Ungesühnt - Dominique Sylvain - E-Book

Ungesühnt E-Book

Dominique Sylvain

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Beschreibung

Dank ihres psychisch kranken Bruders und eines Vaters, der sein Leben lang die Wohnung der Familie mit Fotos von Mordschauplätzen tapeziert hat, kennt Kriminalkommissarin Franka Kehlmann sich mit den finsteren Seiten des Lebens bestens aus. Auch wenn sie immer wieder versucht, ihrem Leben Normalität zu verleihen, kann sie sich von ihren dunklen Wurzeln nicht lösen. Doch dieses Mal, als in einem Keller die Leiche einer bestialisch gefolterten Frau gefunden wird und die Polizei im Dunkeln tappt, ist es ausgerechnet ihr Bruder Joey, der ihr den entscheidenen Hinweis gibt - doch da ist es fast zu spät ...

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Übersetzung aus dem Französischen von Monika

Buchgeister

ISBN 978-3-492-97382-3

April 2016

© Éditions Viviane Hamy 2015

Titel der französischen Originalausgabe:

»L’archange du chaos«, Éditions Viviane Hamy, Paris 2015

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: MundusImages/Getty Images (Stadt)

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Bestraft euch selbst, damit nicht Gottes erhabene

Gerechtigkeit eure Fehler bestraft.

Pierre de Ronsard

1 Toxine

Freitag, 15. März

»Ein verletztes Kind … und ein Jugendlicher … unter Schock«, tönte es, von Rauschen untermalt, aus dem Funkgerät.

»Alles klar«, antwortete Victoire. »Wir sind in spätestens fünf Minuten da.«

Sie lächelte Laetitia an, die hinter ihr saß. Olivier schaltete das Blaulicht ein, schlängelte sich rasant zwischen den Autos hindurch, passierte die rote Ampel und überquerte die Seine. Die hohen Fassaden des Louvre. Die schattigen Ecken der Tuilerien, Paris ungerührt in seiner Schönheit, gleichgültig gegenüber den Leiden seiner Bewohner. Olivier drückte aufs Gaspedal, ließ die Opéra hinter sich, querte den Boulevard Haussmann und fuhr die Rue de Mogador hinauf.

Direkt vor ihm lag jetzt die Rue de Clichy.

»Da kommt der Notarzt! Macht ihm Platz!«

Das Bein des Jungen war in einem üblen Winkel abgeknickt, sein Gesicht geschwollen. Er schluchzte und rief nach seiner Mutter.

»Wie heißt du?«

»Samy! Ich will nicht sterben!«

»Beruhige dich, Samy. Deine Mama kommt gleich. Sag mir, wo es dir wehtut.«

»Am Kopf und überall. Wo ist mein Bruder?«

Ein Feuerwehrmann erklärte, dass der Jugendliche einen Schock erlitten habe, aber bei Bewusstsein sei. Er hatte den Motorroller gelenkt, als sie vom Auto erfasst wurden.

»Trugen die beiden Helme?«

»Ja, Frau Doktor, zum Glück.«

»Wie alt bist du, Samy?«

»Acht.«

»Alles wird gut, versprochen.« Sie tastete ihn ab. »Offener Bruch mit Verschiebung der Knochenfragmente. Wir müssen ihn sofort betäuben, um den Oberschenkelhals wieder in die richtige Position bringen zu können.«

Samy begann laut zu heulen. Victoire versuchte, ihn zu beruhigen, während Laetitia die Spritze vorbereitete.

Fast dreiundzwanzig Uhr, der Friede der Tapferen.

Laetitia, das neue Mitglied ihrer Abteilung, saß in den Umkleideräumen auf einer Bank und blickte starr auf ihren Spind. Gerade einmal zweiundzwanzig Jahre alt, und die Welt stöhnt und blutet unter ihren Händen.

»Bist du schon länger Notärztin, Victoire?«

»Seit zehn Jahren. Die Zeit vergeht wie im Flug.«

»Jeder Tag ist eine neue Herausforderung. Und jede Nacht auch. Außerdem ist man eine Art Familie, nicht wahr?«

»Genau so ist es. Du hast verstanden, wie es läuft, Laetitia.«

Feiner Sprühregen, kaum spürbarer Wind. Es tat gut, endlich nicht mehr laufen und reden zu müssen. Den Regen die Haut benetzen zu lassen.

