Unschuldslamm - Judith Arendt - E-Book

Unschuldslamm E-Book

Judith Arendt

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Beschreibung

Ruth Holländer kann sich nicht beklagen: Die Scheidung ist durch, der Sohn aus dem Haus, und die 16-jährige Tochter pubertiert fast nicht mehr. Auch Ruths französisches Bistro läuft erfreulich gut. Aber dann kommt ein Bescheid vom Amtsgericht: Zu ihrem Entsetzen wird Ruth zur Schöffin berufen. Sie muss in einem Mordfall beisitzen. Schon bald hegt sie Zweifel an der Schuld des Hauptangeklagten: Hat der junge Mann wirklich seine Schwester getötet? Ruth beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Und schon nach den ersten Fragen im Umfeld des vermeintlichen Mörders wird ihr klar, dass sie mitten im gefährlichsten Abenteuer ihres Lebens gelandet ist ...

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Die Autorin

Judith Arendt ist das Pseudonym einer erfolgreichen Krimi-Autorin. Sie schreibt gelegentlich Drehbücher für deutsche Fernsehserien und sieht umso lieber amerikanische. Ihre Leidenschaft gilt dem Kriminalroman, insbesondere dem skandinavischen und britischen. Judith Arendt lebt mit ihrer Familie seit einigen Jahren in der Nähe von München.

Das Buch

Ruth Holländer kann sich nicht beklagen: Die Scheidung ist durch, der Sohn aus dem Haus, und die 16-jährige Tochter pubertiert fast nicht mehr. Auch Ruths französisches Bistro läuft erfreulich gut. Aber dann kommt ein Bescheid vom Amtsgericht: Zu ihrem Entsetzen wird Ruth zur Schöffin berufen. Sie muss in einem Mordfall beisitzen. Schon bald hegt sie Zweifel an der Schuld des Hauptangeklagten: Hat der junge Mann wirklich seine Schwester getötet? Ruth beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Und schon nach den ersten Fragen im Umfeld des vermeintlichen Mörders wird ihr klar, dass sie mitten im gefährlichsten Abenteuer ihres Lebens gelandet ist ...

Judith Arendt

Unschuldslamm

Der erste Fall für Schöffin Ruth Holländer

Kriminalroman

Ullstein

Neuausgabe bei Refinery

Refinery ist ein Digitalverlag

der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

März 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014

Umschlaggestaltung: © Sabine Wimmer, Berlin

Autorenfoto: © Gudrun Senger

ISBN 978-3-96048-226-0

E-Book-Konvertierung: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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Akalin Köyü, Südostanatolien, ein Samstag im Juli, zwanzig Uhr

Der Blick aus seinen schwarzen Augen folgte ihr überallhin. Derya hatte sich mit dem Rücken zu ihm gesetzt, aber selbst jetzt, wo sie ihn nicht mehr sehen musste, spürte sie quer durch den gesamten Raum das giftige Brennen seines Blickes.

Derya nahm einen weiteren klebrigen Fruchtwürfel und zog ihr Handy aus der Tasche. Vali hatte sich immer noch nicht gemeldet, dafür schickte Michelle schon die zehnte SMS. Ihrer besten Freundin war langweilig, zu Hause, in Berlin. Fast viertausend Kilometer weit entfernt. Lichtjahre weit entfernt. Sie und Michelle hatten sich vor Wochen, zu Beginn der Schulferien, den Spaß gemacht und Akalin gegoogelt. Sie hatten sich schlappgelacht, als der Satellit von Google Maps immer näher rangezoomt hatte auf das Dorf in den Bergen, das die große Suchmaschine zu Deryas Erstaunen tatsächlich gefunden hatte. Sie hatten gelacht, als sie gesehen hatten, wie klein es tatsächlich war und dass es dort nichts gab außer Bergen, einer Straße und Staub. Aber als Derya gesehen hatte, dass es von dort nur ein Katzensprung war nach Syrien und in den Irak, hatte sie Angst ­bekommen. Richtige Angst. Sie hatte sich plötzlich vorgestellt, ihr Vater würde sie dortlassen, sie Onkel Bozan als Pfand geben. Michelle hatte Witze gemacht über Moslems und lange Bärte, verschleierte Frauen und Typen, die es mit Ziegen trieben, aber Derya konnte darüber nicht lachen. Viertausend Kilometer für ein Fest, das ein Fremder gab. Derya war der Sinn dahinter unklar gewesen, aber Aras hatte ihr klargemacht, dass sie keine Wahl hatte. Ihre Anwesenheit sei wichtig für ihren Vater. Es ging um einen Clan, mit dem ihr eigener Clan, den sie gar nicht kannte, der vielmehr der Stamm der Familie ihres Vaters und ihrer Mutter war, einen Streit gehabt hatte. Es ging um die Ehre und den Stolz, um Arbeitsplätze und den Staudamm. ­

Derya hatte nicht verstanden, was ihr Bruder ihr erklärte, sie hatte es nicht verstehen wollen, sie hatte nur kapiert, dass sie ihre gesamten Sommerferien in den verschissenen anatolischen Bergen verbringen sollte. Wo es nichts gab außer trockenen Steinen und fremden Menschen, die sie in den Arm nahmen und auf die Wangen küssten und die sie Onkel, Tante, Cousin und Cousine nennen sollte. Zum Glück wohnten sie nicht hier in den Bergen, sie wohnten eine Stunde entfernt in Yasikan Köyü, bei Verwandten von Mama. Deryas einzige Rettung war, dass es beinahe überall Netz gab, sogar in dem Ziegenkaff hier. Derya schickte Michelle verstohlen eine Nachricht zurück. »Sucks. Ldgd.« Dann schob sie das Handy wieder in ihre Hosentasche. Sie guckte kurz über die Schulter, aber er starrte noch immer, obwohl jetzt Onkel Bozan neben ihm saß, ihm den Arm um die Schultern gelegt hatte und auf ihn einredete. Jetzt sah auch Bozan zu ihr herüber und lächelte. Derya wandte sich wieder um. Sie sollte Bozan »Onkel« nennen, dabei waren auch sie nicht verwandt. Nicht dass sie wusste jedenfalls. Sie hatte ihn vor diesem Fest noch nie gesehen. Ihre Verwandtschaft war offenbar weitläufig. Auch in Berlin brachte ihr Vater ständig irgendwelche Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten an und schwor seine Familie darauf ein, dass sie ja zuvorkommend sein sollten. Mama kochte dann tagelang und fuhr ohne Ende kurdische Spezialitäten auf, und der gläserne Couchtisch im Wohnzimmer war viel zu klein, um alle Teller, Schalen und Schüsseln zu tragen. Papa stellte zwei gelbe Metro-Kisten links und rechts daneben und legte Sperrholzplatten darauf, die er passend zugeschnitten hatte. Dann kamen die furchtbaren Spitzendeckchen darüber, die mal Teil von Deryas Ausstattung werden sollten. Sie hatten bereits zu Mamas Ausstattung gehört, und Derya hoffte, dass sie im Zuge der vielen Bewirtungen eines Tages so ruiniert sein würden, dass Mama und Papa sich schämen würden, sie ihrem Ehemann mitzugeben. Aber eigentlich wollte sie sowieso nicht heiraten.

