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Andrea Schnidt startet nochmal durch! Der 13. humorvolle Roman um die Kult-Heldin Andrea Schnidt ist wie ein Treffen mit lieben Freunden, die uns jedes Mal mit den lustigsten Geschichten unterhalten. Über 60 – das wirft Fragen auf. Auch für Andrea Schnidt. Wie soll es weitergehen? Beruflich? Mit der Liebe? In der Familie? Mit ihrem ewigen Battle um den Titel 'Oma des Jahres', den die Schwiegermutter ihrer Tochter so energisch und auch mit durchaus fiesen Methoden verfolgt. Da eröffnet sich ihr eine ganz neue Perspektive – die einiges an 'Spice' – an erotischer Hochspannung in ihr Leben bringt. Auch Schwiegervater Rudi ist will es noch mal wissen – schließlich muss man etwa tun, wenn man mindestens 110 Jahre alt werden will. Und das möglichst nicht allein. Bloß für Andreas Liebsten Paul ist das Leben weiterhin ein langer ruhiger Fluss. Bis er ganz zufällig entdeckt, dass seine Frau da ein paar Bedürfnisse hat, von denen er nichts ahnte und die ihn ziemlich schockieren. Es ist also wieder mal nichts leicht in Andreas Leben. Außer am Ende. Das ist natürlich happy. Empathischer Humor und Figuren, die wir uns als Freunde wünschen Bestseller-Autorin Susanne Fröhlich weiß einfach, wie sie uns zum Lachen bringt. Ihre klug beobachteten Geschichten aus dem ganz normalen Alltagswahnsinn treffen den Nerv der Zeit. Und Andrea Schnidt hat nicht nur das Herz am rechten Fleck, sondern am Ende auch immer die Lacher auf ihrer Seite. Die lustige Roman-Reihe von Susanne Fröhlich ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Frisch gepresst - Frisch gemacht! - Familienpackung - Treuepunkte - Lieblingsstücke - Lackschaden - Aufgebügelt - Wundertüte - Feuerprobe - Verzogen - Abgetaucht - Getraut - Ungezügelt
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Seitenzahl: 374
Veröffentlichungsjahr: 2025
Susanne Fröhlich
Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Über 60 und Andrea Schnidt muss einmal wieder selbst aktiv werden in Sachen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Ihre Idee – »Old Romance«-Liebesgeschichten für die Generation Ü50. Die könnte ein wenig Hoffnung sehr gut brauchen, findet Andrea und einen Verlag findet sie auch. Der verlangt als Draufgabe allerdings einiges an »Spice«, also dass es erotisch zumindest im Roman dauernd rund gehen sollte. Ein Glück, dass Andreas Freundinnen da einiges beizutragen haben. Schade nur, dass ihr Mann Paul da etwas ganz falsch versteht und ein argloser Banksachbearbeiter plötzlich unter Sex-Gott-Verdacht gerät. Und Ex-Schwiegervater Rudi? Der will 120 Jahre alt werden und macht Andrea das Leben zur Rohkost-Hölle.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
Danksagung
Für meine Mama
Und für Roland – wir vermissen Dich sehr!
GLAMOURFREIER FORMFLEISCHSCHINKEN
Es muss fleischiger sein. Viel fleischiger. Deftiger und ruhig einen Hauch gewöhnlich. Ich muss mich konzentrieren. Das kann doch nicht so schwer sein.
Statt Fleischiges zu Papier zu bringen, denke ich an Fleisch. An gewöhnliches Fleisch. Und da poppt sie auf. Die Erinnerung an meine Hochzeit. Dominiert von einem Igel.
Der Igel setzt dem Ganzen die Krone auf. Er trägt einen Schleier. Ein Mett-Igel mit weißem Stofffetzen. Man sagt ja, schlimmer geht immer, aber in diesem Fall trifft das leider nicht zu.
Ich hätte es ahnen können. Hätte es wissen müssen. Hätte.
Aber das Angebot ist so verlockend gewesen. Cateringübernahme war das Zauberwort. Man kauft das schon bestellte Catering von anderen ab. Bekommt dafür einen enormen Preisnachlass. Paul und Rudi waren sofort in Sparekstase, als der Vorschlag kam.
»Das ist ein Wink des Schicksals!«, meinte Paul.
»En Superschnäppche!«, jauchzte Rudi.
Dass man dafür leider kein Mitsprachrecht hat, was die Speisen angeht, sei doch nicht schlimm. Der Caterer hat beim Vorgespräch beteuert, dass er das schon georderte Essen an unsere Bedürfnisse anpassen würde. »Kein Problem, das ist eine Kleinigkeit!«, hieß es.
Die Kleinigkeit ist wohl der Schleier. Auf einem Mett-Igel.
Man könnte sagen, ich sei selbst schuld, weil ich nicht weiter nachgefragt habe. Mich darauf verlassen habe, dass Paul sich kümmert. Sonst hatte er keine Aufgabe. Nur das verdammte Essen. Ich habe die Einladungen versendet, unsere Wohnung aufgeräumt, Sitzgelegenheiten durchkalkuliert. Innerhalb von zehn Tagen eine »Hochzeitslocation« zu organisieren, die den Ansprüchen aller gerecht wird, war aussichtslos. So wie das Catering haben wir auch den Hochzeitstermin übernommen.
