Uns zusammenhalten. - Mirthe van Doornik - E-Book

Uns zusammenhalten. E-Book

Mirthe van Doornik

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Beschreibung

THE KIDS AREN'T ALRIGHT: ZWEI TAPFERE SCHWESTERN, EINE VERZWEIFELTE MUTTER UND DER HUNGER NACH LEBEN KLEINE HOFFNUNGEN, GROSSE ENTTÄUSCHUNGEN UND IMMER NEUER MUT "Wir sind Glückspilze, Kine, wir können tun, was wir wollen" - SO TRÖSTET NICO IHRE KLEINE SCHWESTER. Denn die SEHNT SICH NACH EINER MUTTER, DIE SICH KÜMMERT. Nicos und Kines Mutter ist dazu nicht in der Lage, sie ist ALKOHOLKRANK und mit sich selbst und ihren PSYCHISCHEN PROBLEMEN beschäftigt. Viel zu früh müssen die Schwestern VERANTWORTUNG FÜR SICH SELBST ÜBERNEHMEN und eigene Regeln finden. Immer in den ersten Metrowaggon steigen, donnerstags einen grünen Pullover anziehen. Best-Case-Szenario: unsichtbar sein. DIE BEIDEN HABEN NUR SICH - und ihre Welt droht zu zerbrechen, sobald eine von beiden sie verlässt. ERLEBE DIE KRAFT DES ZUSAMMENHALTS! Nico und Kine können sich nicht auf die Erwachsenen verlassen - aber sie stützen sich gegenseitig. SIE WERDEN ES SCHAFFEN, DA SIND SIE SICHER! Eines Tages werden sie alt genug sein, um sich zu lösen von der Mutter, aus der grauen Welt der Vorstadt. Und so halten die beiden fest an ihren TRÄUMEN VON DER FREIHEIT, VON DISNEYLAND UND EINEM EIGENEN MORTORROLLER. Und sie halten sich gegenseitig. MIT NIKO UND KINE FÜHLEN HEISST, ÜBER SICH SELBST HINAUSZUWACHSEN Muss man seine Familie eigentlich lieben? Wie viel Verantwortung hat man für sie? Was ist "normal" - und was ist "richtig"? SUCHT HINTERLÄSST NICHT NUR BEI SUCHTKRANKEN SPUREN, sondern auch bei allen um sie herum. Mirthe van Doorniks Roman wirft dich mitten hinein in eine DYSFUNKTIONALE FAMILIE und zwischen die vielen Fragen, die sich für Nico und Kine stellen. Mit "Uns zusammenhalten." wirst du den LEBENSHUNGER VON ZWEI MUTIGEN JUNGEN FRAUEN SPÜREN, DIE SICH NICHT AUFHALTEN LASSEN AUF DEM WEG IN IHR EIGENES LEBEN. *************************************************************************** Ein unsicheres Leben in den düsteren und dennoch bunten 90ern macht aus zwei Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen coole Heldinnen. Ich hatte eine schöne Zeit mit Nico und Kine in ihrem wackeligen Alltag. Barbi Marković ***************************************************************************

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Seitenzahl: 351

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Mirthe van Doornik

Uns zusammenhalten.

Roman

Aus dem Niederländischen von

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
1997 Kine
1
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1999 Nico
1
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2001 Kine
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2004 Nico
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Kine 2014
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9
1997 Kine
Disneyland Paris
Zur Autorin und Übersetzerin
Impressum

Für A und J. Lichtpünktchen.

It’s a wonderful life if you can find it.

Nick Cave & The Bad Seeds,

„Wonderful Life“

1997 Kine

1

Weil wir Kinder sind, denken die Leute, sie könnten einfach alles zu uns sagen. Wie es früher war, dass man nicht am Bahnsteigrand stehen soll, wir ihren Hund ruhig streicheln dürfen. Aber dass wir mit einer Fremden mitgehen sollen, zu ihr nach Hause, so was hatten wir noch nicht gehört.

Die Frau nahm etwas schräg Kurs auf uns, als hätte sie zunächst zehn Runden gedreht und uns dann erst bemerkt.

„Du hast so schöne Zöpfe“, sagt sie, als sie vor mir steht. „Wo geht ihr denn hin?“ Die dicken Brillengläser vergrößern ihre Augen so stark, dass sie wie ein Koboldmaki aussieht. Ich sehe mir ihre Hände an. Koboldmakis haben lange Finger, ein bisschen wie ET, mit kleinen Polstern an den Spitzen, aber die Fingerspitzen dieser Frau sieht man nicht, weil sie eine Einkaufstasche umklammern.

„Kommt mit zu mir“, sagt die Frau, als die Metro aus dem Tunnel donnert. „Vier Haltestellen, dann sind wir schon da.“

Das ist nicht in Ordnung, das sehe ich auch an Nicos Blick. Zum Glück weiß sie immer, was zu tun ist. Mit einem leichten Nicken gibt sie mir das Zeichen, das wir uns sonst immer geben, wenn ein Kontrolleur kommt. Ich weiß, was sie meint.

„Warum setzt ihr euch nicht?“, sagt sie, sobald wir in der Metro sind. „Kommt, wir setzen uns.“ Sie spricht ein bisschen langsam, ist sie betrunken? Nico bleibt neben der Tür stehen und bückt sich, um ihre Schnürsenkel zu binden. Zeit schinden. Noch einmal gibt sie mir das Zeichen, sicherheitshalber. Ich nicke, fummle an meinem Rucksack herum, schaue zum Bahnsteig, der sich langsam leert. Drei Metros halten hier, die außerhalb der Stadt jeweils eine andere Richtung einschlagen. Die ausgestiegenen Leute sind jetzt fast alle weg.

Die Frau geht zu ein paar freien Plätzen und setzt sich ans Fenster. Dann richtet sie sich an uns. „Kommt! Hier könnt ihr sitzen.“

Die Metro piept, weil die Türen sich jeden Moment schließen werden, ich stelle meinen Fuß in die Tür, dann springen wir nach draußen. „Was macht ihr denn?!“, höre ich die Frau rufen. Ich rieche die Zugluft, die ewig miefige Luft unterirdischer Metrostationen. Mein Mund ist trocken, meine Beine sind schwer. Wir sehen, wie die Metro anfährt, den Koboldmaki von uns wegbringt. Sogar als Nico meine Hand nimmt, fällt es mir schwer, mich in Bewegung zu setzen.

Der Mann hinter der Scheibe isst ein Brot und starrt vor sich hin. Erst als Nico fester gegen das Fenster klopft, guckt er runter.