Die Mehrzahl dieser angeblichen Verwandten sah Derya nie wieder. Nur wenige kamen weiterhin zu Besuch in die Wohnung in Moabit. Meistens traf Papa sich mit den Männern irgendwo, schloss Geschäfte ab und nahm Aras mit. Sie und Mama hatten damit nichts zu tun.

Derya leckte sich den Puderzucker von den Fingern. Ihr war schon ein bisschen schlecht von dem Zuckerzeug. Diese klebrigen Fruchtwürfel fand sie richtig eklig, in Berlin fasste sie das Zeug nicht an. Aber jetzt hatte sie furchtbaren Heißhunger auf Süßes; das Gebäck, das auf der großen ­Silberplatte direkt vor ihrer Nase lag, sah trocken aus. Also stopfte Derya sich mit den Fruchtwürfeln voll – der letzte schien Papaya gewesen zu sein, eine Frucht, die sie schon in frischem Zustand widerlich fand – und nippte an dem starken Tee, den sie sich geholt hatte. Sie dachte an Ben & Jerrys. Es ging nichts über das Ben-&-Jerrys-Eis mit den Stückchen, die schmeckten, als seien sie aus rohem Kuchenteig. Häägen Dasz war Dreck dagegen. Wenn sie bei Vali war, aßen sie immer Ben & Jerrys. Derya dachte daran, wie sie das letzte Mal bei Vali gewesen war, bevor die Ferien angefangen hatten, und bekam schreckliche Sehnsucht. Vali sollte mit seinen Eltern nach Südfrankreich fahren, sie hatten dort ein Haus, natürlich. Vali fand es zum Kotzen, dass er in die Provence musste, er beschwerte sich, dass es stinklangweilig war, seine Mutter arbeitete im Garten und trank zu viel. Sein Vater las, arbeitete und trank ebenfalls zu viel. Vali und sein kleiner Bruder mussten den ganzen Tag am Pool sitzen.

»Du Armer, den ganzen Tag am Pool!«, hatte Derya ihn gespielt bemitleidet und dann in die Seite gezwickt. Daraufhin hatte Vali sie gekitzelt, und als sie schreien wollte, hatte er ihr den Mund zugehalten, damit seine Eltern sie nicht hörten. Sie hatten ein bisschen auf dem Bett gerauft und dann geknutscht. Und dann, gerade als Derya den Reißverschluss von Valis Hose geöffnet hatte, klopfte seine Mutter an der Zimmertür. Vali hatte sich stöhnend von ihr heruntergerollt und sich ein Kissen vor die Hose gehalten. Derya hatte einen Lachkrampf bekommen. Valis Mutter hatte es echt raus, immer dann ins Zimmer zu kommen, wenn sie kurz davor waren. Sie tat stets so, als sei sie echt super offen und als täte es ihr furchtbar leid, dass sie gestört hatte, aber Derya wusste genau, dass Valis Mutter ein tod­sicheres Gespür dafür hatte, wann es brenzlig wurde. Sie konnte Derya nicht ausstehen, obwohl sie immer scheißfreundlich war. Aber Derya hatte die Blicke aufgefangen, die Valis Mutter ihr zuwarf, wenn ihr Super-Söhnchen nicht in der Nähe war. Wenigstens hatte sie ihnen das Ben-&-Jerrys-Eis gebracht. Das hatten sie dann gegessen und »Dark Shadows« dazu gesehen, zum zehnten Mal. Sie hatten sich mit dem Eis gefüttert, bis der Becher leer gewesen war. Sie hatten geknutscht und das Eis auf der Zunge des anderen geschmeckt. Aber mehr hatten sie sich nicht getraut. Es war wunderschön gewesen. Und jetzt meldete sich Vali nicht mehr. Seit fast fünf Wochen. Jeden Tag schickte sie ihm SMS. Jede Stunde eine.

»Träumst du?« Sergul saß ihr gegenüber und rüttelte Derya leicht am Arm.

Derya hatte ihre Cousine tatsächlich nicht bemerkt, umso mehr freute sie sich, dass Sergul jetzt zu ihr an den Tisch gekommen war.

»Kommst du mit? Eine rauchen.« Sergul wartete Deryas Antwort nicht ab, sondern stand auf und zeigte mit dem Kopf zur Tür. Sergul war noch besser als das Handynetz überall. Sie war auch eine »Cousine«, die Tochter von Bozan, aber sie war total anders als der »Onkel« und seine Söhne, ihre Brüder. Sergul war schon zwanzig, und sie studierte in Ankara. Derya hatte nicht gewusst, dass es kurdische Mädchen wie Sergul gab. Sie war groß, schlank und hatte wunderschöne Haare, die sie zu einem kurzen Bob geschnitten hatte. Sie trug so coole Klamotten, dass sie genauso gut aus Mitte hätte kommen können. Sergul musste sich auch nicht verstecken beim Rauchen, sie diskutierte lebhaft mit den Männern auf dem Fest, und sie hatte Derya von ihrem Leben in Ankara erzählt. Es war ein normales Studentenleben, sie ging in Bars, hatte Typen, ging shoppen und auf Konzerte. Derya hätte geschworen, dass es Mädchen wie Sergul und ein Leben, wie Sergul es führte, nur außerhalb der Türkei gab. Aber ihre Cousine hatte schallend gelacht und Derya damit aufgezogen, dass sie »bescheuerte Vorurteile« gegen Ausländer habe. Derya schämte sich ein bisschen, dass sie nicht mehr wusste über das Leben als Kurdin. Über das Leben in der Türkei. Aber nur Sergul gegenüber, weil die offenbar mühelos hinbekam, was für alle anderen Mädchen, die Derya kannte, egal, ob türkisch oder kurdisch, ein Kampf war. Sie selbst war Berlinerin, in Berlin geboren, mit kurdischen Wurzeln. So sah sie es, und sie glaubte, dass auch Mama das so sah. Heimlich jedenfalls. Mama war stolz auf ihre kleine Meerjungfrau, so nannte sie Derya. Sie war stolz darauf, dass Derya das Abi machte und studieren wollte. Papa und Aras waren auch stolz, aber Derya wusste, dass die beiden fanden, dass sie einen hohen Preis dafür zahlten. Den Preis, dass ihre kleine Derya eine westliche Frau war. Eine Frau ohne Tradition, wie Papa sagte.

