgebenden Menschen, fühlte sie sich nicht verstanden?

Wie viele Menschen fühlen diesen Unterschied in ihrem Herzen, fühlen sich fremd, nicht zu Hause dort, wo sie geboren sind, wollen einfach nur weg? Wie viele Menschen aber schaffen es nicht, ihrem Fluchtgefühl nachzugeben und es in Schritte zu verwandeln? Und wenn sie es schaffen, ist es vielleicht viel mehr eine Suche nach sich selbst als eine Flucht nach irgendwo? Eine Flucht mit nur scheinbarem Ziel, eine Flucht, ohne jemals ankommen zu können? Menschen verlassen ihren Heimatort und verspüren nie Heimweh. Sie spüren nur Fernweh.

Heimweh schmerzt nur dann, wenn man sein Zuhause verlassen hat. Besitzt du kein Zuhause, wird dich auch nie Heimweh zu einem Ort zurückbringen können.

Menschen ohne Heimat sind getrieben, gönnen sich keine Atempausen. Zu sehr sind sie von einem unruhigen Fernweh beseelt.

»Wie gerne würde ich mir als Fremder einmal zuhören, ohne mich zu erkennen, und später erst erfahren, dass ich es war«, so Elias Canetti.

Wo ist Tanger?

Eine Flucht muss nicht mit dem Erreichen eines Ziels enden, eine Suche schon, so erzählt es der marokkanische Schriftsteller Mahi Binebine in seinem Buch Kannibalen. Er berichtet von zwei Cousins, die sich bei dem Versuch, den europäischen Kontinent zu erreichen, ungewohnt nahe kamen. Und dies, obwohl sie wegen einer großen, wütenden Welle, die ihr Boot kentern ließ, ihre Flucht nicht fortsetzen konnten. Ihre Fahrt fand ein jähes Ende. Dieses Ende aber machte ihnen ihre besondere Nähe bewusst, bewusster als je zuvor. Aus einem Ende wurde ein Anfang.

Flucht ist oft mit großen Schmerzen verbunden, Schmerzen an Körper und Seele.

Ich erinnere mich an einen alten Herrn mit langen weißen Haaren, der in Afghanistan aufwuchs und dessen Frau von mir behandelt wurde. Wir freuten uns über ihre guten Befunde. Als ich ihn nach seiner Heimat fragte, erzählte er mir eine kleine Geschichte von Nasreddin, dem orientalischen Till Eulenspiegel. Nasreddin hatte nachts seinen Schlüssel verloren und bat seine Nachbarn, ihm zu helfen. Nach einer Weile erfolglosen Suchens sagt Nasreddin, dass er glaube, er habe seinen Schlüssel zu Hause verloren. Erstaunt fragen ihn daraufhin seine Nachbarn: »Und warum suchen wir dann hier?« Nasreddin antwortet prompt: »Weil ich zu Hause kein Licht habe und ihn daher dort niemals finden kann.«

Wir beide bedauerten irgendwie, dass diese kleine Geschichte zu Ende erzählt war, und genossen den Nachhall der Worte.

»Und wo ist Ihre Heimat?«, fragte ich den freundlichen alten Herrn. »Ich musste mein Land, in dem ich geboren wurde, verlassen, ich durfte dort nicht zu Hause sein, mein Leben war in großer Gefahr. Ich habe es bereits vor langer Zeit aufgegeben, nach einem Ort zu suchen, den ich Heimat nenne. Meine Heimat ist dort, wo ich meine Kinder und Enkel ohne Angst aufwachsen sehen und wo ich selbst entscheiden kann, wann und welches Buch ich ihnen vorlesen darf.«

Menschen auf der Flucht verlassen viel, müssen viel zurücklassen, und manche sind für immer entwurzelt, finden nie ihren Ruheplatz, und riechen niemals mehr den geliebten, betörenden Duft ihrer verlorenen Heimat.

Tanger, ich rufe dich.

Geschichten über Flucht, Schmerz,Sehnsucht und andere Bewegungender menschlichen Seele

Und in Tanger kommen die Schiffe an,und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo.

Menschen machen sich auf den Weg, teils unbewusst, teils bewusst. Eine Flucht, eine Pilgerreise zu den verschiedenen Orten dieser Welt erfordert unzählige Schritte, die wir gehen, aber noch mehr Bewegungen des Herzens und der Seele. Gehen, um bei sich zu sein, ist die Belohnung für die unzähligen und schmerzhaften Schritte. Erst diese einsame Bewegung erlaubt es uns, den Zustand des Stillstands, des bei uns Seins zu erreichen. Der Körper bewegt sich, der Geist und die Seele können endlich zur Ruhe kommen.

Die blinde Flucht nach irgendwo endet zwangsweise in der Flucht ins innere Exil.

Der amerikanische Schriftsteller Truman Capote empfahl, dass man drei Dinge tun sollte, bevor man nach Tanger fährt: »… sich gegen Typhus impfen lassen, seine Ersparnisse von der Bank abheben und sich von seinen Freunden verabschieden«, denn man wisse nie, ob man zurückkommt, da Tanger die Menschen festhält.

Tanger, die »Terra incognita«.

Manche meinen, dass Tanger ein Ort ohne Erwartungen ist.

Was kann ein Mensch von einer Stadt erwarten?

Was erwarte ich von Tanger?

Vielleicht hilft mir Tanger, meine Freude, meine Melancholie, die Kraft meiner Seele besser zu verstehen, um sie noch intensiver erleben zu können. Tanger hilft mir vielleicht auch, scheinbar vergessene Träume und Fantasien wiederzuentdecken. Dabei ist Tanger wohl mein Ziel, das Symbol meiner ganz persönlichen Entdeckungsreise.