„Jemand hat versucht, uns zu entführen“, sagt Nico. In der Scheibe befinden sich Löcher, damit der Mann uns verstehen kann. Nico versucht, die Wörter durch die Löcher zu pressen. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und sagt: „Eine Frau. Eine Frau mit einer großen Brille.“ Der Mann mustert uns. Er hat gerade einen neuen Bissen genommen, den er langsam kaut. Als sein Mund wieder leer ist, nimmt er ein Walkie-Talkie, deutet auf eine Bank gegenüber, wir sollen uns dorthin setzen.

Oben warten ist besser als unten. Wegen der roten und blauen Fliesen sehen die Wände aus wie ein Level in einem Computerspiel. Sie gehen genau bis zur Treppe. Als hätte jemand gedacht: Okay, bis hierher verlege ich Fliesen, aber an der Rolltreppe reicht’s mir, unten ist es eh sinnlos, da können selbst bunte Fliesen nichts ausrichten.

Auf dem Bahnsteig warten immer Leute, mit denen etwas nicht stimmt. Jungs, die einen schubsen, Männer, die ihren Pimmel durch den Hosenschlitz stecken, und alte Leute, die jammern, dass Kinder heutzutage keinen Respekt mehr hätten. Und auf den unverwüstlichen Plastikbänken liegt immer irgendwas rum. Cola, vollgerotzte Taschentücher, Chips, ein Mann, der all seine Kleidungsstücke übereinander angezogen hat.

Mindestens vier Metros fahren vorbei, bevor zwei Männer zu uns kommen. Beide haben einen dicken Bauch oder eine zu enge Uniform. Einer hat eine Glatze. Er sieht aus wie die Spitze meines Zeigefingers, wenn ich ein Gesicht darauf gemalt habe. Zusammen gehen wir am Schalter vorbei – der Mann von eben hebt kurz die Hand zum Gruß –, weiter in Richtung Rolltreppe, die wir oft runterrutschen. Man muss sich am Gummiband festhalten, sich auf das Geländer ziehen lassen, beim Knick den Po etwas über den Rand schieben und dann loslassen. Nico sagt, man dürfe alles so benutzen, wie es einem gefalle, also auch Rolltreppen, aber unten steht immer schon jemand, der uns sagt, wie gefährlich das sei, dass eine Rolltreppe dafür nicht gemacht sei. Nico sagt, ich solle nicht auf alte Leute hören, weil die alles gefährlich fänden, außer die wirklich gefährlichen Sachen wie Autofahren mit achtzig und schlurfend die Straße überqueren. Alte Leute wissen nicht, dass schon das Stehen auf einer Rolltreppe tödlich sein kann. Wenn beispielsweise die Jacke sich verfängt. Der Mechanismus zieht einen dann einfach mit, einer Rolltreppe ist es egal, ob man festhängt oder nicht. In Deutschland wurde mal der Mantel einer Frau eingeklemmt, und als sie unten angekommen war, haben sich auch noch ihre Haare verfangen und wurden ihr langsam aus dem Kopf gezogen. Seitdem rafft Mama auf der Rolltreppe ängstlich ihren Rock hoch und ich denke jedes Mal, wenn ich auf einer Rolltreppe stehe, an das Wort skalpieren. Also vierzig Mal im Monat. Ich weiß nicht, wie ich damit wieder aufhören kann. Genauso, wie jeden Abend beim Abwasch an den Nachbarn zu denken, weil ich gerade spülte, als er vorbeikam, um zu erzählen, dass bei ihm eingebrochen wurde. Wie lange ist der Einbruch mittlerweile her? Vielleicht ein paar Wochen? Ich kenne ihn nur vom Sehen, er wohnt auf der anderen Seite, zwischen dem Aufzug und einer Wohnung, in die eine Mutter mit einem unglücklichen Jungen gezogen ist. Das sagt Mama. Ich habe den Jungen noch nie gesehen, aber ich habe mich oft gefragt, warum er unglücklich ist, ich meine, was kann so schlimm sein, dass jeder wissen muss, dass er unglücklich ist?

Der Nachbar des unglücklichen Jungen hat erzählt, sein Fernseher sei weg und sie hätten sogar die Fernbedienung mitgenommen. Ich wusste das alles schon, habe mich aber nicht getraut, etwas zu sagen. Ich traue mich immer noch nicht, aber heute Abend werde ich Nico erzählen, wie das alles gelaufen ist.

An der Stelle, wo wir von der Frau angesprochen wurden, schauen wir jetzt in den schwarzen Tunnel. Ich schließe die Augen. Ich denke an die beiden Männer neben mir und ihr Äußeres. Der eine hat eine Glatze, keine besonderen Merkmale, der andere einen Geierhals. Nicht lang, aber mit so einem Knick, wodurch es aussieht, als würde der Kopf ein wenig vor seinem Körper schweben. Zuerst kommt das Geräusch. Mit geschlossenen Augen wirken Geräusche immer lauter. Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter. Die Hand zieht mich ein Stück zurück. Erst als ich höre, dass die Türen sich öffnen, mache ich die Augen wieder auf. Die Leute steigen aus, die Hand auf meiner Schulter geht mit mir hinein. In der Metro hat jemand mit einem dicken Filzstift den Waggon mit Pimmeln vollgemalt. Pimmel auf dem Fenster, Pimmel an der Decke, Pimmel auf dem Sitz, auf den sich der Geier setzt.

Die Metro ist ihr Geld nicht wert, da hat Mama recht. Mama bezahlt nur so viel, wie sie für richtig hält. Sie wiegt drei Äpfel im Supermarkt und packt danach noch drei Äpfel dazu. Aus dem Kleidercontainer neben unserem Hochhaus fischt sie Pullover, die sonst nach Afrika geschickt worden wären: einen großen Wollpulli, von dem Nico asthmatisch wird, einen langen gelben Pulli, in den ich noch zehn Jahre lang hineinwachsen kann. Nico findet, dass Mama die Pullover gestohlen hat, aber Mama sagt, in Afrika brauchte sowieso niemand Pullover, aber wir brauchten Pullover für den Winter und in Afrika brauchten sie Essen und Wasser, weil dort immer Sommer ist.

Nico setzt sich ans Fenster, steckt sich die Ohrhörer rein und guckt in das schwarze Loch, in dem sich die Metro spiegelt. Papa sagt, es sei unhöflich, in der Öffentlichkeit seine Musik zu hören, und Mama sagt, Kopfhörer machten die Ohren kaputt, aber Nico hat für den Walkman gespart, um die Welt abschalten zu können, um mit niemandem reden zu müssen und von niemandem angesprochen zu werden. Wenn wir zusammen fahren, bekomme ich auch einen Stöpsel. Seit wir Musik hören, sind die Metrofahrten besser geworden. Geräusche und Gefahren verschwinden, Fahrgäste bewegen sich, als gehörten sie zur Musik, sogar die Metro scheint den Rhythmus zu übernehmen. Ratter, ratter, vorbei am Möbelhaus, an McDonald’s, den Fußballplätzen, Häusern, Ampeln.

