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Was ist ein Mädchen, das fast zwölf Jahre alt ist? Nicht Fisch noch Vogel. Nina, Kennzeichen: Sommersprossen, rote Zottelhaare und endlos lange Beine, steckt gerade mittendrin in allen möglichen Veränderungen. Nina und Heidi sind die besten Freunde seit Schulanfang, aber in der fünften Klasse fängt sich alles an zu verändern. Heidi hat sich im Urlaub in Ørjan verliebt und ihn sogar geküsst! Ganz schön aufregend ist es, was sich da so tut - bei ihr selbst, in der Schule, mit der besten Freundin und in der Liebe! Vor allem aber versteht Nina es, witzig davon zu erzählen. ZUR AUTORIN Tone Kjærnli arbeitet als Theaterlehrerin an einem Gymnasium nahe Oslo. UND WER KÜSST MICH? ist ihr Erstlingsroman; er wurde nach seiner Veröffentlichung im Verlag auf Anhieb ins Programm des größten norwegischen Jugend-Buchclubs aufgenommen und dort zum Buch des Monats gewählt. Seitdem hat Tone eine Reihe Jugendbücher geschrieben, mehrere preisnominiert - und gekrönt. REZENSSION "Ein phantastischer Roman für Kinder und Jugendliche im Alter 9-13 Jahren. Die Geschichte ist gut geschrieben, engagiert und vor allem voller Fantasie." Lektorat, Britta Liboriussen
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Seitenzahl: 212
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Lindhardt und Ringhof
Ich, Nina Ruud, elf Jahre, drei Monate und zwei Wochen alt, wohne in so einem alten Kasten, einem richtigen Geldfresser. So nennt jedenfalls Mutter unser Haus. Vater versucht alle undichten Stellen im Dach, die Risse in den Kellermauern und ich weiß nicht, was sonst noch zu reparieren, so gut er kann. Aber so gut kann er es eben doch nicht. Ausgerechnet heute Nachmittag war er wieder mal dabei, auf dem Dachboden zu hämmern und klopfen, zu stöhnen und fluchen, dass man es bis in den Garten heraus hören konnte. Mutter war nicht besonders glücklich darüber, denn es ist Sonntag, und Frau Bang-Hansen von nebenan mag es gar nicht, wenn sonntags gearbeitet wird.
Wir haben das Haus von meinen Großeltern geerbt. Es ist fast hundert Jahre alt. Synne, die in meine Klasse geht und auch in unserer Straße wohnt, sagt, dass es das hässlichste Haus ist, das sie je gesehen hat, schief, spitz und merkwürdig. Typisch Synne. Sie muss ihr Krötenmaul immer aufreißen. Und außerdem möchte ich mal wissen, wie sie als Hundertjährige wohl aussieht. Sicher genauso schief und merkwürdig. Und genauso undicht wie das Dach.
Mutter und ich rekelten uns in unseren Liegestühlen in der warmen Nachmittagssonne. Ich versuchte mit aller Macht, noch ein bisschen braun zu werden, denn morgen sind die Sommerferien zu Ende und die Schule fängt wieder an, und ich wollte mich ein einziges Mal mit brauner Haut und nicht nur mit Sommersprossen zeigen können. Vom Haus her war eine Reihe schneller Hammerschläge zu hören. Dann kam ein fürchterliches Geheul, das die Krähen im Kirschbaum aufscheuchte und zu panischer Flucht veranlasste.
»Nein, so was, hast du den Vogel gehört?«, fragte Mutter im Halbschlaf. »Wie grässlich er geschrien hat.«
»Das war kein Vogel«, sagte ich. »Das war Papa.«
Mutter sprang auf, rief: »Hast du dir weh getan, Thorvald?«, und lief hinein. Ich hinterher. Ganz oben auf der Dachbodentreppe saß Vater und lutschte an einem geschwollenen Daumen, die spärlichen Haare standen ihm zu Berge. Niemand mit so wenig Haaren kann so zerzaust aussehen wie mein Vater. Darin ist er Meister. Leider kann man über seine Fähigkeiten als Tischler nicht dasselbe sagen.
»Verfluchter Hammer«, sagte Vater, und Mutter warf mir einen raschen Blick zu, als ob ich nicht schon Schlimmeres gehört hätte, vom Rolf aus meiner Klasse beispielsweise.