Tanger, ich habe nie in dir gelebt, maße mir nicht an, über dich zu urteilen, aber ich spüre eine tiefe Verbundenheit mit dir. Tanger, ich komme zu dir, um zu mir zu kommen. Ich mache mich auf den Weg zu dir. Ich hoffe, du lässt mich dich erfahren und meine Gefühle und Sehnsüchte verstehen.

Und in Tanger kommen die Schiffe an,und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo.

Ich mache einen Spaziergang in der großen Stadt Berlin, meiner Geburts- und Lebensstadt, erklimme den Teufelsberg, er ist auf Schutt errichtet worden.

Unter meinen Füßen, tief im aufgeschütteten Boden, sind die Grundsteine der Wehrtechnischen Fakultät begraben, geplant von den Nationalsozialisten als Teil der »Welthauptstadt Germania«. Nun liegt der Rohbau mit den Trümmern zerbombter Häuser verborgen unter diesem anmutig erscheinenden Hügel, umgeben von unzähligen kräftigen Laubbäumen. Nur wenig erinnert an die Geschichte – hier und dort im schwarzen Erdboden ein kleines Stück einer Kachel oder eines Ziegelsteins, mehr nicht. Ich schaue über die Stadt, über meine Stadt, bin Teil von ihr, bewundere die Drachenflieger am Horizont, der Sonnenuntergang beginnt.

Später liege ich auf meinem Sofa in meinem von Weiß dominierten Zimmer, schaue auf das Bild an der Wand, ein Blick auf den Djemaa el Fna, den Platz der Erhängten in Marrakesch, und beschließe, dass ich mich auf die Suche nach den Menschen dort und ihren Geschichten machen werde. Und verspüre eine so noch nie erlebte Aufbruchsstimmung in meinem Herzen.

Und in Tanger kommen die Schiffe an,und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo.

Viele Menschen aus Europa und Amerika, die auf der Flucht waren oder sich noch auf der Flucht befinden, leben in Tanger. Viele glaubten, in Tanger könne man alles kaufen, selbst das Glück. Aber wie ausgesetzte Hunde, die sich mitsamt ihrer Leine losgerissen haben, tragen viele dieser Menschen noch immer eine Leine, die Leine ihrer verdrängten Vergangenheit. Da sie ihre Vergangenheit nicht verdrängen können und so am Leben in der Gegenwart gehindert sind, kommen sie nie in Tanger an, auch wenn sie doch scheinbar in Tanger leben.

Der Chemnitzer Schriftsteller Hadayatullah Hübsch beschrieb Tanger als ein »Hospital für Wahnsinnige, die eingesperrt waren, weil sie zu wenig von der Welt wissen wollten und zu viel von sich selbst«.

Flucht scheint das zentrale Thema Tangers zu sein – Flucht in alle Himmelsrichtungen.

Menschen der neuen Welt drängen nach Tanger, Menschen der alten Welt nach Europa und irgendwo. Unzählige Menschen riskieren ihr Leben, um der wuchtigen Hafenstadt in Afrika zu entfliehen, müssen den Hunger gegen die Trägheit tauschen. Frauen und Männer aus dem Kongo, Kamerun, Liberia, aus den vielen so armen Regionen des so reichen Kontinents, voller Kraft und unglaublicher Geschichten, hoffen auf einen bloßen Zwischenstopp in Tanger, aber nur wenige erreichen den anderen Kontinent, nur wenige werden an dem ersehnten Ziel wirklich glücklich sein. Tanger ist der Wartesaal Europas.

In der neuen Medina Tangers laufen unzählige Menschen in alle Richtungen. Sie scheinen die Straßen hinauf und hinunter zu laufen und biegen dann plötzlich in eine der Seitengassen ein. Auf der großen Terrasse, dem Place de Faro, machen viele Halt. Heute kennt man diesen Ort nur noch als den Sour Al Maagazine, den Platz der Faulpelze, die Terrasse des Paresseux. Dieser Platz ist einer der Lieblingsorte der Einheimischen, auch für mich.

Ich laufe hinunter zum Strand und gehe die herrliche Palmenallee direkt an der Playa de Tanger entlang, mache eine kleine Pause, setze mich auf eine der wackeligen Bänke am Hafen und lausche zwei jungen Männern mit kurzen, krausen Haaren. Sie scheinen mich nicht zu bemerken oder sie ignorieren mich einfach nur. Ich stelle wohl für sie keine Gefahr dar. Für Gefahr haben sie ein besonderes Gespür. Sie sprechen ein weiches Französisch, der eine wahrscheinlich keine zwanzig Jahre alt, der andere vielleicht Anfang dreißig. Sie sind schlank, etwas zu schlank, tragen nicht viel Kleidung, die Sohlen ihrer Schuhe sind hauchdünn. Beim Jüngeren sehe ich an einer Stelle die dunkle Fußsohle durchblitzen. Sie reden über Europa, meinen aber nur Spanien, Frankreich und Deutschland. Sie reden über Autos, Verwandte, Kühlschränke und Restaurants.

Sie wollen nach Spanien, in die Nähe des Wohlstands, um etwas von ihrer Armut ablegen zu können. Sie stammen aus der Hauptstadt Malis, Bamako, und kamen über das östliche Oujda an der nur zehn Kilometer entfernten Grenze zwischen Algerien und Marokko. Sie hadern mit ihrer Situation in Marokko. Marokko scheint sie nicht zu wollen, und die Länder Europas wohl erst recht nicht. »Ein Mann muss in seinem Leben ein Haus bauen, sagt ein afrikanisches Sprichwort«, bemerkt der Jüngere. Der Ältere erzählt ihm, dass er schon seit seiner Kindheit nach Europa will. Die Menschen, die früh in ihrem Leben ihr Ziel erreichen, seien die wahrhaftig Glücklichen.