Wir sind diese Strecke nur ein einziges Mal mit dem Fahrrad gefahren. Nico auf ihrem Rennrad, ich auf meinem kleineren roten Fahrrad. An den Wohnblöcken vorbei, aus dem Viertel raus, im Halbdunkeln den lang gestreckten Hügel hinauf, am Fluss entlang, wo wir die Sonne aufgehen sahen, an Papas Haus und am Friedhof neben den teuren Häusern vorbei bis zum Park, wo wir im Sommer bei schönem Wetter manchmal Sportunterricht haben. Als wir an der Schule ankamen, setzten wir uns auf den Sandkastenrand. Als hätten wir die komplette Elfstädtetour hinter uns gebracht, so erschöpft waren wir.

„Es ist zu weit“, beschloss Nico und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Ich blickte zum Schulgebäude und zählte die Fenster, bis ich bei meinem Klassenzimmer ankam. Es war zu weit weg, um sehen zu können, ob jemand zu uns hinunterschaute.

„Soll ich dich zu deiner Klasse bringen?“

Das war nicht nötig. Ich stand auf, klopfte mir den Sand von der Hose und ging in das große Gebäude. Als ich aus meinem Klassenzimmer schaute, sah ich Nico dort immer noch sitzen, auf dem Sandkastenrand. Das blonde Haar hing ihr strähnig vor den Augen, der Rucksack baumelte zwischen ihren Füßen.

Was wir später mal werden wollten, fragen die Männer. Ein Junge mit weißer Kappe starrt in unsere Richtung. Er steht neben der Tür, so wie wir da auch immer stehen: bereit rauszuspringen, falls Kontrolleure kommen. Sollten wir doch mal erwischt werden, hätten wir unsere Mehrfahrtenkarte verloren. Wir wühlten verzweifelt in unseren Schultaschen und guckten bedauernswert. Unser Hund sei von einem Motorroller überfahren worden, sein Rücken gebrochen, wenn ich daran denke, kann ich weinen. Wenn man weint, glauben die Leute einem eher.

„Du bringst uns das Lügen bei“, sagte Nico zu Mama. „Du musst uns vernünftige Sachen beibringen.“ Aber Mama sagte, das sei kein Lügen, sie nannte es Schauspielern.

„Fahrradmechanikerin?“, wiederholt der glatzköpfige Mann meine Antwort. Er muss lachen. So etwas habe er ja noch nie gehört. „Nicht Filmstar? Oder Tierärztin?“ Ich schüttele den Kopf. Fahrräder reparieren ist etwas, was ich vielleicht kann, denke ich. Und man muss immer das machen, was man kann. Genau wie Nico schaue ich nach draußen und hoffe, dass sie nichts mehr fragen. Nico und ich reden immer weniger. Manchmal ist es wie ein Spiel, wer von uns beiden die wenigsten Worte braucht, um durch den Tag zu kommen. Seit Kurzem ist ein Junge in meiner Klasse, der überhaupt nichts sagt. Er heißt Tobias. Seine Mutter hat der Schule erklärt, dass Tobias nicht mehr reden wolle und dass wir es gar nicht erst versuchen brauchten. Natürlich haben wir das trotzdem getan. Die Jungs haben ihn auf dem Schulhof an einen Baum gebunden und mehrmals einen Ball auf ihn geschossen, um herauszufinden, ob er schreien kann, aber er hat echt keinen Ton gesagt. Seit ich Tobias kenne, rede ich noch weniger. Er sieht immer etwas müde und blass aus; je öfter ich ihn in der Klasse dabei beobachte, wie er seine Bücher aus dem Rucksack holt, wie ihm alles egal ist, desto besser glaube ich ihn zu verstehen.

Wir halten an. Der Junge mit der Kappe steigt aus. Die Metro piept, die Türen schließen sich.

Es gibt auch gute Tage. Tage ohne Kontrolleure, ohne alte Leute, die uns ansehen, als hätten wir ihnen die ganze Welt verdorben, Tage, an denen alles klappt und uns alle in Ruhe lassen. Dann ist es, als wären wir unsichtbar, als könnten nur wir einander sehen. Ich versuche oft herauszufinden, was wir an diesen Tagen anders machen als an anderen Tagen.

Die Metro beschleunigt. Unter unseren Turnschuhen rasen die Kilometer dahin, wir fahren aus dem Tunnel, ich kann jetzt Nicos Musik hören. No time for losers / Cause we are the champions / Of the world.

An jeder Haltestelle wird es leerer. Eine junge Frau mit Kinderwagen und zwei Packungen Windeln. Eine Frau mit der gleichen Haarfarbe wie ihr Pudel. Ein Junge mit einer Zigarette hinterm Ohr. Eine leere Bierdose, gegen die schon zweimal getreten wurde. Die Leute, die bis zur Endstation fahren, sind keine Champions. Sie haben sich mit ihrem Wohnort abgefunden, indem sie hier wohnen. Vielleicht denken sie, dass es noch schlechtere Viertel gibt, dann ist ihr Glas immer halbvoll. Gleichmut nennt Nico diese Art von Optimismus. Ich weiß nicht, was sie damit meint. Nico ist vierzehn, drei Jahre älter als ich, sie ist größer, sie kann besser Fußball spielen, sie kennt mehr komplizierte Wörter. Ich sage oft, dass ich daran nicht glaube. Meistens funktioniert das, nicht an etwas zu glauben. Altruismus, Lingerie, Lustrum, alle komplizierten Wörter von Nico lasse ich an mir abprallen, indem ich nicht daran glaube.

Der Glatzkopf tippt mich an, zeigt auf einen Stapel Baumstämme. „Schau mal, was für riesige Zahnstocher.“ Der Geier grinst, sein Kopf wackelt leicht hin und her. Er zeigt auf sein Bein. „Wisst ihr, woraus Holzbeine gemacht werden?“

Der Glatzkopf schüttelt den Kopf. Er weiß es nicht. „Krüppelholz!“, sagt der Geier. Er zwinkert mir zu.

2

Ein Supermarkt, Haushaltswaren, ein Drogeriemarkt, in dem auch Süßigkeiten und CDs verkauft werden, eine Buchhandlung und ein Geschäft mit unförmiger Kleidung; das ist es auch schon, womit die Leute am Stadtrand auskommen müssen. Wir bleiben vor der Buchhandlung stehen und schauen an den Drehständern mit Ansichtskarten vorbei hinein. Bis letzte Woche sind wir nach der Schule in den Laden gegangen, um Comics zu lesen. Mein Lieblingscomic ist Petzi. Er handelt von einem Bären, der zusammen mit einer Schildkröte, einem Pelikan und einem Pinguin in einem Boot um die Welt fährt. Nico findet ihn kindisch, aber trotzdem hat sie mir zum Geburtstag ein Petzi-Heft gekauft.