Derya beobachtete, wie Aras Sergul hinterhersah, als sie an ihm vorbeiging. Sergul wackelte absichtlich mit ihrem Po, und Aras sagte etwas, das Derya nicht verstand, weil sie direkt neben den Musikern saß, die jetzt Coverversionen türkischer Popsongs spielten, und das so laut, dass man sich die Ohren zuhalten musste. Sergul wendete sich zu Aras um, rief ihm etwas zu und zwinkerte. Derya fand, dass die zwei gut zusammenpassen würden. Sie hätte sich eine Freundin wie Sergul für Aras gewünscht. Nicht dass ihr Bruder eine Freundin brauchte. Er zog ständig mit irgendwelchen Mädchen um die Häuser. Dauernd hatte er eine andere, meistens Deutsche. Aber er brachte sie nie mit nach Hause. »Aus Respekt vor der Familie«, sagte er. Er war so spießig, wahrscheinlich wartete er, bis er die Richtige gefunden hatte, und dann würde er ein großes Fass aufmachen und sie natürlich nicht mit nach Hause bringen, sondern seinen Vater dazu kriegen, sich der Familie seiner Auserwählten vorzustellen, wie es die Tradition verlangte. Denn es würde ein kurdisches Mädchen sein, daran zweifelte Derya kein bisschen. Aras bumste die Deutschen, aber heiraten würde er traditionell. So war ihr Bruder.

»Gefällt er dir?«, fragte sie Sergul, als sie draußen auf der Terrasse standen und sie sich eine Gauloise aus der Packung zog, die ihre Cousine ihr hinhielt.

»Dein Bruder?« Sergul lachte und warf dabei den Kopf nach hinten. Dann zog sie tief an ihrer Kippe und schüttelte den Kopf. »Wenn du mich verkuppeln willst: danke nein.«

»Wieso nicht? Aras sieht doch gut aus«, wandte Derya ein.

»Eben. Er sieht zu gut aus. Und er weiß es auch noch.«

Derya musste lachen. Ja, Aras war eitel. Er brauchte morgens im Bad noch länger als sie.

»Und überhaupt, ich steh nicht auf diese bigotten Typen.« Sergul schnipste einen Tabakkrümel von ihrer Zunge.

Derya blies den Rauch durch die Nase und blickte in den Sternenhimmel. Hier in den Bergen war die Luft so dünn und klar, dass die Sterne doppelt so hell leuchteten wie in Berlin. Es schien auch, als hätte sich ihre Anzahl verdoppelt. »Woher weißt du das? Dass er bigott ist, meine ich.«

Sie sah wieder ihre kluge Cousine an. Die zuckte mit den Schultern und sparte sich die Antwort. Aber natürlich hatte sie recht.

Sergul fuhr sich durch die Haare, setzte sich dann auf den kleinen Mauervorsprung, der die Terrasse, die aussah, als befände sie sich noch im Rohbau, umschloss. Derya setzte sich neben sie, und sie rauchten eine Weile schweigend. Schließlich trat Sergul ihre Kippe mit dem Fuß aus. Sie trug Cowboyboots, wie Derya neidisch bemerkte. Obwohl ihre Eltern ihr weitgehend Freiheit bei der Wahl ihrer Klamotten ließen – mit solchen Stiefeln anzukommen, hätte sie niemals gewagt.

»Und selbst wenn«, setzte Sergul das Gespräch wieder fort, »er müsste so eine wie Nazamin heiraten.«

»Nazamin?« Derya war perplex. Nazamin war die Tochter von irgendwem aus dem weitläufigen Clan von Onkel Bozan. Sie war eine ziemlich unansehnliche Frau, bestimmt schon zwanzig, ungeschminkt und trug ein Kopftuch, unter dem sie träge hervorblinzelte. Und sie war das glatte Gegenteil von Sergul.

»Warum die denn?«

Derya glaubte, dass Sergul sie verarschen wollte.

»Na, darum geht’s hier doch.« Sergul sah ihr direkt in die Augen. Und jetzt lachte sie nicht. »Du hast echt keine Ahnung, oder?«

Derya schüttelte stumm den Kopf.

»Clanversöhnung. Es gab Streit zwischen den Stämmen. Zwischen unserem und eurem.«

Derya zuckte mit den Schultern. Dieses Gerede von den Stämmen, davon fingen Papa und Aras auch immer an, aber sie hörte nie hin. Sie hatte eine Familie, Papa, Mama, Aras, Oma, Opa und eine Handvoll echter Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen. Von einem Stamm oder Clan wusste sie nichts.

»Und das ist die Versöhnungsfeier. Die Männer da drinnen arrangieren etwas.«

Sergul sah Derya prüfend an, aber bei ihr fiel noch immer nicht der Groschen. Sie dachte an den Tisch, an dem die Männer saßen. Papa, Bozan und noch zehn oder fünfzehn andere. Söhne und Brüder, Cousins und Onkel. In ­ihren Anzughosen und den weißen Hemden. Die Ärmel waren hochgerollt, die Krawatten und Jacken hatten die Männer abgelegt. Sie rauchten und tranken Tee oder Raki. Sie hatten einander die Arme um die Schultern gelegt, manchmal tanzten sie, sie steckten die Köpfe zusammen, und sie redeten.

»Keine Ahnung«, erwiderte Derya mürrisch. »Geht mich nichts an.«

Sergul nickte leicht. »Das will ich für dich hoffen, Derya. Du bist aber noch nicht raus aus dem Spiel.«

Sergul war plötzlich ganz ernst geworden, sie stand auf, blickte kurz auf Derya hinunter, als wollte sie etwas sagen, ging dann aber wieder hinein.

Derya blieb sitzen und sah Sergul nach. Der kleine Hintern in der Jeans schwang sanft hin und her, bevor die Dunkelheit des langen Flures, der ins Innere des Hauses führte, ihre Cousine verschluckte. Derya wollte nicht darüber nachdenken, was Sergul mit ihrer Bemerkung gemeint hatte. Sie wollte überhaupt nicht über dieses Fest oder die Leute nachdenken. Sie wollte nur, dass Vali sich endlich meldete. Zum Glück begann die Schule in einer Woche wieder, und sie würden sich endlich sehen. Sie schrieb ihm eine SMs, obwohl sie wusste, er würde nicht antworten. Wahrscheinlich hatte seine Mutter ihm verboten, das Handy mit nach Frankreich zu nehmen, wegen Auslandstarif und Telefonkosten und so. Das war typisch für Valis Eltern. Sie schenkten ihm ein iPhone und ein iPad und den ganzen coolen Kram, aber dann meckerten sie dauernd rum, dass er zu viel spielte und zu viel im Internet war und dass Facebook gefährlich war und die ganze hysterische Pädagogenscheiße.

Derya schrieb ihm, dass sie in die Sterne sah und an ihn dachte. Und als sie die SMS verschickte, küsste sie ihr Handy. Sie schloss dabei die Augen und versuchte, sich Valis Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Die blonden Wuschelhaare und die grünen Augen. Und die weichen Lippen. Dann stand sie auf und ging hinein. Der Bungalow, in dem die Feier stattfand, war seltsam. Seltsam für ihre Begriffe, denn auf dem Weg hierher hatte Derya gesehen, dass der Großteil der Häuser so aussah. Die wenigsten waren wirklich fertig, und beinahe kein einziges Haus sah so aus, wie sie es aus den Vororten von Berlin kannte: mit Carport, weißem Zaun und angelegtem Garten, Vordach, Terrasse und Balkon.