Victoire setzte sich ans Steuer ihres Citroën und fuhr los.

… In ganz Japan wurden heute Tausende Gedenkfeiern abgehalten. In Fukushima bleibt die Bilanz weiterhin beklemmend. Noch immer sind mehr als dreitausend Arbeiter tagtäglich an der Unglücksstelle beschäftigt, aber es wird vierzig Jahre dauern, bis man die beschädigten Reaktoren aus ihrer Ummantelung befreien kann. Jeden Tag fließen dreihundert Tonnen kontaminiertes Wasser in den Ozean …

Sie suchte den Klassiksender im Radio.

Das Auto fand den Weg in ihr Viertel beinahe von selbst. Sie malte sich bereits die Wohltat eines warmen Bades aus.

Die Auffahrt zum Parkdeck, der Wachmann im Dämmerzustand vor seinen Bildschirmen. Morgen endlich Ferien. Eine ganze Woche, um in den Bergen zu wandern und abzuschalten.

Sie parkte wie gewöhnlich zwischen dem dicken Mercedes und dem winzigen Smart, fischte die Elektroschockpistole aus dem Handschuhfach, die sie sich nach dem Vorfall mit dem Verrückten zugelegt hatte. Seine Stimme und seine glasklare Artikulation hatten ihr damals das Blut in den Adern gefrieren lassen. Zwei seltsame Sätze, ein unheimliches Gedicht.

Auf dem verlassenen Parkdeck sang France Gall ein Lied von Gainsbourg und verbreitete die gute Laune der Sechzigerjahre.

Ich bin ein Haifischbaby/Mit weißem Bauch und perlmuttschimmernden Zähnen …

Hinter ihr eine Bewegung. Victoires Finger krallten sich um ihren Taser.

Ich fress dich auf mit Haut und Haar/Weil ich ein Haifischbaby bin.

Kaltes Metall. Ein brennender Schmerz im Nacken. Schwarze Untiefen.

Sie kam zu sich, um sie herum roch es nach Salpeter und schmutziger Erde.

Dunkelheit. Hämmernde Kopfschmerzen. Toxine benebelten ihren Verstand. Sie lag auf der Seite, Arme und Beine gefesselt, ihre Haare kitzelten sie. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie wähnte sich in einem Sarg. Lebendig begraben.

In ihrem tiefsten Inneren suchte sie nach einem Anker, um nicht zu verlieren, was ihr noch geblieben war. Das Wissen, Victoire zu sein. Victoire Pélissier.

Sie wachte wieder auf. Wie viel Zeit war vergangen? Sie hatte geträumt. Von einem Weg, um hier herauszugelangen? Nur eines stand fest: Man hatte sie nicht begraben, sonst wäre sie bereits tot.

Es herrschte eine dichte Stille, die Luft war feucht. Ein Keller? Also müssten sich darüber Wohnungen befinden. Und Bewohner.

Sie schrie, bis sie vor Erschöpfung nicht mehr konnte.

Schritte. Ein Luftzug.

»Was wollen Sie von mir?«

Sie spürte einen Atemhauch.

»Antworten Sie mir doch, ich flehe Sie an!«

Jemand wühlte in einer Nagelkiste oder einem Werkzeugkasten. Sie bedauerte, geschrien zu haben.

»Sprechen Sie mit mir. Ich kann Sie verstehen. Sie verwechseln mich sicher mit jemandem, der Ihnen übel mitgespielt hat, nicht wahr?«

Sie hörte, wie er näher kam. Spürte seinen Atem nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht. Der üble Geruch von Desinfektionsmitteln. Nein, es war Kampfer.

»Ich bin Ärztin, ich kann alles verstehen. Sprechen Sie.«

Keine Antwort, stattdessen das Wühlen in der Metallkiste.

Sie dachte an den kleinen Samy. An die Überlebenden, an die Auferstandenen. An ihre Freunde, die Leben retteten. Olivier, hol mich hier heraus. Ich flehe dich an … rette mich …

Der Lichtstrahl einer Taschenlampe stach ihr ins Auge.

»Ich kann Ihnen helfen. Ich sage es noch ein Mal, ich bin Ärztin.«

»Du redest zu viel. Deine Stimme ist zu nichts mehr nutze.«

In der Dunkelheit konnte sie zwei Hände ausmachen, die Handschuhe trugen. Die eine Hand hielt eine Spritze, die andere ein Skalpell.