»Kein Schickimicki-Kram!«, war Pauls Vorgabe. »Irgendwas Besonderes! Schön und familiär!«, wollte ich. Wir einigten uns auf: »Wir feiern nur mit unseren Liebsten und machen es zu Hause!« »Dann könnten wir das Ersparte in eine schöne Hochzeitsreise investieren!«, köderte mich Paul, wissend, dass ich darauf garantiert anspringen würde, schon allein weil die Hochzeitsreise bei meiner ersten Hochzeit leider ohne den Ehemann stattfand.
Jetzt schaue ich auf einen brautschleierigen Mett-Igel, schwabbelige Sülze, Fliegenpilze aus Ei, Tomate und Mayotupfen, die langsam der Schwerkraft folgen. Käsespieße mit Trauben, Dosenspargel in Formfleischvorderschinken, Ragout fin in matschigem Blätterteig, Nudelsalat mit vereinzelten Erbsen und den Resten vom Formfleischvorderschinken, ertränkt in Mayonnaise, und Cocktailwürstchen, die irgendwie pornös aussehen.
Das Dessertsortiment ist ähnlich. Obstsalat aus der Dose, Waldmeistergötterspeise und Kalter Hund, dieser Kekskuchen mit jeder Menge Palmin. (Gibt’s das überhaupt noch?)
Man könnte vortrefflich darüber lachen, wenn es nicht die eigene Hochzeit wäre.
Rudi, mein Ex-Schwiegervater, konnte mein Entsetzen nicht nachvollziehen. »Endlisch mal net so en Hipster-Kram, bodenständig, solide und nahrhaft. Da geht kaaner hungrig heim!« Paul, der wahre Schuldige, eigentlich sehr auf gesunde Ernährung, bio und möglichst fleischfrei bedacht, hat beim Aufbau des »Büfetts« auch nicht begeistert gewirkt. Aber da er wusste, dass er das geordert hatte (okay nicht allein, sondern mit Rudi) und damit als der »Hauptschuldige« galt, versuchte er, mir das Ganze als originell zu verkaufen. »Das ist doch mal was ganz anderes, daran werden sich alle erinnern!«
»Für wen war das ursprünglich?«, habe ich leicht hysterisch gefragt. »Habe ich nicht gefragt, die haben gesagt, das ist ein universell einsetzbares leckeres Büfett. Klassisch«, hat er geantwortet. Ich habe mich an den Caterer gewandt.
»Das war für einen Geburtstag, soweit ich weiß. Für einen achtzigsten Geburtstag. Retrostyle.«
»Und was ist mit dem Jubilar? Warum feiert der nicht?« Mir schwante nichts Gutes. Der Caterer, selbst auch nicht sehr viel jünger, brummte was von »den hat der Schlag getroffen«. Bei all den Transfetten kein Wunder. Was für ein Omen! Ich sehe schon die Cholesterinwerte meiner gesamten Sippe in ungeahnte Höhen aufsteigen!
Ich war kurz davor, bei meinem Haus-und-Hof-Italiener Giovanni anzurufen und Pizza für alle zu ordern. Allein der Gedanke, was meine Gäste denken könnten? Egal, wie alt ich werde, noch immer ist es mir nicht wirklich wurscht (passend zum Büfett), was andere von mir halten. Eines ist auch klar: Am Ende war es nie der Mann. Ums Essen kümmert sich die Frau. Ich würde sehr gerne Schildchen aufstellen, auf denen steht: Das war ich nicht! Bitte wendet euch an den Bräutigam!
Paul findet das »nun wirklich übertrieben«. »Hat doch Witz! Und ist wirklich was Besonderes! Das wolltest du doch!« Zack, habe ich den Schwarzen Peter. Männerlogik hat etwas bestechend Schlichtes. Hätte ich doch nur meinen Sohn gefragt! Er lernt Koch in einem sehr schicken Restaurant und hätte das locker übertreffen können! Aber ich wollte, dass auch er einfach nur Gast sein kann. Selbst Ludwig, der Besitzer vom Schnitzelparadies und ein alter Freund von Rudi, hätte das hier übertroffen. Ich bin wirklich sauer und kann meinen Blick nicht vom »Braut«-Mett-Igel abwenden.
Das an meinem Hochzeitstag, der bis zum Aufbau des Caterings wirklich schön war. »Von Kleinigkeiten lassen wir uns doch nicht unser Fest verderben!«, versucht mich Paul zu trösten. Seit wann ist Essen eine Kleinigkeit? Ich reiße dem Igel den Schleier herunter. Soll das vielleicht ich sein, stachelig und fettig?
Ein Stück vom Mett landet auf meinem Hochzeitsjumpsuit. Mittig. Auf der Brust. Ich bin kurz davor, in hysterisches Weinen auszubrechen. Paul fängt an zu lachen, und ich würde mein »Ja« vom Mittag am liebsten sofort zurücknehmen. Es sollte eine Art Männer-Rückgabemöglichkeit geben. Man kann doch auch sonst von jedem Kauf zurücktreten. Innerhalb einer gewissen Frist zumindest.
Das Ende vom Lied beziehungsweise den Feierlichkeiten: Ich behalte den Mann (was ausreichend Schampus alles schaffen kann), Irene, Rudis Liebste, ist verzückt vom Essen (ich fühle mich so jung!), Juan, der junge mallorquinische Lover meiner Freundin Sabine hält alles für »Vintage style«, meine Kinder finden es »einen Hauch schräg, aber auch witzig«, und wir haben genug Mett-Igel übrig, um alle Scharniere in unserem Viertel zu fetten und mit all den Zwiebeln darin die Nachbarn noch tagelang ohnmächtig zu atmen.