In diesem Augenblick durchdrang das Geheul einer elektrischen Gitarre das Haus.
»Hilfe«, sagte Mutter, »jetzt wird gleich Frau Bang-Hansen anrufen und sich beschweren. Nina, geh mal runter und bitte Fredrik, ein bisschen leiser zu spielen.«
Ich ging wieder ins Erdgeschoss und öffnete die Tür zu Fredriks kohlrabenschwarzem Zimmer. Ja, ihr habt richtig gelesen: kohlrabenschwarzes Zimmer. Die Schwarze Höllennacht, wie ich es nenne. Es war nämlich vor einiger Zeit, als es am allerheißesten war, da ist Fredrik in seinem Zimmer verschwunden und hat es gestrichen. Total schwarz. Wir anderen ahnten nichts. Wir lagen im Garten, schwitzten und keuchten und duschten uns alle fünf Minuten mit dem Gartenschlauch.
»Wo zum Teufel ist Fredrik?«, fragte Vater. »Er muss bei diesem schönen Wetter doch auch mal rauskommen?«
Ich ging hinein und sah, was Fredrik tat, ging wieder hinaus und sagte, dass er in der rechten Ecke der Schwarzen Höllennacht sei. Am Fenster.
»He?«, fragte Vater, und dann roch er den Farbgeruch und die Stirn fiel ihm über die Augen. Er kam mühsam auf die Beine und schlich sich hinein, Böse Ahnungen mit Schweiß auf den sonnenverbrannten Rücken geschrieben.
Eine halbe Minute.
Dann kam’s.
Ein Schrei.
Vater schrie und taumelte rückwärts wieder heraus. Oh, oh, oh, direkt in die Arme von Mutter. Die auch nicht gerade absolut begeistert war.
»Das ist das Alter«, sagte sie.
»Ja, aber ich war auch mal fünfzehn und ich habe deshalb nicht die Zimmer schwarz angemalt, total schwarz«, schluchzte Vater.
»Nein, du nicht«, sagte Fredrik, und das hörte sich an, als ob Vater bereits als Fünfzehnjähriger Kugelbauch und Halbglatze gehabt hätte und total out gewesen wäre.
Und jetzt stand Fredrik in der Schwarzen Höllennacht und spielte Gitarre, dass ich mir die Ohren zuhalten musste. Er verschwand vollkommen unter seinen Haaren, nur die Nase ragte hervor und mitten auf ihr thronte im Augenblick ein fetter, roter Pickel.
»Für Holzköpfe verboten!«, rief er, als er mich erblickte.
»Dein Pickel ist noch größer geworden, dass du es nur weißt«, sagte ich.
»Verschwinde, du Null!«
»Mutter sagt, dass du nicht so laut spielen darfst.«
»Das muss ich, wenn es was werden soll. Hau ab.«
Das Telefon klingelte. Ich hörte, wie Mutter sich für den Lärm entschuldigte. Aber natürlich musste sie für Fredrik um Nachsicht bitten, typisch, sie sagt immer, dass wir nicht schimpfen sollen, weil er doch in Dem Schwierigen Alter ist. Und wie Fredrik das auszunutzen weiß!
»Sie müssen verstehen, er übt für eine Aufführung im Jugendclub«, sagte Mutter. »In diesem Alter müssen sie sich ja ein wenig austoben dürfen. Ist doch nur gut, wenn sie das wenigstens zu Hause tun. Ja, ja sicher, ja, dann auf Wiederhören.«
Mutter schaute durch die Tür herein. »Frau Bang-Hansen hat sich wieder beschwert. Fredrik, sei doch so gut. Du kriegst hinterher auch eine Cola, wenn du ein bisschen leiser spielst.« Ich ging hinaus. Ich hatte nämlich die letzte Cola genommen und wollte lieber nicht dabei sein, wenn Fredrik das entdeckte. Da sah ich, dass Heidi und ihr Anhang endlich aus den Ferien zurückgekommen waren. Der Caravan stand in der Garageneinfahrt, und Heidi, ihre Mutter und Svein, Heidis Stiefvater, trugen stapelweise Tennisschläger, Campingstühle und sonst was ins Haus.