Die Verkäuferin füllt hinter der Ladentheke Zigaretten auf. Sie hat kurzes graues Haar und trägt einen riesigen Strickpulli, den sie bestimmt sogar in Afrika nicht haben wollten.

Das hier sei eine Buchhandlung und keine Bücherei, sagte sie letzte Woche, als sie uns nach draußen schob. Seitdem wedelt sie mit den Händen, sobald sie uns entdeckt, als würden wir fürchterlich stinken.

„Blöde Kuh“, murmelt Nico. Sie zurrt den Rucksack fest und läuft weiter. Ich mache die gleiche Bewegung wie meine Schwester und laufe ihr am Schaufenster entlang hinterher. Comichefte, Zeitschriften, Zigaretten, Terminkalender, Kugelschreiber; es ist nicht mal eine echte Buchhandlung.

Auf den Bänken neben dem Geschäft sitzen alte Leute, vor dem Imbiss am Eingang hängen Jugendliche herum. Die Jugendlichen rufen den alten Leuten immer fiese Sachen zu, aber die alten Leute lassen sich nicht verjagen.

Meine Schwester zieht den Rollkragen ihres großen Wollpullis rauf. Ich starre auf meine Turnschuhe, als wir an den Jungen vorbeigehen. Wir haben Glück, die Clique bewundert einen Motorroller, wir sind unsichtbar.

Als wir heute Morgen zur Schule gegangen sind, hat es geregnet, aber jetzt scheint die Sonne, als wäre der Tagesbeginn ein Missverständnis gewesen. Morgens ist alles noch frisch; der Tag setzt sich langsam in Bewegung, nichts ist schon verdorben. Mama ist noch klein und sanft, manchmal entschuldigt sie sich für den Tag davor und gibt uns einen Gulden mit, damit wir uns in der Pause Kekse mit rosa Glasur kaufen können. Aber nachmittags ist alles anders. Wenn wir nach Hause kommen, ist es, als hätte jemand die Wohnung durchgerüttelt, während wir weg waren. Mama ist kalt, manchmal hat sie Dummheiten gemacht.

Bevor ich durch die Eingangstür gehe, betrachte ich ihren Namen. Eleonora. Er steht auf einem Schild zwischen allen anderen Namen der Hochhausbewohner. Erst hieß sie einfach Nora.

„Ab jetzt heiße ich Eleonora“, hatte sie eines Morgens gesagt. „Und so möchte ich auch genannt werden.“

Eleonora sei ein Name, der besser zu ihrem feurigen Blut passe, meinte sie. Sie erzählte von ihrem Opa, der eine Schießbude hatte, und von ihrem Vater und der Oma, die in einem Wohnwagen aus Holz wohnten. Wir kannten diese Geschichte schon. Wir kennen all diese Geschichten schon, es kommen nie neue hinzu.

Ich zupfe an meiner Jacke herum und achte auf die Stockwerke, an denen wir vorbeiflitzen. An den Aufzugtüren klebt grüner Schleim von den neuen Nachbarsjungen. Alles, was ihnen in die Quere kommt, wird angespuckt. Als sie letztens mit uns im Aufzug standen, haben sie zuerst mich und dann Nico angestarrt. Wir fuhren ohne Unterbrechung nach unten, eine Ewigkeit, in der niemand etwas sagte und sich niemand rührte. Ich sah den Hass in Nicos Augen, die lodernden Flammen, mit denen sie die Welt manchmal beschießt. Die Jungen sahen sie auch. Als wir angekommen waren, spuckten sie auf den Boden und gingen vor uns aus dem Aufzug. Wir schauten ihnen kurz nach. Der Kleinste warf eine leere Dose in die Sträucher und rülpste laut, der Ältere versetzte ihm einen Tritt.

Die langen Laubengänge, die zu den Wohnungstüren führen, sind vom Staub ganz grau. So wie Lamellenjalousien dreckig werden, so wurde auch das Hochhaus dreckig. Von der elften Etage aus schauen wir nach unten. Immer. Auf den Parkplatz mit den kleinen Autos, das Grün, das die Hochhäuser am Stadtrand umgibt, zur Straße, über die wir Papa oder Tante Ellis fahren sehen, wenn sie uns abholen.

Die zwei kleinen Schlüssel sind von meinem Fahrrad, der silberne ist von Papas Haus, der grüne von der Wohnungstür. Als wir reinkommen, hören wir aufpeitschende Geigenmusik. In Geräuschen verbirgt sich immer eine Vorahnung. Wenn ich die Augen schließe, weiß ich anhand der Musik bereits, dass Mama Wein getrunken hat. Manchmal hämmern die Nachbarn gegen die Wände, damit wir die Lautstärke herunterregeln – sie trauen sich nicht anzuklingeln.

Mama sitzt barfuß im Rauchersessel, die Augen geschlossen, ihr Kopf bewegt sich zur Musik. Die Katze liegt vor ihren Füßen. Nico fixiert die halbleere Weinflasche neben dem Sessel. Schadensbemessung, das ist unsere erste Aufgabe, wenn wir nach Hause kommen. Im vergangenen Frühling hat Mama die Natur vermisst, weshalb wir nach der Schule plötzlich in einem Wohnzimmer voller Äste und Blätter standen. Den ganzen Nachmittag haben wir auf einem Baumstumpf sitzend ferngesehen. Mama hatte zu viel Wein getrunken und konnte uns nicht erklären, wie sie den Baum in die Wohnung bekommen hatte. Das Mysterium von Stonehenge, so nannte Nico das neue Sofa.

Erst als Mama herausfand, wie weh es tat, auf Stonehenge zu sitzen, wollte sie es loswerden. Wir mussten ihr dabei helfen, den Baumstumpf vom Balkon zu werfen. Die Monate danach – bis Mama ein Sofa auf dem Sperrmüll fand – saßen Nico und ich auf dem Boden. Das neue Sofa ist ein Dreisitzer mit Blumenmuster, der die Lücke zwischen Tisch und Rauchersessel gut ausfüllt. Der Rauchersessel steht mitten auf dem orientalischen Teppich. An der Wand, hinter dem Sessel, hängt ein Gemälde. Vor einem Lagerfeuer sieht man tanzende Kinder. Über das Gemälde sagt Mama: „Es wurde vom Künstler signiert und ist viel Geld wert. Wenn wir wirklich gar nichts mehr haben, werden diese Kinder uns retten.“

Mamas Augen sind immer noch geschlossen, ihr Körper wiegt sich jetzt im Rhythmus der Gitarren.