Dass ich jetzt hier vor meinem Computer sitze und darüber nachdenke, wie ich ein paar saftige, fleischige Szenen runterschreibe, verdanke ich indirekt meinem ehemaligen Chef und meiner Tochter. Aber der Reihe nach.
AUFBRUCH
Klessling, der Herrscher des Raumsprayimperiums, ist pleite. Ich denke nicht, dass der Welt ohne Raumspray viel fehlen wird, aber für mich ist das eine ausgesprochen schlechte Nachricht gewesen. Schließlich war meine freie Mitarbeit in seiner Firma mein letzter Job. Meine einzige Geldquelle. Wenn nicht üppig, so zumindest stetig.
Fühle mich leider auch ein bisschen mitschuldig. Einen Hauch, im wahrsten Sinn des Wortes. »Sie haben mir final das Genick gebrochen!«, hat Klessling theatralisch gebrüllt, als die Firma abgewickelt wurde. Das halte ich nun für maßlos übertrieben, aber unsere letzte Duftkomposition hat einen wahren Shitstorm ausgelöst. In der Kombination mit Raumspray ist das Wort Shitstorm natürlich ziemlich doppeldeutig. Es war ein Raumspray für die Singlefrau. »Der Mann zum Schnuppern!« hieß der Duft. Männlich, stark und beschützend. »So haben Sie einen Mann im Haus, aber nicht seinen Dreck! Fenster auf und er ist weg! Keine nassen Handtücher auf dem Boden, kein schmutziges Geschirr in der Küche, keine ollen Socken auf dem Boden! Der Hauch von Mann, den alle wollen!«, haben wir geworben. Ich dachte, das sei irre ironisch. Witzig, jung und frech. Klessling war, zugegeben, ein bisschen skeptisch. Ehrlich gesagt: sehr skeptisch. Mit Recht. Die Zeit war wohl noch nicht reif für dieses gewagte Spray, denn der Witz erschloss sich weder den Feministinnen noch den Männern. Männerfeindlich und gleichzeitig frauenfeindlich – das muss man erst mal schaffen. Gut, ich hätte es ahnen können. Paul, mein Mann (noch immer fühlt es sich seltsam gut an, »mein Mann« zu sagen), war eher im Team Klessling, was das Spray anging. Dazu muss man allerdings sagen, Paul hat viele gute Seiten, aber zum Trendsetter taugt er nicht. Heike, meine Freundin in München, war begeistert. Ja, sie ist lesbisch, könnte man einwenden, und will so oder so keinen Mann im Haus. Mich hat der Gegenwind von Klessling angespornt. Alte weiße Männer liegen zurzeit nicht besonders im Trend. Und bei genauer Betrachtung ist auch Paul einer dieser Männer.
Ich habe in Gedanken schon Spray für die unterschiedlichen Männer- und Altersgruppen entwickelt. Eine Art von Duftsortiment. Pubertätsduft bis hin zum Seniorenpantoffelodeur.
Wir haben es richtig abbekommen, im Internet und sogar in ein paar kleineren Artikeln in der Presse. Da ging es dann nicht mehr nur um unseren neuen Duft, sondern um das Konzept Raumspray an und für sich. »Wie wäre es mit Lüften?« lautete die Überschrift eines bissigen Online-Artikels. Ökologisch verwerflich seien Raumsprays und sie könnten krank machen. Das war nun nicht meine Schuld. Klessling sah es anders. »Sie haben die Büchse der Pandora geöffnet!«, hat er mich quasi angeklagt. Das wiederum ist frech. Und mal ehrlich, seine letzte Duft-Idee war auch kein Hit. »Sonntagsessen«. Nicht jeder mag das Aroma von Gulasch mit Sauerkraut. Aber es ist ja immer leichter, die Fehler bei anderen zu suchen.
So oder so: Asche auf mein Haupt. Auch wenn die Raumsprayzeit vielleicht auch ohne meinen Duft dem Ende entgegengegangen wäre. Aber wer weiß das schon.
Eines war jedenfalls mehr als klar: Ich brauchte einen neuen Job. »Mein Geld langt für uns beide, du kannst zu Hause bleiben«, hat Paul großzügig angeboten.
Tu das nur nicht!, hat eine Stimme in mir geschrien. Eine andere war gar nicht so abgeneigt. Ausschlafen, dann ein bisschen Haushalt (überschaubar, bei einer Dreizimmerwohnung und zwei Erwachsenen, die nicht mehr als durchschnittlich schmutzen), dazu einkaufen und ab und an kochen. Wie viel Zeit mir bliebe! Für neue herrliche Hobbys, meine Enkelkinder und vielleicht sogar mal ein wenig Ehrenamt. Soll bekanntlich sehr gesund sein, Gutes für andere zu tun. Und ich bin inzwischen ja in einem Alter, in dem gesundheitsförderliche Maßnahmen durchaus angebracht sind.
