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Ein Raum wie ein Gefängnis. Ein Verdacht, der das Fundament seines Lebens in Frage stellt. Eine Krankheit, welche die Erinnerungen an sein Leben auffrisst. Er muss einsehen, dass seine für unzerstörbar geglaubte Existenz in sich zusammenfällt. Er wählt den für ihn einzig möglichen Weg in eine befreite Zukunft: Er übernimmt Verantwortung. Er streift die Fesseln der Familie ab nur um sich in einer nicht enden wollenden Wartezeit in der Flughafenlounge mit seiner arroganten Selbstsicherheit konfrontiert zu sehen. Die unbeantwortbare Frage nach dem Ursprung des verlorenen Vertrauens erdrückt alle Gedanken. Es bleibt die Konsequenz seiner fatalen Tat.
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Seitenzahl: 141
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Prolog
Scheinheilig
Ignorant
Perfekt
Frei
Herzlich
Vorbereitet
Persönlich
Kurz
Verwirrt
Misstrauisch
Friedlich
Fliegend
MEINE MASSE klatscht auf den kalten Boden. Unter meinem Schädelknochen zerbricht die Nickelbrille. Nur das Ticket, das ich eben noch in meiner rechten Hand hielt, segelt geräuschlos, sich scheinbar ewig der Schwerkraft widersetzend, durch die eisige Luft.
Es war eingetreten, wovor ich mich ein Leben lang gefürchtet hatte. Und als ich es drohend vor mir sah, konnte ich es doch nicht verhindern. Oder wollte nicht. Nicht mehr. Noch einmal denke ich an diese Stunden, diese Unterredung: die erzwungene Erkenntnis. Worte, die mein Leben verändert haben. Ein freigelassener Gedanke ist stärker als jeder Wille, ihn zu bändigen. Ich habe versagt. Ich habe in meiner mir möglichen Vollkommenheit versagt. Dessen werde ich mir in diesem Moment bewusst, als meine 87 Kilo Masse meine Wange auf den kalten Boden drücken.
Die Stille ist unbeschreiblich. Die Schönheit des Augenblicks übermannt mich. Es blitzt. Ich staune in die Leere des vollen Raumes, der mich umgibt. Die Erhabenheit des Sterbens. So fühlt es sich an. So würde ich diesen ewigen Moment erleben. Die Unendlichkeit des Todes hatte mich umgarnt. Trotz all dieser Menschen ist die Stille erstarrt.
Ein letzter Kampf
Sollte ich noch kämpfen? Sollte ich noch einmal den widrigen Umständen trotzen? Müdigkeit macht sich breit – und überwältigende Erschöpfung. Noch einmal sehe ich in Gedanken unseren Weihnachtsbaum, meine beiden Söhne warten gespannt auf die Bescherung, die Kerzen spiegeln sich in der kurzen Klinge des japanischen Schwerts an der Wand, eines Erinnerungsstücks an unsere Hochzeitsreise. Vor dem Fenster trotzt der Kirschbaum unter den Schneemassen, erstarrt vor der Kälte. Ich bin glücklich. Ich war glücklich. Doch der Weihnachtsbaum verblasst, das umfassende Weiss erstickt den Kirschbaum, das Lachen meiner Söhne verhallt zu einem warmen Hauch. Meine Gedanken werden von Watte gedämpft und schliesslich erstickt. Ich fühle mich wohlig. Die Spitze meines Denkens flacht ab. Ich meine zu erkennen, wie meine Gedanken allmählich langsamer takten. Ich bin zu ausgelaugt zum Kämpfen. Widerstand? Dieses Mal nicht. Dieses eine letzte Mal will ich mich meinem Schicksal kampflos hingeben. Der Tod als meine Komfortzone.
So fühlt es sich also an. Ich spüre, wie mein Gesicht warm wird. Die Kälte des Bodens verflüchtigt sich in einem undefinierten Wohlsein. Ich fühle mich wie zu Hause, wie in einer wunderbar nach Lavendel-Badesalz duftenden lauwarmen Badewanne.