Er hat kurze Zeit auf einer Blumenplantage gearbeitet, die Geranienstecklinge nach Deutschland schickte. Er würde so gerne wissen, wie es dort aussieht, wo die Geranien blühen. Er weiß vom Hörensagen, dass es in Europa Farben gibt, die ein Afrikaner noch nie gesehen hat, und dass in Europa sogar Hunde zum Arzt gehen und Ausweise haben. Sie selbst besitzen nicht ein einziges offizielles Dokument. »Wir müssen illegal, sans papiers, die vielen Grenzen passieren, ohne Dokumente und ohne Banknoten«, so der Jüngere. »Wenn es den europäischen Hunden so gut geht, dann kannst du dir ja vorstellen, wie gut es den Menschen in Europa geht«, sagt er. »Aber es gibt auch unzählige Regeln für alle Dinge. Es ist wohl strengstens verboten, mit den Händen zu essen, man muss alles mit Besteck aus teurem Metall zu sich nehmen«, so der Ältere.

»Ich habe Hunger, Afrika hat immer Hunger«, erwidert der Ältere. »Ja«, antwortet der Jüngere mit den Locken, »selbst das Meer scheint nicht satt zu werden. So viele unserer Schwestern und Brüder werden von diesem Meer verschluckt und ihrer Träume beraubt.«

Ihre Blicke erfassen die Tristesse um sie herum. Als sie Gibraltar am Horizont erreichen, verstummen sie.

Auch die spanischen und portugiesischen Kanonen und auch die Augen vieler Marokkaner sind auf das Meer gerichtet, schauen nach Gibraltar. Schon von Weiten erkennt man die Wellen, die das Schaumweiß aus dem Meer an den Strand schwemmen, als ob das Meer mit seiner Gischt eine Beichte ablegen möchte, um das berauschende Blau zu beschützen. Wenn du dir nur einmal Zeit nimmst, die Wellen in den Meeren von Tanger zu lesen, werden sie dich nicht mehr loslassen. Nimm einen Stein in die Hand, lass das Wasser über deine Beine fließen und du wirst spüren, welche Kraft in Tanger und in deinem Herzen ruht.

Die jungen Männer schauen weiter über das Meer, versuchen wohl zu erkennen, was sich hinter dem Wasser verbirgt, was die Zukunft ihnen bieten kann. Nur die Fremden in Tanger schauen auf das Meer – Afrikaner schauen immer über das Meer hinweg.

Sie vertreiben sich ihre Zeit mit dem Zählen der Wellen, der Wellen mit den weißen, unruhigen Rändern, die ihrer Stadt und den Beobachtenden entgegen schwimmen. In Tanger kann man immer Wellen zählen. Nur wenige Marokkaner lassen sich von ihnen beeindrucken, sich davon abhalten, hinter das Meer zu schauen.

»Das Meer ist keine Landschaft, es ist das Erlebnis der Ewigkeit«, heißt es bei Thomas Mann.

Und in Tanger kommen die Schiffe an,und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo.

Ich sehe die Kanonen auf dem Platz der Faulen mit seinen jungen Menschen. Weder die Kanonen noch die Menschen wollen Tanger verteidigen, sie wollen keinen Krieg, sie wollen den Dialog.

Der Platz der Müden und Faulen im neuen Stadtzentrum trägt den falschen Namen. Jeder in Tanger kennt ihn, aber keiner weiß, warum er so heißt. Die Menschen an diesem Platz sind sicher nicht faul, nur müde, so scheint es, müde ihrer Sehnsucht, müde, keine Hoffnung schenken zu können.

»Ein Ausblick wie eine Qual«, so beschrieb es der rebellische Dichter aus Tanger, Mohamed Choukri.

Viele Menschen waren und sind aus verschiedensten Gründen auf der Flucht. Viele Menschen verließen Tanger, viele Menschen beendeten ihre Flucht in der Stadt.

Auch meine Eltern machten sich in Tanger auf den Weg nach Deutschland, ohne die deutsche Sprache jemals zuvor gehört zu haben, ohne dass sie ein einziges deutsches Wort kannten.

Welch eine Kraft muss in ihnen gewesen sein, dass sie diesen Sprung über das Wasser des großen Ozeans wagten und gemeistert haben? Meine Mutter, auf einem der hohen Berge Marokkos geboren, war Nichtschwimmerin. Angst verspürte sie immer – sowohl auf dem bewegten Wasser als auch auf der festen Erde, aber diese Angst hat sie nie gelähmt. Hoffnung und Zuversicht waren stärker als die Angst vor dem Wasser und den Dingen, die passieren konnten. Aufgrund der Hoffnung und ihres Glaubens an das Gute konnte die Angst sie nicht lähmen, sie nicht aufhalten. Gegen Schicksalsschläge schien sie sich nicht zu wehren, sondern sie anzunehmen und das Gute im Schlechten zu finden. Durch diese Akzeptanz dessen, was geschah, war es ihr wohl möglich, den unbekannten Weg weiterzugehen.

»Wedder, ja, Jalid ist wie Wedder, manchmal Sonne, manchmal Regen, aber meistens viel Sonne.« Ich liebte es, wenn sie stolz mein Sternzeichen Widder erklärte. Sie wusste nicht, dass Widder und Wetter zwei völlig unterschiedliche Dinge sind, sie kannte viele Jahre nicht diese feinen Unterschiede. Aber sie lächelte immer, ihre Augen strahlten vor Stolz in allen frohen Farben dieser Welt, sodass niemand, wirklich niemand sich traute, ihr zu widersprechen.