Aber will ich kein eigenes Geld mehr haben? Mich rechtfertigen für jede Kleinigkeit, die ich einkaufe? »Meins ist auch deins!«, hat Paul beteuert. »Ist doch auch praktisch für unsere Freizeitgestaltung, wenn einer keine Termine mehr hat!«, hat er noch ergänzt. »Eine« meint er damit wohl. Der Satz hat mich aufhorchen lassen. Heißt das, ich bin dann freie Manövriermasse? Will ich freie Manövriermasse sein? Ein leicht hin- und herschiebbares Etwas, das sich voll nach dem Gatten richten kann? Eine Frau frei von Terminen? Verliert man in dieser Rolle an Bedeutung? Irgendetwas gefällt mir daran so ganz und gar nicht. Vielleicht hat das »Nicht-Arbeiten«, jedenfalls jenseits des eigenen Haushalts, auch immer ein bisschen Bedeutungsverlust im Paket? Einen Verlust von Unabhängigkeit? Sicher, in den letzten Jahren wäre es für mich allein, nur mit dem Verdienst bei Klessling und seinen Raumsprays, eng geworden. Aber ich bin mir sicher, hätte ich gemusst, hätte ich Möglichkeiten gefunden. Könnte sein, dass ich mir da etwas ein wenig schönrede, aber ich bin keine dieser extrem teuren Frauen. Ich gebe für meine Optik relativ wenig aus. Ich habe mir mal ausgerechnet, was allein regelmäßige Maniküre, Pediküre, Augenbrauenwaxing, Wimpernverlängerung, Botox und Co. kosten. Was ich da spare, ist enorm! Da kommen locker zwei- bis dreihundert Euro im Monat zusammen. Leider liegt das Ersparte nicht irgendwo in einem satten Aktienfonds, sondern ist anderweitig verschwunden. Dass ich mir regelmäßige Besuche im Nagelstudio spare, hat aber ehrlich gesagt weniger mit den Kosten, als vielmehr mit meiner Ungeduld zu tun. Es gibt ja Frauen, für die ein Mani-Pedi-Termin ein Heidenspaß ist, ich gehöre nicht dazu. Ich hatte, wenn ich denn tatsächlich mal da war, immer das Gefühl, jede Menge Lebenszeit dort zu verschwenden. Und als spannend kann man einen Ausflug ins Nagelstudio auch nicht gerade bezeichnen.
Was mir an Pauls Vorschlag in der Theorie gut gefällt, ist der Gedanke, mehr Zeit für meine Enkel zu haben. Wer hätte das gedacht, dass ich mal eine so engagierte Oma werden würde. Ich, die beim ersten Enkel noch gehadert habe mit dem »Oma-Sein«. Da bin ich drüber weg.
Ich bin sechzig. Da ist man über vieles weg. Auch über die Idee, dass man ja noch sooo jung ist.
Sechzig ist eben doch mehr als nur eine Zahl. Es ist, wie mein Ex Christoph, der Herr Jurist, sagt, eine Art von »Tatbestand«. Er hat das freundlicherweise noch weiter ausgeführt – »Alterstatbestand« hat er gesagt. Hat er mir beim Geburtstagsanruf auch direkt mitgeteilt. Besonders witzig war er nie. Ist mir aber damals gar nicht so aufgefallen, damals, als ich noch mit ihm verheiratet war. Seinen Witz darf sich jetzt hauptsächlich Annika-Lu anhören, denn auch mein Ex ist neu verheiratet. »Wenn isch noch ma so jung wäre, des wär herrlisch!«, hat mein Ex- Schwiegervater Rudi hingegen an meinem sechzigsten Geburtstag geseufzt. Wie immer im Leben ist alles eine Frage der Perspektive.
Aber auch ich musste mich an die Zahl zunächst gewöhnen. »Hallo, mein Name ist Andrea Schnidt und ich bin sechzig Jahre alt«, habe ich mir in den ersten Wochen mindestens zweimal täglich gesagt. Um vertraut zu werden mit einer Zahl, die auch in meinem Kopf unausweichlich für »alt« stand. Mit sechzig steht man kurz vor Seniorenteller und Seniorenrabatt. Jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung. Das, was noch kommt, ist assoziiert mit Rollator, Stützstrumpf und Blasenschwäche. Die Rente (an deren Höhe ich besser nicht denken sollte, um nicht direkt in Depressionen zu verfallen) ist in Sichtweite. Ich gestehe: Ich habe mich angestellt mit meinem sechzigsten. Es soll Frauen geben, die mit diesem Ehrentag vollkommen entspannt und lässig umgehen. Keinerlei Problem mit der verdammten Zahl haben. Die vor Selbstbewusstsein strotzen und sich auf das Schöne freuen, das noch vor ihnen liegt. Ich beneide diese Frauen. Ich kenne all die Sprüche wie: »Wer nicht sechzig werden will, muss vorher sterben.« Stimmt, aber tot sein ist ja wirklich ein Totschlagargument. Ein ganz großes Geschütz. Natürlich wäre das nicht die Alternative, die mir lieber wäre, aber nichtsdestotrotz graust es mich vor der Zahl. Ehrlich gesagt noch immer. Bisher konnte ich nichts Fantastisches entdecken, was jenseits der sechzig passieren könnte. Obwohl ich durchaus Menschen in meinem Umfeld habe, die munter und gut gelaunt auch jenseits der sechzig vor sich hin leben. So als wäre rein gar nichts. In meinem Freundinnenkreis sind die Lager gespalten. Die einen widmen sich vermehrt ihrem Blutdruck und den vermeintlichen Stolperfallen im Haus, kümmern sich um Pflegeversicherungen und gehen gerne zeitig abendessen. Die andere Fraktion scheißt auf all das. »Zu viel Beschäftigung mit dem Altwerden macht noch älter«, lautet da die Devise. Mein Blutdruck ist in Ordnung und ich werde versuchen, ganz in Fraktion zwei zu rutschen. Ich schweife mal wieder ab. Eigentlich ging es ums Arbeiten. Die Frage, ob es nicht nett sein könnte, hinten raus pure Hausfrau zu sein. Und Oma.