Ein grotesker Gedanke
Noch einmal öffne ich meine Augen. Noch ein letztes Mal blicke ich in die erschrockenen Gesichter. Eine Masse Frau, eingepfercht in einem der eigenen Eitelkeit zu verdankenden, zwei Nummern zu kleinen, lilafarbenen Zweiteiler, überflutet mein Gesichtsfeld, als sie sich über mich beugt. Ihre Masse schirmt mich vor den Blicken der Umstehenden ab. Sie, die mir dieses Schicksal wohl gewünscht haben, zumindest gewünscht hätten, wären sie in Kenntnis aller Einzelheiten meiner letzten Stunden gewesen. Ich kann es nicht erkennen. Alles wird, alles ist mir vollkommen egal; sogar dass die Dicke auf meiner Hand steht. Ich ignoriere es. Ob sie sich dessen bewusst ist? Ich kann nichts mehr erkennen. Keinen verdammten Schmerz fühlen. Nichts mehr denken. Nicht einmal fluchen. Ein fast abschliessender Gedanke: grotesk. Ich spüre die Wärme mein Gesicht umarmen. Ich sehe die Flüssigkeit meinen anthrazitfarbenen Anzug rot einfärben. Von oben werde ich überdeckt, rein und kalt.
Das Ticket setzt unmittelbar neben dem Zeigefinger meiner rechten Hand sanft auf. Einmal mehr hat die Schwerkraft obsiegt. Niemand widersetzt sich erfolgreich den ewigen Gesetzen. Einem Echo gleich, wiederholt sich die Landung des Tickets ein zweites Mal. Ich bin verwirrt, weshalb.
ICH HASSE es. Ich hasse dieses verdammt scheinheilige Klacken. Kaum hörbar und doch penetrant drückt die Tür die letzten Luftmoleküle zu viel aus dem Raum. Geschlossen. Endgültig, scheinbar – bis zur nächsten Ewigkeit. Das Türschloss schnappt ein. Es ist bereits das 47. Mal, dass es mich nervt. Und ich weiss, es würde nicht das letzte Mal sein. Nicht heute, nicht jetzt. Wunder gibt es keine.
Mein Flug ist verspätet. Verdammte Unfähigkeit der Fluggesellschaft, die sich offenbart. Mein Anzug lässt mich Haltung bewahren. Einem zweiten Rückgrat gleich, stützt mich der Gedanke an meine Krawatte. Nur meine Nerven sind nicht unter Kontrolle. Mein linker Fuss schlägt den hektischen Takt eines imaginären Marsches, meine Finger spielen auf einer eingebildeten Klaviatur.
Es ist Mittwoch. Ich bin zum Warten verdammt.
Für die Fähigkeiten der Fluggesellschaft habe ich nur Verachtung übrig. Mittelmass zum Vergessen.
Eine verdammte Verspätung
Ich hasse Verspätungen. Ich hasse den Verlust der Kontrolle über meinen Zeitplan. Mit jedem Jahr ertrage ich diese Fremdbestimmung weniger. Mit jeder verdammten Verspätung hasse ich es mehr. Das Warten. Das Ausgeliefertsein beklemmt mich. Ich sollte nicht so viel fluchen – auch nicht in Gedanken. Und ich hasse dieses erdrückende Gefühl. Ich hasse es, seit es mich das erste Mal übermannt hat, auch wenn ich mir dieses Moments kaum mehr bewusst bin. Nur noch wie ein leiser Schatten geistert dieses Gefühl durch meine schwindende Erinnerung. Das Konkrete fehlt, das Unbestimmte bleibt.
Die Realität ist das Flugticket, das in meiner linken Brusttasche steckt. Wie immer, seit ich das erste Mal geflogen bin. Ich trage mein Ticket in dieser Tasche. Es verleiht mir Gewissheit, Sicherheit, ja Unbekümmertheit gar. Habe ich mein Gepäck erst am Check-in aufgegeben, fühle ich mich von all meinen Alltagslasten befreit. Mit dem Eintritt in die Lounge spüre ich eine Erleichterung. Hut und Schirm, ihrer entledige ich mich an der Garderobe. Den Aktenkoffer stelle ich neben meine sauber polierten schwarzen Schuhe, nachdem ich meinen Platz gewählt habe. Ich bin ein befreiter Mensch, ich kann mich treiben lassen. Ohne Bedenken. Die beschränkte Ewigkeit des Wartens nach dem Check-in bedeutet für mich Freiheit. Das Wissen um die Endlichkeit dieser Ewigkeit, die mir das Nichtstun ermöglicht, hüllt mich in eine wohlige Gewissheit.
Gelebte Untätigkeit auf Zeit. Immer war das so, die Lounge, mein perfektes Glück auf Erden. Doch nun, da mein Leben in Trümmern liegt, scheint mir das Schicksal nicht einmal dieses letzte Erlebnis heiler Welt zu gönnen. Verdammte Verspätung.
