Unsanft entschlafen - Jürgen Seibold - E-Book

Unsanft entschlafen E-Book

Jürgen Seibold

4,9

  • Herausgeber: Silberburg
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

In Weil der Stadt stirbt eine alte Dame im Seniorenheim Abendruh. Alles geht seinen gewohnten Gang. Bestatter Gottfried Froelich, tödlich gelangweilt von seinem Beruf, beschleicht eine schreckliche Ahnung: War die 79-jährige Agathe Weinmann womöglich das Opfer eines Mordes? Froelich steht ganz allein mit seinem Verdacht, die Beweise fehlen und die Zeit drängt, denn der Termin für Agathe Weinmanns Feuerbestattung rückt näher. Gehen die letzten Indizien in den Flammen auf? Froelichs Recherchen führen ihn kreuz und quer durchs Heckengäu, doch niemand glaubt ihm. Ausgerechnet die unverhoffte Einladung zu einem Kochkurs bei den örtlichen Landfrauen bringt den fülligen Feinschmecker auf die entscheidende Spur - und in Gefahr. Jürgen Seibold ist bekannt durch die spannenden Remstal-Krimis 'Endlich ist er tot' und 'Endlich Richtfest'. Sein neuer Roman spielt im Heckengäu, rund um Weil der Stadt und an anderen Orten zwischen Stuttgart, Calw und Herrenberg. Und er führt Bestatter Froelich als neue Hauptfigur ein: einen übergewichtigen Genießer und begnadeten Keyboarder, der auch schon mal im Kühlraum seines Instituts für die 'Kundschaft' in die Tasten greift.

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Seitenzahl: 374

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Jürgen SeiboldUnsanft entschlafen

Jürgen Seibold

Unsanft entschlafen

Ein Gäu-Krimi

Jürgen Seibold, 1960 geboren und mit Frau und Kindern im Rems-Murr-Kreis zu Hause, ist gelernter Journalist und arbeitet als Buchautor. Beim Silberburg-Verlag hat er bisher Kriminal- und Unterhaltungsromane sowie Sachbücher und einen historischen Roman veröffentlicht.

2. Auflage 2010

© 2009/2016 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.Umschlaggestaltung: Wager ! Kommunikation, Altenriet.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1698-4E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1699-1Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-87407-829-0

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Inhalt

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Samstag

Sonntag

Montag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Gründonnerstag

Karfreitag

Karsamstag

Ostersonntag

Ostermontag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Dank

Froelichs Rezepte

Die Landfrauen-Rezepte

Weitere Bücher und E-Books aus dem Silberburg-Verlag

Donnerstag

»Herr Froelich?«

Die Frauenstimme drang mit etwas ängstlichem Unterton in den großen Raum, brach sich in den Ecken und hallte von den großflächigen glatten Wänden wider.

»Herr Froelich?«, fragte Patricia Möller noch einmal vorsichtig, dann stellte sie den Putzeimer auf dem blank polierten Boden ab und zog ihre Gummihandschuhe glatt. Immer wieder schaute sie sich nach allen Richtungen um, doch sie sah nichts als Särge. In verschiedenen Größen, Farben und Ausführungen zwar, aber doch Särge. Langsam ging sie weiter in den Raum hinein.

Kurz schielte sie in die beiden Holzbehälter direkt neben ihr: leer, zum Glück. Natürlich hatte hier noch nie ein Toter über Nacht aufgebahrt gelegen, dafür gab es den gekühlten Raum im Untergeschoss. Aber Gottfried Froelich, der mit achtunddreißig Jahren noch recht junge Eigentümer des Bestattungsinstituts, hatte sich einige skurrile Eigenheiten angewöhnt – und nicht selten hatte sich Patricia Möller fast zu Tode erschreckt, weil er plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war.

Heute schien es dagegen ein ruhiger Donnerstagabend zu werden: Die Tür zu Froelichs Büro war geschlossen, sie war offenbar allein. Seufzend tauchte sie den Wischmopp ins Putzwasser, wrang die Stoffstreifen wieder halb aus und wischte damit auf dem Boden hin und her.

Sie kam schnell voran, denn sie hatte sich in den vergangenen Jahren als Putzfrau des Instituts Fürchtegott Froelich & Söhne am Friedhof von Weil der Stadt einige Übung erworben. Zügig und doch gründlich arbeitete sie sich von der einen zur anderen Ecke des großen Ausstellungsraums vor. Hinter der Ausgangstür stieß sie mit dem Stiel des Wischmopps gegen einen dort abgestellten, besonders ausladenden Eichensarg, dessen schräg aufgelegter Deckel den Blick ins Innere verwehrte. Gerade wollte sie dem Raum den Rücken kehren, da hörte sie Geräusche, die aus dem Sarg zu kommen schienen.

Sie erstarrte.

Holz knarrte leise, dann raschelte es wie Kleidung.

Patricia Möller zwang sich, ruhig zu bleiben. Ganz langsam stellte sie den Putzeimer ab und wandte sich dem Sarg zu, aus dem die Geräusche zu kommen schienen.

Ein Mann schien leise aufzustöhnen, und das Podium, auf dem der übergroße Sarg stand, ächzte ein wenig. Dann schien sich der Sargdeckel zu bewegen.

Als sich am Sargrand eine fleischige Hand nach oben schob und die Holzkante fest packte, entfuhr Patricia Möller ein gellender Schrei und im Handumdrehen war sie durch zwei Räume nach vorne geeilt, hatte ihre Jacke so heftig vom Garderobenständer gerissen, dass der umstürzte, und strebte panisch der Ausgangstür zu.

* * *

»Hallo, Gottfried!«

Jo Weller, der Wirt des »Chick’n’Egg«, musste nicht von seinem Geschirrtuch aufsehen, um seinen treuesten Stammgast zu erkennen. Gottfried Froelich hatte Gewicht genug für zwei und entsprechend deutlich war zu hören, wie er sich schwer atmend auf den Barhocker hievte, der vernehmlich unter ihm knarrte.

»Mmmh«, brummte Froelich. Weller machte ihm ein bereits halb gezapftes Pils fertig und schob das Glas vor ihn hin.

»Ärger?«

»Scheiße …«, murmelte Froelich und trank das Glas in einem Zug leer. Während er sich den Schaum vom Mund wischte, schob Weller ihm gleich das nächste Pils hin. Er kannte seine Gäste, und Froelichs Laune sah nach deutlich mehr als einem Pils aus. »Ich bin wohl meine Putzfrau los, so wie es aussieht.« Weller sah ihn an, aber offenbar wollte Froelich nicht weitererzählen.

Vom zweiten Glas nippte Froelich nur, dann drehte er sich halb zu der kleinen Bühne in der Ecke um. Auf dem leicht erhöhten Podium machten sich zwei Männer Ende dreißig, Anfang vierzig an einigen Geräten zu schaffen und verbanden sie mit schwarzen Kabeln.

»Wen hast du heute Abend?«, fragte Froelich lahm.

