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Fünf kurze Gruselgeschichten zum Selbstlesen und Vorlesen - im handlichen Format, vor allem für unterwegs, abends in der Kohte oder einfach nur unter der Bettdecke. Für jede Geschichte ist die ungefähre Vorlesedauer angegeben. In diesem zweiten Band der Reihe gehen die Geschichten unter anderem um die Begegnung mit der tiefsten Furcht, die Erkundung eines Bergwerkstollens und eine Abkürzung, die niemand nehmen sollte. Das Buch passt in jeden Rucksack und reicht für eine kleine Fahrt am Wochenende.
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Seitenzahl: 66
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Peter Kehrbusch Der Jäger Keim Vorlesezeit: ca. 8 min
Peter Kehrbusch Für einen Tag Vorlesezeit: ca. 21 min
Martin Hecht Im Stollen Vorlesezeit: ca. 12 min
Peter Kehrbusch Der Auszehrer Vorlesezeit: ca. 18 min
Peter Kehrbusch Die Abkürzung Vorlesezeit: ca. 19 min
Peter Kehrbusch
Ein Freund ist verschwunden. Wir kannten uns schon seit wir klein waren. Ich habe überall gesucht und überall gefragt. Niemand weiß etwas. Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Ich wusste nicht wohin er verschwunden ist. Aber seit heute weiß ich wie.
Früher erzählten wir uns eine bestimmte Gruselgeschichte. Vielmehr bekamen wir sie erzählt. Aus einem guten Grund immer am Lagerfeuer. Sie begann damit, dass man einen bestimmten Spruch niemals dreimal hintereinander in eine Flamme sprechen durfte. Wir hatten uns das auch nie getraut. Ich erinnere mich genau an die Geschichte. Es ging um einen Jäger, der von einem Wilderer erschossen wurde. Die Geschichte hatte einen wahren Kern, nämlich den Mord am Jäger Friedrich Keim. Das war damals schon weit über 100 Jahre her. Mitten im Wald, wo damals der Mord geschah, steht heute noch ein Holzkreuz. Daneben befindet sich ein kleiner Felsen mit einer Inschrift. Der Ort heißt Keims Kreuz. Die Geschichte war schön ausgeschmückt. Wir hörten Sie gerne.
Sie begann schon damit, dass der Jäger Keim auf der Jagd nach einem Mörderhirsch war. Alleine die Vorstellung, was wohl ein Mörderhirsch sei, fand ich zumindest irre. Leider wurde ich schnell enttäuscht, denn das ist ein Hirsch, der einfach so alt ist, dass er kein richtiges Geweih mehr ausbildet. Er trägt dann nur noch zwei Spieße. Deswegen kann er bei Zweikämpfen in der Brunft anderen Hirschen schwere oder sogar tödliche Verletzungen zufügen. Wenigstens weiß ich heute, was ein Mörderhirsch ist.
Dieser Hirsch hatte auch einen Namen: Silvanus. In der Geschichte gab es noch einen Einsiedler im Wald, den alle Wurzelsepp nannten. Der hieß so, weil er Gesichter in Wurzeln schnitzte. Die und andere Schnitzereien wie Löffel, Becher und Schalen verkaufte er in den umliegenden Dörfern. Nur dann und sonntags in der Kirche bekamen die Leute den Wurzelsepp zu Gesicht. Die Kinder liefen ihm oft nach und verspotteten ihn. Den Erwachsenen war er nicht geheuer, weil er alleine im Wald wohnte. Der einzige, der wusste, wo er wohnte und der auch mit ihm befreundet war, war der Jäger Keim.
Den Namen Wurzelsepp fand ich total lächerlich. Dabei gab es tatsächlich im Nachbarort einen Malermeister, der unter dem Namen Wurzelsepp Zwergengesichter in kleinere Kiefernwurzeln schnitzte, die er zuvor im Wald ausgrub. In fast jedem Vorgarten in der Gegend lag so ein Ding rum, manchmal hing es auch an der Haustür.
Eines Tages war Jäger Keim auf der Jagd. Dafür trug er sogar ein neues preußisches Gewehr. Unterwegs machte er beim Wurzelsepp halt. Der Wurzelsepp warnte ihn, dass der Silvanus umgehen würde. Er solle ja nicht auf Silvanus schießen. Er solle ihn auch nicht bei seinem Namen nennen, sonst würde er ihn herbeirufen. Silvanus sei wie ein Geist. Geister zu beschwören sei gefährlich, denn sie wollten immer etwas für ihr Erscheinen. Aber er solle sich auch vor dem Höfer in Acht nehmen. Der würde in letzter Zeit hier in der Gegend wildern.
Der Jäger Keim folgte nun Wildwechseln, aber ohne Erfolg. Letztlich stieß er mitten in der Nacht auf Silvanus. Dort traf er aber auch auf Höfer, den Wilderer. Als der auf den Hirsch anlegte, trat Jäger Keim vor ihn und rief: „Nicht! Das ist Silvanus!“ Doch Höfer drückte ab. Der Schuss krachte und tödlich getroffen sank Keim zu Boden. Als Höfer erkannte, was er getan hatte, rief er: „Der Teufel soll mich holen!“
Plötzlich stand Wurzelsepp hinter ihm und sprach: „Nein. Der Keim soll dich holen.“ Seit dieser Nacht blieb Silvanus verschwunden.