Inzwischen habe ich zwei Enkel. Nach Halvar (ja, das Kind heißt tatsächlich so – und ja, ich weiß, es ist unglaublich) hat meine Tochter Claudia einen zweiten Sohn mit einem anderen Mann bekommen. Kolbeinn heißt das arme Ding. Wie Kohl und Bein, nur ohne H und ganz wichtig mit Doppel-n hinten. »Sonst wäre es ja norwegisch, aber das ist die isländische Variante«, mahnt meine Tochter. Das sollte man wirklich wissen, gehört fast zur Allgemeinbildung. Übersetzt heißt das: Kohle und Knochen. Irgendwie gruselig. Meine Enkelsöhne sind keine Skandinavier. Auch ihre Väter nicht. Die heißen Luis und Emil. Meine Tochter urlaubt nicht im Norden. Soweit mir bekannt ist, war sie noch niemals dort. Halvar und Kolbeinn werden ihre Vornamen ein Leben lang buchstabieren müssen – und all das nur, weil meine Tochter ihren eigenen Vornamen so gewöhnlich findet. Ich gebe zu, Claudia ist als Name kein Beweis für besondere Originalität. Aber er klingt hübsch und jeder tumbe Klotz kann ihn schreiben. Das ist doch schon mal was. Davon abgesehen, hat mir der Name gefallen. Ich habe ihn schließlich ausgesucht. »Mein Name bedeutet die Hinkende, die Verschlossene, das ist eine wahre Bürde!«, hat sich Claudia beschwert. »Das allein wäre schon Grund für eine Therapie. Ein Kind mit einem solchen Namen zu strafen, ist seelisch grausam, gemein. Und es braucht viel Kraft, um nicht so zu werden. Kraft, die man auch an anderer Stelle im Leben brauchen könnte.« Es braucht auch sehr viel Kraft, sich einen solchen Quatsch anzuhören. Oder ein paar ordentliche Schlückchen Wein. Keine Schorle, die langt dafür nicht.
Aber eins habe ich inzwischen verstanden: Lasse dich mit deinen Kindern nicht auf Diskussionen ein, sie wissen es eh besser. Ich hätte Claudia »Tisiphone« nennen sollen. Das hätte recht gut gepasst: die Rächende. Die Vergeltung. Noch besser hätte mir »die Nachtragende« gefallen, aber da scheint es keinen Vornamen zu geben. Natürlich sage ich ihr das nicht, denn Humor ist nicht Claudias Kernkompetenz. (Da kommt sie nach ihrem Vater.) Vor allem nicht im Umgang mit sich selbst. Aber gut – wo soll sie die Kraft dafür hernehmen, schließlich hat sie mit ihrem Namenstrauma genug zu tun. Das arme Ding.
Bei Halvars Geburt habe ich noch alles versucht, was in meiner Macht stand, um ihm diesen Vornamen und ein Leben damit zu ersparen, seit Kolbeinn auf der Welt ist, finde ich den Namen Halvar fast schon gefällig. »Es sind meine und nicht deine Kinder!«, hat Claudia eine mögliche Diskussion sowieso im Keim erstickt. Das hat sie schon gesagt, vorauseilend quasi, bevor ich auch nur einen einzigen ersten Kommentar zu »Kolbeinn« machen konnte. Gut, vielleicht hat mein Gesicht mich verraten. Insofern war klar, dass sie wusste, ich werde nicht in Jubel ausbrechen.
»Findet Emil den Namen auch gut?«, habe ich noch einen klitzekleinen Vorstoß gewagt.
»Ich habe ihn neun Monate rumgetragen, da spüre ich, was gut für den Kleinen ist. Wie soll Emil das beurteilen? Ohne die Nähe? Wir waren ein Wesen, Kolbeinn und ich«, hat sie sofort gekontert.
Immerhin, was das angeht, bin ich ihrer Meinung. Wer ausbrütet, bestimmt. Weniger wegen der Nähe, sondern eher wegen der Mühen der Schwangerschaft und Geburt. Nicht »ein Wesen«, sondern eher Dammschnitt und Wasser in den Beinen. Von einer ruinierten Figur und einer latenten Beckenbodenschwäche gar nicht zu reden. Christoph, mein Ex und Vater von Claudia, fand weder den Namen seiner Tochter noch den seines Sohnes besonders gut. Claudia und Mark. Solide würde ich sagen. Er hat sich daran gewöhnt. So wie ich mich an Halvar. Kolbeinn allerdings ist eine weitere und größere Herausforderung. Kolbeinn!