Weller zuckte mit den Schultern. »›Maigerles Midnight Men‹ heißen die, spielen Blues, Rock und so. Sind nicht von hier, kommen aus dem Remstal. Hat mir einer empfohlen, der die von dort her kennt. «

»Und? Gut?«

»Ich hoffe. In Waiblingen gibt es eine Kneipe wie meine hier. Bobby, den Wirt, kenne ich ganz gut. Der meinte, man kann sie schon mal auf die Bühne lassen.«

»Mmmh.«

Weller polierte weiter an seinen Gläsern, Froelich nahm noch einen Schluck.

»Haben übrigens keinen Keyboarder«, grinste Weller vor sich hin und prompt schaute Froelich eine Spur interessierter zur Bühne hinüber. Weller fühlte sich bestätigt: Eine kleine Jamsession mit der Band würde Froelich wieder auf andere Gedanken bringen, egal was ihm heute die Laune verhagelt hatte. Und die Band würde auch ihren Spaß haben: Gottfried Froelich war ein begnadeter Blues-Pianist.

* * *

Das Seniorenheim Abendruh lag still in der Nacht.

Die junge Frau stand am Fenster von Zimmer 317 und sah hinaus. Vor ihr drängelten sich dichte Wolken am Himmel, die den Mond schon seit dem Abend verhüllten. Darunter lag Weil der Stadt mit seinen wirkungsvoll beleuchteten Mauern und Türmen, mit den Straßenlaternen, Ampeln und den Leuchtreklamen der Gasthäuser. Hinter vielen Fenstern brannte noch Licht, meistens ein warmes, gemütlich wirkendes Licht mit einem Schlag ins Gelbliche.

»Solche Fenster wirken schön«, ging der Frau durch den Kopf. »Schön und anheimelnd, bis man daran denkt, dass man sie und das Licht dahinter nur von außen betrachtet.« Genau daran dachte sie nun – und wie immer deprimierte sie der Gedanke.

Sie seufzte, drückte den schmerzenden Rücken durch und drehte sich um. Vor ihr im dunklen Zimmer lag Agathe Weinmann. Klein wirkte die alte Frau inmitten des ausladenden Bettzeugs, klein und zerbrechlich.

Es war ruhig im Zimmer.

Die junge Frau betrachtete minutenlang die Greisin, dann wandte sie sich zum Gehen. Vorsichtig zog sie die Tür hinter sich ins Schloss, um kein Geräusch zu machen. Aber Agathe Weinmann hätte es nicht mehr gestört.

* * *

Die Band aus dem Remstal war gut. Das »Chick’n’Egg« war voll wie immer und das verwöhnte Stammpublikum drängte sich an der Bühne, johlte einige Blues-Standards mit und belohnte auch leisere Stücke mit großem Applaus.

Drei der vier Musiker hatten sich vorne am Bühnenrand aufgebaut. Der Schlagzeuger hatte seinen Kram hinten neben die Hammond-Orgel gezwängt, die sich Jo, der Kneipenwirt, vor Jahren gekauft hatte und die für ihn so etwas wie ein Talisman war. Vorne in der Mitte stand der Gitarrist und Sänger, ein etwa 1,90 Meter großer Mann um die 40 mit dunklen, kurzen Haaren, der auf Froelich eine Spur zu adrett wirkte, um ein guter Bluesrocker zu sein. Aber er hörte, was er konnte – und wusste ja ohnehin aus eigener Anschauung, dass das Äußere eines Menschen nicht immer auf seine Talente schließen ließ.

Viermal war die Band nun schon auf die leicht erhöhte Bühne geklettert, und jetzt spielten sie ihre letzte Zugabe: einen Blues-Klassiker, den zuletzt Gary Moore noch einmal neu aufgenommen hatte. Die Zuschauer klatschten begeistert und riefen nach mehr, doch die verschwitzten Musiker stellten ihre Gitarren oder ihren Bass ab oder kraxelten hinter dem Schlagzeug hervor. Unter anerkennendem Gemurmel und unablässigem Schulterklopfen bahnten sie sich den Weg zur Theke.

Jo zapfte drei Pils und ein Hefeweizen und verteilte die vier Gläser links und rechts von dem Hocker, auf dem Froelich saß.

»Hier, bitte!«, sagte der Wirt und nickte zu Froelich hin. »Ist übrigens so eine Art Kollege von euch.«

»Echt?«, fragte der Sänger und sah seinen massigen Nebenmann interessiert an.

»Na ja, ›Kollege‹ ...«, wiegelte Froelich ab.

»Alexander«, sagte der Sänger und streckte ihm die Hand hin. »Gitarre und Gesang, hast du ja gesehen. Was spielst du?«

»Keyboard, Klavier, Orgel – was halt gerade passt.«

»Hättest du das mal früher gesagt«, warf der Schlagzeuger ein, der links neben Froelich saß. »Mit Keyboarder macht’s gleich noch einmal so viel Spaß, oder, Wallie?«

Wallie, der Bassist, nickte und leerte sein Weizen mit einem langen Schluck. »Klar«, wollte er sagen, aber ein herzhafter Rülpser kam ihm dazwischen.

»Bassisten …!«, grinste der Schlagzeuger entschuldigend zu Froelich hinüber, doch der lachte schon so dröhnend, dass es seinen ganzen imposanten Oberkörper durchschüttelte.

»Wenn ihr noch Lust habt«, warf Jo ein und zapfte dem Bassisten ein zweites Weizenbier, »könnt ihr gerne zusammen noch eine kleine Session einlegen.«

»Tja«, machte der Sänger und blickte unschlüssig zum neben ihm sitzenden Leadgitarristen. Der zuckte mit den Schultern und murmelte ein »klar, gerne« in sein Pilsglas.

»Gut, dann los«, ermunterte sie Jo und nickte zur Bühne hinüber. »Ich mach euch so lange hinten in der Küche was klar. Sind Maultaschen okay?«

»Was für eine Frage!«, lachte der Bassist, und der Schlagzeuger fügte hinzu: »Dem kannst du alles hinstellen, da bleibt nichts übrig.«

»So ist es richtig, den mag ich«, grinste Jo und verschwand durch die Küchentür.

* * *

Anita Wessel schlenderte ziellos durch die Altstadt, als ihr auffiel, dass aus dem »Chick’n’Egg« noch Musik zu hören war. Sie sah auf ihre Armbanduhr: Es war schon nach zwölf. Kurz dachte sie nach, dann ging sie über die Straße, zog die Eingangstür auf und schob sich in die abgestandene Luft der Kneipe.

An den meisten Tischen saßen nur noch ein, zwei Leute, die sich weit vornüberbeugten, um sich trotz der Musik unterhalten zu können. Direkt vor der kleinen Bühne waren zwei Tische voll besetzt. An dem einen saßen fünf Frauen Mitte zwanzig, die sie flüchtig vom Sehen kannte. Am anderen Tisch saßen zwei Pärchen. Zu einem dritten Tisch direkt daneben trug der Wirt gerade ein Tablett. Ein einzelner Mann Mitte vierzig saß dort, und Jo stellte Teller und eine große Servierplatte ab, die fast unter einem wahren Berg geschmelzter Maultaschen begraben war.

Als er mit dem leeren Tablett zur Theke zurückging, bemerkte er Anita, grüßte sie herzlich und winkte zu dem Tisch hinüber, den er gerade gedeckt hatte. »Setz dich doch dazu und iss was mit«, rief er und auch der einzelne Mann am Tisch machte eine einladende Geste.