»Hören Sie auf, ich werde nichts mehr sagen!«

»Natürlich. Ohne Zunge kann niemand mehr reden.«

Victoire schrie, bis das in ihre Vene gespritzte Mittel ihren Körper mit einer unwirklichen Ruhe erfüllte.

2 Das Team

Langsam tauchte er nach oben. Als er endlich zu sich kam, lag Garance immer noch an seinen Rücken gekuschelt neben ihm, während das Telefon ungeduldig klingelte. Der Wecker zeigte 5:10 Uhr.

»Bist du’s, Carat?«

Er erkannte die Stimme der Polizeidirektorin.

»Ja, Chefin.«

»Ein Mord bei La Motte-Piquet Grenelle.«

Christine Santini umriss die Situation in knappen Worten. Gegen drei Uhr morgens war ein anonymer Anruf im Kommissariat des 15. Arrondissements eingegangen. In höchstem Maße aufgelöst, hatte eine Jugendliche einen Mord im Untergeschoss eines im Bau befindlichen Hauses in der Rue du Laos gemeldet. Das Opfer war gefoltert worden. Der Erkennungsdienst war bereits vor Ort.

»Haben die Kollegen des 15. Arrondissements den Wachmann befragt?«

»Einen Wachmann gibt es nicht, da ein Baustopp verhängt wurde. Gegen Victor Frey, den Bauunternehmer, läuft ein Verfahren.«

»Hat man ihn bereits kontaktiert?«

»Ja, aber er ist seit zwei Tagen in Marseille.«

»Weswegen?«

»Wegen eines Sanierungsprojektes, das er mit der dortigen Stadtverwaltung aushandelt. Was wir noch überprüfen müssen.«

»Klar.«

»Seine Mitarbeiterin erwartet Sie.«

Er legte auf und spürte Garance’ Hände auf den Schultern.

»Musst du los, Bastien?«

»Ja, schlaf weiter.«

»Ich mach dir rasch einen Kaffee.«

Trotz seines Protestes stand sie auf und übernahm es, das Taxi zu rufen, während er Bergerin kontaktierte und ihm auftrug, Kehlmann und Garut zu informieren.

Marc Bergerin lag dicht neben dem warmen Körper seiner Frau und strich liebevoll über ihren Bauch. Dieser Anruf kam ihm überhaupt nicht gelegen. In sechs Wochen war der errechnete Geburtstermin. Da mochte er sich noch so sehr damit beruhigen, dass es normal war, sich beim ersten Kind zu ängstigen, Alexandras Aufregung übertrug sich einfach auch auf ihn.

Ein gefoltertes Opfer in einem Keller. Vermutlich eine ziemlich üble Sache, sonst würden die Kollegen aus dem 15. Arrondissement den Fall nicht an sie abgeben. Er rief Franka Kehlmann an und unterrichtete sie vom Einsatz des Teams Carat. Im Hintergrund war ein Typ zu hören, der herumgrölte.

»Was ist denn das für ein Radau?«

»Das Radio.«

Entweder hörte seine Kollegin reichlich seltsame Frequenzen, oder sie machte ihm etwas vor.

»Warst du etwa um diese Zeit schon auf?«

»Mein Bruder hat mich geweckt. Und dann konnte ich einfach nicht mehr einschlafen.«

Kehlmann junior war ein seltsamer Kauz. Er war ihm ein Mal im Präsidium am Quai des Orfèvres über den Weg gelaufen, als er dort von seiner älteren Schwester Geld pumpen wollte. Er teilte sich eine Wohnung mit ihr und arbeitete als Pizzalieferant, hielt sich jedoch für einen Künstler.

Bergerin rief Polizeihauptmeister Hervé Garut an.

»Der Herr wird seine Flügel ausbreiten und sich in den weiten Himmel stürzen. Er wird eure Leiber mit Drohnen niedermähen! Niemand wird ihm entkommen! Es wird eine Jagd ohne …«

»Jetzt halt endlich deine verdammte Schnauze, du Blödmann!«

»Ich sage es dir, eine Jagd, Herr Polizist! Und auch du wirst ihm dabei nicht entkommen. Gott hat Augen im Rücken. Und auch oben auf dem Schädel!«

Franka Kehlmann sah sich die Szene bereits eine Weile an, dem wachhabenden Polizist gelang es nicht recht, dem bärtigen Schreihals Einhalt zu gebieten. Ein Vorteil war, dass der Prophet ihren Bruder mittlerweile aufgeweckt hatte und dieser nun bemerkte, dass die Ausnüchterungszelle nach Erbrochenem und Urin stank.