Die Leiche des toten Jägers wurde schon am nächsten Morgen gefunden. Schnell stand für die beiden hinzugerufenen Gendarmen fest, wer der Täter war. Denn sie fanden noch frische Fußspuren. Höfer war barfuß und hatte dummerweise eine Besonderheit: Seine Hände und Füße hatten sechs Finger und Zehen. Das hielt ich immer für sehr an den Haaren herbeigezogen, aber ein Blick in die Ortschronik zeigte, dass das wirklich stimmte. Der Wilderer und Mörder wurde damals tatsächlich überführt, weil er zwölf Zehen hatte und barfuß lief.
Die Gendarmen konnten Höfer nicht sofort finden. Doch sie stießen auf die Hütte vom Wurzelsepp. Vielleicht dachten sie, das sei ein Unterschlupf vom Höfer. Jedenfalls zündete einer der beiden die Hütte an. Sie brannte noch, als der Wurzelsepp zurückkehrte. Voller Zorn beschwörte er den Geist des Silvanus. Dreimal rief er einen Satz in die Flammen: „Silvanus, Silvanus, der Keim soll kommen!“
Da fauchte und knallte es wie ein Schwarzpulverschuss aus dem Gewehr des Höfers. Aus den Flammen stieg der Jäger Keim.
„Du hast gerufen, dir erschein‘ ich, dich werd‘ ich nehmen!“
„Nimm lieber den, der mir mein Heim verbrannt hat! Dann sind wir quitt!“
Da sprang der Keim aus dem Feuer und rannte davon. Wo er hintrat war nur die Fährte eines Hirsches zu sehen. Am nächsten Tag fand man an einem Feldrand einen toten Gendarmen. Es sah so aus, als wäre er von einer riesigen Geweihgabel aufgespießt worden.
Höfer, der Wilderer, war inzwischen ins Gefängnis nach Zweibrücken gebracht worden. Dort lief er den ganzen Tag in seiner Zelle hin und her und murmelte dabei die ganze Zeit: „Der Keim wird kommen, der Keim wird mich holen.“ Jedes Mal, wenn die Tür aufging, drückte er sich in panischer Angst an die Wand und fing laut an zu schreien.
In der Nacht darauf machte der Wurzelsepp wieder ein Feuer. Wieder rief er dreimal den Satz „Silvanus, Silvanus, der Keim soll kommen!“ ins Feuer. Wieder zischte und knallte es wie ein Schwarzpulverschuss,
und der Jäger Keim stieg aus den Flammen.
„Du hast gerufen, dir erschein‘ ich, dich werd‘ ich nehmen!“
„Nimm lieber den Höfer, der dich erschossen hat!
Dann sind wir quitt!“
Der Keim sprang aus dem Feuer und rannte weg. Er hinterließ nur die Fährte eines Hirsches. Am nächsten Morgen fand man den Wilderer Höfer tot in seiner Zelle. Als ob er von einer riesigen Geweihgabel aufgespießt worden wäre.
Der nun fast mittellose Wurzelsepp zog mit den wenigen Waren, die nicht mit seiner Hütte verbrannt waren, durch die umliegenden Dörfer, um etwas zu verkaufen. Dort trat plötzlich eine ältere Frau vor ihn. Sie schlug auf ihn ein und zertrampelte seine Waren. Er solle ich wegscheren, denn er würde Unglück über die Leute bringen. Der Wurzelsepp lächelte nur, nahm seine Sachen und ging. Vor dem Dorf machte er aus den zerbrochenen Schnitzereien ein kleines Feuer. Dann sprach er in die Flammen: „Silvanus, Silvanus, der Keim soll kommen! Silvanus, Silvanus, der Keim soll kommen!“
In dem Moment kapierten wir, dass da die Beschwörungsformel dreimal ins Feuer gesprochen wurde. Ich dachte noch etwas wie: „Tu’s nicht!“ Mit den
Worten: „Silvanus, Silvanus!“ warf dann der Geschichtenerzähler ein Pulver in die Flamme. Ich glaube, das war so ein Pulver, das man auch fürs Feuerspucken nehmen kann. Das zischte und verpuffte mit greller Flamme. Wir fielen vor Schreck rückwärts um. Genaugenommen hatten wir richtig die Hosen voll. Im Nachhinein war das eine tolle Geschichte. Irgendwann fiel uns auf, dass da der dritte Satz nie vollendet wurde. Trotzdem hatten wir uns nie getraut, dreimal diesen Satz ins Feuer zu sprechen. Man kann ja nie wissen. . .
Trotzdem hat die Geschichte meinen Freund nie losgelassen. Immer mal wieder sagte er, er wolle den Satz dreimal in eine Flamme sprechen. Jetzt ist der Freund verschwunden. Niemand weiß etwas.