Ich betrachte das Gemälde, die Kinder lassen die Röcke flattern und stampfen mit den Füßen. Sie täuschen Ausgelassenheit vor, wenn man sie ansieht, aber ich weiß, dass sie sich hinsetzen, sobald ich mich umdrehe. So – mit Lagerfeuern, Schafsfellen, Gitarren und sandigen Pfaden – will Mama auch leben.

„Jemand wollte uns entführen“, sage ich. „Eine Frau mit einer großen Brille. Sie konnte nicht richtig gerade gehen.“ Ich traue mich kaum, sie anzusehen, stattdessen schaue ich auf die schwarze Spitze meines Zeigefingers. „Nicht mit dem Finger über das Geländer fahren“, sagt Mama immer, wenn wir über den Laubengang des Hochhauses laufen. Sie findet es eklig, aber wir ziehen lange Linien, bis unsere Finger pechschwarz sind, es macht uns nichts aus, unsere Wohnung ist auch schmutzig. Aus dem Abfluss im Badezimmer kommt fauliger Gestank, die Küche hat keine Dunstabzugshaube, weshalb alles von einer Fettschicht bedeckt ist. Auf dem Fett wiederum liegt Staub, und auf dem Staub kleben Fliegen und Krümel.

„Wir sind aus der Metro gesprungen“, sage ich, ohne von meiner Fingerspitze aufzuschauen. „Nico ist dann zum Schalter gegangen, um Hilfe zu holen. Zwei Männer haben uns nach Hause gebracht.“

Vorsichtig luge ich zum Rauchersessel, wo sie wahrscheinlich sehr lange sitzt, vielleicht schon den ganzen Mittag.

„Die Metro ist ihr Geld nicht wert“, sagt Mama. Mit dem Zeigefinger kratzt sie einen Joghurtbecher leer. „Aus genau diesem Grund bezahle ich dafür nicht.“ Sie stellt den leeren Becher auf den Boden, wo das Linoleum in großen Platten aufeinanderliegt. Mama hat niemanden gefunden, der es für uns verlegen kann, jetzt liegt es da wie Käsescheiben auf einem Brot. Das Linoleum hat auch dieselbe Farbe wie Käse.

„Dafür kannst du der Metro nicht die Schuld geben“, sagt Nico. Sie holt ihre Bücher aus der Tasche und lässt sie auf den Tisch krachen. „Wenn niemand für die Metro bezahlt, ist auch kein Geld da, um sie sicherer zu machen.“

„Tja, dann weiß ich auch nicht weiter“, sagt Mama. Sie setzt die Katze, die sich gierig über den Joghurtbecher hergemacht hat, auf ihren Schoß und drückt sie tröstend an sich. „Ich habe auch kein Geld, mit dem ich die Metro bezahlen könnte, sonst würde ich euch von der Schule abholen, wie andere Mütter das auch machen. Glaubt ihr etwa, ich wäre nicht gerne so eine Mutter?“

Nico legt die Hausaufgaben beiseite und schaltet den Fernseher ein, Mama streckt die Arme nach mir aus. „Komm mal auf meinen Schoß.“

Ich schüttele den Kopf und gehe in die Küche. Ich will nicht hier sein. Niemand will hier sein. Sogar Mama nicht. Sie wartet auf einen Mann mit einem Auto, es ist ihr egal, was für ein Auto, solange eine Anhängerkupplung dran ist, das sagt sie oft. Wir haben keinen Wohnwagen, wir haben nicht einmal ein Zelt. Wir wissen nicht, was sie an die Anhängerkupplung hängen will, aber wir stellen keine Fragen, auch nicht die Frage, wie der Mann sie finden soll, wenn sie den ganzen Tag im Sessel sitzt.

Der Schaden hält sich offensichtlich in Grenzen. Eine halbe Flasche Wein wurde geleert, aber es wurden auch Einkäufe gemacht. Im Küchenschrank liegt frisches Brot, daneben steht ein Glas Schokocreme. Auf der Anrichte liegen Bananen und eine Tafel Schokolade.

„Darf ich Schokolade?“, rufe ich über die Musik hinweg.

„Nicht so schreien!“, ruft Mama zurück.

„Ich schreie nicht. Darf ich Schokolade?“

„Du darfst dir Schokolade nehmen, aber du sollst nicht so schreien.“

Mit der Tafel in der Hand gehe ich zurück ins Wohnzimmer. Draußen fängt es an zu dämmern. Man muss zwischen zwei anderen Hochhäusern hindurchschauen, um eine Aussicht zu haben.

„Willst du uns mal eben reichrubbeln?“, fragt Mama. Auf der Fensterbank, zwischen den Händen der goldfarbenen Buddha-Statuen, klemmt ein Stapel Rubbellose. Wenn Mama Lose kauft, klemmt sie die immer zwischen die Hände der Figuren. Aber die Buddha-Figuren sind uns nicht gut gesinnt, wie viele Lose Mama im Einkaufszentrum auch kauft und in die Hände der Buddhas steckt – wir gewinnen nie etwas. Fast nie. Einmal hat Mama zweihundert Gulden errubbelt. Auf der Bank im Einkaufszentrum, wo die alten Leute sitzen, rubbelte Mama das Siegerlos mit einer Haarspange frei und jubelte.

„Du dachtest bestimmt, ich würde niemals etwas gewinnen“, sagte sie, als die Frau im Buchladen seufzend die Kasse für sie öffnete. „Du dachtest: Die Frau kommt jeden Tag hierher und kauft ein Los, aber die wird nie was gewinnen.“

„Ich habe nichts gedacht“, sagte die Buchverkäuferin. „Einfach gar nichts.“

Mama schob sich die Haarspange wieder in ihre Locken und sagte: „Ich sage dir jetzt mal was: Heute Abend, wenn du vor deinen Sauerbohnen hockst, sitzen wir schön beim Chinesen.“

Und so kam es auch. Wir aßen abends beim Chinesen in der Stadt und fuhren mit dem Taxi zurück. Dann war das Geld alle.

Wir tragen alte Turnschuhe aus einem billigen Supermarkt, Jacken mit schmutzigen Ärmeln. Ich muss Geld für den Schulausflug nach Limburg mitnehmen, Nico darf erst wieder am Matheunterricht teilnehmen, wenn sie einen Taschenrechner mitbringt. Aber wir gingen zum Chinesen, wir aßen gebackene Bananen und tranken Sprite.

Ich nehme die Lose aus den Buddha-Händen und setze mich zu Nico an den Tisch.

„Hast du eine Schere?“

Nico blättert in ihrem Buch und schüttelt den Kopf.

Ich zeige auf ihr Etui. „Auch nicht da drin?“

„Boah, Kine, du siehst doch, dass ich zu tun habe.“

„Kein Streit“, sagt Mama. „Ich will heute keinen Streit.“

„Hast du dann eine Münze für mich? Einen Gulden oder so?“

Mama öffnet die Augen, um einen Schluck Wein zu trinken.