»Los, Joey, wir gehen.«

»Es tut mir leid, Franka.«

»Ich habe andere Dinge zu tun, als dich in den Zellen der Polizeiwachen einzusammeln. Das ist das letzte Mal.«

»Ich habe mit einem Typ zusammen interessante Fotos gemacht, wir waren am Grab von Eugéne Delacroix. Der sah wie ein Engel aus und muss einen IQ von hundertachtzig gehabt haben.«

»Und warum sollte mich das interessieren?«

»Aber er liebte den Wodka zu sehr. Um ihm näherzukommen, musste ich auch trinken, verstehst du?«

»Komm nicht auf die Idee, noch einmal so viel zu trinken, dass du nicht mehr weißt, wo oben und unten ist. Sei es nun auf einem Friedhof oder sonst wo. Ist das klar?«

»Glasklar, Franka. Ich liebe dich auch.«

»Medikamente und Alkohol sind keine glückliche Kombination.«

»Ich hab alles im Griff, glaub mir. Jedenfalls hat mein Psychiater die Dosis verringert.« Er setzte sein übliches Grinsen auf. »Was hast du denn für einen neuen Fall?«

Sie musterte ihn schweigend.

»Du sagst mir doch sonst alles, Schwesterchen.«

»Das war nicht eine meiner besten Ideen. Außerdem wartet mein Chef.«

»Lass mich mit dir gehen.«

»Du träumst wohl.«

»Ja, das ist mein Traum. Und Träume sollen schließlich wahr werden. Ich will die Kripo bei der Arbeit fotografieren. Die Zeitschriften werden sich darum schlagen, mir eine solche Reportage abzukaufen.«

Er wedelte mit seiner Leica herum, die ihm zum Glück niemand gestohlen hatte, während er delirierend auf den Wegen des Père-Lachaise-Friedhofes herumgestolpert war.

»Sprich mit deinem Vorgesetzten darüber. Überzeug ihn davon.«

»Mein Chef lässt sich nicht in seine Arbeit reinreden.«

Als Franka die Wache des 20. Arrondissements verließ, fiel ein kalter, dichter Regen. Joeys Verhalten ließ weiterhin sehr zu wünschen übrig. Er trieb sich in den sozialen Netzwerken herum, kommunizierte am Bildschirm mit Unbekannten auf der ganzen Welt, aber er brachte keinen einzigen Freund mit nach Hause. Die wenigen Individuen, mit denen er Umgang pflegte, waren Sonderlinge. Und die Treffen mit ihnen ebenso absurd wie zufällig. Obendrein stellte sich die Frage, ob die zwei Mal pro Woche stattfindenden Sitzungen bei seinem Psychiater irgendeinen Nutzen hatten.

Sie suchte Schutz im Unterstand einer Bushaltestelle, holte ihr iPhone aus der Tasche und rief den Métroplan auf.

Als sie die Rue du Laos erreichte, war es noch dunkel, aber es hatte aufgehört zu regnen. Sie sah Hervé Garut in seiner alten Bomberjacke und seiner ebenso alten Battle-Dress-Hose. Er diskutierte mit einer dunkelhaarigen Frau, die immer wieder besorgte Blicke zu Hauptkommissar Carat hinüberwarf. Ihr Chef trug zwar einen grauen Anzug und eine blaue Krawatte, hatte sich aber nicht die Mühe gemacht, sich auch noch zu rasieren. Mit seinen breiten Schultern strahlte er die ruhige Selbstsicherheit eines Mannes aus, der in seiner Jugend Kampf- oder Boxsport betrieben hat. Den Kopf hielt er gesenkt.

Kehlmanns Handy vibrierte. »Dein Chef hat die Visage eines Mammutjägers. Ich will ein Foto von ihm machen!«

Sie streifte ihre Armbinde mit dem Schriftzug POLICE über und gesellte sich zu ihrer Truppe.