Ich rannte über den Rasen, nahm die Abkürzung durch das Loch in der Hecke und trat fast auf Frau Bang-Hansens Mistköter, der gerade auf dem Weg in unseren Garten war, um dort zu scheißen. Dieser Köter. Vater meint, Frau Bang-Hansen hätte ihm bestimmt beigebracht, das zu tun, aus Rache. Sie würde sicher sagen: »Willst du raus, Goldi? Raus und Kacka machen? Dann lauf rüber in Ruuds Garten. Ja, gut so. Braver Hund.«
Als Heidi mich sah, ließ sie sofort alles aus den Händen fallen. Sie hob ihr T-Shirt hoch und schob die Jogginghose so weit nach unten, dass ich ihren prachtvollen braunen Bauch bewundern konnte.
»Guck mal, wie braun ich bin!«
Ihr Haar war von der Sommersonne fast weiß geworden. Sie warf es mit einer schnellen Kopfbewegung aus ihrem gebräunten Gesicht und sah mich kritisch an.
»Du bist ja überhaupt nicht braun geworden!«
»Ich hab nur Sommersprossen gekriegt«, sagte ich traurig.
»Oh, du Arme«, meinte Heidi.
»Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr zurück«, sagte ich.
»Aber jetzt bin ich da!« Heidi lächelte.
»Ja«, sagte ich. »Zum Glück.«
Dann sagten wir eine Weile gar nichts mehr. Es ist immer irgendwie schwierig, wieder miteinander bekannt zu werden, wenn wir uns mehrere Wochen lang nicht gesehen haben. Obwohl Heidi und ich uns wahnsinnig gut kennen, denn seit unserem siebten Lebensjahr, als Heidi hierher gezogen ist, sind wir die besten Freundinnen. Wir werden nur jedes Mal ein wenig unsicher. Jedenfalls werde ich es.
»Ich muss dir was erzählen«, sagte Heidi mit einem Mal und zog mich mit sich hinters Haus. Wir legten uns ins Gras, das in den Wochen, die sie fort waren, ziemlich gewachsen war. Heidi kugelte herum und sah auf die Erde.
»Ich habe einen Freund gefunden. So ganz richtig.«
»Wirklich!«
»Jaha. Örjan.«
Ich ließ den Namen über meine Zunge rollen. »Örjan?«
»Mmh. Örjan Malmström. Er ist Schwede, weißt du.«
Nun ist es nicht das erste Mal, dass Heidi einen Freund hat. Schon in der ersten Klasse war sie mit Per-Gunnar fest befreundet. Sie saßen im Fahrradschuppen auf dem Schulhof eng zusammen und umarmten sich. Alle Jungen unserer Klasse sind scharf auf Heidi, weil sie so süß ist. Und letztes Jahr schickten Tore und sie sich während des Unterrichts Zettel, auf die sie geschrieben hatten, dass sie einander liebten und so. Ich bin nie die feste Freundin von jemandem gewesen. Ich war scharf auf jemanden. Aber ich glaube nicht, dass jemals jemand scharf auf mich gewesen ist. Es hat jedenfalls nicht den Anschein.
»Was heißt das, er ist so ganz richtig dein Freund?«
»Weil es so ist. Willst du sehen, wie toll er aussieht?«
Heidi fischte ein abgegriffenes Schwarzweißfoto aus ihrer Tasche. Es war ein typisches Automatenbild. Ein hellblonder Junge starrt dich erschrocken an, als wäre er vom Blitzlicht überrascht worden. Örjan Malmström starrt. Aber Örjan Malmström hat einen Ring in dem einen Ohr wie ein Jugendlicher, obwohl er bestimmt nicht älter als zwölf ist. Örjan Malmström ist super.
»Ist er nicht super?«
»Ja«, sagte ich.
»Wir wollen uns Liebesbriefe schreiben«, sagte Heidi zufrieden und schob das Bild wieder an seinen Platz.
DING-DONG-DONG klang es von unserem Haus, das war Vater, der die Glocke läutete. Das heißt, Mittag ist fertig oder Abendessen oder irgendwas anderes. Niemand sonst in unserer Straße benutzt so eine blöde Glocke. Es ist wirklich bescheuert, als wäre ich eine Kuh, die in den Stall soll.