Ich hatte gehofft, dass mich Tamara in der Kolbeinn-Frage unterstützen würde. Die Schwiegermutter meiner Tochter. Aber die ist, in dieser Hinsicht zumindest, verdammt schlau, eine wahre Taktiererin. »Wie besonders!«, hat sie Begeisterung für die Kolbeinn-Namenswahl geheuchelt und so getan, als wäre ihr der Name vertraut. Und Claudia war sofort bereit, es zu glauben. Sie hat mich mit einem Blick angeschaut, der laut und deutlich »siehste« geschrien hat. »Siehste«, da hat eine Geschmack, Stil, Sinn für Originalität und Anstand. Tamara weiß, sich mit Claudia gut zu stellen, und das bringt ihr im Oma-Wettstreit garantiert jede Menge Punkte, denn meine Tochter weiß ihre Kinder perfekt zu vermarkten. Sie schürt geschickt eine Art Konkurrenzkampf. Wer die Kinder bekommt, seine Zeit opfert, Pos abwischt, sie bespaßt, sie tröstet, rumträgt oder was auch immer, ist nicht etwa hilfsbereit und nett, sondern auserwählt. Es hängt von der Gnade meiner Tochter ab, ob man aufpassen darf. Würden Tamara und ich an einem Strang ziehen, würde das unsere Position erheblich verbessern. Stattdessen wetteifern wir um die Gunst der Herrscherin, der Kindsmutter. Schön dumm. Aber ich habe mal versucht, es anzusprechen, und Tamara hat einen auf begriffsstutzig gemacht. »Ich weiß gar nicht, was du meinst, Andrea, ist doch klar, dass Claudia nur die bestmögliche Betreuung für ihre Herzensbobbelschen will! Und natürlich macht sie die Vorgaben. Es sind ihre Kinder! Das ist selbstverständlich. Außerdem sollte man auch in unserem Alter noch bereit sein, sich auf moderne Erziehungsmethoden einzulassen. Die jungen Leute wissen schon, was sie tun!«
Das würde ich so garantiert nicht unterschreiben. Ich habe oft den Eindruck, sie haben nicht den Hauch einer Idee, was sie da tun, und vor lauter Verunsicherung tun sie viel zu viel. Stattdessen habe ich genickt. Tamara ist vertratscht und ich habe Angst, sie verpetzt mich bei meiner eigenen Tochter. Dabei sollte es doch eigentlich selbstverständlich sein, dass meine Tochter mich vorzieht. Blut ist dicker als Wasser und so. Aber Pustekuchen. Ich habe manchmal sogar den Eindruck, sie bevorzugt Tamara, und empfinde das als Kränkung. Ehrlich gesagt hätte ich auch einiges zu verpetzen, wenn es hart auf hart kommt. Ich habe da eine Auswahl an brisanten Sachen, die Claudia mit Sicherheit nicht besonders gefallen würden. Ich habe Tamara mal erwischt, als sie den Fernseher eingeschaltet hat. Um ihre Lieblingsserie »Bares für Rares« mit Horst Lichter zu gucken. Etwas, was auf der Liste der verbotenen Tätigkeiten in Anwesenheit der Enkel ganz oben steht. Nicht Horst Lichter als Person, sondern Fernsehen generell. »Ich würde es abstreiten, wenn du es erzählst«, hat Tamara sich direkt ereifert, »oder behaupten, dass du manchmal Gummibärchen verteilst!« Was nicht stimmt. Oder höchstens ein-, zweimal vorgekommen ist. Also so gut wie nie. Aber es zeigt sehr deutlich, mit welchen Waffen hier gekämpft wird. Mit allen. Was Tamara allerdings nicht weiß, ich habe einen wunderbaren Joker in der Hinterhand. Ein Foto von Kolbeinn im Kindersitz: mit Daunenjacke! Klingt zunächst nicht spektakulär, und auch nicht irrsinnig verwerflich, aber Emil hat uns, im Duett mit Claudia, einen langen Vortrag darüber gehalten, dass die Gurte dann im Ernstfall nicht stramm genug sitzen könnten. Hat »Horror worst case«-Szenarien geschildert. Furchterregend. Was das an Mehrarbeit bedeutet, hat er allerdings nicht im Detail erklärt. Kind in die Jacke auf dem Weg zum Auto (sonst drohen fürchterliche grippale Infekte), Kind aus der Jacke raus, dann rein in den Sitz und vice versa. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass Tamara das nervt. Mich übrigens auch. Aber trotz allem habe ich die winzige Gelegenheit genutzt, als sie mir Kolbeinn vorbeigebracht hat. Meine Chance. Ein Handyfoto ist schnell gemacht. »Er sieht einfach nur süß aus, wie der da so in seinem Sitz schläft!«, habe ich gesagt und sie hat nicht kapiert, dass sie mir in diesem kurzen Moment Eins-a-Material in der Omaschlacht geliefert hat. Zur Sicherheit ein Indizienarsenal anzulegen, kann nicht schaden.
Natürlich habe ich meiner Freundin Sabine sofort davon erzählt und ihr das Beweisfoto geschickt. »Wie hinterfotzig du sein kannst!«, hat sie nicht ganz so reagiert, wie ich es erwartet habe. »Hör auf mit dem Scheiß!«, hat sie noch hinterhergeschoben. Sabine, meine Freundin, findet diesen Omawettstreit komplett lächerlich: »Sei doch froh, wenn Tamara die Hauptarbeit übernimmt, seit wann streitet man sich denn um Verpflichtungen?« Eine gute Frage. Aber meine Deeskalationsversuche bei Tamara haben zu nichts geführt. Insofern: Was habe ich für eine Wahl? Davon mal abgesehen, hat Sabine in dieser Hinsicht keine Ahnung. Sie hat keine Kinder, nur einen Lebensgefährten, der ihr Kind sein könnte. Das war jetzt eine gehässige Bemerkung, aber hinterfotzig war auch nicht besonders charmant. Außerdem habe ich es nur gedacht und nicht gesagt. Manchmal wäre ich froh, Sabine würde es ab und an auch so halten. Dass sie mit Juans Mutter um die Fürsorge ihres Liebsten streitet, ist doch im Grunde auch nichts anderes. Wenn nicht bedenklicher.