3 Das Vorhängeschloss

Bastien Carat beobachtete sie, während sie näher kam. Sie war jetzt bereits zwei Monate bei ihnen und hatte sich gut eingewöhnt. Sie steckte die unregelmäßigen Arbeitszeiten, den Stress und auch die Witze der alten Hasen gut weg. Und sie war pünktlich. Im Gegensatz zu Bergerin, der in der Hierarchie über ihr stand.

Das Mädchen war clever, motiviert und kooperativ. Ihr einziger Fehler bestand darin, der Schoßhund von Christine Santini zu sein. Ihr Karriereplan sah wahrscheinlich so aus, dass sie sich an den Rockzipfel der Polizeidirektorin hängte. Auf diese Art war sie vermutlich auch von der Steuerfahndung zur Kripo gelangt.

Franka Kehlmann schüttelte dem Kollegen vom 15. Arrondissement die Hand, wobei dieser es nicht unterlassen konnte, sie zu taxieren. Langes schwarzes Haar, dazu die dunklen Augen – das verfehlte seine Wirkung auf die Männer nicht. Und dass sie sich nichts daraus machte, verstärkte diese Wirkung nur noch. Ihre strengen Stoffhosen und die hochgeschlossenen T-Shirts brachten zum Ausdruck, wie gleichgültig ihr das alles war.

Eine etwa dreißigjährige Frau, die ein blaues Kostüm und Seidenstrümpfe inklusive Laufmasche trug, redete aufgeregt auf den Polizeihauptmeister ein. Sie sah abgespannt aus und versicherte, während sie nervös an einer Zigarette zog, dass ihr Chef nicht dafür verantwortlich war, dass sie zum ersten Mal in etwas so Schreckliches hineingezogen wurden und so weiter. Wuchtige Schultern, wilde Mähne und ein rundes Gesicht. Garut ließ diesen Ansturm mit seiner üblichen Gutmütigkeit an sich abprallen. Hinter einem Holzzaun konnte man die Baustelle erahnen. Eine Metallkette, ein Vorhängeschloss aus Stahl, ein Zahlenmodell. Es war offen.

»Das ist nicht das Schloss, das ich gekauft hatte«, klagte die Assistentin. »Meines war viel stabiler, und es war aus Messing. Außerdem funktionierte es mit einem Schlüssel. Nicht mit einem Zahlencode wie dieses hier.«

Der Polizeihauptmeister zog seine Taschenlampe hervor, kauerte sich suchend ganz tief vor den Zaun, bis er schließlich der Länge nach auf dem staubigen Boden lag. Eingeklemmt unter einer Latte, entdeckte er ein zweites Schloss. Die Assistentin erkannte es wieder.

»Es wurde mit einem äußerst wirksamen Werkzeug aufgebrochen«, stellte er fest. »Einer Art Bolzenschneider.«

Carat streifte sich Einweghandschuhe über, griff nach den beiden Schlössern und ließ sie in kleine verschließbare Plastiktüten gleiten.

Ein Motorroller knatterte heran, Marc Bergerin traf endlich auch ein. Blonde Strähnen lugten unter dem roten Helm hervor, auf dem das Bild eines Drachen prangte. Ein baumlanger Kerl: Hatte der Oberkommissar seine ein Meter fünfundneunzig erst einmal entfaltet, erinnerte er an einen Wikinger, der nicht mehr plündern darf. Ein Irrtum der Natur. Alle wussten, dass er sich, seit seine Frau schwanger war, nach einem ruhigeren Job sehnte. Seine Leidenschaft galt jetzt den Gewerkschaftsaktivitäten.

»Ist das etwa ein Journalist?«, fragte die Assistentin aufgeregt.

»Nein, er gehört zu uns und schreibt das Protokoll für den Tatortbefundbericht.«

Carat beobachtete, wie Bergerin und Kehlmann einander herzlich zulächelten. Im Grunde wünschte sich der Wikinger eine Stelle bei der Steuerfahndung, genau so eine, wie sie zuvor das Schoßhündchen innegehabt hatte.

Zu seiner Glanzzeit war er ein außergewöhnlicher Bulle gewesen. Pünktlich, engagiert und voller Ideen. Eine segensreiche Quasselstrippe, die auch die Beschuldigten unweigerlich zum Reden brachte. Er verstand es, ihr Vertrauen zu gewinnen und zu ihren geheimsten Widersprüchen vorzudringen. Und auch für den Zusammenhalt der Gruppe war er wichtig gewesen.