Die Wände des Bungalows waren nicht verputzt, es waren rote aufeinandergestapelte Ziegel, zwischen denen der Mörtel hervorquoll. Türen und Fenster gab es nicht, Licht war auch nur in der unfertigen Küche, dem einen Klo und dem großen Saal vorhanden, in dem die Feier stattfand. Derya ging durch den langen dunklen Flur und ließ die Finger an der rauen Wand entlangstreifen, als sich auf einmal eine kräftige Hand auf ihren Mund legte und so fest drückte, dass sie augenblicklich keine Luft mehr bekam. Ein Arm umklammerte ihren Brustkorb, so dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Aber sie machte auch keine Anstalten dazu. Sie stand erstarrt vor Schock und blickte mit angst­geweiteten Augen auf den hellen Fleck am Ende des Ganges, wo im gelben Licht die Feiernden tanzten. Sie sah den ­Rücken ihrer Mutter, der sich im Takt der Musik wiegte. ­Deryas Körper verkrampfte sich, als die heisere Stimme an ihr Ohr drang. »Ich weiß, wer du bist, du Hure.«

Berlin-Moabit, Oldenburger Strasse, ein Mittwoch im November, kurz vor sechs Uhr

Wieder war sie zu spät aufgestanden, eine halbe Stunde, daran war die verdammte Schlummerfunktion schuld. Ruth Holländer drehte sich in der engen Dusche um und ließ den warmen Strahl auf das Gesicht prasseln. Die Haut am Rücken müsste sich schon schälen, so lange hatte sie regungslos im heißen Wasser gestanden und versucht, wach zu werden. Ruth drehte das Gesicht zur Seite und griff nach dem Shampoo. Die Plastikflasche fühlte sich verdächtig leicht an, und tatsächlich, als sie versuchte, das Shampoo auf den linken Handteller zu spritzen, gab die Flasche nur ein empörtes Schnaufen von sich. Ruth schüttelte sie ver­ärgert und drückte erneut, aber außer ein paar lächerlichen Spritzern Restflüssigkeit war in dem Behälter nur noch Luft. Das konnte nicht wahr sein, rechnete Ruth, sie hatte das Shampoo vor nicht mal einer Woche gekauft – und jetzt sollte es schon leer sein? Sie blinzelte durch den Schwall heißen Wassers und durchwühlte die vielen großen und kleinen Plastikflaschen, die dichtgedrängt auf dem Regal in der Ecke der Dusche standen, aber jede Flasche, die Shampoo beinhalten sollte, war leer. Ruth griff schließlich genervt nach der Tube mit ihrem Duschgel, aber diese glitt ihr aus den Fingern und rutschte auf den Keramikboden. Sie bückte sich, drehte sich dabei herum und stieß sich zu allem Überfluss beim Hochkommen das Steißbein am Wasserhahn.

»Verdammte Hacke!«, brüllte Ruth und schlug vor Wut und Schmerz an die zweigeteilte Plastikduschtür, die sich daraufhin sofort öffnete. Das Wasser aus der Brause ergoss sich sogleich auf den flauschigen Vorleger, und Ruth drehte überraschend geistesgegenwärtig den Hahn zu. Der Tag konnte nicht mehr gelingen, ob mit gewaschenen Haaren oder ohne, und so riss sie das große Handtuch von der Stange und kauerte sich auf dem kleinen trockenen Teil des Duschvorlegers zusammen. Sie hüllte sich zur Gänze in das Handtuch und atmete in die dunkle Höhle, die sich zwischen ihren Knien, den Brüsten und dem Frottee über dem Kopf gebildet hatte.

Ichwillwiederins­bettaber­sofortwarummussichnachdrau­ßenichrufim­ladenan­und­­sageichbinkrankverdammterscheiß­tagwarumbinich­überhauptaufgestanden.

»Annika!!!«, brüllte sie voller Inbrunst aus der Frotteehöhle hervor, um sich an der Verursacherin ihres Dilemmas abzuarbeiten. Ruth erwartete nicht ernsthaft eine Reaktion ihrer sechzehnjährigen Tochter, und es kam auch keine. Seufzend ließ sie das Handtuch zu Boden gleiten, wodurch sich ihre Poren sofort vor Kälte zusammenzogen und großflächig Gänsehaut entstand. Ruth beschloss, das zu ignorieren, und begann, sich mit der unangenehm kalten Bodylotion – die zu ihrem großen Erstaunen von ihrer Tochter noch nicht aufgebraucht war – einzucremen. Danach schlüpfte sie in ein gemütliches Kapuzensweatshirt und die weite schwarze Hose mit dem Gummizug. An Tagen wie diesen ertrug Ruth nur Gummizug. Eine Jeans mit Gürtel hätte ihre Pein heute noch vergrößert. Sie musste Klamotten tragen, in denen sie sich fühlte, als läge sie noch im Bett, nur dann würde sie die kommenden Stunden überstehen. Das hieß auch: keine Absätze! Während sie sich die Zähne putzte und einen Blick in den Spiegel auf ihre nassen, aber ungewaschenen Locken vermied, sah sie durch das schmale Altbaufenster nach draußen in den trüben Berliner Winter. Besser gesagt, sie versuchte, einen Blick durch das Fenster zu werfen. Denn durch das einfache Glas und den alten verzogenen Holzrahmen kam die bittere Kälte von draußen ins warme Bad, und am Fensterglas hatte sich Kondenswasser gebildet. Ruth wusste, wie es jetzt draußen roch.

Obwohl es weitaus weniger Kohleheizungen gab als damals vor dreißig Jahren, als sie zum Studium nach Berlin gezogen war, hing noch immer ein leichter Geruch von verbrannter Kohle in der Stadt. Vermischt mit den Abgasen der nahen Turmstraße. Am stärksten hatten die ersten Winter nach Maueröffnung gerochen, als sich die Ausdünstungen der unzähligen Berliner Altbau-Ofenheizungen mit dem Gestank aus den Auspuffen der Zweitaktmotoren der Trabbis und Wartburgs vermischt hatten. In den tiefen Straßenschluchten stand die stickige Luft hellgrau und undurchdringlich, weil sie von der Feuchtigkeit niedergedrückt wurde und bis zum Abend nicht abzog. Auch heute hing ­dicke Suppe in ihrer Straße, und Ruth konnte die Hausfassade auf der anderen Seite des Hinterhofes nur schwerlich erkennen.