Ich muss zugeben: Dieses Oma-Thema beschäftigt mich. Ich will die begehrte Oma sein. Die erste Wahl. Die Lieblingsoma. Natürlich vor allem bei den Enkelkindern. (Ein bisschen aber auch bei meiner Tochter.) Insgeheim bin ich über meine Affenliebe (anders kann man diesen Zustand nicht beschreiben) zu diesen Kindern ein bisschen überrascht. Ich meine, es sind meine Enkelkinder und nicht meine Kinder. Aber genau das ist eben auch das Wunderbare. Es tut so gut, nicht für die Erziehung – und somit das Endergebnis verantwortlich zu sein. Mutter sein ist verdammt anstrengend. Wer das abstreitet, ist keine Mutter oder beschwindelt sich selbst. Es gilt, die perfekte Performance hinzulegen. Das ist herausfordernd und es gibt keinen Punkt im Leben, ab dem man aus der Verantwortungsnummer raus ist. Der Vertrag läuft lebenslänglich. Egal, was die Kinder – auch wenn sie längst Erwachsene sind – tun, vor allem verbocken, Mutti war’s. Man könnte es einen der undankbarsten Jobs im Leben nennen. Unbezahlt, keinerlei Urlaubsanspruch und haftbar bis zum Lebensende. Dazu unkündbar. Und eine beschissene Rente. Öffentlich wird es aber als die Erfüllung im Leben jeder Frau betrachtet. Das macht die Sache nicht leichter. Ich will mich nicht rückwirkend beschweren, aber wenn man all das vorher wüsste, würde manch eine wahrscheinlich gründlicher nachdenken. Oder wir alle aussterben. Aber da kaum eine sich je lautstark beschwert und wir alle, wenn überhaupt, nur vor uns selbst jammern, wissen die jungen Frauen eben auch nicht, was genau da auf sie zukommt, sie wissen nur eins: Sie werden es besser machen als ihre Mütter. Genau das habe ich als Schwangere auch gedacht. Man schwebt in einer Art hormoneller Überheblichkeit durch die neun Monate und bei allen Selbstzweifeln, die ab und an ob der Ungewissheit aufpoppen, bleibt doch am Ende ein einziger Anspruch: es besser und anders als die eigenen Eltern zu machen.
Von diesem Anspruch ist auch meine Tochter getrieben. Das Zauberwort bei ihr lautet: bedürfnisorientierte Erziehung. Bis meine Tochter Mutter wurde, dachte ich, jede Form der Erziehung sei bedürfnisorientiert. Essen, trinken, schlafen, lieben. Pustekuchen. »Kinder und ihre Bedürfnisse müssen konsequent wahrgenommen werden. Dadurch wird die Bindung gestärkt und das Resultat einer bedürfnisorientierten Erziehung sind starke und selbstsichere Kinder.« Das war das Erste, was ich im Netz darüber gelesen habe. Seitdem habe ich eine Menge dazugelernt. Ob das Konzept mich überzeugt? Nein. Der Ansatz ist lobenswert, aber kindliche Bedürfnisse sind mit Alltag nicht immer besonders kompatibel. Es gibt außerdem Fragen, da halte ich groß angelegte Diskussionen für kontraproduktiv. Wenn zum Beispiel Halvar keine Schuhe tragen möchte, er eben ein Bedürfnis hat, barfuß zu gehen, dann redet meine Tochter mit ihm. Sie geht in die Hocke, um auf Augenhöhe zu sein, und erklärt ihm, dass es zu kalt sei, er frieren werde und krank werden könnte. Sollte das den Fünfjährigen argumentativ nicht überzeugen, gelten seine Meinung und seine Bedürfnisse genau wie die meiner Tochter. Wird Halvar wütend, bleibt meine Tochter immer ruhig. Bewundernswert. Einvernehmliche Lösungen zu finden, lautet das Ziel bei der bedürfnisorientierten Erziehung. Das brauche allerdings Zeit und Geduld und starke Nerven. Ich denke, man kann Kinder wählen lassen, welche Schuhe sie tragen, aber ob sie Schuhe tragen, steht nicht zur Diskussion. Vielleicht bin ich auch einfach nur altmodisch. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ein Tag haben muss, um so gut durch einen eng getakteten Alltag zu kommen? Öffnungszeiten von Kitas, Arbeitszeiten, Wetterlagen? Im Internet habe ich Frauen gesehen, die mit Dreijährigen durchgesprochen haben, was die für einen Joghurt wollen? Den mit Himbeeren oder Heidelbeeren? Oder den ohne alles? Mit ein bisschen frisch geschnittenem Obst? Banane oder Apfel? Oder auch Mango. Soll es ein kleiner oder großer Joghurt sein? Vollfett oder fettreduziert? Ob Mami den Deckel abziehen soll? Ob halb oder ganz? Oder will das Kind das lieber selbst machen? Mit welchem Löffel das Kind essen will? Dem großen oder dem kleinen? Dem blauen oder dem gelben? Selbstverständlich kann man es so machen, aber man sollte ansonsten nicht viel auf der To-do-Liste stehen haben.
