Unser Hof in der Bretagne - Regine Rompa - E-Book
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Unser Hof in der Bretagne E-Book

Regine Rompa

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Beschreibung

Regine und ihr Freund Anton haben ihre Jobs gekündigt, ihre Wohnung verkauft und sind in die Bretagne gezogen. Das Ziel: sich selbst zu versorgen, den Sinn des Lebens zu finden, im Einklang mit der Natur und Tieren zu leben. Hier erzählen sie von ihrem ersten Jahr in Frankreich, ihren kauzigen bretonischen Nachbarn, von ihren Hühnern und Hunden und dem Duft des Atlantiks, der manchmal hinübergeweht kommt. Humorvoll, anrührend und informativ bringen sie dem Leser ihr neues Leben näher - ein Leben ohne öffentlichen Nahverkehr, Bringdienste oder Kinos, dafür mit einem alten Steinbrunnen, Rehen im Vorgarten und 13.000 m2 Land. Einfach ist das nicht immer: Regine und Anton sprechen anfangs kaum Französisch. Und sie haben keine Erfahrung damit, ihr Essen selbst anzubauen ...

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Seitenzahl: 326

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Regine Rompa

Unser Hof in der Bretagne

Neuanfang zwischen Beeten, Bienen und Bretonen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Regine Rompa hat es satt: die Großstadt, den Stress, das viele Arbeiten. Da muss es doch noch etwas anderes geben! Von einem Tag auf den nächsten kündigt sie ihren Job in Berlin und zieht mit ihrem Freund Anton auf einen abgelegenen alten Hof in die Bretagne. Ihr Ziel: ein einfaches, aber sinnvolles Leben zu führen. Im Einklang mit sich und der Natur, mit viel Zeit für die Menschen und Tiere um sich herum, mit dem Wunsch, ihre Nahrung weitestgehend selbst anzubauen. Das alles ohne Ahnung von Landleben oder Landwirtschaft – und ohne Französisch sprechen zu können! Klar, dass da im neuen Leben nicht alles glatt läuft …

Über Regine Rompa

Regine Rompa, geboren 1981, kommt aus Heidelberg und hat Germanistik, Philosophie/Ethik und Politikwissenschaft mit einem Ergänzungsstudium in Umweltwissenschaften studiert. Danach hat sie für verschiedene Redaktionen und Verlage gearbeitet. Sie lebte in Stuttgart, Bremen, Würzburg, München und zuletzt in Berlin. 2017 hat sie die größte Entscheidung ihres Lebens getroffen: Sie kündigte ihren Job in Berlin und zog mit ihrem Freund Anton auf einen abgelegenen Hof in der Bretagne – mit dem Ziel, endlich ein sinnvolles Leben möglichst im Einklang mit der Natur zu führen.

«I am no longer accepting the things I cannot change.

I am changing the things I cannot accept.»

(Angela Davis)

Bei den Figuren in diesem Buch handelt es sich um reale Personen. Die Autorin erzählt deren Handlungen, Aussagen und Motive nach bestem Wissen und Gewissen. Die Dialoge sind den tatsächlich stattgefundenen Gesprächen nachempfunden und geben nicht 1:1 die Aussagen der tatsächlichen Personen wieder.

Prolog

Wie ruhig es hier war. Und wie dunkel. Wir lagen auf einer Matratze auf dem Boden, lauschten den Eulen und sahen ins Feuer. Unser Hund Twix schlief tief und fest zwischen uns. Sein Hinterbein zuckte im Traum, und gelegentlich schnarchte er ein wenig. Sein langes braunes Fell war wie immer warm. Ich suchte über ihm nach Antons Hand.

Wir hatten es tatsächlich getan. Wir lagen in einem leeren bretonischen Wohnzimmer auf einer Matratze vor dem offenen Kamin. In unserem leeren bretonischen Wohnzimmer, in unserem abgelegenen, reetgedeckten Häuschen, das so sehr an die Häuser aus «Asterix und Obelix» erinnerte. Asterix und Obelix im Auenland. Zum Haus gehörten etwa 13000 Quadratmeter Land mit einem uralten, verwunschenen Eichenwald, Wiesen für Weiden und genug Platz für einen Gemüsegarten. Über das Grundstück floss ein kleiner Bach. Außerdem gab es einen tiefen alten Steinbrunnen, der direkt dem «Froschkönig» entstammen könnte und eine romantische Ruine eines früheren Hauses im Garten.