Kein Wunder: Anita Wessel sah verdammt gut aus und wusste das auch. Sie war 32 Jahre alt, 1,70 Meter groß, schlank, aber wohlgerundet, und ihre dunkelblonden schulterlangen Haare gaben ihrem auffallend hübschen Gesicht den perfekten Rahmen.

Jo kannte Anita von der Schule her, obwohl sie vier Klassen unter ihm gewesen war. Damals hatte sie für den drahtigen Drummer der Schulband geschwärmt; als nicht mehr ganz so drahtiger Kneipenwirt hatte sich Jo dann alle Flausen in Bezug auf die schöne Anita aus dem Kopf geschlagen. Aber Freunde waren sie geworden, und auch mit Jos Frau Monika, die an manchen Tagen in der Küche half, verstand sich Anita gut.

Auf der Bühne improvisierte gerade ein Gitarrist ein langes Solo, während der Schlagzeuger, der zweite Gitarrist und der Bassist ihm mit einem pumpenden Bluesrhythmus assistierten. Hinter der Hammond-Orgel thronte der dicke Gottfried und peppte den Sound mit virtuosen Einlagen ordentlich auf.

Anita setzte sich, stellte sich dem Mann am Tisch vor und schenkte Jo, der ihr gerade ein Glas Weißwein hinstellte, ihr bezauberndstes Lächeln.

»Hans-Dieter«, sagte der Mann neben ihr und nickte ihr zu, »oder lieber nur Didi – wie du magst.«

»Und auf Hanny ist noch keiner gekommen?«

»Hanny?« Hans-Dieter Kortz prustete los. »Nein, da bist du die Erste. Aber danke, gerne!«

»Weil’s wie Honey klingt, was? Das darfst du nun aber bitte nicht persönlich nehmen«, grinste Anita.

»Schade eigentlich. Prost!«

So gut blieb die Stimmung dann auch, und Anita war froh, dass sie noch ins »Chick’n’Egg« gegangen war. Die Musiker kamen nach zwei weiteren Stücken an den Tisch, nur der Schlagzeuger wurde von den Frauen am Nebentisch aufgehalten. Sie riefen ihm etwas zu, kicherten, und der Drummer setzte sich aufgekratzt zu ihnen.

Die Platte mit den Maultaschen leerte sich allmählich und Gottfried Froelich, der mit den anderen allerlei Musikerlatein austauschte, schob sich einen Bissen um den anderen in den Mund.

»Wie heißt eure Band denn?«, fragte Anita nach einer Weile.

»Maigerles Midnight Men«, antwortete der Bassist schmatzend.

»Das passt ja«, sagte Anita. »Musikalisch meine ich, mit Blues und so. Und wer von euch ist Maigerle?«

»Ich«, sagte Alexander und lächelte Anita freundlich an.

»Schön«, erwiderte Anita und meinte es auch so. Sie prostete dem Sänger zu und blickte ihm tief in die Augen. Alexander war ziemlich gutaussehend. Und dass sie auch ihm gefiel, war nicht schwer zu erkennen. »Kannst mir ja nachher deine Karte geben.«

»Das sollte ich eigentlich lieber lassen«, lachte Alexander auf und griff in seine Gesäßtasche.

»Warum das denn?«

»Darum«, grinste er und gab Anita und Froelich je eine Visitenkarte, auf der unter anderem »Kriminalpolizei« stand.

»Oh, ein Polizist ...?«

Alexander zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck von seinem Bier.

Anita sah ihn forschend an, dann meinte sie: »Na ja, sind auch Menschen.«

»Danke!«, lachte Maigerle und zwinkerte ihr zu.

»Gilt das auch für Polizisten, die beim LKA arbeiten?«, warf Hans-Dieter Kortz ein, aber Anita schien ihn nicht zu hören.

»Sollen wir langsam zusammenpacken?«, fragte der Bassist schließlich. »Wir fahren ja noch fast eine Stunde und müssen dann auch noch ausladen.«

Anita sah sich um. Fast alle Gäste waren inzwischen gegangen. Am Tisch mit den Frauen fehlten zwei und auch vom Schlagzeuger war nichts zu sehen.

»Das dauert nicht lange«, sagte Maigerle, der ihrem Blick gefolgt war.

»Wie?«

»Na, unser Drummer. Fünf Minuten, vielleicht zehn, dann ist der wieder da.«

Anita verstand kein Wort, aber tatsächlich: Nach wenigen Minuten kam der Schlagzeuger zur Tür herein, ein unverschämt entspanntes Grinsen auf dem Gesicht, und setzte sich auf den letzten freien Stuhl neben Anita. Sie rückte ein wenig von ihm ab: Er roch etwas nach Schweiß und sah leicht ramponiert aus.

Maigerle lachte kurz auf, als er sah, dass Anita allmählich verstand, wo der Drummer gerade gewesen war und mit wem. Sie wurde rot.

Freitag

Trude Hasert balancierte das Frühstückstablett auf dem linken Unterarm und drückte die Türklinke mit der rechten Hand. Die Luft im Zimmer war etwas muffig, wie meist am Morgen. Allerdings hatte sich eine scharfe Duftnote unter den sonst üblichen Geruch geschoben und Trude Hasert seufzte. Das Bett musste wohl neu bezogen werden.

Das Tablett mit Tee, einer Scheibe Brot und etwas Marmelade stellte sie auf dem kleinen Tischchen an der Seitenwand ab, dann ging sie zum Fenster und öffnete die beiden Flügel.

Unter ihr konnte sie ein Stück der Leonberger Straße sehen. Der Berufsverkehr war längst nicht mehr so dicht wie in den Jahren vor dem Bau der Umgehungsstraße, aber noch immer stauten sich die Wagen vor der Ampel und an den Abzweigungen.

Sie atmete noch einmal tief die frische Luft ein, dann trat sie ans Bett und schaute auf die alte Frau hinunter. Es dauerte nur einen Moment, bis sie erkannte: Agathe Weinmann würde kein neues Bettzeug mehr brauchen.

Trude Hasert kannte die alte Frau, seit sie ins Seniorenheim Abendruh gezogen war. Später hatte sie erfahren, dass Agathe Weinmann sehr wohlhabend war und seit dem Tod ihres Mannes irgendwann in den Neunzigern immer wieder großzügig für kulturelle Zwecke gespendet hatte.

Traurig, obwohl sie im Seniorenheim ja immer wieder alte Leute tot im Bett vorfand, wandte sich Trude Hasert ab und verließ das Zimmer. Sie würde nun die Heimleitung informieren, alles würde in die Wege geleitet werden und schon heute Nachmittag würde sich jemand von der Warteliste über einen freien Platz freuen können.

* * *

Gottfried Froelich saß in seinem liebsten, ausgebeulten Morgenmantel auf der Terrasse, die er auf die Garage seines Wohn- und Geschäftshauses hatte bauen lassen. Unter ihm parkte der Leichenwagen, hinter ihm lag das Esszimmer, das er fast nur für Gespräche mit der Kundschaft nutzte, und vor ihm konnte er durch die Kronen der Bäume den Friedhof sehen. Das Plätschern der Würm, die direkt an seinem Grundstück entlangfloss, wurde von den Verkehrsgeräuschen von der Leonberger Straße überdeckt, die hinter dem Friedhof von der Umgehungsstraße herunterkam und dann ein kleines Stück an Würm und Stadtmauer entlangführte.