„In der Küchenschublade liegt mein Portemonnaie, nimm dir was raus.“ Sie bückt sich, um die Katze zu streicheln, die sich vor ihre Füße gelegt hat, das Glas in ihrer Hand kippt gefährlich weit mit nach vorne. Ich gehe in die Küche und öffne die Schublade. Der neue Monat ist gerade angebrochen, im Portemonnaie steckt ein Geldbündel. Die komplette Sozialhilfe mit einem Mal abgehoben. Sie findet es sicherer, das Geld zu Hause zu verstecken, bei der Bank kann sie es nämlich nicht im Auge behalten.

„Hört mal“, sagt Mama, als ich mich wieder an den Tisch setze. Ihre Stimme klingt unsicher, mit der freien Hand wischt sie über den verkleckerten Wein auf ihrer Hose. „Tante Ellis holt euch morgen ab, um was Schönes mit euch zu unternehmen.“

Überrascht wende ich mich Nico zu. „Müssen wir nicht zur Schule?“

„Ich schreibe eine Klassenarbeit in Deutsch“, sagt Nico. Sie blättert verärgert in ihren Hausaufgaben.

Nico war sehr lange schwindelig und sie fühlte sich schlapp. Niemand wusste so recht, was ihr fehlte, Nico wusste es selbst auch nicht, aber Mama verbot ihr, zur Schule zu gehen. Gegen die Langeweile machte sie bei einem Wettbewerb von der Post mit. Wer den schönsten Guckkasten bastelte, konnte eine Reise nach Disneyland Paris gewinnen. Edelsteine, Postkartenschnipsel, Stofffetzen, alles, was sie jemals sorgfältig aufbewahrt hatte, wurde Teil des Kunstwerks. Sie hatte sogar eine Lampe mit einer kleinen Batterie darin befestigt. Jeden Tag, wenn ich nach Hause kam, schaltete ich die kleine Lampe ein, um in die Schachtel zu schauen, und jeden Tag war wieder etwas dazugekommen. Es war wunderschön. Ich musste fast weinen, als wir den Kasten schließlich mit Mama zum Postamt brachten.

Als müssten wir wichtige Geschäfte machen, so gingen wir im Gegenwind am Hochhaus vorbei, um zum Einkaufszentrum rechts abzubiegen. Wir liefen beide neben Mama. Nico trug den Kasten, den sie in eine Supermarkttüte gewickelt hatte, unter dem Arm. Mama drückte die Tasche mit ihrer Bankkarte fest an sich. Nachdem sie ihre monatliche Stütze abgehoben und so unauffällig wie möglich in ihrer Tasche hatte verschwinden lassen, betraten wir das Postamt.

Wir zogen eine Nummer, Mama schnappte Nico den Kasten weg, mit viel Trara zog sie ihn aus der Plastiktüte. „Nun schauen Sie sich das an“, sagte sie zu allen, die ins Postamt kamen. „Schauen Sie sich das mal ganz genau an.“

Wie ein Lakai mit einer Kostbarkeit auf dem Kissen ging sie zu den Leuten, die genau wie wir warteten, bis ihre Nummer auf dem Display erschien.

„Haben Sie schon mal so etwas Schönes gesehen?“ Die Leute schüttelten den Kopf. So etwas Schönes hatten die Leute noch nicht gesehen.

Mama schaute Nico an und zwinkerte. Dann zeigte sie auf mich. „Den hat meine jüngste Tochter gebastelt.“

Die Leute guckten zu mir runter.

Mir wurde ganz heiß und übel.

„Wie schön“, sagte der Mann, der neben mir stand. „Da hast du bestimmt lange dran gearbeitet.“

Als Notlüge bezeichnete Mama das, als wir wieder zurückgingen. Um unsere Chancen zu erhöhen. Aber Nico sagte nichts mehr, nicht auf dem Rückweg, nicht in der Woche danach, genau wie Tobias. Am nächsten Tag ging sie wieder zur Schule, wo sie sich jetzt total anstrengt, um den Lehrstoff wieder aufzuholen.

„Tante Ellis will mit euch nach Amsterdam, das müsst ihr in der Unterrichtszeit machen, sonst ist es da viel zu voll. Wenn ihr Papa nichts erzählt, melde ich euch krank.“

Mama ignoriert Nicos Feuer und füllt ihr Glas wieder auf.

„Ich frage mich oft, warum ihr überhaupt zur Schule müsst.“ Sie hebt das Weinglas, als wollte sie einen Toast aussprechen. „Die beste Schule ist das Leben selbst.“

„Möchtest du Schokolade, Nico?“ Ich breche das Stück und lege eine Hälfte neben ihr Heft.

Mama stellt den Wein wieder hin und streckt die Arme nach mir aus.

„Na los, komm kurz kuscheln.“

Ich habe alle Quadrate freigekratzt und puste die Krümel vom Tisch. Wir haben fünf Gulden gewonnen. Ich klettere auf ihren Schoß. Ich will, dass sie glücklich ist.

„Ich bin heute bei der Post gewesen“, sagt Mama.

Sie geht jeden Tag zur Post. Sie inspiziert dort alle Guckkästen am Schalter, um einen nach dem anderen herunterzumachen. Nicos Guckkasten zeigt sie allen Kunden, damit sie bestätigen können, was für ein tolles Kunstwerk das doch ist.

„Unser Guckkasten ist immer noch der schönste.“

Ich rieche den Alkohol, wenn sie redet. „Es ist nicht unser Guckkasten“, sage ich. „Es ist Nicos Guckkasten.“

„Nicht so vorlaut, Kine. Du weißt schon, was ich meine. Du willst doch gerne nach Paris, oder?“

3

Wir haben nicht nur kein Geld, wir haben auch kein Auto. Zu Mamas Sätzen am Telefon mischt sich das Geräusch von Metall auf Metall. Als würde jemand gegen einen Heizkörper oder eine Leitung schlagen. Man weiß nie, woher die Geräusche im Hochhaus stammen, es ist wie beim Schlittschuhfahren, da will sich der Raum unter dem Eis auch hören lassen, er surrt und sirrt, man weiß aber nicht, woher die Geräusche kommen oder wie nah sie sind. Eine Zeitlang fing jeden Abend in unserem Haus jemand an zu schreien. Nicht wie in Horrorfilmen, wo der Mann mit dem Beil plötzlich hinter einem steht, sondern als würde sich jemand aus Frustration die Haare aus dem Kopf ziehen. Nico und ich lauschten, wenn wir im Bett lagen, manchmal zählten wir die Sekunden zwischen den Schreien, wie man bei Gewitter die Zeit zwischen Blitz und Donner zählt, um daraus abzuleiten, wie nah es ist. Alle hörten es, aber keiner wusste, aus welcher Wohnung es kam. Der Hausmeister war tagelang damit beschäftigt, aber das Geräusch ging seinen eigenen Weg, die Leitungen entlang, durch die Wände, in die Kanalisation, bis es eines Tages wieder aufhörte. „Das Schreien ist weg“, sagte Nico eines Abends, als wir zusammen im Bett lagen. Wir konnten nicht herausfinden, seit wann es aufgehört hatte. Wenn etwas aufhört, dann ist es, als wäre es nie da gewesen, wie Schmerzen, man kann sich im Nachhinein oft nicht einmal mehr erinnern, ob es nun das rechte oder linke Knie war, das wehtat.