Meine Mutter Zohra, von den Berlinern nur Soraya mit langem »o« und »a« gerufen, erzählte mir vor einigen Jahren, dass sie, wenn sie damals aus ihrer Weddinger Einzimmerwohnung aus dem Haus ging, mit der Kohle ihres Ofens Zeichen auf den Bürgersteigen der Straßen markierte, um den Weg zurück zu ihrer Familie zu finden. Sie konnte weder die Straßennamen lesen noch die Menschen mit der anderen Sprache fragen. Stralsunder Straße, Brunnenstraße, Strelitzer Straße, Voltastraße oder Amendestraße waren für sie nur Zeichen und Laute einer anderen Welt – einer Welt, der sie sich stellen wollte. Für sie gab es nie eine Alternative. Mut machte ihr ein Berliner Bäckermeister, an dessen Geschäft sie Tag für Tag mit meinen in Marokko geborenen Geschwistern Latifa und Hamid vorbeikam, wenn er lächelte und mit den Kindern kleine Späße machte. Das bestärkte sie, gab ihr Hoffnung, sie lächelte stets verlegen und freundlich zurück.

Nicht alles, aber viel Gutes beginnt im Leben mit einem Lächeln.

Und in Tanger kommen die Schiffe an,und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo.

Was treibt einen Menschen an einen anderen Ort, den er nicht kennt, und was geschieht mit den Menschen, die zu einem Ort wollen, diesen aber niemals erreichen? Bleiben sie immer hungrig nach dem Unerreichten oder übermannt sie eine Traurigkeit, die sie wie ein schwerer Schleier umhüllt?

Gibt es Menschen, die dennoch von sich sagen, dass sie glücklich sind, und das obwohl – oder vielleicht weil – sie diesem Ort ihrer Sehnsucht niemals begegnet sind? Müssen wir Menschen einen ganz besonderen Ort aufsuchen, um etwas anderes und Fremdes zu erfahren? Brauchen wir diese Erfahrung, um uns selbst zu entdecken? Hat die Angst vor Fremden auch mit der Angst vor dem eigenen Ich zu tun?

Erst wer weggeht, sich bewegt und die beschützende und vertraute Umgebung verlassen hat, weiß doch, wie sein Inneres aussieht. Wer nur drinnen bleibt, bleibt wahrscheinlich nur draußen, wird vielleicht nie erfahren, was es heißt, bei sich zu sein. Dieses Weggehen und Flüchten und sich auf etwas Fremdes zu Bewegen braucht keinen Ort, muss keine körperliche Reise sein, braucht nur einen lebendigen und ehrlichen Spiegel, in dem man über einen kleinen Umweg sich selbst betrachten kann. Diese Reflexion deiner Gefühle und Hoffnungen hilft dir, dich endlich dir selbst zu nähern.

»Schau auf Tanger, und du wirst in Tanger dich selbst sehen.«

Und in Tanger kommen die Schiffe an,und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo.

Tanger hat eine sehr lange und bewegte Geschichte und war stets ein lebendiger Brennpunkt der Kulturen. Die Einheimischen sagen »Tandscha«. Das liest sich für einen Fremden hart, klingt aber weicher als das französische Tangier. Verschiedene Töne für denselben Ort mit unterschiedlichen Lauten.

Tanger, die Hafenstadt an der Spitze des afrikanischen Kontinents, liegt ganz nah bei Europa. Nur etwas Wasser trennt Tanger von Barcelona und anderen europäischen Städten. Gerade vierzehntausend Meter trennen Tanger von Algeciras in Spanien. Eine Meerenge und etwas Erde trennen Tanger von Europa. Auf dem afrikanischen Kontinent liegen die spanischen Enklaven Ceuta (arabisch Sebta) und Melilla, abgetrennt durch einen schmalen Streifen aus schwarzem Sand, einen für viele unüberwindbaren Grenzübergang. Die einen hassen den Zaun, die anderen meinen, es sei ihr Schutzwall gegen den Angriff auf ihren Wohlstand.

An den Stränden von Tanger findet man immer wieder durchnässte Kleidung und abgenutzte Dinge, die man wohl bei der Flucht nicht mehr brauchte – zerrissene Papiere, ein leeres Feuerzeug, ein paar abgetragene Schuhe ohne Sohlen, ohne Schnürsenkel.

Berlin, meine Geburtsstadt, ist mehr als zweihundert Mal weiter entfernt als Tanger von Ceuta. Ich erinnere mich an all die Städte, an deren Namen auf Schildern wir Jahr für Jahr auf den Sommerreisen in die »Heimat« im voll bepackten und überladenen Auto vorbeifuhren, ohne die Orte selbst zu erkunden, denn dafür war weder Geld noch Zeit da: Karlsruhe, Mulhouse, Marseille, Lyon, Montpellier, Toulouse, Barcelona, Zaragoza, Alicante, Granada, Málaga. Wir Kinder kannten keine einzige Sehenswürdigkeit dieser Orte, meine Eltern kannten sie auch nicht, auch kannten wir niemanden, der sie kannte. Wir waren ja nur auf der Durchreise und wollten nur endlich in Tanger ankommen.

Es hieß immer, wir führen alle in die Heimat, ohne dass ich das Wort verstehen konnte, da ich mit niemandem jemals über dieses Thema gesprochen hatte, auch meine Eltern darüber nicht sprachen oder ich ihre Worte zum Thema Heimat nicht hören wollte.

Viele Jahre später erst begann ich zu ahnen, wie sich Heimat anfühlt. Ich musste erst vieles sehen, vieles erleben, vielen Menschen begegnen, um den warmen Mantel der Heimat tragen zu können. Ohne Heimat werden die farbigsten Gesichter blass, auch meins.

Heimat ist dort, wo man sich am lebendigsten fühlt. Heimat ist dort, wo man seinen inneren Frieden finden will, ohne zu wissen, ob dies jemals gelingen wird.