Das Telefon allerdings konnte er sehr gut hören, zumal er es ohnehin aus alter Gewohnheit neben sich auf den Tisch gelegt hatte. Es klingelte unangenehm schrill. Zwar hatte Froelich schon mehrmals versucht, eine Blues-Melodie als Klingelton einzurichten – aber das hatte nicht nur nicht geklappt, sondern er hatte hinterher viel Mühe damit, dass das Gerät überhaupt wieder einen Klingelton von sich gab. Also ertrug er eben das schrille Geräusch, mit dem das Telefon ausgeliefert worden war.

»Ja? Froelich?«

Am anderen Ende der Leitung teilte ihm Frida Verhayen, die Leiterin des Seniorenheims Abendruh, in dürren und sachlichen Worten mit, dass es wieder Arbeit für ihn gab und wo sie zu finden war. Vor zehn Minuten war die Tote in Zimmer 317 entdeckt worden, in fünf Minuten würde der Arzt den Totenschein ausstellen, und in einer halben Stunde könnte die Leiche abgeholt werden.

»Gibt es keine Angehörigen, die vielleicht noch in der etwas persönlicheren Atmosphäre des Zimmers …?«, warf Froelich ein.

»Nein, keine Angehörigen«, versetzte Frida Verhayen. »Kommen Sie dann?«

Die Warteliste des Seniorenheims musste lang sein, wenn die Leiterin so auf die schnelle Abholung drängte. Froelich sah auf seine Armbanduhr: kurz nach acht.

»Natürlich, ich schicke gleich jemanden.«

Noch bevor sich Froelich verabschieden konnte, hörte er einen gleichmäßigen Ton: Die Leitung war wieder frei, Frida Verhayen hatte aufgelegt.

* * *

Dr. Jochen Fähringer ließ sich zu Zimmer 317 führen, obwohl er den Weg schon kannte. Er hatte seit Jahren ein Auge auf Johanna Kramer geworfen, eine junge und recht hübsche Pflegerin mit einem aufreizend wiegenden Gang – entsprechend enttäuscht war er nun auch, dass nicht sie, sondern die etwas ältlich wirkende Trude Hasert vor ihm her zu der Toten ging.

Agathe Weinmann lag in ihrem Bett, als sei sie über Nacht vertrocknet und verhutzelt, denn alles an ihr wirkte viel zu klein für das große Kissen und die ausladende Bettdecke.

Das dünn gewordene und zerzauste Haar war dunkel gefärbt geworden, aber überall drängte inzwischen das übertünchte schmutzige Grau der Originalfarbe wieder hervor. Ihre Haut hatte Altersflecken und wirkte an den Wangenknochen und an den Handgelenken fast durchsichtig. Die Arme waren unterschiedlich stark angewinkelt und lagen neben dem Oberkörper auf der Bettdecke, die Hände zeigten mit den Innenflächen nach oben und die Finger waren leicht nach innen gekrümmt.

Agathe Weinmann starrte mit leerem Blick nach oben und Fähringer fand es etwas unangenehm, dass sie ihn während seiner ersten Untersuchungen geradezu aufmerksam zu mustern schien.

Es roch streng im Zimmer. Fähringer begutachtete die Tote, prüfte die üblichen Reflexe, dann schob er die beiden Arme der Toten ein wenig zur Seite und schlug die Bettdecke zurück. Sofort bereute er, dass er nicht rechtzeitig die Luft angehalten hatte. Der Geruch von Urin, Kot und schlecht gewaschener Haut schien ihn wie ein Tier anzuspringen und raubte ihm fast den Atem.

Agathe Weinmann trug ein blassrosa geblümtes Nachthemd, das ihren mageren Körper bis zu den Knien bedeckte. Die Beine lagen etwas angewinkelt, und ein Stück der Bettdecke hatte sich unter dem linken Unterschenkel zerknäult. Agathe Weinmann hatte wohl unruhig geschlafen vor ihrem Tod.

Es gab keine ungewöhnlichen Flecken auf der Haut der Toten, es gab keine Würgemale und die Altersflecken und Muttermale auf den Armen kannte er: Er untersuchte regelmäßig alle Bewohner des Seniorenheims.

Dr. Jochen Fähringer sah keinen Grund, auf etwas anderes als einen natürlichen Tod zu schließen. Er füllte den Totenschein aus, ließ sich von Trude Hasert noch einen Becher Kaffee einschenken. Als sie ihm sagte, dass Johanna Kramer in dieser Woche Spätschicht habe, nahm er noch einen Schluck und verabschiedete sich dann eilig. Trude Hasert sah ihm grinsend nach. Ihre Kollegin hatte ihr mal verraten, wie sehr ihr der Arzt auf die Nerven ging, wenn er ihr auf die Beine und in den Ausschnitt schielte.

»Danke!«, sagte Johanna erleichtert zu ihrer Kollegin, als Fähringer im Treppenhaus dem Ausgang zustrebte und sie endlich ihr Versteck in dem kleinen Nebenraum verlassen konnte.

* * *

Froelich saß noch immer auf der Terrasse, als unter ihm Reiff mit dem Leichenwagen aus dem Garagentor fuhr. Walter Reiff war sein erfahrenster Mitarbeiter, er würde Frida Verhayen wenigstens einen letzten Rest an Pietät abfordern, ohne dass sie deswegen gleich beleidigt sein würde. Er konnte sehen, wie der schwarz lackierte Wagen auf der kleinen Brücke die Würm überquerte, sich auf der Leonberger Straße nach links einfädelte, kurz darauf nach rechts abbog und langsam zum Seniorenheim Abendruh hinauffuhr.

Er konnte auch das Seniorenheim von hier aus sehen. Wenn er den Plan von Abendruh noch richtig in Erinnerung hatte, zeigte das Zimmer der Verstorbenen zur Stadt hin – also konnte man von dort aus auch sein Haus und seinen großen Garten sehen. Er konzentrierte sich und schaute den Hang hinauf, aber nur ganz verschwommen konnte er ein offen stehendes Fenster erahnen. Er würde wohl doch mal einen Termin mit dem Augenarzt verabreden müssen.

Dazu war er aber heute zu müde. Gestern Abend war es spät geworden, und nachts schlief er seit Jahren nicht mehr gut. Immer wieder wurde er wach von dem Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Also stand er in fast jeder Nacht irgendwann auf, las ein Buch, trank Sprudel oder Bier, spielte Keyboard oder schlug sonstwie die Zeit tot.

Freudlos musste Froelich lachen: Todmüde war ja für einen Bestatter eigentlich eine passende Gemütsverfassung.

Er wuchtete sich aus seinem Terrassenstuhl und schlurfte in die Küche, um noch einmal Kaffee nachzuschenken.

* * *

Anita Wessel und Trude Hasert gaben sich ein Zeichen, dann hoben sie den alten Mann aus dem Rollstuhl und setzten ihn auf der Matratze ab. Unter den aufmerksamen Augen der beiden erwachsenen Kinder des Mannes schoben sie die beiden dürren Beine unter die halb aufgeschlagene Bettdecke und halfen dem Mann dabei, sich auf das große Kissen sinken zu lassen.