»Ich muss nach Hause«, sagte ich. »Was wirst du morgen anziehen?«
»Vielleicht die rosa Jacke.«
»Dann zieh ich auch meine rosa Jacke an.«
»Spitze«, sagte Heidi.
Das war am Nachmittag. Jetzt ist es Abend, ich stehe im Badezimmer, putze mir die Zähne und sehe dabei in den Spiegel. Ich bin leider nicht brauner geworden. Und die Sommersprossen sind immer noch genauso viele wie gestern und vorgestern und vorvorgestern. Vierunddreißig Sommersprossen allein im Gesicht! Wer bietet mehr? Ich gehe jede Wette ein, dass Synne morgen eine dumme Bemerkung darüber machen wird. »Hast du dich durch ein Teesieb gesonnt, oder . . .« Das sagt sie üblicherweise. Und mir fällt nie eine passende Antwort ein. Vielleicht sollte ich sagen: »Ja, stimmt genau.« Ganz überlegen und gleichgültig. »Das ist nämlich die neueste Mode, sich durch ein Teesieb zu sonnen.« Ja, das werde ich sagen, wenn sie ihr Krötenmaul aufreißt.
Synne bildet sich ein, sie sähe unglaublich gut aus, genauso gut wie Heidi. »Wir könnten fast Schwestern sein«, sagt sie oft. Nur weil beide lange, blonde Pferdeschwänze haben! Ich bin nicht der Meinung, dass sie sich ähneln. Ganz und gar nicht. Aber ich hätte gern einen langen, blonden Pferdeschwanz wie Heidi statt meiner strähnigen roten, halblangen Zotteln.
Ich strecke meinem Spiegelbild die Zunge raus und gehe ins Bett.
Heidi und ich. Mit hundert Sachen auf dem Fahrrad den Hügel hinunter auf dem Weg zur Schule. Vater auf der Treppe: »NINA! ZIEH DEINE REGENJACKE AN! ES GIBT REGEN!«
Aber ich höre nicht. Ich höre gar nichts, denn Heidi und ich, wir sind beide rosa, und um nichts in der Welt würde ich stattdessen eine Regenjacke anziehen. Weiter oben auf der Straße ist Synne.
»Wartet!« Aber wir hören nicht. Nein. Wir hören überhaupt nichts. Wir singen mit dem Krötenmaul weit hinter uns, der Wind bläst uns direkt ins Gesicht, dass wir nach Luft schnappen müssen.
»O HÄNGT IHN AUF, O HÄNGT IHN AUF,O HÄNGT IHN AUF, DEN KRANZ VON LORBEEREN! (japs)IHN, UNSERN HERRN . . .« (japs)
»Wartet! Seid ihr denn stocktaub, oder was?« (Synne)»Die Regenjacke!« (Vater)
»IHN, UNSERN HERRN, IHN, UNSERN HERRN,DEN WOLLEN WIR VEREHREN!« (japs)
Regen? Gar nicht dran zu denken. Nicht heute. Obwohl Vater es eigentlich wissen müsste, schließlich arbeitet er im meteorologischen Institut. Es ist sein Job, herauszufinden, wie das Wetter wird. Mutter ärgert ihn immer und sagt, dass er sicher nur rät, so oft, wie der Wetterbericht nicht stimmt. Heute stimmt seine Prognose jedenfalls nicht und außerdem bin ich stocktaub. Heidi ist auch stocktaub, wie sie vor mir radelt mit ihrem Pferdeschwanz in einem langen, hellen Strich.
»O HÄNGT IHN AUF, IHN, UNSERN HERRN,IHN, UNSERN HERRN, DEN WOLLEN WIR VEREHREN!« (japs und puh und angekommen)
»Verdammt, ihr hättet wirklich warten können«, schimpfte Synne auf dem Schulhof.
»Aber wir haben dich ja nicht rufen gehört.«
»Ha! Woher wisst ihr dann, dass ich gerufen habe? Wenn ihr es nicht gehört habt!«
»Äntschuldigung«, sagte Heidi. Mit Ä. Sie sagt immer Entschuldigung mit Ä.
»Äntschuldigung, wir hören so schlecht!«
Synne wechselte plötzlich das Thema und sagte mit ihrer einschmeichelndsten Stimme: »Du bist aber braun geworden, Heidi.« Sie hielt ihren Arm neben Heidis. »Wir sind gleich braun, sieh mal!«
»Heidi ist viel brauner als du«, sagte ich.