Doch momentan leuchtete dadraußen nur das schönste Sternenzelt der Welt. In unserem Neun-Leute-Dorf Kerjégu in der Bretagne gab es keine Straßenbeleuchtung, kein Licht, das von Mond und Sternen ablenken konnte. Anton war vorhin noch zum Schuppen gelaufen. Dahinter lagerte Holz für den Kamin. Weil wir hauptsächlich mit Holz heizen mussten, waren wir darauf angewiesen. Ich hatte von der Haustür aus beobachtet, wie der kleine Kegel seiner Taschenlampe im Dunkeln hin- und herschwang. Ziemlich aufgeregt hatten wir den Kamin schließlich zum ersten Mal in Gang gebracht. Jetzt knisterte das Feuer beruhigend, und es war warm im Zimmer. Doch ich konnte trotzdem nicht einschlafen. Wir konnten noch kein Französisch. Wir wussten nicht viel von Landleben und Pflanzenanbau. Wir kannten hier niemanden. Ich war hin- und hergerissen zwischen Vorfreude auf das neue Leben, das uns hier erwartete, und Angst davor, dass alles schiefgehen würde.

Ausbruch aus dem alten Leben

Wie wir versuchten, wieder zu erleben statt nur zu erledigen

In wohl jedem Menschen steckt der Traum, ein selbstbestimmtes, freies Leben nach eigenen Regeln und Werten zu führen. Ein Leben, in dem kein Wecker den Tag startet, kein Chef den Rhythmus vorgibt, der Lärm der Stadt verstummt und die Sonne scheint …

Damit, dass die Sonne nicht schien, begann unsere Geschichte. Ich öffnete die Tür und trat aus dem Wohnmobil hinaus in den Schnee. Hinter mir fuhr die rentnergerechte elektrische Treppe wieder hoch. Es gab kein Entrinnen! Meine Flipflops sanken ein, Schnee berührte meine nackten Zehen. Im Bademantel rannte ich los. Über den leeren, verschneiten Campingplatz bis zu den Duschräumen waren es nur etwa fünfzig Meter. Ich hörte trotzdem erst unter der heißen Dusche auf zu zittern. Und begann zu überlegen. Wonach suchten wir hier eigentlich? Was wollten wir im Winter auf einem Campingplatz mitten im Schwarzwald?

Wir waren im Grunde zwei Stadtmenschen. Ich war im idyllischen Heidelberg aufgewachsen, Anton im niederländischen Dordrecht. Früh waren wir beide in andere Städte gezogen. Erst kleine Städte, später große: Bei mir waren es Erlangen, Stuttgart, Bremen, Den Haag, Würzburg, München und Berlin. In Würzburg hatte ich mich mit sechsundzwanzig Jahren als Autorin und Redakteurin selbständig gemacht; das war jetzt knapp zehn Jahre her. Später waren Anton und ich nach München gezogen. Nach etwas mehr als vier Jahren hatten wir die Hauptstadt der Bayern in Richtung Berlin verlassen. Wir kannten niemanden in Berlin, wir wollten einfach dort sein, dort, wo das Leben pulsierte, wo Offenheit und Toleranz, Kultur und Inspiration herrschten, jeder alle Möglichkeiten hatte – so schien es uns damals jedenfalls.

In Berlin war es damals selbst unter normalen Bedingungen schwer, eine Mietwohnung zu finden. Für einen selbständigen Informatiker ohne Kunden vor Ort, eine freie Autorin und einen Hund waren die Bedingungen nicht mal normal. Einem Bauchgefühl folgend hatten wir deshalb mit einem Kredit die erste Wohnung gekauft, die wir besichtigt hatten: eine winzig kleine Zwei-Zimmer-Wohnung mitten im Friedrichshain. Natürlich schliffen wir erstmal die alten Dielen ab. Wir strichen sie weiß und sorgten dafür, dass die Farbe shabby-chic-mäßig wieder abblätterte. Wir nutzten die extrem hohen Decken und bauten eine Schlafgalerie als zweite Etage ein. Die Balkontüren standen im Sommer Tag und Nacht offen. Nachts sahen wir vom Bett aus Fledermäusen zu, die im verlassenen Backsteinhaus gegenüber lebten.