Die beiden Pflegerinnen traten etwas zurück und der alte Mann deutete fahrig zu dem metallenen Nachtkästchen neben seinem Bett.

»Hier, Vater«, sagte die Tochter und reichte ihm eine Brille. Sie war etwa Mitte vierzig und sah verhärmt aus. Das leere Etui klappte sie wieder zusammen und wollte es gerade in die Schublade des Nachtkästchens legen, als ihr dort noch etwas auffiel. Ganz hinten, wo es Trude Hasert vorhin wohl übersehen hatte, lag noch ein kleines Faltblatt. Die Tochter kramte es hervor und reichte es den Pflegerinnen. Trude Hasert sah das Foto und erkannte das Motiv natürlich sofort: Mit solchen kleinen Flyern sammelte der Förderverein Klösterle Spendengelder für die Renovierung des historischen Gebäudes.

»Will Ihr Vater das vielleicht noch lesen?«, fragte Trude Hasert, bereute es aber sofort: Die Tochter des neuen Heimbewohners bestrafte sie mit einem strengen Blick.

»Sie sollten das Zimmer frei von allen Spuren übergeben, finde ich«, schnappte die Frau.

»Spuren«, dachte Trude Hasert. »Als sei hier ein Verbrechen geschehen.« Wortlos reichte sie das Faltblatt an ihre Kollegin weiter, doch die ließ es zu Boden fallen.

»Anita?«

Anita Wessel stand etwas bleich neben ihr und hatte gar nicht mitbekommen, dass sie den Zettel hätte halten sollen. Trude Hasert hob ihn auf.

»Alles okay, Anita?«

»Wie?«

»Komm, wir gehen«, drängte sie die junge Kollegin und zwei Minuten später standen die beiden Frauen in der kleinen Teeküche des Seniorenheims.

Trude Hasert musterte Anita Wessel. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ja, ja. Was soll denn sein?«

»Du warst da drin irgendwie … Ich weiß auch nicht.«

»Sterben geht mir halt auf die Nerven.«

»Nach all den Jahren noch?«, fragte Trude Hasert, obwohl sie sich selbst ebenfalls noch nicht an diesen Teil ihres Jobs hatte gewöhnen können.

»Hmm. Komisch, was?«

»Ja. Nein. Was weiß ich. Kaffee?«

»Nachher vielleicht, Trude, danke. Ich mach mal die Runde und geh danach eine rauchen.«

Trude Hasert rührte etwas Milch und Zucker in ihren Kaffee, nahm einen großen Schluck und sah ihrer Kollegin nachdenklich hinterher.

* * *

»Maier«, drang es aus dem Hörer an Froelichs Ohr. »Ja, bitte?«

Die Frau am anderen Ende der Leitung hatte eine sympathische Stimme und klang freundlich.

»Mein Name ist Froelich, vielleicht kennen Sie mein Institut am Friedhof in Weil der Stadt«, stellte sich Gottfried Froelich vor.

»Ja, natürlich, das kenne ich. Zum Glück hatten wir noch nicht … ich meine …«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, beruhigte Froelich sie. »Und natürlich hoffe ich, dass Sie und Ihre Familie unsere Dienste noch lange nicht in Anspruch nehmen müssen.« Froelich meinte das ehrlich. In letzter Zeit war er zunehmend deprimiert, wenn er über den Tod im Allgemeinen und seinen Beruf im Besonderen nachdachte.

»Wie kann ich Ihnen denn helfen?«, fragte Frau Maier nach einer kurzen, etwas peinlichen Pause.

»Nun …«, druckste Froelich herum und ging mit dem schnurlosen Telefon in seinem Büro auf und ab. »Sie sind doch die Vorsitzende der Landfrauen hier.«

»Ja, ich bin die Vorsitzende unseres Ortsvereins Merklingen-Hausen. Möchten Sie an einer unserer Veranstaltungen teilnehmen?«

»Nicht direkt, ich …« Inzwischen war sich Froelich doch nicht mehr so sicher, ob er eine gute Idee gehabt hatte. Landfrauen – das waren für ihn Damen mittleren und fortgeschrittenen Alters, die sich zu Vorträgen über Glaubens- und Küchenfragen trafen und sich Tipps für das Einwecken von Obst gaben. Noch vor einer halben Stunde war er ganz stolz auf seinen Einfall gewesen, dass er dort am schnellsten und sichersten eine neue Putzfrau finden konnte.

»Ich …«, Froelich atmete tief durch und fasste sich ein Herz: »Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir vielleicht eine Putzkraft empfehlen könnten.«

Stille am anderen Ende der Leitung.

»Hallo? Frau Maier?«

»Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«

»Ich … doch … warum?«

»Frechheit!« bellte es aus dem Hörer, dann war das Gespräch beendet.

* * *

Die Glocken von St. Peter und Paul schwangen aus, und bald war auch der letzte Widerhall des Stundengeläuts in den Gassen und Straßen von Weil der Stadt verklungen.

Die Eingangstür an der Westseite des Klösterle, wo noch vor wenigen Monaten das große Scheunentor die Fassade verschandelt hatte, stand weit offen, und in dem großen Raum dahinter, dem früheren Kirchenschiff des ehemaligen Kapuzinerklosters, ging Moritz Currlen hin und her und fotografierte Details der alt wirkenden Balkenkonstruktion, die den Innenraum in zwei Hälften teilte. Nach einer Weile hörte er Schritte und drehte sich um: Vor ihm stand Jens Heym – der Kassier des Fördervereins Klösterle stattete seinem Vorsitzenden einen Besuch ab.

»Hast du schon gehört?«, plapperte Heym ohne Vorrede los. Er hörte sich ohnehin gerne reden, aber die sorgenvolle Miene passte nicht zu seiner sonst üblichen guten Laune.

»Gehört?«, fragte Currlen zurück. »Was denn gehört?«

»Frau Weinmann ist gestorben. Sie wurde heute früh im Seniorenheim tot in ihrem Bett gefunden.« Das erklärte natürlich die Sorgenfalten auf Heyms Stirn: Agathe Weinmann war eine treue Unterstützerin der Klösterle-Renovierung gewesen, ihr Tod würde die jährlichen Spendensummen empfindlich verringern.