Wir hören Mama sagen, dass kein Geld da sei, um mit uns in Urlaub zu fahren. Sie hat so viel Wein getrunken, dass sie alle anruft, die in ihrem Adressbüchlein stehen. Das macht sie öfter. Manchmal weinend, manchmal wütend, manchmal verliebt. Meist enden die Gespräche mit einem neuen Vorhaben. Plötzlich sieht sie die Dinge ganz klar und will alles anders machen.

Mama spricht jetzt lauter, die Lautstärke muss ihre Unsicherheit übertönen. „Wenn wir ein Auto hätten, könnten wir verdammt noch mal ab und zu hier raus.“

Ich krieche tiefer unter Nicos Bettdecke. Wenn ich Angst habe, darf ich bei ihr im Bett schlafen. Ich habe Angst vor Mama, wenn sie viel trinkt und anfängt, laut zu schimpfen. Lass dir verdammt noch mal nichts weismachen, Kine, sagt sie dann. Die Welt ist ein beschissener Ort. Meist muss sie danach weinen, weil sie so ratlos ist.

Ich habe auch Angst vor Unfällen. Prinzessin Diana ist bei einem Verkehrsunfall in Paris umgekommen, ich habe das Begräbnis mit Nico im Fernsehen gesehen. Seitdem habe ich Angst, dass Papa auch umkommt. Wenn sogar eine Prinzessin verunglücken kann. Wenn er tot ist, holt uns niemand mehr aus der Wohnung, und dann werden Nicos Augen immer voll Feuer sein. Dann werden wir nie mehr auf dem Fluss vor seinem Haus Schlittschuh fahren, wie vergangenen Winter, und im Fernsehen Nachrichten über eine Elfstädtetour ansehen, die stattfinden kann oder nicht. Wir sahen, wie Stücke aus dem Eis gesägt wurden, eingefügt, aufgeraut. Papa sagte immer wieder, wie besonders das sei. Es kamen so viele Leute nach Friesland, um sich das anzusehen, dass jemand im Fernsehen behauptete, die Niederlande gerieten völlig aus der Form. In dem Jahr, in dem ich geboren wurde, hat Evert van Benthem die Tour gewonnen. Papa nennt diesen Namen immer, wenn wir auf dem Fluss Schlittschuh laufen. Dann denke ich an diesen Mann, den ich nicht kenne, aber der ich immer kurz bin. Arme auf dem Rücken, Kopf hoch, Evert van Benthem.

Nico meckert nie, wenn ich zu ihr ins Bett krieche, sie macht mir Platz, indem sie sich gegen die Wand rollt. Ihr Zimmer ist ein klein wenig größer als meins. Auch ihr Schreibtisch ist größer. Ein Schreibtisch ist, glaube ich, etwas, was mitwächst. Je größer du wirst, desto größer ist dein Schreibtisch, bis schließlich ein Tisch daraus geworden ist, an dem man mit einer ganzen Familie isst.

Ich weiß nicht, mit wem Mama jetzt telefoniert, auf jeden Fall mit jemandem, der sehr geduldig ist. Das Klopfen gegen das Metall hat aufgehört. Was übrig bleibt, ist das Schluchzen aus dem Wohnzimmer. Sogar wenn wir die Reise nach Disneyland Paris gewinnen, ist kein Auto da, um uns dorthin zu bringen.

Nico schaltet die Nachttischlampe aus und kuschelt sich seufzend unter die Bettdecke. Ich suche nach den vertrauten Formen. Der Kleiderschrank, Nicos Rucksack, der immer gepackt bereitsteht. Die Lampe auf der Galerie scheint genau in ihr Zimmerfenster. Wir haben schon ein paar Mal um Vorhänge gebeten, aber die sind zu teuer, sagt Mama. Nico hat jetzt ein Poster von Michael Jackson an das Fenster geklebt, damit man vom Bett aus nicht in die Lampe schaut. Im Halbdunkel wirkt es, als würde jemand am Schreibtisch sitzen, aber ich weiß, dass es mein Pullover ist, der über dem Stuhl hängt. Mein grüner Pulli, der Donnerstag-Pulli. Jeder Tag hat eine andere Farbe. Der gelbe Pullover, den Mama Afrika gestohlen hat, ist für Samstag. Mama hat schon eine Weile aufgehört zu telefonieren. Nico liegt mit dem Rücken zu mir. Ich bewege mich nicht. Ich habe bei einem Einbruch geholfen, das macht mich zu einer Diebin. Muss ich mich selbst bei der Polizei anzeigen? Nico hat für alles eine Lösung, ich muss sie fragen. Im Kopf habe ich schon oft geübt, aber wenn ich ihr die Geschichte erzählen will, ist es schwierig, die Wörter zu finden. Manchmal bin ich neidisch auf Tobias. Wenn man nie was sagt, braucht man auch nie was zu erklären.

Jedes Mal, wenn ich an den Tag des Einbruchs denke, fängt mein Herz schneller an zu schlagen, und die Luft, die ich einatme, fühlt sich dicker an. Während der Dieb die Tür aufbrach, kickte ich den Ball gegen die Wand neben dem Eingang von unserem Hochhaus. Annehmen, schießen, annehmen, schießen, genau wie Nico immer den Fußball gegen den Zaun neben Papas Haus schießt. Hoch, niedrig, hoch, niedrig. Manchmal einen ganzen Nachmittag lang, bis die Nachbarin kommt, um zu sagen, sie solle gefälligst damit aufhören. Aber sobald die Nachbarin weg ist, macht Nico weiter. Beng, beng, beng. Niedrig, hoch, niedrig, hoch. Nico tut nie, was man von ihr verlangt. Sie sagt, sie sei nicht da, um die Erwartungen anderer Menschen zu erfüllen. Ich weiß nicht, was sie damit meint, nur dass ihr niemand sagen kann, was sie tun soll. Wer etwas von Nico will, bittet sie lieber um das Gegenteil.