Sie bewohnte die Moabiter Vierzimmer-Altbauwohnung im dritten Stock seit zwanzig Jahren. Sie und Johannes hatten damals eine billige, aber geräumige Wohnung gesucht und waren auf dieses heruntergekommene Juwel gestoßen. Sie war mit Lukas schwanger gewesen. Vier Jahre später kam Annika zur Welt, und die Hundertquadratmeterwohnung, die ihr anfangs wie ein Palast vorgekommen war, schrumpfte zusehends. Kinderklamotten, Schlitten, Bobbycars, Kuscheltiere, später Eishockeyschläger, Skateboards und zwei Katzen bevölkerten nun jede Ecke und jeden Schrank. In den ersten Jahren, als die Kinder klein waren, hatte Johannes noch den Ehrgeiz gehabt, kreative Lösungen für die Platzmisere auszutüfteln. Hatte Hängeböden und ein Hochbett und Wandschränke gebaut. Bis es ihm zu viel geworden war. Dann hatte er das Schlafzimmer ok­kupiert, die Bücherregale waren an allen Wänden bis zur Decke gewuchert, eines Tages stand ein Schreibtisch darin, und Johannes hatte nachts gearbeitet, so dass Ruth zum Schlafen auf das Wohnzimmersofa zog. Vorübergehend, wie sie zunächst gehofft hatte, dann aber langfristig. Irgendwann war Johannes ausgezogen.

Und jetzt, dachte Ruth ein bisschen wehmütig, während sie den Mund ausspülte und sich anschließend das Gesicht eincremte, jetzt erobere ich mir den Palast nach und nach zurück. Denn ihr Sohn Lukas war zu Beginn des Semesters ebenfalls ausgezogen, nach Neukölln. Auch wenn ein Großteil seiner Sachen noch bei Mutter und Schwester deponiert war – sein WG-Zimmer war schließlich zu klein, um die Boards, die Comicsammlung und die peinlichen Möbel mitzunehmen.

Ruth griff zum Föhn, gab aber nach wenigen Minuten den Versuch auf, so etwas wie eine Frisur in ihre wuchernde blonde Lockenmähne zu bringen, und legte ein bisschen Lippenstift, Rouge und Wimperntusche auf. Für die Augencreme war sie zu faul, auch wenn die ziemlich schlaffe Haut und die leicht geschwollenen Tränensäcke etwas liebevolle Pflege wohl verdient hätten. Aber die Verkäuferin im Bio­laden, die ihr die Creme – Aging Eye Regeneration – aufgeschwatzt hatte, hatte Ruth sofort mit der Demonstration, wie man die Creme sorgfältig und sanft in die Haut einklopfen sollte, verschreckt. Das dauerte gefühlte zehn Minuten, und dafür hatte Ruth morgens wie abends keine Zeit. Ebenso wenig wie für Beckenbodentraining und Zahnseide. Nun stand die teure Augencreme auf der Ablage unter dem Spiegel und gemahnte Ruth strafend daran, wie schnell sie altern würde, wenn sie ihren Körper weiterhin so rüde behandelte. Dieses Kosmetikprodukt durfte leider nicht so bald darauf hoffen, von ihrer pubertären Tochter aufgebraucht zu werden.

Die saß seelenruhig mit einem großen Frotteeturban in der Küche auf der alten Kinobank und lackierte sich die Fußnägel.

»Du hast mein Shampoo aufgebraucht, vielen Dank«, sagte Ruth schnippisch, als sie in die Küche kam.

»Echt.« Vollkommenes Desinteresse.

Ruth wusste aus Erfahrung, dass Diskussionen und Vorwürfe nicht zielführend waren – sie würde ein neues Shampoo kaufen und kommende Woche wieder eines und die Woche darauf ebenfalls. So lange, bis auch Annika ausgezogen war. Ihre beste Freundin Jamila warf Ruth stets vor, zu inkonsequent in Erziehungsfragen zu sein, aber die hatte auch nur ein ganz kleines Kind sowie einen Lebenspartner und noch absolut keine Ahnung, wie anstrengend Erziehung über die Jahre sein konnte. Ruth war irgendwann an den Punkt gekommen, wo sie beschlossen hatte, einfach damit aufzuhören.

Sie ließ das Wasser aus der Filterkanne in den Wasser­kocher laufen, aber Annika klopfte mit ihrem Nagellack gegen die Teekanne auf dem Tisch.

»Ist schon fertig.« Dann konzentrierte sie sich weiter auf ihre Zehennägel.

Versöhnt setzte Ruth sich an den Tisch und füllte ihren chinesischen Lieblingsbecher mit frischem Earl Grey. Sie schloss beide Hände um die heiße Tasse und fühlte, wie die Wärme in ihren Körper strömte. Der Geruch von Bergamotte tat das seinige dazu, dass Ruths schlechte Laune verflog und sie sich wieder entspannte.

»Musst du nicht los?«, erkundigte sich ihre Tochter, während sie seelenruhig eine zweite Lackschicht auftrug. Ruth warf einen Blick auf die Bahnhofsuhr, die über der Spüle hing. Es war halb sieben, Zeit für den Großmarkt. Eigentlich wollte sie längst dort sein, heute hatte sie für ihr kleines Bistro »La Paysanne« Rotbarben geplant, da musste man schon früh vor Ort sein, um die beste Ware erstehen zu können. Aber Ruth gab sich selbst noch eine halbe Stunde, um die Wärme in der Küche, den Geruch des Tees und das Zusammensein mit ihrer Tochter zu genießen.

Diese Augenblicke gab es immer seltener. Annika kam nach der Schule oft nicht mehr nach Hause, war mit ihren Freundinnen oder der Clique unterwegs. Oder ihre Freunde belagerten die Wohnung, wenn Ruth abends aus ihrem Bistro kam und sich nach einem langen anstrengenden Arbeitstag auf die Ruhe zu Hause freute. Ab und zu kam es noch vor, dass sie und ihre Tochter gemeinsame Fernseh­abende auf dem Sofa verbrachten, und Ruth genoss jede Sekunde. Zu schnell waren die Jungen flügge, das hatte sie bei Lukas erlebt. Gerade noch war er ihr »Kleiner« gewesen, sie waren auf dem Weihnachtsmarkt oder spielten Kniffel in seinem Zimmer. Doch schon kurz darauf hatte er seinen ersten Rausch, verstopfte mit seinen Bartstoppeln den Abfluss im Bad, hielt das Abizeugnis in den Händen, und Ruth musste Chili con carne für seine Kumpels kochen, die ihm beim Umzug halfen. Seit Lukas nicht mehr zu Hause wohnte, klammerte sie sich an jede gemeinsam mit ihrer Tochter verbrachte Minute.

»Du hast die Kohle für die Klassenfahrt noch nicht überwiesen. Das muss morgen auf dem Konto sein, sonst darf ich nicht mit.«

Annika sah ihre Mutter über den Rand ihrer Teetasse hinweg vorwurfsvoll an.

Ruth war verwirrt.

»Welche Klassenfahrt? Wann soll das denn sein? Ich weiß von nichts.«

Anstelle einer Antwort stöhnte Annika nur und rollte mit den Augen. Dann beugte sie sich wieder über ihre Zehennägel.

Ruth ärgerte sich über die Ignoranz ihrer Tochter, beschloss aber, den Mund zu halten, denn sie fühlte sich auch schuldig. Sie besuchte aus Prinzip seit einigen Jahren keine Elternabende mehr. Zu oft hatte sie sich aufregen müssen – wahlweise über die Lehrer oder die anderen Eltern. Stattdessen hatte sie ihren Kindern eingebläut, dass diese ab­solute Auskunftspflicht hatten über alles, was die Schule betraf. Ruth hatte geglaubt, Lukas und Annika auf diesem Weg zu mehr Selbstverantwortung zu erziehen, aber dieses gutgemeinte pädagogische Konzept war mit Pauken und Trompeten gescheitert, wie die Sache mit der Klassenfahrt erneut bewies.

