Unheiliger Engel - Andrea Mertz - E-Book

Unheiliger Engel E-Book

Andrea Mertz

4,5

Beschreibung

Arrogant, geheimnisvoll, skrupellos und gefährlich. Sergej Nikolaj Kasamarov kultiviert seinen sagenhaften Ruf als schwerreicher Geschäftsmann und notorischer Playboy. Auf seine besonderen Fähigkeiten und Kräfte hat er lange verzichtet und im Laufe der Jahrhunderte gelernt, mit seiner Unsterblichkeit umzugehen, zu tarnen, und keine unnützen Gefühle zu investieren. Als seine alte Feindin und rassige Hexe Anna, sowie die attraktive Polizeikommissarin Elaine Jäger in sein geordnetes Leben treten, überschlagen sich die Ereignisse. Er wird des bestialischen Mordes beschuldigt und verhaftet. Sergej muss nicht nur seine tiefen Gefühle und Sehnsüchte für Elaine in den Griff bekommen und seine Unschuld beweisen, sondern auch den Kampf gegen Anna und ihre dämonischen Gesellen aufnehmen. Doch die größte Gefahr für die Menschheit ist er selbst.

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Unheiliger Engel

Andrea Mertz

E-Book

Unheiliger Engel

Andrea Mertz

© 2012 Sieben Verlag, 64372 Ober-Ramstadt

Covergestaltung: Andrea Gunschera

Korrektorat: Susanne Strecker, www.schreibstilratgeber.com

ISBN-Taschenbuch: 978-3-864430-95-4

ISBN-eBook-PDF: 978-3-864430-18-3

ISBN-eBook-Epub: 978-3-864430-19-0

www.sieben-verlag.de

Für Christel, Josef, Michael und Susa

in Liebe und Dankbarkeit

Die Autorin

Das Licht der Welt erblickte Andrea Mertz 1969 im malerischen Menden/Sauerland. Sie schlug nach dem Abitur eine langjährige kaufmännische Laufbahn ein und arbeitete zuletzt als Assistent Manager und Innendienstleitung Export im Vertrieb von Medizinprodukten.

Neben ihrer beruflichen Tätigkeit blieb Andrea Mertz jedoch ihrer eigentlichen Passion, dem kreativen Schreiben, immer treu. Sie verfasste einige Gedichte und Kurzgeschichten. 2011 erschien ihre erste Romanreihe mit dem Titel „Der schwarze Lord“ in einem Berliner Verlag.

Aktuell lebt Andrea Mertz mit ihrer Familie sowie einer „tierischen“ Rasselbande am Rande des Sauerlandes. Das Schreiben nimmt einen wichtigen Platz in ihrem Leben ein und wir dürfen uns auf weitere Projekte aus ihrer Feder freuen.

But I don’t see any angels in the city

I don’t hear any holy choirs sing

And if I can't get an angel

I can still get a boy

And a boy’d be the next best thing

The next best thing to an angel

A boy’d be the next best thing

(Tonight is what it means to be young – Fire Inc.)

Prolog

E

s gab einst eine Zeit, da war ich göttliches Licht, nächtlicher Sternenglanz, das Strahlen der Sonne, der helle Schein des Mondes, zuckender Blitz und tosender Donner. Ich war eins mit dem Himmel und den Elementen, ein Teil der Sphären und Universen. Es gab weder Anfang noch Ende, nur das reine Sein, endlose Harmonie und Frieden. An meiner Seite standen meine Brüder, schon immer und für immer, sie waren himmlische Lichtgestalten wie ich, die überirdisch wandelten. Gott war unser liebender Vater und alles war gut.

Dann schuf er sie aus einer Laune heraus, die unwürdigen Wesen, so unfertig und hilflos wandelnd, geboren aus Staub und Lehm. Er gab ihnen Namen, eine Heimat und hauchte ihnen seinen Odem ein. Gott nannte sie seine Kinder. Doch anstelle ihm zu huldigen und ihm zu dienen wie wir, verfielen die Menschen alsbald der Sünde und kehrten sich ab vom Pfade der Tugend. Trotz allem beharrte Gott auf seiner Liebe zu ihnen, verzieh ihr frevlerisches Tun und widmete ihnen seine ganze Aufmerksamkeit. Wir sollten uns ihnen beugen, den wertlosen Staubwesen, vor ihnen knien und sie mit unseren Flügeln aus göttlichem Licht emporheben aus dem Dunst der Erde. Wir sollten sie lieben und annehmen, so wie er es tat.

Aber wie sollten wir das tun? Und nichts war mehr gut. Manche Engel lehnten sich auf gegen Gott, sie fühlten sich vernachlässigt und ungeliebt. Sie zweifelten an seinem Tun, seiner unerschütterlichen Liebe zu den Menschen und entzweiten sich, so wie ich. Aus hellem Licht wurden düstere Schatten und aus Harmonie Zwietracht.

Und Gott sprach zu unserem Ersten, zu Luzifer, dem Fürsten der Engel und Sohn der wundervollen Morgenröte, so prächtig und schön: „Der du das Bild der Vollendung warst, voller Weisheit und vollkommen an Schönheit. Du warst in Eden, dem Garten Gottes und allerlei Edelgesteine waren deine Decke. Du warst ein schimmernder, gesalbter Cherub und allein ich hatte dich dazu gemacht. Vollkommen warst du in deinen Wegen von dem Tage an, da du geschaffen wurdest, bis Unrecht an dir gefunden wurde.“

Luzifer, der schöne Morgenstern, empörte sich ob dieser anklagenden Worte. Er empörte sich, dass Gott ihm vorwarf, die Menschen zum Bösen verführt zu haben, um ihm und uns zu beweisen, dass ihre Natur vom Grunde her böse sei.

Da setzte Gott zornentbrannt nach: „Du sprachst in deinem Herzen: Zum Himmel will ich hinaufsteigen, hoch über die Sterne Gottes meinen Thron erheben, und mich niedersetzen auf den Versammlungsberg im äußersten Norden. Ich will hinauffahren auf Wolkenhöhen, mich gleichmachen dem Höchsten.“

So fiel Luzifer durch seinen Hochmut, denn er hatte sich selbst erhöht und über unseren Vater gestellt. Entgegen seinem Tun mit den Menschen hatte Gott allerdings keinerlei Mitleid mit Luzifer und verbannte ihn für immer. Er warf ihn als Blitz vom Himmel und der lichtbringende Morgenstern fiel hernieder auf die Erde. Er wurde zum verstoßenen Satan und die Elemente tobten wütend.

Aus Luzifers Verdammung resultierte der offene Aufstand aller Engel, die ihm zugetan waren, und Bruder wandtesich gegen Bruder. Ich konnte in jenem Moment weder begreifen noch ermessen, was es bedeutete, doch es gab kein Entrinnen für mich und allein meine Zweifel an Gottes Tun waren meine Schuld. Wir kämpften eine Schlacht der Engel, ein unerbittliches Gemetzel ohne Gnade und der Himmel färbte sich blutrot unter unserem unseligen Tun.

Irgendwann stand ich Michael gegenüber, seinem Erzengel, meinem Bruder und Lehrmeister. Unser Licht verschmolz für einen Moment der Ewigkeit und Stille. Diese Stille herrschte auch in mir, doch aus dieser trügerischen Ruhe wurde allzu schnell wieder Sturm. Als unsere Schwerter aus gleißendem Feuer aufeinandertrafen, zuckten Blitze vom Himmel und Feuersäulen stoben in die Nacht. Jeder Hieb war von heftigem Donnergrollen begleitet. Michael galt unter uns Engeln als unbesiegbar, und ich konnte ihm nicht lange standhalten. Tatsächlich wollte ich es auch nicht, denn ich hätte ihm niemals schaden können. Dazu verband uns zu viel. So bäumte ich mich ein letztes Mal auf, als Michael mir sein Schwert vernichtendin die Seite stieß. Ich sah Tränen in seinen Augen, als ich mich krümmte und zusammenbrach, das unselige Schwert meinen Händen entglitt. Ich stürzte und fiel von Schmerzen gepeinigt, ungläubig darüber, dass er mich verletzen konnte. Michael versuchte, meine Hand zu ergreifen und mich zu halten, doch er verfehlte mich und ich war für den Himmel verloren.

„Athnos“, erklang seine Stimme, verhalltelangsam und verstummtebald.