»Heute früh ist sie gestorben? Und woher weißt du das dann jetzt schon?«

»Meine Frau hat auf dem Weg in die Stadt einen Mitarbeiter des Bestattungsinstituts gesehen, den sie kennt. Der rangierte gerade rückwärts mit dem Leichenwagen in die Garage des Instituts. Da blieb sie kurz stehen und wartete, bis er wieder rauskam. Na ja, und wie die beiden so plaudern …«

Currlen lachte laut auf. »Gut, dass deine Frau nicht neugierig ist, oder?«

»Wie man’s nimmt«, antwortete Heym und klang fast ein wenig eingeschnappt. »Ich finde es schon nützlich, solche Dinge zu wissen.«

»Ist ja schon gut, Jens.« Er klopfte Heym versöhnlich auf die Schulter. »Tut mir übrigens sehr leid für sie, das war eine wirklich nette alte Dame«, murmelte Currlen. »Na ja, und für uns tut es mir natürlich auch leid …«

»Blöd ist auch, dass sie wohl vorhatte, uns in den nächsten ein, zwei Wochen eine größere Summe zu spenden. Wir hatten uns länger unterhalten und ich habe ihr ein wenig beschrieben, was als nächster Schritt anfällt und wie teuer das voraussichtlich wird. Ihr Scheckbuch hatte sie da leider nicht dabei, aber sie wollte Ende dieser, Anfang nächster Woche ihr Briefchen bei mir daheim einwerfen. Dieses Geld ist nun natürlich futsch …«

»Also bitte, Jens«, tadelte Currlen seinen Vereinskameraden. »Etwas mehr Pietät darf ich schon erwarten, oder? Schließlich ist Geld nicht alles.«

»Nun gut«, zuckte Heym mit den Schultern. »Aber ich bin nun mal unser Kassier.«

»Schon recht, Jens.«

»Mir tut die alte Dame ja auch leid. Die sah ganz gesund aus und war meistens guter Dinge. Na ja, reinsehen kann man halt in niemanden.«

Currlen dachte nach. »Sag mal, Jens«, begann er dann, »vielleicht hat sie uns ja was vermacht.«

Heym sah seinen Vorsitzenden an und ganz hinten in den Augen des Kassiers glomm ein leichtes Leuchten auf.

»Tja, vielleicht …«, murmelte er.

In den vergangenen Jahren hatten einige ältere Mitbürger den Förderverein in ihren Testamenten bedacht, darunter auch jene, die schon zu Lebzeiten immer wieder für die Renovierung des Klösterles gespendet hatten.

»Das müssen wir nun einfach mal abwarten«, sagte Currlen noch und wandte sich dann wieder mit dem Fotoapparat der Balkenkonstruktion des Kirchenschiffs zu.

* * *

Froelich nahm die Jacke vom Haken und zog eine wollene Mütze über. Im Sarglager neben der Garage schlüpfte er in gefütterte Stiefel und schob das Keyboard auf dem Rollwägelchen, das er eigens an das Instrument angepasst und mit zwei ordentlichen Lautsprechern versehen hatte, auf die Plattform des Aufzugs. Dann drückte er den untersten Knopf und fuhr ruckelnd ins Kellergeschoss hinab.

Als der Aufzug zum Stehen kam, schob Froelich die Tür mit dem Keyboard-Wagen auf. Der Bewegungsmelder reagierte und Neonröhren tauchten den Flur in grelles Licht. Froelich schob auch die nächste Tür auf und trat in den großen Kühlraum, der ebenfalls von Neonröhren erleuchtet war.

Der Sarg von Agathe Weinmann stand rechts in der Ecke, daneben stand ein sehr stabil wirkender metallener Klavierhocker mit Ledersitzfläche. Dorthin schob Gottfried Froelich das Keyboard und ließ sich mit dem Rücken zur Wand auf dem Hocker nieder.

Steckdosen, ein kleines Schränkchen und ein geschlossenes Wandregal mit Notenblättern und Skizzen eigener Songs: Hier hatte Froelich alles, was er für seine Musik brauchte. Er verkabelte das Keyboard, holte eine Flasche Cognac und ein Glas aus dem kleinen Schränkchen und goss sich ein.

»Auf Ihr Wohl, Frau Weinmann«, murmelte Froelich und nahm einen Schluck. »Nachträglich sozusagen.«

Er schaltete das Keyboard ein, auf dem Menüfeld wurden Buchstaben sichtbar, die Kontrollleuchten der Lautsprecher blinkten grün auf, und ein erster Akkord hallte durch den Raum. Die Akustik war hervorragend, wenn man Hall mochte. Froelich tippte auf der Menü-Auswahl herum, bis er einen wuchtigen Klaviersound gefunden hatte, der zu seiner Stimmung passte. Dann spielte er einige Blues- und Jazz-Standards.

Agathe Weinmann lag in einem der einfacheren Särge, die das Bestattungsinstitut Fürchtegott Froelich & Söhne im Angebot hatte. Da es nach aktuellem Stand keine Angehörigen gab, war zunächst die Stadtverwaltung Froelichs Auftraggeber. Und dort wurde gewohnheitsmäßig das günstigste Arrangement gewünscht, auch wenn Frau Weinmann sicher genug hinterlassen hatte, um auch höhere Kosten abzudecken.

Trotzdem hätte es dem Bestatter widerstrebt, die Frau in einen billigen Sarg zu packen. Sie sollte zwar verbrannt werden, aber lumpige Ware kam Froelich nicht ins Haus, da war er eigen. Also kaufte er nicht unterhalb eines bestimmten Standards ein, kalkulierte aber in besonderen Fällen etwas knapper, damit er keinen Ärger wegen der Kosten bekam.

Eine Weile spielte Froelich vor sich hin und betrachtete sinnierend den offenen Sarg. Dann stand er auf, steckte die Hände in die Jackentaschen, in die er kleine Wärmekissen gepackt hatte, und blickte auf Frau Weinmann hinunter.

Friedlich lag sie da, auch wenn ihr Gesichtsausdruck etwas Gequältes hatte. Natürlich waren ihr noch im Seniorenheim von Walter Reiff die Augen geschlossen worden, aber ihre Miene wirkte nicht sehr glücklich, nicht sehr entspannt. Offenbar hatte Frau Weinmann bis zuletzt noch versucht, krampfhaft Luft zu holen – die Vorstellung, dass zum Sterben nun mal auch der berühmte letzte Atemzug gehörte, hatte Gottfried Froelich noch nie behagt.

Ihr Mund war ebenfalls verzerrt, als sie im Institut ankam, und die Arme und Beine machten einen verkrampften Eindruck. Wie auch immer: Agathe Weinmann hatte es hinter sich.

Nun würde alles seinen gewohnten Gang gehen. Mit Routine würden alle Amtsgeschäfte erledigt, alle Punkte auf der Checkliste abgearbeitet, alle Vorbereitungen für die Einäscherung und die anschließende Urnenbestattung getroffen werden. Dann etwas Feuer, etwas Feierlichkeit – und fertig.

Gottfried Froelich setzte sich deprimiert zurück auf seinen Hocker und nahm noch einen Schluck. Seit Jahren schon ödete ihn sein Beruf an. Seit Jahren schon ertrug er ihn nur noch aus zwei Gründen: Er fühlte sich wegen des inzwischen in der dritten Generation bestehenden Instituts dazu verpflichtet, und er fand zumindest die Tatsache angenehm, dass ihm das Bestattungsinstitut Fürchtegott Froelich & Söhne ein finanzielles Auskommen sicherte, um das er sich nach Lage der Dinge keine allzu großen Sorgen machen musste.

»Gestorben wird immer«, hatte schon Großvater Fürchtegott selig gesagt.

Gottfried Froelich fingerte zwei Mollakkorde auf den Tasten und lauschte den Harmonien nach, die sich an den kahlen Wänden des Kühlraums brachen.

»Gestorben wird immer«, murmelte er. »Und erst dann komme ich ins Spiel.«

Ein kleiner Triller, ein Septimakkord, eine kurze Melodie.

»Scheiße!«

Froelich schenkte sich nach. Der Cognac war zu kalt, aber die Wirkung blieb trotzdem nicht aus.