Sich aber auf diese Suche zu machen, wird sich für einen jeden lohnen.

Und in Tanger kommen die Schiffe an,und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo.

Die Reisen von Deutschland nach Marokko waren anstrengend, auch in der Rückschau nach all den vielen Jahren. Wir liebten aber die Geborgenheit trotz des engen Autos und der vielen Pannen unterwegs mit den ungewollten Pausen in der sengenden Hitze des südlichen Sommers. Ich ärgerte mich meist, da ich in Berlin bleiben wollte, mit meinen Berliner Freunden jeden Tag lieber Fußball spielen und Unfug anstellen wollte.

Mit jedem Kilometer näher an Tanger wurde aber die Wut auf die ungewollte Reise schwächer.

Auch wenn wir Kinder neidisch auf die Restaurants an den Landstraßen schauten und gerne einfach nur Pommes frites mit Ketchup essen wollten, liebten wir die von unserer Mutter zubereiteten Speisen. Ich erinnere mich an das mit einem kleinen Gaskocher zubereitete Essen, Tomaten mit Eiern und Zwiebeln oder die herrliche marokkanische Ratatouille. Vater suchte meist einen ruhigen Platz für uns am Rande eines Feldes, wir saßen im Kreis und genossen, wenn auch nur für kurze Zeit, die Umgebung, machten ein kleines Nickerchen ganz ohne Motorgeräusch oder aufregende Grenzkontrollen. Wenn Mutter dann hektisch den Kaffee für unseren Vater zubereitete und in eine große, dunkle Thermoskanne goss, ging unsere Reise Richtung Tanger weiter.

Der betörendste Duft entsteht in den Köpfen. Wenn ich die Reisen mit einem Duft assoziieren sollte, wäre es dieser Kaffeegeruch. Wenn ich die Reise mit Musik beschreiben wollte, wäre es die Musik der ägyptischen Sängerin Oum Kalthoum. Auch wenn die eine oder andere Kassette durch braunen Bandsalat zerstört wurde, erklangen unentwegt ihre Lieder. Wenn ich die Reisen von Berlin nach Tanger in einem Bild festhalten müsste, wäre es das Meer vor Algeciras; da wussten wir, dass es nun nur noch wenige Stunden bis zu unserem Ziel sein würden.

Und in Tanger kommen die Schiffe an,und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo.

Tanger liegt eine vier- bis fünftägige Autoreise von Berlin entfernt. Um nach Tanger zu kommen, muss man sich anstrengen. Ohne Anstrengung erfährt man aber nur selten etwas wirklich Besonderes. Tanger kann belohnen.

Tanger wird die weiße Taube auf der Schulter Afrikas genannt. Die Häuser Tangers sind überwiegend weiß gestrichen, nicht purpurrot wie in Marrakesch, nicht himmelblau wie in Ifren, Chefchaouen oder Asilah. Weiß ist die Grundfarbe des bunten Tanger. Ich reise zu den schönsten Farben.

Aufgrund der einzigartigen Geschichte von Tanger, seiner Lage und seiner unzähligen Geheimnisse und heimlichen Paralellwelten war die Stadt lange als das Mekka von Schmugglern, Abenteurern, Exzentrikern, selbsternannten Glücksrittern, Marginalisten und Schauspielern verrufen und geschätzt. Auch der melancholische Yves Saint Laurent erholte sich regelmäßig in seinem Haus auf dem Hügel von Tanger mit der großartigen Sicht auf den alten Hafen.

Vorsicht, die flinksten Tagesdiebe sind in Tanger besonders in den frühen Morgenstunden unterwegs. Die Schmuggler werden von den »Tangauis«, den Einheimischen Tangers, von denen viele nie eine Schule besucht haben, stets nur Trabandos genannt und nicht, wie es auf Spanisch an sich heißt, Contrabandista. Dabei wird zwischen den angesehenen und verrufenen Trabandos unterschieden. Drogen und Prostitution werden verachtet, vom Schmuggel mit teuren Waren wird respektvoll gesprochen.

Verfolgte Juden und Gegner Francos, Faschisten, Menschen, die ein neues Zuhause suchten, alle fanden in Tanger Zuflucht. Tanger nimmt Menschen und ihre Seelen häufiger auf, als dass sie diese loslässt. In Tanger leben mehr Menschen, als hier sterben.

Manche von ihnen beendeten in Tanger ihre Flucht, manche setzten ihre Flucht weiter fort. So verschieden sie auch waren, Tanger machte sie einander ähnlicher. Tanger verwischt die Unterschiede und erweckt die Gemeinsamkeiten.

In Tanger muss sich weder das geheime Verbrechen noch das schwere Laster verkriechen. Tanger erlaubt vieles, Tanger verzeiht. In Tanger kann ein jeder frech und mit erhobenem Kopf die Straßen entlangstolzieren. Ein jeder kann in die Augen des anderen schauen, ohne schlechtes Gewissen. Das Gewissen interessiert in Tanger niemanden.

Unzählige Menschen wurden von Tanger magisch angezogen – Arme, Reiche, Berühmte und Unbekannte. Manche rannten, andere liefen, einige wurden hergetragen, andere wiederum von hier vertrieben. Tanger liebt das Blut der Menschen, bringt es in Wallung.

Für viele Menschen ist das Suchen das zentrale Thema ihres Lebens, bewusst oder unbewusst.

In Tanger suchten unzählige Menschen nach ihrer ganz persönlichen Geschichte. Nur wenige konnten sie finden.