Es war das vorletzte Mal, dass ich meinen himmlischen Namen hörte.Ich schrie, taumelte und stürzte unaufhaltsam wie ein gleißender Komet verglühend tiefer und tiefer. Meine prächtigen Flügel verbrannten und mein helles, reines Licht erstarb.

So wie ich. Alles, was ich war, verging in diesem furchtbaren Moment für immer und ewig.

Gott hatte mich vertrieben und mit den anderen aufständigen Engeln in den Staub der Erde geschleudert, der sich nun mit mir verband. Der mich neu formte und zu einer körperlichen Kreatur machte, wie sie es waren, die mir verhassten Menschen.

Doch ich war kein Mensch, ich wurde etwas anderes.

Als die Benommenheit nachließ, wollte ich mich aufrichten, aber mein Körper war schwer und unbeweglich. Ich hatte plötzlich Arme und Beine, die ich nicht koordinieren konnte und die mir den Dienst versagten. Es war wie ein Gefängnis, erdrückend und erstickend. Schmerzen spürte ich überall, nagend und fast unerträglich. Ich war wie gelähmt und zitterte, während in mir ohnmächtiger Hass, Unverständnis, Trauer und Wut tobten. Destruktive Empfindungen, die ich in dieser Intensität nie zuvor gespürt hatte. So blieb ich im Staub der Erde liegen und der Regen fiel auf mein nacktes, weißes Fleisch, mischte sich mit meinen Tränen.Ich war allein und einsam und zum ersten Mal verstand ich dieses Wort.

Ein gefallener Engel, von nun an verdammt und verurteilt, ewiglich auf Erden zu wandeln und die Menschen zu ertragen. Die unwerten Kreaturen, wegen derer ich aus dem Himmel verstoßen worden war. So schwor ich in diesem Moment der vollkommenen Niederlage, sie für mein Verhängnis leiden zu lassen. Ich würde Rache nehmen an ihnen und sie vernichten.

Doch meine Kraft war verbraucht, ich war müde und schlief viele Jahrhunderte. Irgendwann erwachte ich, mein Körper war starr und eiskalt, genauso kalt wie mein Innerstes. Ich war zu einem Dämon der Rache geworden, der von Blutdurst, Hass und unstillbarer Wut getrieben war. Hässlich wie mein Innerstes war auch meine Erscheinung. Und so begann ich meine Rache und mein unseliges Werk. Ich machte mich vertraut mit den Menschen, beobachtete und studierte sie, erkannte ihr Wesen, ihre schwache Natur. Ich säte Zwietracht, Zweifel, Angst, Gier und Wut und meine Saat ging auf. Meine Dämonenbrüder halfen auf ihre Art. Wir machten uns einen Spaß daraus, die Menschen heimzusuchen, die Geschöpfe Gottes, um ihn damit herauszufordern und zu verhöhnen. Menschen waren einfältige und willige Eleven, die vom Bösen magisch angezogen wurden. Die nie zufrieden waren mit dem, was sie besaßen. Sie wollten immer mehr, ließen sich nur zu gern führen und verführen.

Wir brachten gemeinschaftlich Tod und Trauer, labten uns am Elend und Leid der Menschen, ihrem Blut, ihrem Niedergang. Sie führten Kriege und erschlugen sich gegenseitig. Die vielen Schlachtfelder tränkten sich mit ihrem Blut und verdarben ihre Ernten. Manchmal mussten wir nur noch zuschauen. Viele Jahrhunderte, gar Jahrtausende, suchte ich so die Menschen heim und frönte meinen Rachegelüsten, die nicht weniger werden wollten. Hass und Wut brannten tief in meinem entstellten Innersten.

Es kam der Tag, ich weilte wieder einmal auf einem Schlachtfeld der Menschen und labte mich am Anblick der Getöteten, an dem mich ein Feuerstrahl traf, der meine Augen beinahe verbrannte. Ich heulte auf, drehte mich schnell ab und rüstete mich instinktiv zur Gegenwehr. Mittlerweile hasste ich das Licht, fand nur in der Dunkelheit Trost und wenige Momente der Ruhe. Vor mir erschien eine Gestalt, in Licht und Glanzgetaucht, himmlisch schön, wallende Gewänder und Flügel weiß wie frisch gefallener Schnee. Die Gestalt hob mahnend einen Arm und ich wurde urplötzlich niedergeschleudert auf die blutgetränkte Erde.

„Wieder im Staub“, grollte ich, innerlich abgestorben und beinahe teilnahmslos. „Blutiger Staub um mein blutiges Handwerk, so lasse denn mein Ende kommen und gewähre mir keine Gnade.“

„Was hast du nur getan?“, erklang eine eindringliche Stimme in meinem Kopf und ich versuchte, mich aufzurichten. Eine Kraft, seine Kraft, hielt mich jedoch nieder. Ich schüttelte mich, dennoch war die Stimme in mir und deutlich zu hören.

„So viele Jahre sind vergangen und du hast noch immer nichts gelernt. Deine Taten sind unentschuldbar, Unheiliger.“

„Du hättest mich damals vernichten sollen.“ Ich hatte den Engel längst erkannt, der mich aus dem Himmel vertrieben hatte. „Was du erblickst, ist dein Werk, Michael. Ich bin, was du aus mir gemacht hast.“

„Es lag mir nicht an deiner Vernichtung, doch du hast dich gegen unseren Vater erhoben und dein Schicksal selbst besiegelt. Noch mehr als das, du überziehst den Garten unseres Vaters mit Tod und Leid, nur um dich zu rächen.“

„Was stört es ihn? Hat er sich je um diese elenden Würmer gekümmert, nachdem er sie erschaffen hat?“

„Schweig still!“

Mein Körper war plötzlich wieder erdrückend schwer wie an jenem ersten Tag, dem furchtbaren Moment meiner Verstoßung aus dem Himmel und Wiedergeburt auf der Erde. Das musste sein Werk sein. Ich atmete stoßweise und erwartete, erhoffte, dass er mich endlich mit seinem unbesiegbaren Flammenschwert erschlagen würde. Michael, die rechte Hand Gottes. Ich würde mich nicht wehren, denn ich sehnte mich nach dem Tod und dem Ende meines Daseins. Vielleicht hatte ich all das nur getan, damit er endlich käme und ich nicht mehr sein würde, nicht mehr sein müsste, denn mein Selbsthass fraß mich auf.

Endlich war es soweit und ich war nur noch wenige Momente von meiner Erlösung entfernt. So senkte ich den Kopf, schloss die Augen und flehte innerlich um meine vollständige Vernichtung. Nur nicht mehr existieren und denken müssen, endlich vergessen können, denn ich wollte mich, mein Tun und meine Dämonenfratze nicht länger ertragen.

„Ich kenne deine Gedanken, Unheiliger“, sprach Michael und ergriff meine kalte Hand. „Doch so einfach werde ich es dir nicht machen, denn du hast keine Erlösung verdient.“

Ich schrie auf, die Hitze der Berührung war unerträglich und sein Glanz vollkommen und rein. Plötzlich war ich für einen Moment wieder das, was ich einmal gewesen war, friedvolles, warmes, wunderbares Licht, losgelöst und eins mit den Dingen.

„Nun erblicke deine Schandtaten mit meinen Augen.“

Ich sah, was ich getan hatte, alle Frevel und Verbrechen zogen an meinem inneren Auge vorbei, die ganze Schuld, die ich auf mich geladen hatte. Wie entsetzlich und grauenvoll! Ich stöhnte vor Abscheu und Tränen aus Blut rannen aus meinen Dämonenaugen. „Nein, ich will das alles nicht sehen.“

„Jetzt weißt du, was du getan hast, Athnos.“ Fast tröstend waren die Worte gesprochen und sanft glitt ich wieder zu Boden. „Weine nur, denn deine Tränen bezeugen, dass noch etwas Gutes in dir steckt.“

Athnos. Ich hörte meinen Namen in diesem Moment zum letzten Mal. Mein Name und Hauch einer Erinnerung an das, was ich gewesen war und unwiederbringlich verloren hatte. An das, was uns Engel einst ausgemacht hatte. Ich weinte lautlos, mein Körper verkrampfte sich vor Selbsthass und zuckte unkontrolliert.