»Ein Bestatter, der von seinem Job tödlich gelangweilt ist.« Das Lachen polterte freudlos und rau aus Froelich heraus und klang irgendwie unheimlich, wie es hier verhallt auf ihn zurückgeworfen wurde.

»Six Feet Under« hieß ein Song, den Froelich vor ein paar Jahren geschrieben hatte. Natürlich spielte das auf dasselbe an wie die gleichnamige Fernsehserie, die es damals allerdings noch nicht gab. Und im Refrain wiederholte sich, nach den in den Strophen beschriebenen Zielen und Träumen, die Frage: ›Will I’ve been gone there before I’m six feet under?‹ – Werde ich dort gewesen sein, werde ich dieses oder jenes erreicht haben, bevor ich sechs Fuß tief unter der Erde liege?

Froelich stimmte den Bluesrock-Song an, sang mit zunehmend wütendem Unterton die erste Strophe und den Refrain, dann brach er ab. Es war hier, in der auf konstant acht Grad heruntergekühlten Luft, zu kühl zum Singen. Und er wusste ja auch nach all den Jahren noch immer nicht, ob er dies oder jenes erreicht, erlebt oder erfahren haben würde, bevor er eines Tages selbst unter die Erde kam.

Er stand wieder auf, wärmte sich die Finger in den Taschen und stellte sich vor den Sarg mit der toten alten Frau.

»Haben Sie alles erlebt, was Sie wollten?«, fragte er. Ein plötzlicher Impuls ließ ihn wünschen, Agathe Weinmann zu Lebzeiten gekannt zu haben. Wer war diese Frau? Wie war sie gewesen? Hatte sie ihre Pfleger mit Sonderwünschen malträtiert oder hatte sie sich still in ihr Alter ergeben? Hatte sie alle Verwandten überlebt oder hatte sie ihre Familie verprellt? War sie fröhlich gewesen oder trübsinnig? Würde sie jemand vermissen oder würde erst jetzt ein jahrzehntealter Streit enden?

Warum hatte er es mit den Leuten immer erst zu tun, wenn alles vorüber war? Und warum, fragte er sich danach, warum sollte es diesmal nicht ein wenig anders sein – warum sollte er dieses eine Mal nicht herausfinden, wer oder wie diese Tote zu Lebzeiten gewesen war?

Irgendwie kam es ihm nicht richtig vor, dass er Leute unter die Erde brachte, von denen er nur wusste, dass sie tot waren, und im besten Fall noch, welche Ausstattung sich die Hinterbliebenen für die Beerdigung wünschten. Das würde er im Fall dieser Toten ändern. Vielleicht half es ihm ja.

Fast ein wenig beschwingt kehrte Froelich zu seinem Klavierhocker zurück. Er goss sich reichlich Cognac ein und trank das Glas in einem Zug aus. Er kramte Stift und Papier aus dem Wandregal, machte sich Notizen, spielte einen Akkord, machte sich weitere Notizen. Er schrieb ein Lied für Agathe Weinmann. Ein Lied von Träumen, Plänen, von der Hoffnung und von einer Zukunft ohne Zwänge.

Gottfried Froelich war betrunken.

Samstag

Der Klingelton des Telefons schnitt wie ein Messer in Froelichs Schläfen, und je häufiger sich das Geräusch wiederholte, um so mehr fühlte es sich an, als würde jemand mit diesem Messer tief in seinem Kopf herumstochern.

Stöhnend erhob er sich von der Eckbank in seiner Küche und wankte zum Telefon hinüber. Bevor er den Hörer abheben konnte, verstummte das Klingeln.

»Klasse …«, seufzte Froelich und kehrte in die Küche zurück, um die Kaffeemaschine einzuschalten. Nach seinem nächtlichen Konzert hatte er es nicht mehr geschafft, sich vor dem Schlafengehen noch auszuziehen, und trotz der bleiernen Müdigkeit, die der Cognac noch verstärkt hatte, erwachte er wie gewohnt mitten in der Nacht und konnte zunächst nicht mehr einschlafen.

Eine Stunde später war er noch immer nicht ganz nüchtern, aber müde genug, um auf der Eckbank einzuschlafen. Als er gegen fünf Uhr noch einmal aufgewacht war, schaffte er es immerhin, sich eine Wolldecke in die Küche zu holen, um es etwas wärmer zu haben.

Mit rot geäderten Augen sah er auf die Zeitanzeige am Backofen. Kurz vor acht Uhr morgens. Das Telefon klingelte erneut.

»Froelich, guten Morgen«, brummte er und räusperte sich geräuschvoll.

»Liegt Frau Weinmann bei Ihnen?«

»Ja«, antwortete Froelich und ärgerte sich sofort, dass er, verschlafen und verkatert wie er war, aus reinem Reflex eine Auskunft gegeben hatte, ohne zu wissen, mit wem er eigentlich sprach. »Wer sind Sie denn, bitte?«

»Ich … hmm …« Die Stimme einer Frau. Eine dünne Stimme, unsicher, etwas zittrig. Die Frau verstummte. Am anderen Ende der Leitung war nun nur noch zu hören, wie die Frau leise atmete. Es schien ihr schwer zu fallen – war sie erkältet? Dann schienen sich im Hintergrund Schritte zu nähern und die Frau legte wortlos auf.

Umständlich tippte sich Froelich durch das Menü seiner kleinen Telefonanlage, bis er endlich den Eintrag des Anrufs von eben fand. Die Telefonnummer, die dort angezeigt wurde, kannte er: Es war der zentrale Anschluss des Seniorenheims Abendruh.

* * *

Als er mit dem Schreibkram für diesen Tag fertig war, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und ließ den Blick durch sein kleines Büro schweifen.

Der Raum wurde beherrscht von seinem ausladenden Schreibtisch, auf dem sich Unterlagen und Broschüren stapelten. Zwei Fenster und zwei Türen – eine führte auf den Flur hinaus, die andere in den Ausstellungsraum mit einer Auswahl der vorhandenen Särge – ließen gerade genug Wandfläche frei für ein halbhohes Wandregal und einen zweiflügeligen Wandschrank mit Glastüren und Schubladen. Hinter den Glastüren waren Anzüge und Kleider zu sehen, die Froelich für Verstorbene bereithielt. In den Schubladen darunter lagen die passenden Stoffe, die um die Toten herum im Sarg drapiert werden konnten.

In dem Wandregal waren Stehordner aufgereiht, in denen Prospekte von Sargherstellern steckten. Obenauf stand das kleine Holzmodell eines Sarges, daneben lag das Angebot einer Firma aus der Nähe von Münster, die als neue Geschäftsidee eine Art von elektronischem Grabstein anbot. Auf einem Display konnten Infos über die Verstorbenen angezeigt werden, den Strom dafür lieferten Akkus, gespeist von Solarzellen. Ein Foto zeigte ein erstes Beispiel, das auf einem Kölner Friedhof installiert worden war: Das Grabmal war in der Form zweier übereinanderliegender Blätter gestaltet. Der Begleitbrief pries auch die Möglichkeit an, Videos mit und ohne Klang über das Display flimmern zu lassen – aber auf deutschen Friedhöfen war Beschallung dieser Art nicht gestattet.