»Du hast mir keinen Zettel hingelegt. Woher soll ich das denn wissen?«, setzte sie ärgerlich nach.

»Klar hab ich. Schon gleich nach den Sommerferien.«

›Aha‹, rechnete Ruth. ›Vor über drei Monaten also.‹

Annika schob bockig die Unterlippe vor. »Wir fahren doch nach Florenz. Morgen muss das Geld auf dem Konto sein.«

Ruth nickte resigniert, schenkte sich einen weiteren Becher Tee ein und tippte dann eine Notiz in ihr Handy, dass sie später eine Online-Überweisung vornehmen musste und außerdem das Sekretariat des Gymnasiums anrufen und um einen Aufschub bitten. Dann überlegte sie es sich anders. Sie würde Johannes anrufen und ihm den Schwarzen Peter zuschustern. Der muss auch mal etwas tun, fand Ruth, schließlich wartete sie schon wieder auf die Unterhaltszahlungen der letzten drei Monate. Die Kosten der Klassenfahrt konnte er gleich voll übernehmen, als Zinsen gewissermaßen.

»Und überlass das bloß nicht Papa«, wies ihre Tochter sie an, »der zahlt das Geld erst ein, wenn ich schon Abi hab.«

Ruth seufzte, löschte die Notiz und schmiss das Handy in ihre Tasche. Sie nahm einen letzten Schluck Tee und schüttete den Rest in ihren Thermobecher. Sie war schon zur Hälfte aus der Küche, als Annika sie aufhielt.

»Mama?!«

Ruth drehte sich auf der Schwelle noch einmal um.

Ihre Tochter sprang vom Stuhl, wackelte auf den Fersen auf ihre Mutter zu und breitete die Arme aus.

»Ich hab dich lieb«, sagte sie sanft und schlang ihre Arme um Ruth. Diese erwiderte die liebevolle Geste und gab Annika einen dicken Kuss auf die Backe.

»Ich dich auch. Viel Spaß in der Schule.«

Annika löste sich aus der Umarmung.

»Kotz. Ich schreib heut Mathe.«

Und schon sah Ruth ihre Tochter von hinten zurück zum Stuhl wackeln. Ruth grinste, schlüpfte in ihre Sneakers, zog den langen Wollmantel von der Garderobe und verschwand ins Treppenhaus.

Obwohl es von der Wohnung der Holländers nur ein Katzensprung zum Großmarkt war, brauchte Ruth mit ihrem Fiat Doblo fast eine halbe Stunde, bis sie endlich bei den großen Lagerhallen parken konnte. Auf der Beusselbrücke war seit mehreren Monaten eine Baustelle, und da der Ber­liner Autofahrer das Prinzip des Einfädelns zwar verstand, aber nicht akzeptierte, dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis sie das Nadelöhr erreicht und schließlich passiert hatte. Dabei hatte sie eine ungute Auseinandersetzung mit einem Fahrradkurier, der sich von links hinten an ihrem Kastenwagen vorbeiquetschte, als Ruth sich endlich eine Lücke zum Spurwechseln erkämpft hatte. Sie trat erschrocken auf die Bremse, als der Radler unvermutet in ihrem Blickwinkel auftauchte, aber statt einer Entschuldigung trat ihr dieser, ein nicht mehr ganz junger Mann, der sich in eine grelle Plastikpelle gequetscht hatte, die seine rachitische Brust unvorteilhaft zur Geltung brachte, im Vorbeifahren mit dem Schuh auf den linken Kotflügel und zeigte ihr den erhobenen Mittelfinger.

Der restliche Tag verlief zu Ruths großer Erleichterung ohne weitere Ärgernisse und Überraschungen. Fernando, ein Portugiese, bei dem Ruth seit ein paar Jahren den Fisch für ihr Restaurant einkaufte, überraschte sie damit, dass er ihr einige besonders schöne Rotbarben zurückgelegt hatte, obwohl Ruth sich nicht daran erinnern konnte, von ihrem Vorhaben erzählt zu haben. Aber Fernando war stets aufmerksam. Obwohl einige Jahre jünger und glücklich verheiratet, flirtete er auf schmeichelhafte und niemals aufdringliche Weise mit Ruth. Er gab ihr immer wieder das Gefühl, eine besondere Kundin zu sein, obwohl sie nur kleine Mengen abnahm. Natürlich war Ruth vollkommen klar, dass dies Teil des Geschäftskonzeptes von Fernando war, jeden seiner Käufer so zu behandeln, als wäre er der, den er bevorzugte, indem er ihm die beste Ware zurücklegte – aber sie akzeptierte diesen Verkäufertrick gerne. Fernando gab ihr ein gutes Gefühl, und das brauchte sie zwischen sechs und sieben Uhr morgens ganz unbedingt. Wenn sie seinen Stand als Erstes aufsuchte, gab es zum charmanten Plausch einen starken portugiesischen Kaffee, schmeichelhafte Komplimente und gute Ware. Danach trat Ruth beschwingt ihren Weg durch die Hallen an und fühlte sich immer so, als könne ihr der Tag nichts mehr anhaben.

Obwohl der Großmarkt in Moabit vollkommen ohne Flair war und nichts von der faszinierenden Weltläufigkeit des Pariser »Rungis« hatte, genoss Ruth ihre Besorgungen dort. Sie mochte die Berliner Schnauze der Händler, der deutschen wie der türkischen, den Geruch der Lebensmittel, der von Halle zu Halle und Händler zu Händler unterschiedlich war und in alle kulinarischen Welten führte. Die Schnelligkeit, mit der die Ware gekauft und verkauft wurde, die Gabelstapler, die durch die Gänge rasten und einen beinahe über den Haufen fuhren, wenn man nicht aufpasste, die Tüchtigkeit der polnischen und ukrainischen Helfer in ihren dick gepolsterten Jacken, die die LKWs entluden, Pappkisten stapelten und mit wenigen geübten Handgriffen verdorbene Ware aus den Kisten sortierten – all das gab Ruth den Kick für den Tag. Hier schlenderte man nicht gemütlich wie über einen Wochenmarkt, hier hasteten die Einkäufer der großen und kleinen Gastronomie von einem Anbieter zum nächsten, um die bestmögliche Ware zum kleinstmöglichen Preis zu erwerben.

Ruth war keine von den gerissenen Geschäftsfrauen. Sie konnte handeln und feilschen, aber es war ihr zu anstrengend, jedes Mal aufs Neue die Preise verschiedener Händler zu vergleichen. Sie war Stammkundin und nahm es ­dadurch in Kauf, dass sie für manche Ware ein paar Cent mehr bezahlte als beim benachbarten Händler.