Ein weiteres Detail
Ich sitze in der Lounge. Noch immer. Den Blick nach vorne gerichtet. Meine Finger tippen ungeniert weiter. Mein Flug, die unmittelbare Zukunft, das ist das Einzige, was zählt. Allein diese verstörende Vision unterbricht meinen Ärger – immer wieder dieselbe Vision. Die Nickelbrille. Das Blut. Das Ticket. Jedes Mal, wenn ich die Augen schliesse, erscheint mir diese Szene. Der Tod. Die Erhabenheit des Sterbens. Ist es mein Tod? Würde ich so sterben? Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich sie das erste Mal hatte, diese Vision. Sie war immer da. Zuerst nur Bruchstücke. Doch mit den Jahren füllten sie die Details. Und als ich sie eben hatte, war ich mir sicher, dass sie nicht konkreter werden könnte. Doch auch das war, so meine ich zu wissen, nicht das erste Mal. Nur dieses Mal war ich mir sicher: Meine Vision war vollendet. Was das bedeutet? Ich weiss es nicht. Aber wie ich gelernt habe, mit der sich entwickelnden Vision zu leben, so werde ich auch diese Tatsache zu akzeptieren wissen. Ich muss.
Ich denke an Jessica, wie ich ihr von meiner Vision erzählt habe. Ein ungläubiger Blick war ihre Antwort. Jessica hat mich nie verstanden. Zu keinem Zeitpunkt hat sie mich verstanden. Auch ich habe sie nie verstanden. Wir haben es akzeptiert, dachte ich zumindest. Und es war gut so. Es war die Basis unserer wunderbaren Liebe.
Vor mir auf dem Tisch liegt noch immer dieser gelbe Umschlag. Das Unbekannte reizt. Ich habe seinen Inhalt noch nicht geprüft. Ich frage mich, ob ich fürchte, zu finden, was ich nicht finden will, oder nicht zu finden, was ich finden will. Ich bin unschlüssig; weiss es nicht.
Ein bedeutsamer Abdruck
Ich sitze in einem schwarzen Ledersessel. Ein Meisterwerk modernen Designs: meine Meinung. Perfekt inszeniert, überzeugend in klassischen Linien geformt, bequem zum Sitzen. Meine Aktentasche steht zu meinen Füssen. Etwas scheint falsch, auch wenn ich es im Moment nicht benennen kann, ich weiss es. Zu meiner Linken stehen fünf weitere Sessel, zu meiner Rechten deren sechs. Jeweils drei zu einem Hufeisen angeordnet, nahe genug, um den Raum zu gliedern und ein Gespräch im Vertrauen zu ermöglichen, und dennoch in einem Abstand, der die Individualität jedes Einzelnen in keiner Weise beeinträchtigt. Alle Sessel sind gepflegt, als sei nie jemand in ihnen gesessen, bis auf den einen zu meiner Linken, auf dessen Sitzfläche zwei rundliche Abdrücke als Erinnerung einer Person zurückgeblieben sind. Die Dellen in der Sitzfläche stören mich so sehr, dass ich mich erhebe und sie glätte. Ich rücke den Sessel zurecht, bis die rechten Winkel zwischen den drei Sesseln eingehalten werden.
Die anderen Sessel sind unbenutzt.
Eine imposante Fensterfront
Die Wände schimmern in einem dezenten Dunkelorange, das Licht ist angenehm gedimmt. Mir gegenüber eröffnet eine grosse Fensterfront die Sicht auf das Rollfeld. Links und rechts präsentieren schmale Fenster das Geschehen in der Wartezone der Übrigen. In meinem Rücken schliessen die Bar und die Empfangstheke die Lounge ab, nur unterbrochen durch die Tür, die sich soeben öffnet, um mich sieben Sekunden später zum 48. Mal mit ihrem scheinheiligen Ton zu nerven.
Klack.
Ich hasse es.
«DARJEELING, NOVEMBER 1962» lese ich auf der Rückseite. Ich betrachte das Foto. Sein tadelloser Zustand fällt auf. Mit Sorgfalt musste es behütet worden sein. Die feinen Nuancen in Schwarz-Weiss lassen die farbige Wirklichkeit erahnen. Ein Baum steht blühend vor einer Gebirgskette. Er erinnert mich an den Kirschbaum in meinem Garten. Mein blühender Kirschbaum. Ich weiss nicht mehr, ob ich dieses Foto geschossen habe. Schwach erinnere ich mich an eine Bergregion. Vertraut und doch exotisch. So anders als meine geliebten Alpen.