Froelich stellte sich den Friedhof der Zukunft vor mit all seinen Toten-Videos und schüttelte grinsend den Kopf. Irgendwie fand er es albern, in der Bestatter-Branche immer mit dem neuesten Trend zu gehen. Obwohl: Wenn etwas sozusagen der letzte Schrei war, passte es ja auf einen Friedhof wie die Faust aufs Auge …

Dann fiel sein Blick auf eine kleine graue Pappschachtel, die vor dem Regal auf dem Boden stand. Frida Verhayen vom Seniorenheim Abendruh hatte Walter Reiff die letzten Habseligkeiten von Agathe Weinmann gleich mitgegeben. Die wenigen Möbel, die in ihrem Zimmer im Seniorenheim Platz gefunden hatten, die Kleider und alles andere, was Agathe Weinmann im Heim hinterlassen hatte, war daraufhin vom Ordnungsamt der Stadt erfasst worden, und offiziell wurde die sogenannte Nachlasssicherung dem Notariat übergeben. Doch manchmal war das Notariat ganz froh, wenn Froelich sich bereit erklärte, die Sachen zunächst bei sich in einem Lagerraum unterzubringen.

Irgendwie war der Karton dabei übersehen worden. Nun stand er in Froelichs Büro – gleich am Montag früh wollte er ihn mitsamt Inhalt zum Notariat bringen. Vielleicht konnte das ja helfen, Angehörige von Frau Weinmann zu ermitteln.

Bis Montag allerdings waren es noch zwei Tage. Froelich überlegte kurz und kam dann zu dem Schluss , dass er ebenso gut mal einen Blick riskieren konnte, wo der Karton doch schon mal da war …

Seufzend trug er ihn ins Esszimmer. Er klappte ihn auf und blickte auf das nur knapp zur Hälfte gefüllte Innere. Viel war, diesem Behälter nach zu urteilen, nicht übrig geblieben von einem ganzen langen Menschenleben.

Einige Haarklammern, ein kleines Puderdöschen, ein kunstvoll verzierter Kamm, mit dem man die Haare auch zum Dutt hochstecken konnte. Gottfried Froelich klaubte ein Stück nach dem anderen heraus und legte es auf die Tischplatte. Eine Damenarmbanduhr, eine Herrenarmbanduhr. Zwei Päckchen Spielkarten, eines für Gaigel, eines für Skat, beide ziemlich abgegriffen. Ein wertvoll aussehendes Feuerzeug, in das die Initialen »HW« in schwungvoller Schrift eingraviert waren. Eine Taschenbibel mit einer handschriftlichen Widmung: »Unserer großzügigen Frau Weinmann alles Liebe und Gute«, stand dort in großen Krakelbuchstaben, dahinter ein Namenszug, den Froelich nicht entziffern konnte.

Ein winziges Notizbuch mit Namen und Telefonnummern legte Froelich links neben den Karton, danach einen Bleistift und einen Füller zu den anderen Dingen auf die rechte Seite. Ein Scheckbuch für ein Konto bei der hiesigen Sparkasse enthielt nur noch wenige Vordrucke, links war ein Blatt eingelegt, auf dem Frau Weinmann offenbar vermerkt hatte, wann welche Summen an wen gegangen waren. »Benutzt man so etwas heute noch?«, dachte Froelich erstaunt – und legte es nach links zum Notizbuch.

Er räumte weiter aus: einen nicht frankierten, nicht beschrifteten und nicht zugeklebten Briefumschlag, in dem ein einzelnes Blatt steckte, beschrieben mit Schreibmaschine und im Gegensatz zum eher neu wirkenden Couvert offenbar schon ziemlich alt – nach links. Drei Ansichtskarten, je eine aus Tunesien, Florenz und Kanada, wie er den Urheber-Infos entnehmen konnte. Das Datum des Poststempels war auf keiner der Karten mehr zu sehen: Die Briefmarken waren abgelöst worden. Die handschriftlichen Texte überflog er nur kurz – soweit er sie lesen konnte, waren es tatsächlich nur Urlaubsgrüße. Trotzdem legte er die Karten auf die linke Seite.

Ganz unten im Karton fand er noch einige Haarspangen, zwei kleine Probeflakons mit Parfum, vier säuberlich gefaltete Stofftaschentücher mit den Initialen »AW« und ein paar Hustenbonbons, Geschmacksrichtung »Grüner Apfel«.

Was ihm unwichtig erschien, legte er in den Karton zurück. Den Rest breitete er vor sich aus: die drei Postkarten, den Brief, das Scheckbuch, das Notizheft und den Schlüssel.

Er nahm den Brief zur Hand und begann zu lesen. »Liebe Agathe«, begann das Schreiben, »zunächst einmal hoffe ich, dass es dir gut geht – und dass ich dich nach allem, was geschah, noch so nennen darf.« Das Papier des Briefes war dünn und an vielen Stellen hatte die mechanische Schreibmaschine in Buchstaben wie »o« und »d« Löcher in das Papier gestanzt.

»Wir leben inzwischen in einem kleinen Dorf bei Offenburg, dort hat mein Franz nach langem Suchen endlich wieder Arbeit gefunden. Nach Ostelsheim haben wir seit Jahren keinen Kontakt mehr, auch die früheren Kollegen aus Sindelfingen hat mein Mann aus den Augen verloren, wie du dir denken kannst. Aber ich will gar nicht so viel von mir schreiben und auch gar nicht über das Vergangene klagen: Franz und mir geht es recht ordentlich, von Huberts Tod haben wir erst vor kurzem erfahren. Ich wäre sonst gerne zur Beerdigung gekommen, notfalls auch ohne Franz. Nachträglich möchte ich dir noch mein Beileid übermitteln – bitte entschuldige, dass es dich erst ein Jahr zu spät erreicht. Ich hoffe, du wirst in eurem großen Haus noch viele schöne Jahre verleben. Vielleicht darf ich dich ja mal besuchen? Schreib mir deswegen doch bitte gelegentlich. Liebe Grüße aus der Ortenau sendet dir deine Edith.«

Ein Datum oder eine Anschrift war auf dem Brief nicht zu finden, der Umschlag, in dem das Blatt zuletzt gesteckt hatte, war ganz offensichtlich nicht derselbe, in dem der Brief verschickt worden war. Agathe Weinmann hatte wohl keinen weiteren Kontakt mit »Edith« gewünscht, nur: Warum hatte sie dann trotzdem dieses alte Schreiben aufbewahrt? Seufzend legte Froelich den Brief wieder auf den Tisch und nahm das Scheckheft zur Hand.

Offenbar hatte Agathe Weinmann ihr Geld großzügig mit anderen geteilt und offenbar war ihr Vermögen dafür groß genug gewesen. Beide Seiten des eingelegten Kartons waren eng beschrieben in einer streng wirkenden Schrift mit steil aufragenden Buchstaben. »Kepler«, las Froelich und dahinter die Zahl »10.000,–« sowie ein Datum aus dem vergangenen November. Ähnliche Summen hatte sie scheinbar an mehrere Empfänger verteilt, die mit »Klösterle«, »Peter/ Paul«, »Kolping«, »Ev. Gemeinde« und ähnlichen Kürzeln bezeichnet waren.