Und mal ehrlich? Fallen diese Kinder nicht in ein sehr tiefes emotionales Loch, wenn sie merken, dass der Rest der Welt nicht ganz so bedürfnisorientiert mit ihnen umgeht? Wenn es ihrer Lehrerin egal ist, ob sie eher ein Bedürfnis nach Computerspielen haben und weniger Bedürfnis nach Mathematik? Wird die das mit den bedürfnisorientiert Aufgewachsenen in Ruhe erst mal ausdiskutieren? Das wage ich zu bezweifeln. Sonst kommen die ja nie zu Potte.
Obwohl ich vom Konzept dieses Erziehungsstils nicht überzeugt bin, mühe ich mich redlich. Vor allem, wenn meine Tochter in der Nähe ist.
Sie hat bei all dem bedürfnisorientierten Erziehen immer noch Kraft für die ein oder andere Kontrolleinheit. Wer ihre Kinder babysittet, muss immer mit Überraschungsbesuch rechnen. »Ich war früher fertig mit dem Arbeiten!« oder »Ich hatte solche Sehnsucht nach den beiden!«. Schwups steht sie in der Tür, reißt die beiden an sich, als würde sie sie nach jahrelangem Gefängnisaufenthalt endlich wiedersehen. Dann lässt sie blitzschnell den Blick durch den Raum schweifen auf der Suche nach Verfehlungen. Inzwischen bin ich auf der Hut, wenn ich Halvar und seinen kleinen Bruder beaufsichtige. »Wenn du mit ihnen Zeit verbringen darfst!«, nennt es meine Tochter und ich bin mir sicher, dass sie eine Eins-a-PR-Frau geworden wäre.
Trotzdem bin ich Claudia auf eine verrückte Art dankbar. Nicht, weil sie mir gestattet, auf ihre Kinder aufzupassen (das auch ein bisschen), sondern weil ihr Hobby Lesen ist. Meine Tochter ist regelrecht besessen von einer bestimmten Art von Romanen. Young Romance nennt sich die Gattung, die noch zahlreiche Untergattungen hat. Young Adult, New Adult, Dark Romance. Das Ganze gibt es natürlich auch für die LGBTQ+-Abteilung. Es sind Liebesromane, die meine Tochter geradezu verschlingt. »Sie machen einfach nur happy!« Die Cover sind pastellfarben, gerne mit reichlich Glitzer, viel Rosa, Gold und zartem Türkis. Die Sparte Roman boomt. Die Bestsellerlisten sind voll damit. Buchhandlungen widmen diesem Spektrum ganze Abteilungen, man fühlt sich wie in Barbies Bibliothek. »Was die davon verkaufen, ist unglaublich! Die machen richtig Kohle!«, hat meine Tochter geschwärmt. Das war das Stichwort, bei dem ich aufgehorcht habe. Kohle. »Kann ich mal einen von dir ausleihen?«, habe ich meine Tochter gefragt und die hat mich verwundert angeschaut. »Ich glaube das ist nicht für dein Alter gedacht!«, hat sie gegrinst. »Wie der Name schon sagt: Young Adult, New Romance!« Sie hat skeptisch den Blick über mich schweifen lassen.
Wie charmant. Als wüsste ich nicht, dass ich auch bei wohlwollender Betrachtung und sehr gutem Licht nicht mehr in die Young-Adult-Zielgruppe gehöre. Trotzdem hat sie mir großherzig einen der Topseller dieser Gattung geliehen. Icebreaker. Inhalt: Junge Eiskunstläuferin will zu Olympia, hat Probleme mit ihrem Eiskunstlaufpartner, trifft auf unglaublich gut aussehenden Eishockeytypen (sehr viel Eis) und man weiß augenblicklich – ja, diese beiden sind füreinander bestimmt. Es gibt ein paar Irrungen und Wirrungen, aber hintenraus sind die beiden für immer glücklich.
Erwartbar, voller Klischees und ziemlich viel Sex. Mit Happy End. Bis auf das Mehr an Sex eigentlich eine Art Groschenroman. Moderner Lore-Roman, ziemlich schlüpfrig. Kein Buch, das je für einen Buchpreis vorgeschlagen wird, aber ein absoluter Verkaufsschlager.
Warum nur gibt es Young Romance aber keine Old Romance? Wir hätten doch jenseits der fünfunddreißig sehr viel mehr Bedarf an einer Extradosis Romantik. An herrlichen Liebesgeschichten mit Happy End. Wir befinden uns hormonell auf rasanter Talfahrt und bräuchten dringend jedwede Unterstützung. Wenigstens literarisch. Mental. Aus diesem Gedanken entstand die Idee. Ich schaffe ein neues Genre: Old Romance.
Alt genug dafür bin ich auf jeden Fall und nach sehr vielen Jahren Beziehung und inzwischen in der zweiten Ehe hat sich auch genug Sehnsucht aufgestaut. Von Bedarf an Romantik, erotischen Feuerwerken und Happy End will ich gar nicht reden. Ich bin somit prädestiniert, mich der Old Romance zu widmen – und bin mir sicher, da draußen sind sehr viel mehr, denen es genauso geht.