Ich bin unfähig zu bestimmen, ob es eigene Reiseerfahrungen sind oder Erinnerungen an die Lektüre eines Reiseführers. War es ein Kirschbaum, konnte es sein? Auf dem Foto hätte es der Kirschbaum in meinem Garten sein können. Mein Kirschbaum in einer ungewohnten Umgebung, einer fremden und doch vertrauten Welt. Der Gedanke an Darjeeling ängstigt mich, die Fremde dieses Landes ist mir nicht geheuer. Die Bergwelt wirkt vertraut. Der Kirschbaum erinnert mich an mein Zuhause. Die Aussicht, noch einmal einen blühenden Kirschbaum zu sehen, zwingt mich zu dieser Reise. Noch einmal einen blühenden Kirschbaum zu erleben ist meine Sehnsucht. Doch welche Zeit bleibt mir?
Ich muss nach Darjeeling.
Ich denke an den Kirschbaum in meinem Garten. Ich erinnere mich an mein geliebtes Zuhause. Mein Leben war perfekt. Ich hatte die schönste Frau geheiratet. Kein anderes Haus in der Strasse war grosszügiger gebaut. Die Kinder waren wohlerzogen – ich war glücklich. Wahrscheinlich zu glücklich. Meine Zufriedenheit war zu vollkommen. Ich verkannte die Gefahren, meine Blindheit, den Selbstbetrug. Gut möglich, dass diese Unbedachtheit meinerseits überhaupt erst die Bedingung für mein Glück war. Conditio sine qua non. Auf jeden Fall war es notwendige Voraussetzung für dessen Ende. Ich sah das Unglück nicht kommen. Ich war blind. Das Ende traf mich unvorbereitet mit voller Wucht. Ich hatte nicht erkannt, wie mein Glück begonnen hatte zu verkommen. Von innen heraus verfaulte es, langsam, stetig und mit einer alles bestimmenden Grausamkeit.
Eine verkörperte Ruhe
Das Glück degenerierte: nur noch Schein, kein Inhalt. Leere, wo Leben sein sollte. Mein Familienleben war ein grosser Betrug. Viel ist mir nicht geblieben. Das Wissen um mein Scheitern ist gewiss. Jede Stunde erinnere ich mich daran. Ich soll nicht vergessen. Ich darf nicht.
Jetzt zählt einzig die Wahrhaftigkeit des Drinks in meiner Hand. «Ha.» Ein kleiner Lachlaut entwischt meinem Mund ob dieser Formulierung. Ich begutachte den Farbverlauf von Grenadinesirup zu Orangensaft, nur gestört durch das 49. Klacken. Wie jedes Mal zuvor drehe ich mich nervös zur Tür. Ich prüfe, wer durch die Tür tritt. Und erst als ich die Person erkenne – respektive erkenne, dass ich sie nicht erkenne –, werde ich wieder ruhiger. Auch wenn es mir undenkbar erscheint: Ich werde die Angst nicht los, eine Unachtsamkeit zugelassen zu haben. Konnte mir ein Fehler unterlaufen sein?
Ich bin nervös, verdammt nervös. Ich, den all meine Freunde, meine Arbeitskollegen stets die verkörperte stoische Ruhe nannten, bin nervös. Das befeuert meine Nervosität zusätzlich. Beunruhigend wirkt vor allem mein Vergessen. Die Erinnerungslücken sind es, die mich verunsichern. Ist das, was ich weiss, das Wesentliche oder habe ich Entscheidendes bereits vergessen? Wie lässt sich die Vollständigkeit der Erinnerung gegenüber dem Vergessen bestimmen?
Eine überschaubare Sackgasse
Meine linke Hand spielt noch immer im Takt meines linken Fusses verrückt. Ruhig würde ich erst wieder sein, wenn der Flieger mit mir in diesem wunderbar bequemen Sitz in die Luft entschwunden sein würde. Erleichterung spüre ich jedoch schon, als ich sehe, wer durch die Tür tritt: ein Unbekannter.
Wer sonst? Sollte die liebe Nachbarin etwas bemerkt haben? Ich habe sie heute genauso oberflächlich nett gegrüsst wie jeden Morgen zuvor, und im Gegensatz zu all den vergangenen Jahren habe ich mich innerlich nicht einmal über ihr zufälliges Am-Fenster-Stehen genervt, wo sie immer steht, wenn die kleinste Aktivität unsere Strasse belebt. Eine Sackgasse. Ruhe für die Lebenden. Langeweile für die Sterbenden. Was sollte sie vermuten? Aus reiner Langeweile würde sie wohl kaum jemanden rufen? Und trotzdem – ich bin froh, einen Unbekannten zu sehen. Gleichzeitig muss ich mir eingestehen, dass ich mir wenige Momente vorstellen kann, in denen ich mich über eine derartige Person freue: Der junge Mann, der soeben die Lounge betritt, strahlt dieses unbremsbare Besserwissertum aus, das Jungakademiker verströmen, solange die Tinte auf ihrer Doktorarbeit noch nicht trocken ist: Allwissenheit meinend, von Unerfahrenheit getrieben.