Das war jedoch seit einiger Zeit vorbei.

»Warum kommst du so spät?«

»Wegen meiner Frau, Chef. Sie glaubte, die Wehen hätten eingesetzt. Aber es war falscher Alarm.«

Carat rieb sich wortlos die Nase, bevor er ihnen bedeutete, ihm zu folgen.

Sie durchquerten einen Eingangsbereich, in dem Zementsäcke und eine Betonmischmaschine lagerten, dann einen kleinen Innenhof, der von Häuserfassaden mit vernagelten Fenstern umgeben war. Der Zugang zum Keller lag im Hinterhaus. Aus den Augenwinkeln studierte der Hauptkommissar den Gesichtsausdruck seiner Mitarbeiterin. Gefasst im Hinblick auf die zu erwartenden Schrecken. Seit ihrem Wechsel zur Kripo hatte Kehlmann bereits einige Leichen zu Gesicht bekommen, aber was sie nun erwartete, würde vermutlich ihre Feuertaufe sein. Die echte Feuertaufe.

Jemand, der wie ein weißes Michelin-Männchen aussah, winkte sie zu sich. Jetzt mussten auch sie Schutzkleidung anlegen. Sie streiften die dafür vorgesehenen Anzüge über und schlüpften in Überschuhe aus Polypropylen, bevor sie eine von Kies und Bierdosen übersäte Treppe hinunterstiegen.

Unten erblickte Carat den Mitarbeiter der Spurensicherung, Séguret. Endlich einmal etwas Erfreuliches. Die Arbeit mit ihm war entspannend, denn er begriff die wesentlichen Fragen, bevor man sie ihm stellte.

Es herrschte ein durchdringender Geruch, ein beißendes Gemisch aus verwesendem Fleisch und Exkrementen. Das Licht der Scheinwerfer fing einen nackten, blutverschmierten Körper ein. Die Hände waren unterhalb der Brust zusammengelegt, die Beine ausgestreckt. Die Kehle durchgeschnitten. Der gestampfte Erdboden hatte das Blut aufgesaugt. Die Leiche war in die Mitte des Raums, parallel zu der gemauerten Wand, gelegt worden.

»Die Fußabdrücke wurden verwischt«, erklärte der Kriminaltechniker.

Sie traten nun ganz in den Kellerraum hinein. Drei Benzinkanister aus Plastik, von denen einer zur Hälfte mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt war. Ein hoher Kochtopf aus Metall auf einem Gaskocher. Ein leerer Becher, in dem Geldscheine und eine Menge Münzen steckten.

»Hast du den Inhalt der Benzinkanister überprüft?«

»Wasser.«

Bergerin zog eine HD-Kamera aus seiner Tasche und begann zu filmen. Seiner Auffassung nach erleichterte es die Aufgabe der Ermittler, wenn sie den Schauplatz eines Verbrechens noch einmal in aller Ruhe ansehen und die einzelnen Details heranzoomen konnten.

Dieses Vorgehen war ganz neu und vermutlich eine Generationenfrage.

Der Hauptkommissar kniete sich neben den Leichnam. Durch die Feuchtigkeit war die Verwesung weit fortgeschritten. In den Nasenlöchern wimmelte es von Larven, die Wunde war übersät von ihnen, auch auf den Extremitäten krochen sie herum. Die Lippen waren aufgequollen, die Augen in ihre Höhlen zurückgesunken. Grünliche Verfärbungen zogen sich über Brustbein und Schenkel; das Opfer musste seit mindestens einer Woche tot sein. Das Gesicht war blutverschmiert, die Haare jedoch waren sorgsam zurückgekämmt worden. Eine dunkle und glatte Haarpracht von ungewöhnlicher Dichte, beinahe asiatisch – tatsächlich ähnelte sie Kehlmanns Haar. Ihre Finger waren ineinander verschränkt. Und man hatte ihr die Lider geschlossen.

»Sie wurde so gefunden«, kommentierte Séguret, »mit geschlossenen Augen und gefesselt an Handgelenken und Knöcheln.«

Ein in die Wand einbetonierter Ring war offenbar erst vor Kurzem angebracht worden, denn er wies keinerlei Rost auf. Der Ort war ohne jeden Zweifel von langer Hand vorbereitet worden.