Synne sah mich an. Ihre Augen wurden zu zwei engen Schlitzen. Jetzt sagt sie das mit dem Teesieb, dachte ich. Und dann werde ich ihr antworten!
»Du siehst aus wie ein Fischpudding mit Scheißeflecken drauf«, sagte Synne. Dann drehte sie sich um und ging zu Tonje und Margrete aus der Siebten. Während ich mit offenem Mund stehen blieb. Miststück!
Am ersten Schultag nach den Ferien erscheint immer alles irgendwie neu und anders. Aber es dauert nicht lange, bis man entdeckt, dass alles noch beim Alten ist. Der Schulhof ist wie immer, mit dem Asphalt, auf dem alle mindestens einmal im Jahr hinfallen und sich ein Loch ins Knie schlagen, das Klettergerüst, das ganz ungefährlich ist, aber eigentlich doch nicht ganz ungefährlich, nachdem Truls aus der zweiten Klasse im letzten Jahr runtergefallen ist, direkt auf seine Rotznase, und sich einen Zahn ausgeschlagen hat. Unsere Lehrerin ist wie immer, wie immer zu Beginn eines Schuljahres, dann strahlt sie wie eine Sonne. Im Laufe des Herbstes strahlt sie immer weniger und ungefähr um Weihnachten herum ist sie bereits ziemlich erloschen, wie eine ausgebrannte Glühbirne.
Der Rolf in unserer Klasse ist jedenfalls ganz der Alte! Sobald er durch das Schultor kam, fing er an, den Fahrradschuppen zu beschmieren, und was er da normalerweise schreibt, das sind nicht gerade Bibelverse. Also muss der Hausmeister auch dieses Jahr wieder den Fahrradschuppen streichen, und dabei wird er reichlich sauer. Morten kam an, die Taschen voll mit süßen Schnullern, sauren rostigen Nägeln, und in der ersten großen Pause nahm er die Gelegenheit wahr und rannte zu Frau Nilsens Bonbonladen, um sich mit weiterem Vorrat zu versorgen. Wie gehabt! Und die Jungen aus der Siebten begannen das Schuljahr damit, dass sie Plastiktüten voller Wasser auf uns andere warfen, nur um zu zeigen, dass sie jetzt die Größten in der Schule sind1. So ist es jedes Jahr.
Eigentlich ist nur Mona nicht wie immer. Sie hat eine Zahnspange bekommen. »Zähne im Gefängnis«, meinte sie, bevor irgendjemand den Mund aufkriegte, um zu sagen: »Iiiih! Eisendraht auf den Zähnen.«
Und einige sind ein bisschen gewachsen.
Aber ich bin am meisten gewachsen.
Jedes Jahr bin ich es, die am meisten gewachsen ist, aber Jon, Siv-Margrete und Turid waren fast genauso groß wie ich. Vorher. Jetzt nicht mehr. Jetzt kann ich weit über alle Köpfe gucken. Das merkte ich, als wir vor der ersten Stunde auf dem Flur vor dem Klassenzimmer standen.
»Oh, Scheiße, wie lang du wirst«, sagte Synne. »Kannst bald als Fahnenstange anfangen.«
O ja, Synne hat sich auch nicht verändert.
Ich brauchte einen neuen Schultisch, ganz klar. Meine Beine sind so lang geworden, dass der alte mir auf dem Schoß lag und schaukelte. Jon bekam Kjerstis Platz, die im Frühling abgegangen war, genau vor mir, in der Fensterreihe. Und die ganze Zeit drehte er sich um, um mir den Radiergummi zu klauen, einen Bleistift zu leihen, zu gucken, was ich gemalt hatte, oder einfach, um sich umzudrehen. Ich schlug ihm auf die Finger und stieß ihn in den Rücken.
Wir sprachen über die Ferien. Das machen wir immer am ersten Schultag. Dann erzählte unsere Lehrerin uns, dass Frau Vage, die wir bisher im Turnen hatten, in den Ferien ein Baby bekommen hat, ein Mädchen.
»Toll!«, riefen wir Mädchen und schwenkten zwei Finger in der Luft.