Taher Shah, ein in Marokko lebender Afghane, traf in Casablanca auf der Suche nach seiner eigenen, ihm nicht bekannten Geschichte einen fliegenden Händler, der ihm unbedingt »etwas« besorgen wollte. Aus Verlegenheit und wohl um ihn loszuwerden, fragte er den etwas penetranten Händler nach der Originalausgabe des Alif Lalla wa Lalla, der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht in der berühmten Übersetzung von Richard Francis Burton. Es war das Buch, welches sein geliebter Vater einem fremden Gast aus purer Gastfreundschaft geschenkt hatte und so seinem Sohn nicht vermachen konnte. Eine schier unlösbare Aufgabe für den Händler. Taher war mit seiner Antwort sehr zufrieden; er wollte den Händler nur endlich loswerden, und mit seinem unerfüllbaren Wunsch war es gelungen – der Händler ging seines Weges.

Viel Zeit verging, vieles geschah in Taher Shahs Leben, vieles schien er inzwischen vergessen zu haben, auch seine kurze Begegnung mit dem fliegenden Händler an der Tür seines Hauses.

Aber dann erhielt er Jahre später völlig unverhofft einen Anruf eines Italieners aus Tanger. »Ich habe das Buch«, sagte der Mann. Taher konnte es nicht glauben, er packte seine Sachen und fuhr mit dem Zug nach Tanger. Schon kurz nach seiner Ankunft hielt er das Buch seines Vaters in Händen, und dies für einen Spottpreis. Tanger gab ihm mehr als nur ein Buch; Tanger half auch ihm beim Aufspüren seiner ganz persönlichen Geschichte. Tanger vergisst die Wünsche nicht.

Sage Tanger, was du suchst, und die Stadt wird es vielleicht für dich finden.

Und in Tanger kommen die Schiffe an,und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo.

Mein Vater Abdullah kam im Winter 1960 nach Deutschland – erst nach Lübeck, auch eine Hafenstadt, ähnlich wie Tanger, dann nach Berlin an der Spree.

Meine Mutter Zohra war vorerst in Tanger zurückgeblieben und bemerkte, dass sie schwanger war, als mein Vater im kalten Deutschland angekommen war, so hat sie es mir erzählt.

Meine Mutter schien sich an die vergangene Zeit besser zu erinnern als mein Vater. Mein Vater lacht deutlich häufiger bei seinen Erzählungen, meine Mutter ist ernster. Wenn sie aber lacht, kann sie oft kaum wieder aufhören. Sie hat das schönste Lächeln dieser Welt.

Vielleicht bleiben schmerzhafte Erinnerungen länger im Bewusstsein. Vielleicht sollten schöne Erlebnisse intensiver erlebt werden, damit auch sie sich in die Seele eingravieren können.

Und in Tanger kommen die Schiffe an,und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo.

Tanger trägt unzählige Geschichten, trägt unzählige Mythen und Erzählungen in sich, die meisten erfahre ich zum ersten Mal. Nicht alle Geschichten kann Tanger loslassen und weitererzählen. »Gehe zu einem der Meere, schließe deine Augen und du wirst die unendliche Geschichte Tangers erhören können«, so sagte es mir eine alte Dame aus der Kasbah, als ich sie nach der Historie der alten Stadtmauern fragte.

Nach der sephardischen Überlieferung rief Noah, als er die dritte ausgeschickte Taube mit dem Zweig eines Olivenbaums im Schnabel über das Meer auf die Arche zurückfliegen sah: »El ma mecha ou ett in dja«, was bedeutet: »Das Wasser geht fort und die Tonerde kommt zurück.« Die letzten zwei Silben sollen der Stadt den Namen gegeben haben: Tindjah – Tanjah: Tanger.

Bereits der kathargische Seefahrer Hanno ankerte im fünften Jahrhundert v. Chr. vor Tanger. Die ersten Spuren der Germanen hier fanden sich bereits etwa 429 n. Chr., als die Vandalen die damals letzte römische Bastion Nordafrikas eroberten.

Die Araber, die primär von der arabischen Halbinsel um das heutige Saudi-Arabien und den Jemen stammten, eroberten die strategisch so wichtige Hafenstadt Tanger im siebenten Jahrhundert. Erst dann kam es nach und nach zu der Vermischung der Araber mit den Berbern und den anderen afrikanischen Volksstämmen.

Wer hat aber Tanger erschaffen? Wer waren die Menschen, die beschlossen, zu bleiben und diesen Ort zur Stadt zu machen?

Nach einer der ältesten Sagen hat der sechzig griechische Ellen messende Antaios, der Sohn Poseidons, die Stadt Tanger in stürmischer Geburt erschaffen. Weiter sagt der Mythos, dass Herkules mit seiner übermenschlichen Kraft genau an dieser Stelle die Erde spaltete und die Meerenge zwischen dem Atlantischen Ozean und dem Mittelmeer schuf. Eindeutige Beweise gibt es dafür mehr als genug. Es ist auch viel mehr als nur eine Sage, darüber sind sich die Tangauis, die Einheimischen, einig. Man brauche ja nur zur Herkulesgrotte zu gehen, etwa 20 000 Meter westlich von Tanger und etwa 300 Meter über dem Meeresspiegel. »Hier sieht man, wie Herkules in der Grotte gelebt hat; selbst seinen riesigen Fußabdruck kann man hier entdecken.«

Sowohl der Sonnenuntergang als auch der Sonnenaufgang in der Höhle des Herkules mit dem sagenhaften Blick auf das sich brechende Meer sind grandios. Der Blick zwischen den dunklen Steinfelsen verändert sich von Moment zu Moment, nie sind zwei Meereswellen gleich, nie ist der Wind in Tanger der gleiche wie gestern. Der Wind in Tanger ist anders als an anderen Orten dieser Welt, jeder Windstoß einzigartig.