»Sieh dir die unterschiedlich verfärbten Hautbereiche an, Bastien. Der Körper wurde nach dem Tod noch bewegt, allerdings keine sehr große Strecke.«

»Sie wurde hier getötet.«

»Ja. Dafür spricht das viele Blut.«

Carat wies auf den rechten Unterarm und die Hand.

»Das ist eine hochgradige Verbrennung.«

»Und zwar ante mortem. Ich wette, dass es kochendes Wasser war.«

»Du meinst, der Arm wurde in den Kochtopf getaucht?«

»Nach den Umrissen der Wunde zu schließen, ist das möglich. Außerdem gibt es Spuren von Pflaster.«

»Sie wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt verbunden.«

»Möglich.« Er wies auf den Mund des Opfers. »Man hat ihr die Zunge herausgeschnitten. Mit einem Skalpell, würde ich sagen – so sauber, wie die Arbeit gemacht wurde.«

»Das kann nicht sein erster Versuch gewesen sein. Er hat das schon ein Mal gemacht.«

»Wahrscheinlich.«

»Zuerst foltert er sein Opfer, dann verarztet er es. Hab ich noch nie gesehen.«

»Ich auch nicht, Bastien.«

Der Kollege von der Spurensicherung hatte bereits einen Gebissabdruck für die Identifizierung genommen.

»Vergewaltigung?«

»Weder Vagina noch Anus scheinen verletzt zu sein. Aber man wird die Bestätigung des Gerichtsmediziners abwarten müssen.«

Bergerin hatte aufgehört zu filmen. Sie gingen an die frische Luft nach oben zurück. Der Himmel hatte sich mittlerweile in ein sattes Apricot gefärbt, über das violette Streifen zogen. Carat rief den Staatsanwalt an.

»Verrückt, echt.« Garut seufzte.

»Er hat seine Tat vorbereitet und alles sehr genau ausgekundschaftet.«

»Also muss er hier in der Gegend unterwegs gewesen sein«, schloss Bergerin.

Kehlmann war ein wenig blass und schwieg immer noch. Carat stellte einen Vergleich zwischen ihr und Colin an. Die junge Steuerfahnderin hatte den alten Haudegen ersetzt. Colin Mansour hatte einen unverwüstlichen Magen besessen – das galt ebenso für den Schauplatz eines Verbrechens wie für den Tresen eines Bistros. Seine Witze waren nicht immer geschmackvoll gewesen, aber sie lösten die Spannung. Er hatte der Gruppe Zusammenhalt gegeben. Vor allem der Wikinger wirkte seit seinem Ausscheiden unmotiviert; aber Colin Mansour war eine tickende Zeitbombe gewesen und hatte ihm keine andere Wahl gelassen, als ihn auszumustern. Hatte er mit Kehlmann bei dem Wechsel etwas gewonnen? Es gab Tage, da wünschte er sie sich nicht ganz so wohlerzogen. Mit mehr Ecken und Kanten.

»Garut, du kümmerst dich um Verstärkung aus den anderen Teams. Ich will ein paar Männer, die überall im Viertel herumfragen. Auch bei den Busfahrern, den Taxiunternehmen und Lieferanten. Bergerin?«

»Ja, Chef?«

»Nach dem Tatortbefundbericht sprichst du dich mit Garut ab.«

»Der Bericht braucht seine Zeit …«

»Aber du bist doch wohl in der Lage, mir im Laufe des Vormittags alles zukommen zu lassen.«

»Es ist nicht meine Art, schlampig zu arbeiten.«

»Muss ich dir wirklich wie einem Anfänger erklären, dass die ersten Stunden entscheidend sind?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Gut, dann ist ja alles klar. Kehlmann, du gehst in die umliegenden Schulen. Bring uns das Mädchen, das die Leiche entdeckt hat.«

Wie eine eifrige Schülerin hielt Kehlmann Notizblock und Stift bereit und nickte. Polizeihauptmeister Garut trat, das Handy am Ohr, ein wenig zur Seite, um Verstärkung anzufordern. Ein missmutiger Bergerin gesellte sich zur Mannschaft der Spurensicherung. Hauptkommissar Carat atmete tief durch und rief die Polizeidirektorin an. Zunächst erstattete er Bericht, dann teilte er ihr seine ersten Eindrücke mit.