Gegen halb neun konnte sie sich schon auf den Weg in ihr Bistro machen. Ruth hatte es vor fünf Jahren eröffnet, nach einer langen Phase der Depression, weil sie nach der Trennung von Johannes einfach nicht gewusst hatte, was sie ­beruflich unternehmen sollte. Ursprünglich hatte sie Deutsch und Französisch auf Lehramt studiert, aber nie in dem Beruf gearbeitet, weil es bei Johannes mit dem Journalismus so gut lief, dass sie in den Anfangsjahren bei den Kindern zu Hause bleiben konnte. Sie hatte für einen Sachbuchverlag nebenberuflich Lektorate als freie Mitarbeiterin gemacht, jämmerlich bezahlt, aber sie hatte gehofft, auf diese Weise ein Bein im Beruf zu haben. Doch als Johannes ausgezogen war und sie einen Vollzeitjob gebraucht hatte, Lukas war damals zehn und Annika sechs Jahre alt gewesen, hatte sich herausgestellt, dass man in diesem Bereich nicht auf eine Vollzeittätigkeit als Festangestellte hoffen durfte. Vier Jahre hatte Ruth verzweifelt gesucht und orientierungslos herumgepusselt, bis sich ihre Eltern, beide ehemalige Beamte, der Enkel wegen erbarmt und Ruth zur Gründung einer selbständigen Existenz eine kleine Finanzspritze gegeben hatten.

Noch während sie überlegt hatte, mit was sie sich selbständig machen konnte, war ihr das winzige Ladenlokal, nur ein paar Straßen von ihrer Wohnung entfernt, aufgefallen. Der deutsche Imbiss, der vorher darin gewesen war, hatte dichtgemacht, der Besitzer suchte einen Pächter, und Ruth hatte sich kurzerhand entschieden, dort ein französisches Bistro zu eröffnen. Sie hatte das damals für eine ideale Lösung gehalten, vor allem wegen der Kinder. Die konnten nach der Schule ins Lokal kommen, hatten es von dort nicht weit nach Hause, und sie, Ruth, konnte ihrem liebsten Hobby nachgehen: kochen und Gäste bewirten. Und so eröffnete vor fünf Jahren das kleine französische »La Paysanne« in der Bochumer Straße unweit des Spreeufers seine Pforten.

Ruth hatte alle ihre Einkäufe in den Doblo gestapelt und machte sich auf den Weg ins Bistro, als ihr Handy klingelte. Es war ihre Mutter, und Ruth überlegte, ob sie den Anruf überhaupt annehmen sollte. Sie hatte keine Freisprecheinrichtung im Auto und eigentlich wenig Lust, sich einhändig durch den morgendlichen Berliner Berufsverkehr zu schlängeln. Doch kurz bevor die Mobilbox den Anruf annehmen würde, erbarmte sie sich.

»Mama?!«

»Guten Morgen, mein Schätzchen.« Ihre Mutter hörte sich forsch an, sie war also nicht zum Plaudern aufgelegt.

»Was gibt’s?«

»Ja, hör mal, ich ruf an wegen dem Spartarif. Papi will morgen buchen, und da muss ich natürlich wissen, ob du jetzt feierst oder nicht.«

Das war typisch für ihre Mutter. Sie hielt es nie für nötig, ihre Gesprächspartner darüber aufzuklären, was sie von ihnen wollte und um was genau es ging. Sie hatte sich vorher bereits ihre Gedanken gemacht und stellte die sich daraus ergebenden Fragen, die sie gefälligst sofort und ohne Umschweife beantwortet haben wollte. Ruths Mutter war Finanzbuchhalterin bei der Stadt gewesen, und da zählten nur Fakten, Fakten, Fakten. Aber Ruth und auch ihr Vater Helmut hatten mit den Jahren gelernt, auch das Unausgesprochene mitzudenken, und so reimte Ruth sich zusammen, dass ihre Mutter wissen wollte, ob sie ihren fünfzigsten Geburtstag feiern würde. Dieser war im Februar, in drei Monaten also, der Vorverkauf für die Bahnfahrkarten begann. Ihr Vater würde, im Falle einer Feier, versuchen, Superspar­tickets über das Online-Portal der Bahn zu buchen. Seit er in Rente war, hatte er sich, zunächst widerwillig, aber nun zunehmend begeistert, mit dem Internet beschäftigt.

»Mama, ich weiß es noch nicht.« Ruth stieg abrupt auf die Bremse, weil sie die rote Ampel erst im letzten Moment gesehen hatte. Sofort warf sie einen prüfenden Blick in den Rückspiegel, aber überraschenderweise hatte auch ihr Hintermann rechtzeitig auf ihr überstürztes Bremsmanöver ­reagiert. »Eher nicht. Nein. Mir ist nicht so nach Feiern.«

Ihre Mutter stöhnte.

»Kindchen, das ist aber wirklich ungünstig.« Ruths Mutter war ungehalten. »Wenn du erst wieder so kurzfristig Bescheid sagst, können wir vielleicht nicht dabei sein«, fügte sie pampig hinzu.

Ruth verdrehte die Augen. Das war auf die Geburt von Lukas gemünzt, der zwei Wochen vor dem Termin geboren worden war und damit den Terminplan ihrer Eltern gehörig durcheinandergebracht hatte.

»Ich mach mir Gedanken und sag euch Ende der Woche, ob ich feiere oder nicht. Dann gibt’s die Sparpreise immer noch«, sagte sie versöhnlich.

»Na, wenn du dich da mal nicht täuschst.« Ihre Mutter war mit der Antwort äußerst unzufrieden. Vermutlich hatten die beiden die Reise nach Berlin schon fest geplant.

»Dann kommt doch auf alle Fälle. Auch ohne Party«, bot Ruth an und wich geschickt einem Betrunkenen aus, der sich nicht mehr gerade auf dem Bürgersteig halten konnte. »Dann könnt ihr auch mal Lukas’ neue Wohnung sehen.«

»Das machen wir«, trompetete ihre Mutter besänftigt durch den Hörer. Offensichtlich hatte sie auf genau diesen Vorschlag von Ruth spekuliert. Ruth war gewiss, dass ihr Vater bereits alle Zugverbindungen gecheckt hatte und sie spätestens morgen seiner Tochter per Mail zukommen ließ.

»Also gut. Ich muss auflegen, ich sitz im Auto.«

»Um Himmels willen!«, gab ihre Mutter zurück und hatte aufgelegt, noch bevor sich Ruth verabschieden konnte.

Ruth schmiss ihr Handy auf den Beifahrersitz und bremste direkt vor ihrem Laden. In der Einfahrt parkte wieder einer so, dass Ruth kaum mit ihrem großen Kastenwagen durchkam, aber sie beschloss, das Manöver zu wagen. Tatsächlich schaffte sie es, sich ohne Lackschaden zwischen den Stoßstangen hindurchzuschlängeln, und als sie neben den Mülltonnen im Hof parkte, hatte Jamila bereits die hintere Tür zur Küche geöffnet und begrüßte ihre Chefin lachend.

»Bad hair day?«, fragte sie und zeigte amüsiert auf Ruths wild abstehende Locken.