„Du hast mich in dieses abscheuliche Gefängnis gesperrt“, klagte ich irgendwann leise. „In diesen grauenvollen Körper, den jeder verachtet.“

„Es war nie der Körper, mein Bruder, es waren und sind die frevlerischen Taten, die dir auf Seele und Herz lasten. Allein an unserem Vater zu zweifeln war Sünde und Grund deiner Verdammnis.“

„Ich bin so geworden, es war unausweichlich.“

„Du hattest immer eine Wahl“, erklang seine sanfte Stimme. „Dein Hass hat dich in das verwandelt, was du nun bist. Eine unheilige Kreatur, die nach Blut trachtet und alles hasst, sogar sich selbst.“

„Töte mich bitte“, bat ich leise. „Ich will so nicht weiterleben.“

Er blickte mich lange an. „Es dauert mich, dich so zu sehen, mein Bruder, und du magst nicht ermessen, wie sehr. Doch ich darf und werde dich nicht töten.“

„Warum willst du meine Qualen nicht beenden?“

„Weil Gott anderes mit dir vorhat.“

„Will er mich ins Fegefeuer werfen wie Luzifer? Nur zu!“

„Du wirst von nun an als Unsterblicher auf Erden wandeln. Das ist deine Strafe für deine Frevel und eine Möglichkeit, Buße zu tun, indem du Wandlung zeigst und den Menschen zu Diensten bist.“

„Ich kann das nicht, ich hasse sie.“

„Liebe sie und dir wird vergeben werden.“

Michael streichelte meinen Kopf und mein rabenschwarzes, feuchtes Haar. Schwarz wie mein Innerstes, verbrannte Erde und verkommenes Sein. „Ich weiß nicht, was Liebe ist“, knurrte ich finster. „Und es ist mir auch egal.“

„Das ist nicht wahr, du hast es nur vergessen. Es steckt noch immer so viel mehr in dir, in diesem degenerierten und entstellten Körper, der dir so unendlich verhasst ist.“

„Das glaube ich nicht.“

„Mein Glaube reicht für uns beide.“

„Aber warum?“

„Unser Vater meint es gut mit dir. Andere hat er ins Feuer verbannt, wo sie bis zum Jüngsten Tag brennen werden. Dir wird eine besondere Aufgabe zuteil, die du zu erfüllen hast.“

„Und die wäre?“

„Du wirst sein Siegel sein, sein Wächter, somit Gottes Werkzeug und Gefäß.“

Ich konnte nur noch gebannt seinen Worten lauschen, auch wenn ich nicht alles zu verstehen und ermessen vermochte.

„Ein Teil von dir wird immer mit uns Himmlischen verbunden sein und der Engel in dir wird über besondere Kräfte verfügen, wenn sie zum Guten genutzt werden. Wenn du eines fernen Tages deinen Glauben an unseren Vater wiederfindest. Wenn du um diese Gaben, dieses Geschenk bittest. Du wirst das Gesicht eines Engels haben und die Menschen werden dir zugetan sein. Alle Hässlichkeit wird weichen.“

Er machte eine Pause und streichelte mich weiter, während meine entstellte Dämonenfratze weicher wurde, sich veränderte. Die Hässlichkeit wich tatsächlich. Obwohl ich es selbsterlebte, konnte ich es noch immer nicht glauben.

„Ein anderer Teil von dir bleibt jedoch der bösartige Dämon, der du geworden bist. Der dich täglich versuchen wird und dessen zerstörerische Kräfte verlockend sind. Du hast Blut getrunken und diese Schuld kann ich nicht von dir nehmen, mein Bruder. Du musst lernen, mit ihm zu leben und seine Macht über dich zu begrenzen, sonst wird er irgendwann übermächtig. Das würde deine endgültige Vernichtung bedeuten.“ Während er mich unaufhörlich und tröstend streichelte, fuhr er fort. „Ein letzter Teil wird dir ermöglichen, dich den Menschen zu nähern, sie zu verstehen und unter ihnen zu leben. Du wirst wie sie fühlen können, Leid und Freude empfinden und eines Tages vielleicht lieben lernen. Und damit meine ich nicht die Liebe zu dir selbst, sondern die wahre Liebe zu einem Menschen. Die tiefe und zweifelsfreie Liebe zu Gott und all seinen wunderbaren Geschöpfen.“

„Das wird niemals passieren. Ich hasse und verabscheue all seine Kreaturen.“ Allein einen Menschen zu sehen, ihn anzufassen, gar seinen intensiven Geruch wahrzunehmen oder seinen Atem zu spüren, erfüllte mich mit purem Ekel.

„Hass ist ein mächtiges Wort, aber noch mächtiger ist die Liebe. Wir werden sehen, was passieren wird, wenn du ein Stück weit menschlich werden wirst.“

„Das kann nicht dein Ernst sein, Michael.“ Panik machte sich in mir breit.

„Sei bereit für deine Verwandlung und wehre dich nicht. Gegenwehr macht es umso schmerzvoller.“

„Ich will nicht menschlich sein“, begehrte ich erneut auf, doch Michael lächelte.

„Denke daran, dass sie von unserem Vater geschaffen wurden. Du wirst sein Kind, sein Geschöpf sein.“

„Ich habe die letzten Jahrhunderte an nichts anderes gedacht.“ Der Dämon in mir grollte. „Hätte er sie nicht geschaffen, wäre alles noch immer gut und …“

Doch Michael unterbrach mich mit einer energischen Geste. „Hör auf, Unheiliger. Du wirst als Unsterblicher genug Zeit haben, dich an den neuen Status quo zu gewöhnen. Doch bedenke, dass du nicht unverletzlich bist. Du wirst verletzt werden können wie ein Mensch, bluten wie einer, empfinden wie einer, ein Gewissen haben und somit auch Schmerz und Leid verspüren. Es wird dir helfen, dich zum Guten zu wandeln und zu verstehen, was der Sinn deiner Existenz ist.“

„Nein!“ Alles in mir schrie nach Flucht.

„Doch, Unheiliger.“

„Halte ein und töte mich!“ Ich schnellte empor, doch er hielt meine Hand fest und die göttliche Energie der Veränderung und Umformung glitt über sie in meinen hässlichen, entstellten Körper.

„Ich fürchte, du hast keine Wahl, Bruder.“

„Nein, bitte.“ Ich flehte, bettelte und der Dämon in mir tobte, spuckte Gift und Galle, die den Boden unter mir verätzten. Noch einmal versuchte ich, mich loszureißen, aber ich war zu schwach.

„Gib nach“, flüsterte Michael. „Füge dich endlich und nimm sein Geschenk an.“

So ergab ich mich irgendwann meinem Schicksal und senkte zitternd und bebend den Kopf vor Michael als Zeichen meiner Niederlage, meiner Unterwerfung.

„So ist es gut, mein Bruder.“

„Nichts ist gut.“

„Du wirst ohne Erinnerung an dein Sein und deine Vergangenheit auf Erden wandeln, in einer Zeit, weit von der jetzigen entfernt. Ich werde über dich wachen, Bruder, und das ist mein heiliges Versprechen.“

In diesem Moment gab er meine Klauenhand frei, seine Stimme verklang und das überirdische Licht, welches mich die ganze Zeit geblendet hatte, erlosch. Es wurde dunkel um mich, still und bedrohlich. Fast wünschte ich, er möge mit seinem Licht zurückkehren und meine Hand halten. Mein Atem stockte und kurz darauf zerriss mich ein unbeschreiblicher Schmerz, der die Qualen der durch meine Hand getöteten Menschen spiegelte. Ich konnte nicht einmal mehr schreien.

Hamburg, 2011

E

laine hastete fröstelnd durch die enge Seitenstraße, in die kurz zuvor einLeichenwagen eingebogen war. Das Blaulicht von Polizeiwagen tauchte die schmuddeligen Wände der Häuserfronten in ein gespenstisches Flackerlicht. Nebelschwaden hingen in der Luft. Die trostlose Szenerie passte zu diesem regnerischen Novembertag. Kälte drang unangenehm durch Elaines Kleidung.

Sie spürte, dass etwas Außergewöhnliches geschehen sein musste, denn die Stimme ihres Vorgesetzten hatte am Telefon gepresst und gehetzt geklungen. Reuter war ansonsten ein Mann, den nicht allzu viel erschüttern konnte.Schon aus der Ferne konnte sie die breite und bullige Figur ihres Chefs Kriminalhauptkommissar Reuter ausmachen, der sie telefonisch zu dieser Adresse bestellt hatte. Er winkte sie heran und seine angespannte Miene machte deutlich, dass an diesem abgelegenen Ort Hamburgs etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

Schnell vertilgte Elaine den letzten Bissen ihres Croissants. Vielleicht würde ihr der Appetit bald vergehen.