»Uuuuuu!«, riefen alle Jungen, ausgenommen Morten, der wie üblich mindestens vier rostige Nägel im Mund hatte und gar nichts sagen konnte.
»Haben wir dann dieses Jahr gar kein Turnen?«, fragte Inger-Karin voller Hoffnung. Denn zu den Turnstunden hat Inger-Karin fast immer ihr Turnzeug vergessen oder sie hat Kopfschmerzen, sodass sie ruhig auf der Bank sitzen muss.
»O doch«, sagte unsere Lehrerin. »Ihr bekommt einen anderen Lehrer, wie ihr euch denken könnt. Geir Böler heißt er.«
»Oh«, flüsterte Inger-Karin. »Ach so.«
»Toll«, sagte der Rolf. »Es ist viel toller mit einem Sportlehrer als mit einer Sportlehrerin.«
»Ist es nicht«, sagten Turid und Siv-Margrete.
Anschließend, als die Lehrerin unseren Stundenplan an die Tafel schrieb, ließ der Rolf einen Zettel durch die Klasse kreisen, auf dem stand: FRAU VAGE HAT ES DREIMAL GEMACHT! Typisch Rolf, der muss immer gleich schweinisch denken, aber alle wussten jedenfalls, was er meinte, denn Frau Vage hatte bereits zwei Kinder. Alle wussten es, ausgenommen Inger-Karin.
»Was gemacht?«, fragte sie und dadurch entdeckte unsere Lehrerin den Zettel, wurde ganz dunkel im Gesicht und rot am Hals und sagte, wir sollten aufhören, uns so kindisch zu benehmen, wo wir jetzt in die fünfte Klasse gingen. Darin war ich ihrer Meinung.
Oft fahren Heidi und ich zusammen mit Jon und Jörn von der Schule nach Hause. Und mit dem Rolf, wenn er zusammen mit Jon und Jörn ist. Zuerst fahren wir dann an dem Bonbongeschäft von Frau Nilsen vorbei. Vater meint, es sollte gesetzlich verboten werden, Bonbongeschäfte neben Schulen zu eröffnen. Da bin ich anderer Meinung. Aber ich könnte mir gut vorstellen, dass jemand wie Frau Nilsen gesetzlich verboten werden sollte. Das Marzipanwürstchen, wie wir sie auch nennen. Frau Nilsen kann nämlich keine Kinder leiden. Sie ist der Meinung, alle Kinder seien Diebe, die blitzschnell Süßigkeiten klauen, sobald sie ihnen nur den Rücken zudreht, also tut sie das nie. Sie wacht über uns wie ein Habicht, und wenn sie mal lächelt, was selten genug vorkommt, dann mit zusammengekniffenen Lippen, das Gesicht in vier Doppelkinne zusammengepresst. Als hätte sie Angst, dass wir ihre Visage auch noch klauen würden, wenn sie sie zu weit vorstreckte. Die einzigen Kinder, die Frau Nilsen gefallen, sind süße kleine Mädchen. So ein süßes kleines Mädchen bin ich ganz sicher nie gewesen. Mit Heidi war das etwas anderes. Als Heidi und ich in die zweite Klasse gingen und leere Flaschen sammelten, um danach bei ihr hineinzulatschen und alles zu vernaschen, da pflegte Frau Nilsen zu schnaufen: »Ach ja!« und »Ach, wie süß!« Womit sie ganz sicher nicht mich meinte. O nein, das war allein Heidi, die gemeint war.
»Haben Sie schon mal solche Grübchen gesehen! Und so feines Engelshaar!« Frau Nilsen setzte Heidi auf den Tresen, tätschelte sie und tändelte mit ihr, wobei sie sie mit Schokoladenstückchen fütterte. Und wenn andere Damen anwesend waren, jedenfalls solche mit massenhaft Lippenstift und Parfüm, dann nickten und lächelten die auch und schrien: »Mein Gott, was für ein hübsches Kind!«
Alle waren mit Heidi beschäftigt.
Mich bemerkte keine.
Nicht gerade sehr spaßig, wie ihr euch denken könnt.