»Frag nicht«, gab Ruth zurück und öffnete die Heckklappen ihres Autos, damit sie gemeinsam die Lebensmittelkisten in die Küche bringen konnten. Aber Jamila musste nicht fragen. Mit wissendem Blick musterte sie die Sneakers, die weite Schlabberhose und den Kapuzenpulli und wusste genau, in welcher seelischen Verfassung Ruth heute das Haus verlassen haben musste. Denn Jamila war nicht nur Ruths Angestellte und im »La Paysanne« die gute Fee für alles, sie war seit ihrer Anstellung vor fünf Jahren auch Ruths Ansprechpartnerin für Probleme aller Art.

Obwohl die Frauen rein äußerlich unterschiedlicher nicht sein konnten – Jamila, Marokkanerin, war fast zwanzig Jahre jünger, groß, schlank, mit rabenschwarzen langen Haaren und einer makellosen dunklen Samthaut gesegnet, seit zwei Jahren Mutter einer reizenden kleinen Tochter und mit einem Algerier verheiratet –, hatte Ruth von Anfang an das Gefühl gehabt, einer Seelenverwandten begegnet zu sein. Die beiden Frauen arbeiteten Tag für Tag eng zusammen und hatten voreinander keine Geheimnisse, trotzdem war es in den vergangenen Jahren noch nie zu ernsthaften Unstimmigkeiten gekommen.

Und so verging auch dieser Tag, der für Ruth nicht eben ideal begonnen hatte, wie im Flug. Sie arbeiteten Hand in Hand, ohne Pause und perfekt aufeinander abgestimmt. Jamila war für das Frühstück zuständig, während Ruth die Mise en place für das Mittagessen zubereitete. Um elf kam Susan, die derzeitige studentische Aushilfe im Service, später, wenn der Andrang, der zu Mittag herrschte, abgeebbt war, übernahm das Jamila. Ruth bereitete in der Zeit die Kuchen und kleinen Gebäckteile für den kommenden Tag vor, bis sie schließlich um sieben die Stühle hochstellte, den ­Laden schloss und den Schlüssel an Kabir, den Putzmann, übergab. Obwohl Ruth ihren Wagen über Nacht nicht im Hof stehen lassen durfte, ignorierte sie das an manchen Abenden geflissentlich und ging die paar Blöcke zu Fuß nach Hause. Es war die einzige Zeit des Tages, die sie draußen verbringen konnte, und so sog sie auch jetzt die feuchte, abgasgeschwängerte Winterluft tief durch die Nase. In ihrem Kopf ging es nach einem arbeitsreichen Tag wie diesem meistens drunter und drüber. Während sie überlegte, was sie am übernächsten Tag auf die Karte setzen sollte, fiel ihr ein, dass sie noch einen Umweg zum Supermarkt machen musste, nicht nur das Shampoo war alle, auch der Kühlschrank war völlig runtergefressen. Nicht einmal eine Flasche Rotwein hatte sie noch zu Hause, und sie hatte leider auch vergessen, sich eine aus dem Bistro mitzunehmen.

Als Ruth um zehn nach acht völlig erschöpft die Wohnungstür hinter sich zufallen ließ, wurde sie von lautem Gegacker aus der Küche empfangen. Wie es schien, war Annika nicht allein. Eine Horde Teenager war das Letzte, was Ruth heute für einen entspannten Abend brauchte, und so entschied sie, sich mit dem Rotwein, dem Shampoo sowie ein paar Kerzen ungesehen ins Badezimmer zurückzu­ziehen. Sie würde sich ein heißes Aromabad einlassen und sich danach sofort in ihr Bett kuscheln.

»Mama, da ist ein Brief für dich«, hielt die Stimme ihrer Tochter sie auf, als sie versuchte, lautlos an der Küche entlangzuschleichen. Ruth seufzte und bog vom Flur in die Küche ab. Als sie in der Tür stand und einen Blick auf die Szenerie warf, kam sie sich mit ihren Strubbelhaaren, der ausgebeulten Hose und dem Sweater vor wie eine Vogelscheuche. Drei Mädchen, perfekt geschminkt, in knappen Tops und engen Jeans, gruppierten sich mit zwei schlak­sigen Kerlen, die aussahen, als wären sie einem Deo-­Wer­bespot entsprungen, um den Küchentisch. Auf diesem stand eine Schüssel mit knackigem grünen Salat, kaltes Bier und ein Blech frisch gebackene Pizza.

»Ich frag dich jetzt nicht, ob du mitessen willst«, sagte Annika mit schlecht verborgenem Stolz auf die eigene Küchenleistung, »du hast doch im Laden schon gegessen. Oder?!«

Ruth entging der drohende Unterton nicht, der besagte, dass sie sich möglichst schnell atomisieren sollte, um ihrer Tochter weitere Peinlichkeiten zu ersparen. Obwohl ihr das Wasser im Mund zusammenlief, nickte sie, rang sich ein Lächeln ab und nahm den Umschlag, den Annika ihr hinstreckte.

»Na, dann lasst’s euch schmecken«, brachte Ruth noch betont munter hervor, bevor sie sich wieder in den Flur zurückzog.

»Hast du an die Kohle für die Klassenfahrt gedacht?«, rief ihre Tochter ihr hinterher, und Ruth kniff ärgerlich die Augen zusammen. Natürlich nicht.

»Klar«, antwortete sie, um einer hysterischen Anklage zu entgehen. ›Morgen aber‹, dachte sie bei sich, als sie die Tür des Badezimmers hinter sich verriegelte, das Wasser in die Wanne ließ und sich aus den Klamotten schälte. Den Brief wollte sie nicht öffnen, es war etwas Offizielles, vom Amtsgericht. Bestimmt war sie geblitzt worden und musste den Lappen abgeben. Oder sie hatte beim Ausparken ein Auto gerammt und unwissentlich Fahrerflucht begangen. Was immer es auch war, es war nichts, das ihr jetzt große Freude machen würde, das war Ruth vollkommen klar. Sie goss sich nackt ein Glas Rotwein ein, prüfte mit dem Zeh die Temperatur und stellte sich dann in das kochend heiße Wasser. Ihre Füße kribbelten, aber Ruth schloss die Augen und genoss den wohligen Schauer, den das viel zu heiße Wasser und der erste Schluck Wein bei ihr auslösten. Dann ließ sie sich ganz in die Wanne gleiten und riss doch den Umschlag des Briefes auf. ›Besser jetzt als morgen früh‹, dachte sie, während sie das Schreiben überflog, ›sonst vermiese ich mir den nächsten Tag auch noch.‹ Es dauerte eine Zeit, bis sie begriffen hatte, dass es sich keinesfalls um einen Bußgeldbescheid handelte. Es war auch keine sonstige Zahlungsaufforderung. Es war die Benachrichtigung, dass sie zum 1. Januar als Schöffin ans Landgericht Berlin-Moabit berufen wurde.

»Ehrenmord«-Täter vor Gericht

Berliner Morgenpost, im Januar