„Ich bin so schnell wie möglich gekommen“, sagte sie und drückte seine kräftige Hand, die er ihr grüßend entgegenstreckte.

Er nickte und sparte sich einen anzüglichen Kommentar, mit denen er sie normalerweise neckte. Elaine war für ihren gesunden Hunger bekannt. „Die Kollegen von der Polizei haben uns zu diesem Fall hinzugezogen. Wir haben es hier mit einer ganz besonderen Schweinerei zu tun“, kommentierte er. „Zwei Personen sind auf bestialische Art und Weise ermordet worden und in dem Keller des Hauses sieht es aus wie in einer Schlachterei. Das ist kein schöner Anblick und nichts für schwache Nerven“, merkte er an und seine fahle Gesichtsfarbe machte deutlich, dass selbst ein hartgesottener Beamter wie er von dem aktuellen Geschehen nicht unberührt geblieben war. „Wir sichern noch immer die Spuren, aber sehen Sie selbst.“

Elaine wappnete sich innerlich und folgte Reuter ein paar Stufen hinab, die in den großen Kellerraum eines baufällig anmutenden Stadthauses führten. Sofort schlug ihr ein abstoßender Geruch entgegen, der von Tod und Verderben kündete. Hier unten wimmelte es von Polizeibeamten und Elaine musste sich an die grellen Strahler gewöhnen, die den Raum ausleuchteten. Was sie dann erblickte, ließ ihren Magen rebellieren. Sie schloss die Augen für ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. Sie war erst seit wenigen Monaten in Hamburg im Dienst und beim langen Studium an der Polizeiakademie wurde man auf fast alles vorbereitet, nur nicht auf das reale Grauen des Todes, das nun auch von ihr Besitz ergriff.

Reuter schenkte ihr einen mitfühlenden Blick. „Das ist selbst für alte Hasen heftig“, raunte er ihr zu. „Wenn Sie frische Luft schnappen wollen …“

„Nein, es geht schon.“ Elaine räusperte sich und schaute sich um. Nur nicht die Nerven verlieren, hämmerte es in ihrem Schädel. Sie war eine BeamtindesLKA und musste sich an diese Dinge gewöhnen.

„Wir haben zwei Opfer und dazu diese unglaubliche Sauerei gefunden“, informierte Reuter weiter.

„Zeugen?“

„Nur den Mann, der die Leichen entdeckt hat. Er ist seinem Hund nachgelaufen, der wohl vom intensiven Verwesungsgeruch angezogen wurde. Der Mann steht allerdings unter Schock und kann momentan nicht befragt werden.“

„Kein Wunder.“ Elaine versuchte, möglichst nicht durch die Nase zu atmen.Dann würde der Würgereiz in ihrer Kehle vielleicht nachlassen.

„Allerdings. Wir haben fast eine Stunde gebraucht, Ratten und anderes Getier zu vertreiben, das sich hier den Magen gefüllt hat.“

Elaine erschauderte und hoffte inständig, dass ihr Gesicht nicht allzu deutlich ihren inneren Aufruhr spiegelte. Ein paar Meter weiter stand ihr Kollege Robert Hedigerund machte sich in aller Seelenruhe Notizen, während zwei Leichen fotografiert wurden, die in der Mitte des Raumes lagen. Es musste sich um eine junge Frau und einen Mann handeln, doch sie waren derart übel zugerichtet, dass es sicher Tage dauern würde, ihre sterblichen Überreste zu identifizieren.

Der Raum war von oben bis unten mit Blut besudelt und mystische Zeichen, Schriften und Darstellungen waren auf dem Boden und den unebenen Wänden zu finden. Hier mussten Wahnsinnige gehaust haben, anders konnte sie sich das Ganze nicht erklären.

Hediger näherte sich ihr und verzog die Lippen zu einem unschönen Grinsen. Sie fühlte seine lüsternen Blicke wie Berührungen, die tastend über ihren Körper glitten. Dabei verfügte er über den Charme einer schleimigen Nacktschnecke und war nicht annähernd ein Mann, den Elaine interessant oder anziehend fand.Seit eine Kollegin ihr gesteckt hatte, dass seine fleischige Männlichkeit lediglich bemitleidenswerten Erdnuckelfaktor besaß, bekam sie diese belustigende Bezeichnung nicht aus dem Kopf.

„Dann können Sie mal zeigen, was Sie im Studium gelernt haben“, meinte er.

„Wie meinen Sie das?“

„Wenn Sie sich als Profilerin einen Namen machen wollen, ist das hier die passende Geschichte, woll?“

Dass Hediger aus dem tiefsten Sauerland stammte, konnte er nicht leugnen.Elaine ignorierte den gehässigen Unterton in seiner Stimme, denn ihr war bewusst, dass sie als Frau mit abgeschlossenem Psychologiestudium und Beste ihres Jahrgangs unter den Kollegen des LKA für Neid und Missgunst sorgte. Aber irgendwie und irgendwann würden sie sich an Elaine gewöhnen und akzeptieren müssen, dass sie alle in einem Boot saßen und dieselben Ziele verfolgten. Bis dahin musste sie sich ein dickes Fell anlegen und an den Erdnuckelfaktor denken. Niemand war perfekt.

„Es geht um den Fall und nicht um meinen Namen.“

„Nicht? Dann sollten Sie wenigstens Reuter nicht enttäuschen, denn er scheint große Stücke auf Sie zu halten. Warum auch immer.“

Elaine schluckte die Kröte und tat beschäftigt. Wenn er keine Aufmerksamkeit bekam, würde er sich schon trollen. Und tatsächlich. Hediger zuckte in Ermangelung einer spontanen Retourkutsche die Schultern und ließ sie stehen.

Elaine studierte die Art und Weise, wie man die Getöteten aufgefunden hatte und welche Spuren und Anhaltspunkte hinterlassen wurden. Dabei gab es Einiges zu entdecken, denn die Körper lagen in einem Kreide-Pentagramm und waren wie bei einem rituellen Prozedere gezeichnet. Ihre Herzen waren entfernt worden und grauenvolle Verstümmelungen ließen annähernd erahnen, was der Mann und die Frau durchgemacht haben mussten, bevor der Tod sie von ihren Qualen erlöst hatte. Elaine ballte die Fäuste. Diese Mistkerle. Irgendwann hatte sie sich an den bestialischen Gestank des Todes, des getrockneten Blutes und die menschlichen Überreste soweitgewöhnt, dass die Übelkeit endlich nachließ und sie wieder klar denken konnte.

„Es sieht so aus, als hätteman eine Art satanische Beschwörung abgehalten.“ Reuter war hinter sie getreten und fuhr sich mit der Hand über das verschwitzte Gesicht. „Etwas Derartiges habe ich noch nie gesehen, höchstens in einem schlechten Horrorfilm.Frank meint, dass die Opfer etwa vor drei Tagen gestorben sind.“

„Daher der Gestank.“ Hediger rümpfte die Nase. „Die Gegend ist wenig bewohnt.“

„Der Gebäudeblock wird in ein paar Wochen abgerissen“, entgegnete Martin Reuter. „Hier soll ein Wohn- und Geschäftsgebäudekomplex hin. Nur etwas später und wir hätten keine Spuren mehr gefunden.“

„Die Opfer wurden also in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November getötet?“ Elaine horchte auf und strich eine Haarsträhne zurück, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte.

„Das ist sehr wahrscheinlich“, bestätigte Reuter.

„Dann war es also an Halloween beziehungsweise Samhain, das ist aufschlussreich und ein erster Ansatz.“ Elaine skizzierte die hinterlassenen Zeichen und Symbole. Später würde sie sich genauer damit beschäftigen.

„Meinen Sie, dass eine Halloweenparty ausgeartet ist oder die gruseligen kleinen Monster, die nach Süßemoder Sauremfragen, in ihren Kostümen lebendig geworden sind?“

„So ähnlich.“ Sie zwinkerte ihm zu und komplettierte ihre Skizzen.

„Die sind gut“, lobte er sie und hob erstaunt eine Augenbraue.

„Samhain?“, fragte Hediger und rückte etwas zu nahe an Elaine heran.

Sie distanzierte sich umgehend ein paar Schritte. Die Nähe zu ihm war unangenehm.

„Samhain ist der erste Tag des Hexenjahres und ein Hochfest im neuheidnischen keltischen Jahreskreis“, antwortete Elaine. „Es könnte eine Verbindung geben, wenn das hier tatsächlich ein Ritual war.“

„Erzählen Sie uns mehr darüber“, forderte Reuter.