Die Tage verbrachten wir, wenn wir nicht arbeiteten, mit den Nachbarn. Wir hatten die besten Nachbarn der Welt, wie wir schnell feststellten. Wir aßen zusammen, was Dario aus Italien kochte, tranken zusammen, was Julien aus Frankreich und Ruth aus der Pfalz an Wein mitbrachten, feierten mit der Hausgemeinschaft und unternahmen viel. Wir fühlten uns angekommen und angenommen. Oft diskutierten wir ganze Nächte über bedingungsloses Grundeinkommen, Kapitalismus, Eigentum und Weltherrschaft. Anders als in München galten Anton und ich hier nicht als zu links, sondern befanden uns mit unseren Ansichten eher entspannt in der Mitte.

Berlin war ärmer und weniger repräsentativ als München, aber es war geistig beweglicher, streitbarer – was ebenso erfrischend wie anstrengend und manchmal auch deprimierend war, weil es uns immer wieder mit den eigenen Unzulänglichkeiten konfrontierte.

Wir sogen alles Neue erstmal auf und freundeten uns mit Berlin und einigen seiner Bewohner an. Etwas mehr als ein Jahr später arbeitete ich in der Finanzbranche, und Anton programmierte für Zalando. Auch das gehörte zu Berlin: Es gab so viel Input, dass man nur schwer kontrollieren konnte, welche Richtung man einschlug und wo man letztlich endete – sei es gedanklich oder beruflich. An unsere Jobs waren wir über Empfehlungen von unseren Nachbarn gekommen. Im Sommer 2014 schien es in der Digitalbranche endlos Stellen zu geben, und sie waren uns angeboten worden, ohne dass wir dazu viel hätten tun müssen – eine Gelegenheit, die wir nicht verstreichen lassen wollten. Zwar hatte ich bis dahin vom Politikstudium mal abgesehen keinen Finanzhintergrund, aber ich arbeitete mich ein, und es machte mir Spaß. Ich schrieb Online-Texte über Themen wie Altersvorsorge, Baufinanzierung und die aktuelle Niedrigzinsphase. Alles war logisch, ich verdiente gut und zum ersten Mal seit langem hatte ich richtige Kollegen – und nette noch dazu. Nach der Arbeit tranken wir auf der Dachterrasse in der Friedrichstraße Whiskey und sahen auf die Touristen am Checkpoint Charlie herunter. Wenn wir richtig betrunken waren, fuhren wir auf den Rollbrettern des Getränkelieferanten durch die Büros.

Eine der Grundregeln für das Leben in Berlin lautet: Nichts bleibt, wie es ist. Wer hier wohnt, begrüßt Veränderungen, oder er geht. Meine Arbeit mit den Finanztexten hatte sich nach etwa einem weiteren Jahr in eine feste Vollzeitstelle als stellvertretende Redaktionsleiterin verwandelt. Nebenher arbeitete ich noch als freie Autorin und Redakteurin; nicht wegen des Geldes, sondern weil ich nicht aufgeben wollte, was ich mit so viel Einsatz aufgebaut hatte. Und ich mochte das Texten und meine Kunden. Auf keinen Fall wollte ich sie verlieren – mit der Folge, dass ich immer mehr arbeitete. Die Vollzeitstelle nahm etwa fünfundvierzig Stunden in der Woche ein, allerdings kamen noch die Fahrzeiten dazu. Von der Haustür unserer Wohnung waren es mit Fahrrad oder U-Bahn täglich etwa dreißig Minuten zur Arbeit – und dreißig zurück. Macht fünf Stunden pro Woche. Meine Freiberuflichkeit schwankte zeitlich zwischen zehn und zwanzig Wochenstunden.

Drei Jahre nachdem wir in Berlin angekommen waren, musste ich mir eingestehen: Ich war nicht mehr neugierig und voller Tatendrang, sondern von der vielen Arbeit genervt, gestresst und müde. Es wirkte auf mich, als würde Berlin immer lauter werden. Nicht mal nachts war es still. Wir hielten die Balkontür jetzt meist geschlossen. Es war trotzdem laut. Ich schlief wenig und hatte irgendwann das Gefühl, fast nur noch zu arbeiten.