Aber als eines Tages Frau Nilsen wieder mal herumtätschelte, hackte plötzlich das schöne Kind seine Zähne in einen ihrer dicken Finger, dass Frau Nilsen aufschrie: »Das Kind hat mich gebissen! Das Kind hat mich in den Finger gebissen!«
»Äntschuldigung«, sagte Heidi. »Aber ich dachte, der Finger wäre ein Marzipanwürstchen.«
Die Lippenstift- und Parfümdamen lachten und Frau Nilsen lächelte mit zusammengekniffenen Lippen und bösen Augen. Zwei Jungen aus der siebten Klasse hatten alles mitbekommen und erzählten es den anderen. Am nächsten Tag wusste es die ganze Schule. Alle steckten den Kopf zur Ladentür rein und riefen: »Marzipanwürstchen!«
Der Rolf meint, wenn das Marzipanwürstchen schon erwartet, dass wir frech sind, dann könnten wir es genauso gut sein. Seine Bonboneinkäufe enden immer damit, dass er aus der Glastür stürmt, während Frau Nilsen hinter ihm herschimpft: »Lümmel! Welch bodenlose Frechheit! Aber ich weiß, wer du bist! Ich werde es deinem Vater sagen . . .!«
Aber das tut sie nie. Der arme Rolf, wenn sie es wirklich täte. Denn sein Vater wird ohne jeden Grund sauer, erzählt der Rolf, und dann verprügelt er ihn. Obwohl es verboten ist, Kinder zu prügeln. Der Rolf sagt, dass ihm das egal ist.
Der Rolf sagt viele merkwürdige Sachen. Er sagt, dass die Betrunkenen im Einkaufszentrum eigentlich Spione seien, die den Geschäftsführer von Olufsens Supermarkt beobachten, und dass der Geschäftsführer ein gesuchter Terrorist sei, der zehn Menschen auf dem Gewissen habe. Mutter sagt, die Preise bei Olufsen seien kriminell. Aber ich glaube nicht, dass deshalb jemand gestorben ist.
Wir radeln gewöhnlich über den Platz vor dem Einkaufszentrum. Dann fahren wir auf die Brücke, die über die Autobahn führt. Dort halten wir an und spucken auf die Autos unter uns. Der Rolf schafft immer die dicksten Klumpen. »Yeah!«, schreit er, reißt beide Arme über den Kopf und spreizt zwei Finger. »Das Spuckphantom hat wieder zugeschlagen!«
Dann fahren wir einen Hügel hoch und auf halber Höhe teilt sich der Weg. Jörn und Jon verschwinden nach rechts. Der Rolf verschwindet auch, weil er nicht mit uns Mädchen allein sein will. Er hat nicht einmal genug Mut, mit ein paar Pipimädchen zusammen zu sein, wie Jörn sagt. Er tritt wie wahnsinnig in die Pedalen, den restlichen Hügel hoch und um die Kurve, wo er wohnt.
Heidi und ich schieben unsere Räder das letzte Stück.
Manchmal gehe ich mit Heidi nach Hause. Andere Male kommt Heidi mit zu mir. Aber einen Tag in der Woche soll Heidi zu ihrem Vater, und dann steht ihre Mutter schon da, tritt von einem Bein aufs andere und drängelt, dass Heidi sich beeilen muss. Dann gehe ich schräg über die Straße zu mir nach Hause. Mit dem Fahrrad brauchen wir nur ein paar Minuten bis in die Schule. Wieder nach Hause zu fahren dauert viel länger. Der Rekord waren vier Stunden, aber das kam nur, weil der Rolf behauptete, er wüsste, wer das Postamt ausgeraubt hatte, da mussten wir spionieren, und natürlich hatte der Rolf Unrecht, aber das konnten wir ja nicht wissen. Deshalb war es eigentlich nicht in Ordnung, dass die Eltern sauer waren, als ich heimkam, weil sie Angst gehabt hatten.
Aber heute fuhren wir schnell nach Hause, denn es goss in Strömen. Also hatte Vater Recht behalten.
Unser Haus ist voller Geräusche. Besonders bei Wind. Oder bei Regen. Es heult und seufzt, als ob jemand in den Wänden säße und weinte. Das Gespenst der Großmutter, denke ich. Es ist das Großmuttergespenst, das weint. Denn sie war bestimmt sehr unglücklich. Ich höre gern zu, wenn Mutter erzählt, wie unglücklich Großmutter war, auch wenn es sehr traurig ist.