„Die Kelten und Germanen teilten das Jahr in Mondmonate ein. Ein Monat begann mit Neumond, dem ersten dünnen Sichelmond nach Schwarzmond, der Mondphase, in der der Mond aufgrund des Neigungswinkels der Erde nicht zu sehen ist. So kennzeichnet Samhain das Ende des alten Jahres und den Beginn des neuen.“

„Und weiter?“

„Das Alte stirbt und daraus entsteht etwas Neues. Dieser Tag erinnert uns daran, dass Leben und Tod die zwei Seiten einer Münze sind, denn ohne den Tod gäbe es kein Leben und ohne Leben keinen Tod. Sehen Sie diese Zeichen hier?“ Elaine wies auf die Wand. „Diese hier sind ganz klar keltischen Ursprungs.“

„Und die anderen dort?“ Reuter betrachtete einige der Darstellungen an der Decke, die sehr wahrscheinlich mit Blut geschrieben waren.

„Dazu werden wir Fachleute befragen müssen, aber ich gehe davon aus, dass eine alte Symbolik dahintersteckt.“

„Was soll uns das nun sagen?“ Hediger reagierte eher genervt denn interessiert.

„Zu Samhain gab es der Auslegung nach einen gewissen Bruch im Zeitengefüge. Die Wände zu anderen Welten sollten besonders dünn und durchlässig sein, weil das alte Jahr zu Einbruch der Dunkelheit endete und das neue mit dem nächsten Tagesanbruch begann. Die dazwischenliegende Nacht war somit ein Freiraum und man glaubte, dass Geister und die Toten an diesem Abend an den Ort ihres früheren Lebens zurückkehren“, erklärte Elaine.Schon ihr Vater hatte sich als Professor für Geschichte an der Universität mit mystischen und okkulten Themen beschäftigt. Elaine hatte ihm bei seinen Studien über die Schulter geschaut und seinen interessanten Geschichten und Erzählungen gelauscht.

„Was durch Opfer begünstigt werden sollte?“ Reuter kratzte sich am schlecht rasierten Kinn.

„In der Tat. Wobei die Wege in dieser Nacht natürlich auf beiden Seiten durchlässig waren.“

„Also konnten Menschen auch in die Geisterwelt eintreten?“

„Manche glaubten daran. In der heutigen Zeit gibt es noch Leute, die sich als Hexen oder Hexerbezeichnen, aber die sind zumeist der Natur zugetan. Wenn sie Opfer darbringen, handelt es sich um Naturalien oder Rauchopfer, in seltenen Fällen habe ich von Tieropfern gehört.“

„Okkultisten sind gefährliche Irre“, zischte Hediger. „Wer weiß, an welche skurrile und blutrünstige Sekte die zwei Opfer geraten sind, woll?“

„Oder an einzelne Fanatiker.“ Reuter blickte Elaine an. „Vampiristen, Leute, die glauben, Werwölfe zu sein, Hexen, Satanisten, es gibt wohl kaum etwas, wases heutzutage nicht gibt. Manche lassen sich sogar die Zähne spitz feilen und schlafen in Särgen.“

„Ich sagte ja, Spinner.“ Hediger seufzte theatralisch und schüttelte missbilligend den Kopf. „Die von unseren Steuergeldern leben.“

„Manche behaupteten, an Samhain zurückkehrende Tote wären auf der Suche nach Lebenden, um in deren Körper zu schlüpfen“, fügte Elaine hinzu und erntete einen amüsierten Blick vonHediger.

„Dann hätten sie mit diesen Körpern hier aber nichts mehr anfangen können, woll?. Aber warum kennen Sie sich mit diesen seltsamen Dingen so gut aus, Frau Neunmalklug?“, wollte Hediger wissen.

Elaine überlegte einen Moment, doch es war müßig, ihm eine ausführliche Antwort zu geben. Das Okkulte und Mystische hatte sie schon immer fasziniert, allein durch ihren verstorbenen Vater bedingt, aber das würde sie ihm nun nicht auf die unförmige Nase binden. Sie beugte sich ihm verschwörerisch entgegen. Neugierig geworden rückte er sofort ein Stück näher heran.„Wir Frauen werden als Engel geboren. Wenn irgendjemand unsere Flügel bricht, fliegen wir einfach weiter, als Hexen auf einem Besen, wir sind ja schließlich flexibel. Woll?“

Reuter lachte schallend auf und Hediger war zum ersten Mal an diesem Tag sprachlos. Auch wenn Elaine wusste, dass sie sich mit diesem Scherz erst recht keinen neuen Freund ergattert hatte, dieserkleine Triumph und sein dümmliches Gesicht waren es wert.

„Gut gekontert.“ Reuter gluckste noch immer und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Vielen Dank.“ Elaine schmunzelte.

„Jaja, lacht nur“, knurrte Hediger und nuschelte etwas, das Elaine nicht verstehen konnte.

„Weiter im Programm und machen Sie Fotos von allen magischen Symbolen und mystischen Zeichen, die Sie finden können“, wies ihr Chef sie an. „In jeder Kleinigkeit könnte ein wichtiger Hinweis stecken.“

„Okay.“ Elaine legte den Zeichenblock zur Seite, um ihre Kamera zu holen.

„Wir müssen uns in derSzene umhören. Hexenkult, Vampirismus, Gothic Bewegung und Okkultismus. Es gibt einschlägige Klubs, Events und diverse Veranstaltungen. Es liegt viel Arbeit vor uns“, überlegte Reuter und klopfte seinem Kollegen auf die Schulter.

Hediger nickte mit zusammengepressten Lippen. Elaine war nicht so sicher, dass sie in der verschlossenen, eigenwilligen und geheimnisvollen Welt der Schwarzen Magie, der Dunkelheit und des Lichts auf Hilfe oder nützliche Hinweise stoßen würden. Die meisten Szenegänger waren sowieso nur Nachahmer, blasierte Fantasten oder äfften einen aktuellen Modetrend nach. Die wirklichen Geschöpfe der Nacht würden sich hüten, ihre Masken zu lüften und ihre Tarnung aufzudecken. Dennoch würde Elainetunlichst vermeiden, ihre Kollegen von ihrer Annahme zu unterrichten, um ihren Ruf als Frau Neunmalklug nicht noch weiter zu untermauern. Manchmal war weniger mehr und gescheiter, besonders, wenn man eine Frau und dazu noch neu im Team war.

Sie machte die Fotos und etwas später konnten sie den Ort des Verbrechens verlassen. Ihre Arbeit war für den Moment getan und würde sie mit etwas Glück, Akribie, viel Mühe und noch mehr Recherchearbeit in den nächsten Wochen und Monaten vielleicht zum Mörder führen.

Elaine atmete erleichtert die frische und kühle Luft ein und aus, doch der intensive Geruch des Todes, der an ihr haftete, wollte nicht weichen.Noch Tage später meinte sie, ihn wahrnehmen zu können.

*

*

Eine wabernde, formlose Menschenmenge unter hektischen, grellen Lichtblitzen und Nebelschwaden auf der Tanzfläche menschlicher Eitelkeiten. Die stickige Luft war erfüllt von Trockennebel, Nikotin, Hasch und allerlei menschlichen Ausdünstungen. Sergej nippte an seinem eisgekühlten Drink und beobachtete die sich biegenden Körper, die den Rhythmus der Nacht zu ihrem Gott erkoren hatten. Ihn anbeteten in einer gottlosen Zeit. Seltsame Gestalten zumeist, manche im Fetisch-Look, Lack, Latex und Leder, einige in gestylter Eleganz wohlklingender Mode-Label. Andere ahmten in Gothicgewändern die Kreaturen der Nacht nach, ohne ihnen auch nur annähernd gerecht zu werden. Denn diese tarnten sich zumeist mit der Maske der Tugend und Schönheit, lockend wie Sirenen, verführerisch wie die Göttin Circe.

Der Klub war frivol, bizarr und dekadent, von außenunscheinbar, abgelegen und zwischen Bahnschienen eingekeilt. Von innen war er eine Welt für sich, in die man eine Nacht eintauchen und sich verlieren konnte, wenn man nicht aufpasste. Mit unterschiedlichsten Veranstaltungen und Partys hatte sich das Etablissement erstaunlich schnell in der verwöhnten, norddeutschen Szene etabliert und somit auch sein Interesse geweckt.