»Der Nordwind«, so sagen die Marokkaner, »ohrfeigt Tanger und seine Menschen.« Wenn es aber eine Ohrfeige ist, dann ist es eine, die nicht schmerzt, sondern die Menschen wachrüttelt, das Leben in seiner anmutigen Schönheit, aber auch in seiner brutalen Härte sichtbar macht.

Der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun schreibt: »… der Wind pfeift um ihre Köpfe und ihre Gedanken«.

In der Herkulesgrotte von Tanger spürt man die Kraft des Meeres, ohne einen Tropfen des aufgewühlten Wassers berühren zu müssen. Manchmal gelingt es, die Energie der Elemente eines Ortes, eines Menschen auch ohne direkte körperliche Berührung zu erspüren. Tanger schenkt dem Gast dieses Gespür.

Ich mache mich auf zur Herkulesgrotte, bin begeistert von dem endlosen Meer. Ein flüchtender Wind hält mich einen Moment fest. Ich schaue zurück auf die Stadt, sie liegt wie eine halb offene Hand vor dem Meer. Ich spüre den Spannungsbogen dieser Welt. Das warme Mittelmeer und der kalte Atlantik scheinen hier um die Vorherrschaft zu kämpfen, ein Kampf, den keiner gewinnen will. Ich stecke meine Finger ins Wasser, mal ist es kalt und in der nächsten Sekunde wieder warm.

Es wird hier schnell dunkel, schneller als anderswo. Ein atemberaubender Sonnenuntergang beginnt. Die Zeit steht still. Blau, dann Rot beherrscht den Horizont. Bilder, die ohne Worte zu mir sprechen.

Ich versuche, die Bilder zu verstehen, sie sind ein Abschiedsgruß und eine Bitte an mich. Tobende Wellen durchbrechen die Stille, der Wind nimmt zu.

»Vergiss niemals Afrika und deine Wurzeln, beides ist eins, und keines kann ohne das andere sein.«

Und in Tanger kommen die Schiffe an,und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo.

Ich erinnere mich an den kleinen silbernen Löffel, den ich als Zwölfjähriger mit aller Kraft meines jungen Körpers in das Meer am Kap Spartel, dem »Bhar achakar«, warf. Den silbernen Löffel hatte ich von einem engen Verwandten meiner Mutter bekommen, einem geachteten Gelehrten, der die Fähigkeit hatte, mittels Koranversen und gewissen Rezitationen das Böse zu vertreiben und das Gute zu stärken. Dass er das konnte, wurde von meiner Mutter niemals bezweifelt. Im Gegenteil, meine Mutter hatte ihn über Jahre wegen verschiedener Sorgen immer wieder aufgesucht und wohl genügend Beweise für seine besonderen Fähigkeiten gesammelt, dass sie ihn bis zu ihrem Lebensende schätzte. Eines Tages brachte mich meine Mutter zu ihm. Wir mussten warten, eine Frau mittleren Alters war vor uns bei ihm. Ich vermutete Eheprobleme, als ich einen kurzen Blick in ihre traurigen, schönen dunklen Augen werfen konnte.

Nachdem er die Frau verabschiedet hatte, war ich an der Reihe. Meine Mutter erzählte dem Gelehrten, dass ich immer wieder an Augenentzündungen litt. Mich plagten diese Gerstenkörner an meinen Lidern sehr, selbst die heißen Umschläge mit Kamillentee oder die vom Arzt verschriebenen Salben halfen nur wenig. Der Gelehrte schaute mich lächelnd an und bat mich, in einen Raum mit reich verzierten blau-weiß-roten marokkanischen Fliesen und Kacheln einzutreten. Es waren Sommerferien und es war sehr heiß, in dem Zimmer allerdings angenehm kühl. Ich setzte mich auf das türkisfarbene orientalische Sofa mit dem hölzernen, verschnörkelten Gestell und folgte seiner Anweisung, mich hinzulegen. Ich lag noch nicht richtig, als er begann, in einer Art monotonem Sprechgesang wohlklingende, mir unverständliche Worte zu sprechen. Er sprach sehr schnell. Zuerst spürte ich ein Gefühl der Angst, dann konnte ich ihn verstehen und schließlich hatte ich Vertrauen. Seine Worte waren stark und richteten sich an meine Augen. Sie klangen seltsam anders, aber nicht fremd. Schließlich strich er kurz mit einem kleinen Löffel über meine Augen. Er schenkte mir den Löffel mit dem Auftrag, diesen schon bald in das offene Meer zu werfen und damit die Krankheit an meinem Auge auf den Grund des Meeres zu versenken.

Schon am nächsten Tag erfüllte ich diesen besonderen Auftrag. Wir fuhren mit meinen Eltern zum Strand nahe der Herkulesgrotte an der Atlantikküste und ich warf den Löffel so weit, wie ich nur konnte, ins weite Meer. Der Löffel hörte fast nicht mehr auf zu fliegen, fiel dann plötzlich ins wartende Wasser, verschwand in den Wellen, und die lästigen Gerstenkörner kamen nie wieder – bis heute nicht.

Und in Tanger kommen die Schiffe an,und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo.

Es wird der Stadt und ihren Einwohnern einfach nicht gerecht, den Zauber des sagenhaften Tanger auf die Präsenz von Berühmtheiten und Schriftstellern zu reduzieren. Gerade die vielen Unbekannten erzählen die schönsten Geschichten und machen den eigentlichen Charme der Stadt aus. Diesen Charme, diese Geschichten aber muss man erst entdecken; sie verstecken sich und zeigen sich nur dem Geduldigen.