»Ach ja, mein Vater, dein Großvater, der hat sich einfach aus dem Staub gemacht. Auf seine Entdeckungsreisen! Ließ Mutter mit drei Kindern und einem wackligen Krähenschloss zurück, in dem der Regen durch das Dach tropfte. Und dann kam er Monate später mit Schildkrötenpanzern, Speeren, Masken und merkwürdigem Schmuck zurück, den Mutter nicht brauchen konnte.«
»Die Arme.«
»Sie hatte es nicht leicht, deine Großmutter. Doch sie machte ihm niemals Vorwürfe. Sie beklagte sich nie. Und war er zu Hause, dann war alles voller Farben, Feste, Musik und Lachen. Aber immer fuhr er wieder fort. Und ihr Lachen ging in Weinen über, wenn Mutter dachte, wir Kinder würden schlafen.«
»Denkst du, das ist ihr Gespenst, dieses Weinen im Haus?«
»Es gibt keine Gespenster, das weißt du doch.«
»Du hast selbst gesagt, es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als wir ahnen und glauben!«
»Nun ja, jedenfalls war Mutter sehr unglücklich. Denn sie vermisste Vater. Sie musste mit allem allein zurechtkommen, tagein, tagaus. Und du darfst nicht glauben, dass es für uns Kinder so einfach gewesen wäre. Mit einem Vater, der immer fort, und einer Mutter, die immer traurig war. Und wie die Leute redeten!«
»Ihr Armen. Warst du wütend auf ihn?«
»Ach ja, ganz tief drinnen war ich es wohl. Aber ich mochte ihn auch furchtbar gern. Denn er war ja so lieb. Nur dass er eben nicht erwachsen werden wollte, dein Großvater. Hatte nicht für fünf Pfennig Verantwortungsgefühl. Mutter hätte ihn verlassen und sich einen anderen suchen sollen.«
»Warum hat sie es nicht getan?«
»Ach, weißt du, das war die große Liebe zwischen deiner Großmutter und deinem Großvater. Und die große, große Liebe hört nicht auf die Vernunft.«
»Warum hört die große, große Liebe nicht auf die Vernunft?«
»Weil . . . das verstehst du erst, wenn du größer bist.«
Das ist typisch. Wenn die Erwachsenen nicht wissen, was sie antworten sollen, sagen sie: »Das verstehst du, wenn du größer bist.« Ich bezweifle ja, dass sie selbst verstehen, was sie nicht erklären können.
Ich kann mich an meine Großmutter nicht mehr erinnern. Aber an meinen Großvater. Er brachte Fredrik und mir immer spannende Geschenke mit. Als ich vier Jahre alt war, bekam ich eine Maske von ihm. Eine Teufelsmaske, die einem Zauberer auf Java gehört hatte, die war ganz fürchterlich unheimlich. Ich schrie wie am Spieß, als er damit ankam.
»Das ist wohl kein passendes Spielzeug für ein Kind, Schwiegervater«, sagte Vater und wollte sie mir wegnehmen. Aber da schrie ich noch lauter. Seitdem hängt sie in meinem Zimmer an der Wand. Fredrik bekam eine Sammlung mit Schmetterlingen aus der ganzen Welt. Aber er lässt sie hinter einem Haufen Comics in einer Schublade in der Schwarzen Nacht verstauben. Wären das meine Schmetterlinge, dann hätte ich sie jeden Tag rausgeholt und angeschaut. Fredrik ist dumm. Großmutter sieht auf dem alten Hochzeitsbild, das bei uns in der Stube steht, richtig süß aus.
»Das war der größte Tag in ihrem Leben«, sagt Mutter und schüttelt den Kopf. »Und ihr Brautkleid hat sie immer aufbewahrt, als eine schöne Erinnerung. Damit darfst du nicht spielen, Nina, merk dir das.«
»Vielleicht kann Nina es bei ihrer Hochzeit tragen«, sagt Vater.
»Ich werde nicht heiraten«, erwiderte ich schnell.
Die Erinnerung an den größten Tag in Großmutters Leben hängt zwischen alten Kleidern, Mänteln und Hüten oben auf dem Boden. Es hängt unter unzähligen Plastikhüllen. Und ich spiele auch nicht damit. Ich schaue es nur an.