Langsam schritt er durch die weitläufigen Einrichtungen, sah sich um, entdeckte und betrachtete. Die Gäste tummelten sich in einer üppig ausstaffierten Orient-Lounge, der stylishen Lounge-Bar, einer romanischen und gotischen Halle mit allerlei Spielgeräten sowie einem roten Salon, der mit Samt und Plüsch aufwartete. Verbunden wurden die unterschiedlichen Elemente und Stilrichtungen durch eine kleine und eine große Galerie. Er ging weiter und beobachtete auf der begrünten Dachterrasse einige Paare, die sich in einem beheizten Whirlpool sinnlichen Gelüsten hingaben. Es störte sie nicht, dass er ihnen zuschaute, im Gegenteil. Genau das war ihre Ambition, die Aufmerksamkeit der Voyeure zu wecken, ihre interessierten und geilen Blicke auf sich zu ziehen als Essenz ihrer Darstellung. Der Anblick ihrer nackten Körper erregte Sergej mehr als erwartet. Die Beule in seiner Hose war sichtbarer Beweis.Er war scharf wie einegeschliffeneRasierklinge und diesem Zustand musste Abhilfe geschaffen werden.Mit seinem Drink wanderte er zurück, folgte den Klängen der Musik, saugte die Atmosphäre des Ortes und Gedankenfragmente der Menschen auf wie ein trockener Schwamm. Sie fühlten sich sicher unter ihresgleichen, besonders und einzigartig. Beinahe war es zum Lachen, wie sehr sie sich mit dieser überheblichen Annahme überschätzten, denn letztlich verschlossen sie lediglich die Augen vor der Welt da draußen und ihrer eigenen Normalität. Eine Normalität, in die sie spätestens am nächsten Tag zurückkehren würden. Sie waren nur Maskierte unter anderen Maskenträgern in einer Scheinwelt auf Zeit. In dieser Nacht war Sergej ein Teil von ihnen und doch wieder nicht. Er war nicht wie sie, er war anders. Und das schon seit sehr langer Zeit.

Die Luft wurde stickiger, Hitze auf ihrer Haut und ein Wirrwarr aus Tönen, Stimmen und Lauten. Die neun Meter hohe Red-Hall mit Bühne, Dancefloor und DJ-Podest erweckte träge Dunkelheit mit Multimedia- und Soundeffekten zum Leben, harte Techno-Beats wechselten zu Funk und danach düsteren Gothic-Klängen. Die Zeit hatte ihre Bedeutung in dieser Welt verloren.

Sergej stürzte den Rest seines Whiskys die trockene Kehle hinab und setzte sich in Bewegung wie ein Jäger, der seine Beute anvisiert. Lautlos, sicher und zielstrebig. Ein Jäger der Nacht, der alle Vorteile auf seiner Seite hat. Schritt um Schritt näherte er sich dem heutigen Objekt seiner männlichen Begierde. Wie sanfte Berührungen fühlte er die interessierten Blicke einiger Frauen und Männer auf sich, um Aufmerksamkeit ringend und sich produzierend, hübsche, bemalte Gesichter mit gestylten Körpern. Dennoch hatte er kein Interesse an ihnen, denn heute hatte er nur Augen für eine.Sie war schön, langbeinig, eine grazile Gazelle mit grünen Augen. Gierige und lüsterne Gestalten umringten sie, buhlten und lockten mit der einen Absicht, die auch er hegte, die er allerdings im Gegensatz zu ihnen schon bald verwirklichen würde. Ihr wohlgerundeter Körper war kaum bekleidet und wurde lasziv feilgeboten, er bedeutete verruchte Verlockung pur.

687 Menschen in diesem Tempel der Lust, Skurrilität und Laster und er hatte gerade sie für sich erwählt, ihre geschmeidigen Bewegungen und Drehungen in der Menge aus gesichtslosen Gestalten verfolgt. Den Schwung ihrer Hüften bewundert und die Art, wie sie den Kopf sinnlich neigte, jeglichem Taktwechsel der Musik folgte und den Rhythmus auf ihre eigene, sinnlich lockende Weise interpretierte.

So betrachtete er sie eingehend aus der Nähe, nahm ihren Geruch wahr, eine Mischung aus Habit Rouge und ihrem eigenen, weiblichen Duft. Seine Nasenflügel blähten sich leicht, während seine Blicke von ihrem runden, üppigen Gesäß zu gekonnt runderneuerten Brüsten wanderten. Mit jeder Faser nahm er sie wahr. Auch er würde der Kleinen visuell gefallen, denn er konnte alles sein, was sie sich je erträumt hatte. Eine passende Oberfläche, unter der sein wahres Ich verborgen blieb, eine Vision, die sie selbst gewählt hatte und die er ihr nun präsentieren würde. Er wusste nicht, warum es so war, er wusste nur, dass es so war.

„Guten Abend.“ Sergej wählte ein tiefes Timbre, wohlklingend dosiert.

„Oh hallo.“ Sie wirkte überrascht, doch dann wechselte ihre Mimik zu Neugier und Interesse.

„Ich habe dich beobachtet, Kleine.“

„So?“

„Schon eine Weile.“

„Und hat dir gefallen, was du gesehen hast?“

„Du bist anziehend“, flüsterte er ihr zu.

„Vielen Dank.“ Sie musterte ihn eingehend.

Die Unterhaltung wurde angeregter und ging in einen heftigen Flirt über, während sie ein paar Drinks nahmen und die Zeit vergaßen. Immer wieder berührten sich ihre Körper, anfangs wie unbeabsichtigt, dann offener undprovozierend aufreizend. Sie erschufen die Nähe, die sie beide wollten und genossen. Irgendwann griff er ihre zierliche Hand und zog dieFrau auf die Tanzfläche. Sie war geschmeidig, passte sich ihm an und ihre Bewegungen wurden zu einem Balztanz der Verführung. Sergej spürte die vielen Blicke, tiefer Neid paarte sich mit Missgunst und er labte sich daran. Schon bald wollte er mehr, allein der Gedanke, sie zu berühren, ihren schönen Körper als Werkzeug und Gefäß seiner Lust zu benutzen, erhitzte sein Blut. Lüstern rieb er sich an dem jungen Körper und Haut berührte Haut. Die wachsende Anspannung zwischen ihnen suchte nach baldiger Entladung und das spürten sie beide, was er mit Genugtuung feststellte. Ihre Augen flatterten vor Aufregung und ihr erwartungsfroher Blick sprach mehr als jedes Wort. So zog er ihren Kopf näher zu sich, seine Zunge spieltemit der ihren und seine Hände entwickelten ein Eigenleben auf ihrer weichen, weißen Haut. Sie bewegten sich eng zum Rhythmus und er spürte ihre wachsende Erregung, Neugier und Hingabe. Diese Reaktionen reizten ihn und seine Küsse wurden fordernder, während seine Hand über ihre Rundungen glitt. Zuerst umschmeichelte er siesanft und dann intensiver,machteseinen Besitzanspruch geltend. Auch sie begann endlich, ihn ungeniert zu berühren und zu erforschen.

„Braves Mädchen“, hauchte er in ihr Ohr, während seine Hände erneut über ihren Rücken glitten.

„Ich bin alles andere als das“, kokettierte sie. „Gute Mädchen kommen in den Himmel …“

„Und böse Mädchen kommen überall hin.“

Noch ein intensiver Kuss, einem Überfall gleich und probates Mittel, ihre Erregung zu steigern. Sinnliche Schauder der Erregung liefen durch ihren schlanken Körper als Reaktion auf seine zielstrebige Aktion.