Viele Mächte dieser Welt rangen in der Geschichte von Tanger um die ehemalige Kornkammer Nordafrikas: die Berber, Araber, Portugiesen, Engländer und Spanier. Im Jahre 1923 wurde Tanger zu einer internationalen Zone und war damit vom eigentlichen Marokko abgetrennt – eine abgetrennte Stadt wie meine Geburtsstadt Berlin noch lange nach dem Kalten Krieg. Viele wenig beachtete Relikte erinnern in Tanger an seine bewegte und bunte Geschichte. Einige Marokkaner meinen, dass es in Tanger noch mehr Farben als Geschichten gibt, so groß ist die Vielfalt der unzähligen Bilder. Überall warten diese Geschichten: in den Gassen, in den Häusern, auf den Hügeln, auf den Friedhöfen, in den Augen der Menschen. Will man die Geschichten erfahren, muss man sie aber sehen wollen, sonst verlieren sich die Augen des oberflächlichen Beobachters im scheinbar so hektischen Treiben der Stadt und ihrer Menschen.

Auch die Sprache der Tangauis und der anderen Marokkaner ist Ausdruck der langen und turbulenten Historie. Ein besonderes Sprachgemisch der Besetzer und Besetzten ist bis heute geblieben. Das eigentliche »Marokkanisch« versteht kein gewöhnlicher Araber, viele Wörter stammen von den Berbern, einige von anderen afrikanischen Stämmen, andere wohl von den Kopten, einig Worte von Franzosen und Spaniern. Die Marokkaner lieben Tangers Dialekt wegen seiner besonderen Melodie und weichen Wörter. Er gilt als besonders schick und kokett.

Mohamed Choukri, der melancholische Sohn Tangers, beschrieb die Geschichte der Stadt in einem Gespräch mit Mohamed Alouta besonders treffend: »Die Stadt hatte sich an verschiedenen Kulturen bereichert, bevor sie alterte. Ich sage nicht, dass sie schlecht gealtert sei, nein, aber auf natürliche Weise, wie ein menschliches Wesen.«

In Tanger erkenne ich immer mehr Gemeinsamkeiten mit Berlin, meiner Stadt, in der ich im ehemals roten Arbeiterbezirk Wedding geboren wurde.

Ich sehe mehr und mehr Ähnliches und immer weniger Unterschiede, sehe heute Gemeinsamkeiten, die mir als Kind verborgen blieben. Hier die moderne Untergrundbahn, da das wilde Meer, hier die stolze Ordnung auf den Straßen, da das bunte Treiben auf den Märkten, hier das normierte Gemüse im Regal, da bekannte und unbekannte Früchte auf dem nackten Boden.

Ich fühle mich von beiden Orten magisch angezogen, von Tanger und von Berlin, vielleicht deswegen sucht mein Herz nach dem Ähnlichen, da es wohl damit besser zurechtkommt, als wenn es nach Unterschieden sucht und sich entscheiden muss.

Ich bin bei Yousef in der Exerzierstraße 17. Yousef kommt aus der Türkei und ist eine Art Familienfriseur für uns. Seit meiner Kindheit schneidet er meinem Bruder Abdelhamid und mir die Haare, auch heute noch kommen wir jeden Monat zu ihm – Abdelhamid immer samstags frühmorgens, bevor er den Schuhladen in Steglitz öffnet, ich sonntags, bevor wir uns nach Spandau zum wöchentlichen Familientreffen aufmachen. Viele Afrikaner sind Yousefs Kunden, man kann sogar CDs von bekannten afrikanischen Musikern bei ihm kaufen. Die Räume und Yousef haben sich mit der Zeit nicht verändert, der Wedding aber schon. Der Bezirk an der Panke hat nur noch sehr wenig mit dem Wedding der Sechzigerjahre zu tun. Damals gab es an jeder Ecke typische Berliner Kneipen, heute ist kaum noch eine auffindbar. Die neuen und geklont erscheinenden Kaufhäuser verschlingen das Straßenleben. Ich vermisse den Kartoffelladen in der Badstraße, mochte den kühlen, staubigen Geruch der Kartoffelberge und freute mich, wenn die Verkäuferin mit einer großen Schaufel die Kartoffeln in meine Tragetasche warf. Heute sind die Straßen trotz gleich gebliebener Namen anders. Unzählige Wettbüros, Telefonläden und Evelyn- und Thaibars prägen nun das bunte Bild. Auch die vielen kleinen Zoogeschäfte, die ich als Kind so liebte und wo ich die Guppys, Skalare und Schwertfische bewunderte, sind völlig verschwunden. Gibt es denn im Wedding keine Tiere mehr?

In der Exerzierstraße traf ich bei meinem letzten Besuch bei meiner Mutter einen Mann mit einer großen Einkaufstasche, der in einer Mülltonne an der Bushaltestelle neben dem Afrikashop wohl nach weggeworfenen Pfandflaschen suchte. Ich erinnere mich an Mohamed Choukri, der als Kind während der Kolonialzeit den Müll nach etwas Essbarem durchstöberte. Er erzählte, dass er immer versuchte, die Abfallberge der reichen Fremden zu durchforsten, da dieser Müll wertvoller war als der der marokkanischen Einheimischen. Ich frage mich, ob es nicht für den Flaschensucher besser wäre, seine Suche nicht im Wedding, sondern im noblen Dahlem oder feinen Frohnau fortzusetzen.

Tanger ist anders, anders als die anderen Städte des Landes, anders als die anderen Städte der neuen Welt. Tanger hat mehr als tausend Gesichter. Tanger ist mehr, als dass Moderne und Tradition neben- und miteinander leben und eine ganz spezielle Balance gefunden haben. Wie in einer Parallelwelt vermischen sie sich im Zentrum der Stadt, um dann – wenige Schritte weiter – bereits auf dem alten Markt und in den Randbezirken wieder auseinanderzulaufen. Entspannt und selbstbewusst erscheint dieser Tanz des zwangsverheirateten Paares aus Moderne und Tradition.