Ein mitleidiges Lachen
Ich blicke in den Abendhimmel hinaus. Das blutige Rot senkt sich, allmählich den ganzen Himmel einfärbend. Ein Schluck Tequila Sunrise netzt meinen trockenen Mund. Das Schlucken fällt mir schwer. Ich bemühe mich, den Moment zu geniessen, die Ruhe, die Vorfreude, und verdränge den Gedanken an die verdammte Verspätung. Noch einmal drängt eine Erinnerung an unsere liebe Nachbarin, deren Name ich noch immer nicht kenne, ins Bewusstsein. Ihr lächelnder Mund war jeweils nur die tiefste der unzähligen Furchen in ihrem Gesicht. Eine für jedes Lebensjahr. Und das erste Mal habe ich das Gefühl, dass ihr Lachen, das ich stets als zynisch abschätzig interpretiert hatte, eher mitleidig gemeint war. Jedenfalls heute Morgen. Aber Erinnerungen werden mehr von den Erwartungen aus der Gegenwart geprägt als dem Geschehenen. Dabei spielt es keine Rolle, was unsere liebe Nachbarin dachte. Was sie weiss. Eigentlich hätte sie etwas wissen müssen. Schliesslich konnte in der Strasse nichts geschehen, ohne dass sie es von ihrem Fenster aus beobachtet hätte. Es war eine Sackgasse.
Eine ermüdende Ewigkeit
Egal. Mein Haus in der Sackgasse, die liebe Nachbarin – das alles war, das ist Vergangenheit, unbedeutend. Ich freue mich auf den bevorstehenden Flug. Es würde das erste Mal sein, dass ich mit diesem neuen Wunderwerk der Technik fliegen würde. Dieser doppelstöckige Riesenvogel fasziniert mich, seit ich das erste Mal von ihm gelesen habe. Und obschon ich ein Vielflieger bin, würde ich erst am heutigen Abend das erste Mal mit ihm fliegen, entschweben in eine neue Welt: in den Luxus über den Wolken.
Mein Zuhause war luxuriös. Alles war verfügbar. Nichts fehlte. Auch nicht gestern Abend. In Bruchstücken erscheint mir die gestrige Diskussion, meine Standhaftigkeit. Eine Stunde lang leugnete meine Frau die Tatsachen, eine ermüdend lange Ewigkeit wollte sie sich vor der Verantwortung der Wirklichkeit drücken. Doch ich blieb stark. Kein Einbrechen. Die Wahrheit siegt. Sie siegt immer. Das macht mich der Rest meiner Erinnerung glauben. Immerhin, denke ich. Doch wie weiss ich, dass ich noch das Wesentliche weiss, wenn ich weiss, dass ich nicht mehr alles weiss?
Ein absonderliches Verhalten
Der Verlust meiner Erinnerung hat nach einer Methode verlangt, um die wichtigen Informationen zu bewahren. Niemand sollte meine Unfähigkeit bemerken. Wichtiges Wissen muss ich alle Stunde geistig repetieren, um es in meiner Erinnerung zu aktualisieren. Zuweilen verirrt sich mein Verhalten in bizarren Wiederholungen, etwa wenn ich morgens meine Haustür zuschliesse, mich auf den Weg mache, nur um nach fünf Schritten zurückzukehren und nochmals zu kontrollieren, ob die Tür verschlossen ist, weil ich vergessen habe, mich daran zu erinnern. Dies konnte ich problemlos zwei, drei Mal wiederholen, denke ich, vielleicht auch mehr. Wie sollte ich dies wissen? Ich wusste ja nur, dass ich umzukehren hatte, weil ich mich nicht daran erinnern konnte, ob ich abgeschlossen hatte, doch genauso wie ich vergessen haben konnte, ob ich abgeschlossen hatte, konnte ich auch vergessen haben, dass ich bereits einmal, zweimal oder dreimal umgekehrt war. Und lege ich mich schlafen, notiere ich mir, was ich beim Aufwachen noch wissen muss.
So raffiniert meine Methoden sind, so schmerzlich war für mich die Erkenntnis, dass ich lernen musste, mit den Lücken zu leben. Ich habe es geschafft. Ich erlebe die Leere dieser Lücken nicht mehr als beängstigend. Zumindest normalerweise. Ich erlebe sie als befreiend. Was ich nicht weiss, belastet mich nicht. Und die Wahrhaftigkeit der Erinnerungsmomente ist umfassend, so dass ich sie nicht weiter hinterfrage.