„Hmm, ja“, seufzte sie, schloss die verklärten Augen und genoss, was mit ihr passierte. „Das fühlt sich gut an.“

Seine Mundwinkel zuckten, was ein kurzer Mangel an Beherrschung war, den er umgehend korrigierte. Für einen Moment rückte er etwas von ihr ab und betrachtete sie, nahm sie in sich auf mit allen Sinnen. Welch glücklicher Zufall, dass sie sich an diesem Abend begegnet waren. Dieses Zusammentreffen würde einen für Sergej geschäftlich erfolgreichen Tag körperlich befriedigend krönen. „Du bist schön.“

„Vielen Dank.“

„Das hast du sicher schon öfter gehört.“

Sie öffnete die Augen und lächelte ihn an, ihre Zähne blitzten wie weiße Perlen unter sinnlich geschwungenen Lippen, die in diesem Moment keine Worte mehr formen konnten. Denn er hatte sie in Besitz genommen und las in ihren Gedanken wie in einem schmuddeligen Erotikheftchen mit farbigen Bildern. Wie ein Kind an seiner Hand führte er sie weg vom hellen Licht ins Dunkel. So wie er es war, denn er verkörperte sowohl das Licht als auch die Dunkelheit. Jetzt war Sergej nach dieser Dunkelheit, denn er konnte das Licht manchmal ausblenden und sich treiben lassen, er schwamm dann im Zwielicht seiner inneren Zerrissenheit und seines seltsamen Seins. Er hatte so vieles gelernt und so lange Zeit gehabt, die Menschen ausführlich zu studieren und sich gekonnt auf sie einzustellen. Das war seine Art der Evolution und Anpassung an äußere Umstände, an denen andere vielleicht längst zerbrochen wären.So empfand er kein Mitleid mit der jungen Frau und keine Skrupel plagten ihn, denn sie war kein Kind mehr und ihre Gedanken nicht unschuldig. Ihr schönerKörper war bereits ein oft gespieltes Instrument der Lust und er würde es heute Abend für sich stimmen. Er würde auf und mit ihrem Körper spielen und wunderbare Töne erzeugen, bis zu einem wilden Crescendo.

In der etwas abseits gelegenen, verwinkelten Klub-Lounge erwartete sie eine mit rotem Samt bezogene Bretz Couch, die auf goldenen Greifenbeinen ruhte und ihre erhitzten Körper sanft auffing. Ein mahnender Blick reichte, die drei jungen Männer, die vorher hier saßen und dem bunten Treiben voyeuristisch beiwohnten, zum Aufstehen zu bewegen. Vielleicht ahnten sie, dass eben diesen Neigungen gleich Nahrung geboten würde, denn sie warteten in unmittelbarer Nähe.

„Du bist gut gebaut“, schnurrte sie zufrieden. „Ich mag das.“

„Dann mach jetzt genau das, woran du gerade denkst und wofür wir hier sind.“

Sergej wählte schlichte Worte. Sie war für ihn nur ein Mittel zum Zweck, dennoch ein schönes und verlockendes Mittel. Sie gehorchte mit einem erregten Seufzer, seine Hand in ihrem Nacken, und das blonde, lange Haar fiel wie ein zarter Schleier über ihre nackten Schultern. Sergej schloss die Augen und genoss ihre Bemühungen, die Wärme ihres Mundes und ihre mal sanften, mal härteren Liebkosungen, die sichtbaren Erfolg zeigten. Durch sie vergaß er die Menschen um ihn herum, ihre vielsagenden Blicke, ihr Gerede und ihre lüsternen Gedanken. Er vergaß, wo er war, was er war und jenen lasterhaften Ort. Er vergaß sogar sie und fühlte sich endlich losgelöst.

Für einen Moment reiste er in Gedanken weit zurück in die Vergangenheit, flog im Geiste über wilde, unwirkliche Steppen bis zu den Flüssen Newa und Oka und fühlte sich frei im Wind der Zeit. Er ritt wie damals mit Rurik, dem Waräger, siegreich lächelnd durch die Tore Nowgorods, sah das ihnen zujubelnde Volk und spürte die kalte Abendluft auf der Haut. Rurik, einst Freund und Mentor, gestorben in seinen Armen vor einer Ewigkeit. Er war heute nicht mehr als eine vergessene Legendengestalt in verstaubten Büchern, die nicht mehr gelesen wurden und in Regalen vergammelten. Es war eine wilde und raue Zeit, nicht zivilisiert und dennoch voller pulsierender Intensität, Wahrheit und so viel Leben. Er war ein anderer damals.

Schnell wehrte sich Sergejgegen seine Erinnerungen und ein Gefühl der Sehnsucht nach diesen ungestümen, vergangenen Zeiten. Es warentriste und unnütze Gedanken, die keinen Sinn ergaben und ihn von seinem Vorhaben ablenkten. Abrupt richtete er sich auf. Er lebte heute, jetzt und wahrscheinlich noch in hundert Jahren und vielleicht würde er niemals erfahren, warum er nicht alterte oder sterben konnte wie alle anderen. Warum er alles und jeden unweigerlich verlieren musste, weil er anders war. Mit diesen Fragen hatte er sich schon viel zu oft gequält und in diesem Moment war das alles nicht wichtig. Er redete sich erfolgreich ein, dass er sich allein nach körperlicher Befriedigung und Kurzweil in den Armen einer erotischen Frau sehnte. Langsam und provozierend wanderten seine Hände an ihrem Rücken hinab und er fühlte die intensive Wärme ihrer Haut unter seinen Fingern. Auf diese Weise bot er auch den drei Voyeuren Genuss, die ihr Tun aus einer Ecke der Lounge noch immer beobachteten.Natürlich trug das Luder weder Slip noch BH und er schätzte diese ungenierte Freizügigkeit sowie schnelle Verfügbarkeit einer Frau, die fassadenlos, ohne aufgesetzte Pseudomoral und Ethik war. Aufreizende Dessous und ein gekonnter Hauch von Nichts hätten ihn allerdings stärker gereizt, denn dezent Verborgenes wirkte geheimnisvoller und verführerischer.

„Wir sollten gehen“, sagte er.

„Wohin?“

„Lass dich überraschen.“

Er reichte ihr eine Hand, die sie ergriff. Sie folgte ihm auf die regennasse Straße, seine Hand ruhte besitzergreifend auf ihrem runden, festen Po, während der massige Türsteher ein wartendes Taxi heranwinkte. Sergej steckte ihm zwanzig Euro zu, schob die Kleine auf den Rücksitz und setzte sich neben sie.

„Wohin soll es gehen?“ Der Taxifahrer war jung, schlecht rasiert und blickte sie fragend an.

„Wo wohnst du?“, fragte Sergej.

Die Frau kicherte.

*

*

Elaine hatte gebadet, ihren Körper mit duftender Lotion eingecremt und es sich nun eingehüllt in einen flauschigen Bademantel und mit einem Glas Rotwein vor dem Kamin gemütlich gemacht. Ihr kleines Wellnessprogramm konnte allerdings die innere Kälte und das Grauen nicht vertreiben.

An diesem Tag waren sie und ihre Kollegen in die Wohnung einer jungen Frau gerufen worden, die ähnlich wie die zwei Opfer vor zwei Wochen auf rituelle Artgetötet worden war. Das Herz hatte man allerdings nicht entfernt und im Gegensatz zu jenem Fall hatte man verwertbarere Hinweise und Spuren am Ort des Geschehens und am Opfer finden können, die sie hoffentlich in den nächsten Tagen zu einem Verdächtigen führen würden.Alles in allem war der Fall rätselhaft und verworren und sie hatte sich einige Akten mitgenommen, die sie noch studieren wollte, konnte sich aber nicht recht aufraffen. Daher war sie dankbar, als ein Geräusch aus der Halle die Rückkehr ihres Lebensgefährten Leo Stahnke ankündigte, mit dem sie schon viele Jahre befreundet und seit einem Jahr liiert war. Aber es war eher die Liebe zu einem guten Freund als eine, die von Begehren und Leidenschaft geprägt war. Er hatte ihr in einer schweren Zeit zur Seite gestanden und sie hatte sich an ihm anlehnen und aufrichten können.

„Elaine, wie schön dich hier zu sehen, ich nahm an, du bleibst in der Stadt.“ Lächelnd trat er in das kleine und behaglich eingerichtete Kaminzimmer und hauchte einen Kuss auf ihre Wange.

„Hallo Leo.“

„Du siehst blass aus.“ Leo blickte auf Elaine.

In dem übergroßen Bademantel und mit einem Handtuchturban auf dem Kopf sah sie sicher nicht sehr fit aus.

„Es war ein anstrengender Tag und ich wollte heute Abend nicht allein sein. Daher kam ich her.“

Elaine hatte noch eine kleine Wohnung in der Stadt, doch heute hatte sie es vorgezogen, zu Leo zu fahren, der außerhalb von Hamburg lebte. Bislang hatte sie sich noch nicht entscheiden können, ihre Wohnung aufzugeben.

„Das war eine gute Idee.“ Er schenkte ihr einen langen Blick und nahm sich ein Glas Rotwein. „Also ein gemütlicher Abend vor dem Kamin?“

„Das wäre super.“

„Erzähl mir von deinem Tag, wenn du magst“, forderte er sie auf und setzte sich neben ihrauf die Couch.