»Sadismus und Planung, sehr überlegtes Vorgehen, extreme Gewalt …«

Er hörte sie aufstöhnen.

»Ich habe den Staatsanwalt angerufen«, fuhr er fort.

»Sagen Sie ihm, dass ich unterwegs bin. Haben Sie schon Journalisten gesehen?«

»Bisher noch nicht.«

»Reden Sie auf keinen Fall mit ihnen«, beschwor sie ihn, bevor sie auflegte.

Die Medien waren ihr Hoheitsgebiet. Santini war diplomatischer als ihr Vorgänger und sehr auf ihr Image bedacht. Nach dem, was auf den Fluren zu hören war, war dieser Posten für sie lediglich eine Station auf dem Weg nach oben. Zu einer prestigeträchtigen Position zwischen Holzvertäfelungen und Goldschnörkeln. Weit weg vom gemeinen Tatort und bereits im Dunstkreis der Macht.

Er trat ein wenig zurück, um die Gegebenheiten besser erfassen zu können. Die Sonne schien jetzt in den Hof. Die finstere Stimmung konnte dies jedoch nicht erhellen. Was hatte das Opfer bewogen, sich auf diese verlassene Baustelle zu begeben? Der Drang, sich an einem ruhigen Ort einen Trip einzuwerfen, oder einfach die Suche nach einem Unterschlupf für die Nacht? Wenn sie jedoch weder drogenabhängig noch obdachlos war, gab es keinen Grund für sie, sich hierher zu verirren, und ihr Mörder hatte sie gegen ihren Willen hierhergebracht.

»Wo versteckt sich Ihr Chef?«

»Herr Frey versteckt sich nicht, Herr …«

»Hauptkommissar Carat.«

»Er wird in Marseille aufgehalten, Herr Hauptkommissar. Er lässt sich entschuldigen.«

»Er soll sich in meinem Büro entschuldigen.«

»Es geht um einen wichtigen Auftrag …«

»Wer ist der Leiter dieser Baustelle hier?«

»Christophe Clavel, aber ich weiß nicht, was …«

»Geben Sie mir seine Telefonnummer.«

»Aber er hat nichts damit zu tun …«

Die Augen geschlossen, rieb Carat sich wortlos die Nase. Dann sah er wieder auf und warf ihr einen vernichtenden Blick zu.

»Die Nummer von Clavel, bitte. Und wo wir gerade dabei sind, auch die von Ihrem Chef. Und zwar sofort.«

Sie zückte ihr Handy und suchte in dem Adressbuch.

Carat versuchte erfolglos, den Bauunternehmer anzurufen, und hinterließ ihm eine Nachricht. Dann wählte er die Nummer des Bauleiters, und während er wartete, fing er den Blick von Kehlmann auf. Ihr Gesicht hatte wieder etwas Farbe bekommen, und nun warf sie ihm ein bewunderndes Lächeln zu. So etwas konnte er nicht brauchen.

»Bist du immer noch da?«

»Nein, nein, Chef, ich bin schon unterwegs.«

4 Die Stimme

Vaugirard. Franka Kehlmann stieg aus der Métro, ging den Bahnsteig entlang und betrachtete die gekachelte, von einem schwärzlichen Schmutzfilm überzogene Wand. Sie hatte im NewScientist gelesen, dass der ölige Dreck in den alten Tunneln und Gängen der Untergrundbahn von London neben den Gusseisenpartikeln, die die Bahnen beim Bremsen erzeugten, vor allem aus menschlicher Haut bestand. Eine Hautschicht, die Millionen von Fahrgästen Tag für Tag gewoben hatten, indem sie winzige Teilchen von sich selbst dort hinterließen. Es gab keinen vernünftigen Grund, warum der Schmutz der Pariser Métro nicht die gleiche Beschaffenheit aufweisen sollte.

Auf der Polizeiwache des 15. Arrondissements fragte sie nach der Person, die den Anruf des jungen Mädchens entgegengenommen hatte. Kurz darauf erschien ein gewisser Roger, etwa sechzig Jahre alt, mit Augen, unter denen bläuliche Tränensäcke hingen, die ein wenig an reife Feigen erinnerten.

»Kommissarin Kehlmann, Kripo. Team Carat. Wir untersuchen den Mord in der Rue du Laos. Ich habe den Auftrag, diese Zeugin zu finden …«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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