Im Eingangsbereich des Hochhauses hatte Herr Barends die Weihnachtsdekoration aufgehängt. Der Plastikbaum mit den violetten Kugeln war bereits aufgeklappt und jetzt klebte er rote Bänder an die Fenster. Nico sagt immer, dass niemand einen Eingang will, der aussieht wie ein Pfefferkuchenhaus, aber mir gefällt es. Herr Barends hob die Hand, als ich an dem Baum vorbeiging. Wie immer trug er ein kariertes Hemd. Sein Gesicht war vor Anstrengung ganz rot. Da sein Haaransatz erst auf der Hälfte des Kopfes beginnt, scheint sein Gesicht endlos in die Länge gezogen zu sein. Ich weiß nicht genau, was ein Vermieter alles tun muss, aber zumindest muss er den Weihnachtsschmuck aufhängen und fast jeden Tag die Müll- und Papiercontainer öffnen oder schließen. Weil Herr Barends sehr klein ist und vor allem sehr kurze Beine hat, muss er sich zum Ausleeren der Container auf eine Kiste stellen.

„Komm mal her“, sagte er, als ich auf den Aufzug wartete. Er ging mit mir in den Raum mit den Containern und zeigte mir das Problem. Jemand hatte seine Kiste in den Papiercontainer geworfen, und Herr Barends konnte sie nicht selbst da rausholen. Er fragte, ob ich das machen könne. Ich nickte, stellte mich auf einen Karton und tauchte in den Container.

„Gut, danke“, murmelte Herr Barends. Er schaute, ob keiner das gesehen hatte, und wischte sich den Schweiß mit einem Stofftaschentuch von seiner uferlosen Stirn. „Danke“, sagte er noch einmal, als er das Taschentuch wieder einsteckte. Ich drückte wieder auf den Aufzugknopf und schaute durch die Fenster des Pfefferkuchenhauses nach draußen, wo irgendwo ein Autoalarm ausgelöst wurde.

Ich zählte die Stockwerke bis zur elften Etage, wo ich ausstieg und einem Jungen mit einem Fernseher in den Armen die Tür aufhielt. Das ist nichts Außergewöhnliches, denn die Türen sind schwer und unhandlich, besonders für Leute mit Einkäufen oder einem Elektromobil. So ziemlich jeden Tag muss ich jemandem helfen, indem ich die Tür aufhalte.

„Großartig“, sagte der Junge. Er stellte den Fernseher in den Aufzug, beim Bücken sah man seine Poritze über dem Rand seiner Jeans.

„Kannst du gut Fußball spielen?“, fragte er, als er wieder hochkam. Er zeigte auf meinen Ball. Ich nickte. „Würdest du den Aufzug noch einen Moment für mich offenhalten?“

Das habe ich getan. Ich wusste nicht, dass es der Fernseher des Nachbarn war. Wirklich nicht. Es dauerte vielleicht eine Minute, dann kam er mit einem Videorekorder zurück.

„Es ist eine Schande, den hierzulassen, nicht wahr?“ Er zwinkerte mir zu.

„Ja“, sagte ich. „Eine Schande.“ Ich zwinkerte zurück.

Als sich die Tür schloss, winkte ich ihm durch das kleine Fenster nach.

Ich schaue auf den Pullover, den Nico mir rausgelegt hat. Das Grün für Donnerstag ist auch das Grün für Fünf, denn nicht nur die Tage, sondern auch die Zahlen haben Farben. Nico sagt nie etwas über die Farben der Tage. Das ist eine Regel. Wir haben eine Menge Regeln, manchmal weiß ich nicht einmal mehr, was unsere Regel ist und was eine echte. Wer beim Computerspiel raus ist, muss den Controller weitergeben, das ist eine Regel. Ich habe noch eigene Regeln. Dass Grün gut ist zum Beispiel, denn Grün bedeutet Donnerstag, und Donnerstag ist fast Wochenende, und dann gehen wir zu Papa.

Nico liegt immer noch mit dem Rücken zu mir. Ich glaube, sie schläft jetzt wirklich. Der Gedanke, dass ich es ihr jetzt nicht zu sagen brauche, lässt meine Atmung ruhiger werden. Bei Papa schlafe ich auch mit Nico in einem Bett, aber in einem Etagenbett. Ich oben, sie unten. In seinem Haus liegen überall Computerteile. Zwei Bildschirme im Flur, Kabel auf dem Tisch und lauter Computerbäuche im Wohnzimmer. Die Computer dünsten einen eigenen Geruch aus, sie riechen süßlich und ein wenig nach dem Büro, wo Papa arbeitet.

Heutzutage will jeder einen Computer, und alle bitten Papa dann, den zu installieren. Früher war nie jemand an der Tür, aber in letzter Zeit klingeln immer wieder Leute an, weil sie einen Computer gekauft haben. Manchmal kommen sie einfach vorbei, mit ihrem Computer und allem Pipapo. So sei das eben, sagt Papa. Die Menschen lieben einen, wenn man ihnen gibt, was sie brauchen.

In den Ferien spielen wir im Schlafanzug an den Computern. Die ganze Zeit. Das erste Computerspiel, das ich gespielt habe, hat Papa nach mir benannt. Man musste alle Elefanten in einen Käfig sperren. Man brauchte schon ein wenig Phantasie, denn der Elefantenfänger sah aus wie $.

Und die Elefanten so: ȿ.

Die Spiele, die wir jetzt spielen, werden immer schöner. Mein Lieblingsspiel ist Captain Comic. Wir sind Astronauten, wir erforschen fremde Planeten. Nico läuft und springt und ich sitze neben ihr und schieße mit der Leertaste auf Außerirdische. Bamm. Bamm. Bamm. Wir spielen weiter, bis unsere Hände schwitzen, bis wir pinkeln müssen oder Riesenhunger kriegen. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als mit Nico Astronaut zu sein oder Filme zu schauen. In den Ferien fährt Papa manchmal zu einem Freund, um sich seinen Videorekorder zu leihen. Ein Videorekorder ist wie ein Toaster; wenn das Band fertig ist, springt es wie ein heißer Toast hinaus, und wenn man die Hände hinhält, ist es schön warm. In der Bibliothek sehen wir uns alle Filme an und beratschlagen ausführlich, bevor wir uns entscheiden. Papa leiht sich Filme aus, die er früher mochte, Doktor Schiwago, Sherlock Holmes. Am Ende muss man die Videos zurückspulen, sonst drehen sie in der Bibliothek völlig durch. Dort arbeitet eine Frau, die sich einen Sport daraus gemacht hat, Videos zu überprüfen. „Was, wenn alle die Videos so zurückbringen“, fragte sie uns, während sie das Video gegen das Licht hielt und sich anschaute wie ein Dia.

„Dann müssen alle sie wieder zurückspulen“, sagte Nico. „Bloß wird es dann keiner mehr vergessen.“

Ich fand das sehr clever. Aber die Frau wäre fast geplatzt. So viel Frechheit, so hat sie es gesagt, so viel Frechheit sei ihr ja lange nicht untergekommen.