Elaine berichtete in knappen Sätzen. „Es ist zum Mäusemelken, seit Jahren hat es solche Fälle nicht mehr in Hamburg gegeben. Und sobald ich hier bin, geht Freddy Krüger mit dem Schlachtermesser auf Jagd. “

„Du schaust zu viele Horrorfilme.“ Leo grinste.

„Vielleicht.“

„Du liebst doch die Herausforderung“, warf Leo ein. „Genau das wolltest du doch.“

„Ich weiß, aber es ist nicht einfach, wenn man mit den Schicksalen dieser Menschen, ihrem Blut oder fehlenden Organenkonfrontiert wird.“

„Das ist es niemals.“ Leo zeigte Verständnis. „Du bist eine starke und kluge Frau und wirst diese Rätsel lösen.“

„Heute fühle ich mich gar nicht stark und klug.“

„Wie dann?“ Elaine seufzte theatralisch und blickte Leo auffordernd an. Schon öffnete er einladend seine Arme.„Dann komm her, Kuschelmonster.“

Elaine schmiegte sich an Leo und blickte lange Zeit schweigend in die Flammen. Seine Wärme und Ruhe taten ihr gut. Endlich wurde sieentspannterund die aufwühlenden Eindrücke des Tages gerietenin den Hintergrund. Es war fastwie damals, als sie sichan ihren Vaterlehnen konnte und er ihr das Gefühl gab, sicher und beschützt zu sein. Doch ihr Vater war vor Jahren ermordet worden und dieses schlimme Ereignis hatte den Ausschlag gegeben, dass sie nach ihrem erfolgreich absolvierten Psychologiestudium in den Polizeidienst getreten war. Vielleicht war dies ihr persönlicher Weg, Trauerarbeit zu leisten und einen Sinn in alldemzu finden.Sie konnte durch ihre Arbeit andere Menschen vor einem ähnlichen Schicksal bewahren.

„Du solltest dir ein paar Tage freinehmen“, riet Leo.

„Das geht im Moment nicht. Vielleicht an Weihnachten.“

„Das ist ja nicht mehr lange hin.“

„Nein.“

Sie schwiegen wieder, während das Kaminfeuer prasselte und wohlige Wärme verbreitete.

Nach einer Weile knurrte Elaines Magen.

„Hunger?“ Leo setzte sich auf.

„Aber hallo.“ Elaine grinste verschmitzt. „Auf eines deiner tollen Sandwiches.“

„Mit Mayo und Ketchup?“

„Viel Mayo. Und Gürkchen, wenn du hast.“

„Ihr Wunsch ist mir Befehl, Madame.“ Leo erhob sich und blickte auf sie hinab. „Ich hab eine kleine Überraschung für dich, das wird dich aufmuntern.“ Leo verließ den Raum und kam Minuten später mit einem appetitlichen Sandwich und einem großen Umschlag zurück, den er ihr mit einem Zwinkern reichte.

„Was ist das?“ Elaine setzte sich neugierig auf. Sie öffnete den Umschlag und hielt zwei goldene Schlüssel in der Hand. „Eine schöne Arbeit. Und welches Schloss öffnen sie?“

„Wir gehen auf einen Ball. Einen echten Märchenball, meine Prinzessin.“

„Auf einen Ball?“

„Ich habe zwei Tickets zu der Wohltätigkeitsgala des Jahres mit dem Namen Eine berauschende Winternacht erstehen können, was nicht ganz einfach war. Und diese goldenen Schlüssel sind unsere Eintrittskarten, sie sind streng limitiert.“

Elaine betrachtete die filigran gearbeiteten Schlüssel in ihrer Hand. „Waren sie nicht zu teuer?“

„Aber nein. Wirst du mich begleiten?“

„Sehr gern.“ Was für eine nette Überraschung. „Ich war noch nie auf einem Ball.“

„Ich auch nicht.“ Leo lachte.

„Ich muss mir ein Kleid und passende Schuhe kaufen.“

„Und ich einen Anzug.“

„Oder einen Smoking?“

„Wir wollen es nicht übertreiben.“

„Das war eine wunderbare Idee, ich danke dir.“

„Gern geschehen.“ Leo prostete ihr zu. „Auf uns?“

„Auf uns.“ Elaine nahm einen Schluck des edlen Weins. Dann widmete sie sich ihrem Sandwich und aß mit großem Appetit. „Wer ist der Gastgeber?“

„Sergej Nikolaj Kasamarov.“ Er goss Elaine Rotwein nach. „Ein reicher Geschäftsmann und Lebemann, der jedes Jahr eine Gala für wohltätige Zwecke organisiert. Seine Partys sind legendär.“

„Der Sergej Nikolaj Kasamarov?“ Beinahe verschluckte sich Elaine.

„Genau der. Kennst du ihn?“

„Er ist mir nie begegnet.“

„Was ist mit dir? Deine Hände zittern.“

Er konnte sich ihren plötzlichen Stimmungswandel nicht erklären und das war auch kein Wunder. Elaine blickte ihn an, dann wanderte ihr Blick zu den Polizeiakten auf dem Tisch. Sergej Nikolaj Kasamarov war nicht nur ein ausgesprochen reicher Geschäftsmann, mächtig und dazu als notorischer Playboy verschrien, es gab auch eine unklare Verbindung zu der getöteten Frau. Sehr wahrscheinlich war er der Letzte, der die Getötete gesehen hatte, der vielleicht sogar intim mit ihr gewesen war und er wurde somit verdächtigt, die junge Frau ermordet zu haben. Das würden die nächsten Tage und die Auswertung aller Spuren und Befragungen ergeben, denn die Ergebnisse sollten gesichert und schwerwiegend genug sein. Einen Mann wie Sergej Kasamarov befragte und verhaftete man nicht einfach so und die Ermittler würden es mit einem geballten Apparat an Kanzleienund den besten Verteidigern aufnehmen müssen, um ihm eine Schuld nachweisen zu können.

Doch das war noch nicht alles. Elaine hatte mit wachsendem Interesse über ihn im Internet gelesen und zwei Fotos gefunden, die ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen wollten. So etwas war ihr noch nie passiert und sie begann, an ihrem sonst so klaren Verstand zu zweifeln. Besonders seine grünen Augen hatten sie beeindruckt, die tiefgründig waren und Kälte und Arroganz spiegelten. Dazu war er beinahe unverschämt attraktiv und besaß selbst auf einem einfachen Foto eine männliche, ungezähmte und verführerische Ausstrahlungskraft, die auch Elaine nicht unberührt gelassen und, wie es hieß, schon viele Frauen in sein Bett geführt hatte. Aber da war noch etwas anderes, das sie nicht beschreiben konnte und das viel tiefer ging. Wie würde sie reagieren, wenn sie ihm gegenüberstehen würde und ihm in die schönen Augen sehen musste? Sie fand keine Antwort auf diese Frage und ein sinnlicher und erwartungsfroher Schauder lief durch ihren Körper, während sie Leos nachdenklichen Blick auf sich spürte.

*

*

Der Albtraum hielt Sergej entschlossen umfangen, griff nach ihm mit eisigen Fingern, packte ihn und zwang ihn, in ihm zu verweilen und längst Vergangenes immer wieder zu durchleben. Um ihn herrschte eine unwirkliche Dunkelheit und er wartete, nackt und mit eisernen Ketten an eine feuchte, modrige Mauerwand gefesselt. Bald würde sie wieder hier sein. Kälte war überall und dazu ein morbider Gestank der Jahrhunderte, das Trippeln und Scharren von Ratten und anderem Getier der Dunkelheit. Der Steinboden unter seinen Füßen war kalt, nur grob behauen und mit etwas Stroh ausgelegt. Wasser tropfte irgendwo und er hörte die einzelnen Tropfen auf den Boden fallen.Tropfen formten Pfützen und Feuchtigkeit hielt sich in der Luft.

Irgendwann verlor er sich vor Müdigkeit in der Dunkelheit und den Schmerzen vergangener Tage, ließ sich in sich selbst fallen und nur die Ketten an seinen Händen und Füßen hielten ihn aufrecht. Das Reiben der eisernen Manschetten merkte er kaum noch auf seiner wunden Haut, zu sehr war er auf das Warten fixiert. Darauf, dass sie ihn wieder heimsuchen, quälen und schwächen würden. Es war stickig in diesem Kerker und ihm fehlte die fri