Morgens fuhr ich mit dem Fahrrad auf dem Weg ins Büro an Arbeitslosen vorbei, die vor dem Netto ihr erstes Bier tranken. Scherben von den Partys der Nacht lagen auf dem Boden. Ich hatte ständig Angst um Twix, der sich daran die Pfoten aufschneiden oder von den vielen freilaufenden großen Hunden angefallen werden könnte. Auf der Arbeit wechselten wir in ein Großraumbüro. Plötzlich gab es keinen Rückzugsort mehr vor den Geräuschen. Ich saß nur noch vorm Computer. In meinen Ohren rauschte es, meine Haut war schlecht, ich fühlte mich schwach, krank, leer. Trotzdem kam es für mich damals nicht in Frage, meine Arbeit zu reduzieren – ich war Verpflichtungen eingegangen, wollte zuverlässig sein, und trotz allem machte mir das Schreiben weiterhin Spaß.

Noch immer gab es ab und zu schöne Abende mit den Nachbarn, aber die Themen hatten sich geändert: Statt über Politik und Umweltschutz zu diskutieren, drehten sich die Gespräche immer häufiger um Kinder und Familie. Anton und ich wollten keine Kinder haben. Ich hatte fast Angst davor, mir damit noch mehr Verantwortung und Stress aufzuladen. Und ich konnte es nicht nachvollziehen, als eine alte Freundin sagte, dass Kinder ihrem Leben endlich einen Sinn gegeben hatten. Ich mag Kinder. Aber wie sollen sie der Sinn des Lebens ihrer Eltern sein? Woher sollen die kleinen Kerlchen denn wissen, was der Sinn ist, wenn nicht einmal ihre Eltern es wissen? Das brachte die Sinnsuche aus meiner Sicht keinen Schritt weiter, sondern verschob das Problem nur auf die nächste Generation. Und es ist ja nicht so, dass wir auf der Welt einen Mangel an Menschen hätten.

So wenig ich meine Freundin verstehen konnte – sie wirkte glücklich. Für sie schien es zu funktionieren, sie schien ihren Sinn gefunden zu haben. Für mich stand allerdings fest: Bei mir würde das nicht klappen. Ich würde noch etwas anderes finden müssen. Da ich mir wegen all der Arbeit aber nicht die Zeit nahm, mich damit zu beschäftigen, was das sein könnte, fühlte ich immer häufiger eine Leere in mir. Wozu das alles?

Eines Abends, als ich mit Anton in unserer Stamm-Pizzeria Pomodorino am Petersburger Platz saß, hörte ich mich plötzlich selbst sagen: «Alles, was wir in Berlin bewegen wollten, haben wir niemals wirklich angefangen oder früh aufgegeben. Wir arbeiten fast nur noch, haben so gut wie nie Zeit. Und wenn mal ein Moment lang Leerlauf ist, schlafe ich sofort ein. Mir fehlt die Energie, irgendetwas voranzubringen. Mein Leben ist völlig sinnlos.»

Anton sah mich an. Eine Weile lang sagte er nichts. Ich versuchte, an seinem Gesicht abzulesen, ob ich ihn verletzt hatte. Schließlich hatte er einen wichtigen Anteil an meinem Leben.

«Darüber habe ich auch schon nachgedacht», gestand er dann jedoch überraschend. «Wir haben uns wegschwemmen lassen von all den Angeboten und Gelegenheiten in Berlin. Unsere eigenen Ziele haben wir dabei irgendwann vergessen.»

Ganz ungeplant begannen wir, Bilanz zu ziehen. Wir waren mit dem Ziel nach Berlin gekommen, ein freieres Leben zu führen, mit viel Kunst und Musik. Wie üblich für viele, dem Klischee nach besonders für Wessis, die nach Ostberlin ziehen, hatten wir uns außerdem für eine bessere Welt einsetzen wollen. Ich hatte mir vorgenommen, mich endlich für Tierrechte zu engagieren. Ich bin Vegetarierin, seit ich zwölf bin. Damals hatte ich an der Wursttheke auf einmal verstanden: Fleisch zu essen bedeutete, dass ein Lebewesen getötet wurde. Allerdings war ich bisher immer zu bequem gewesen, darüber hinaus für Tiere aktiv zu werden. Und das, obwohl ich finde, dass unser Verhalten Tieren gegenüber eines der drängendsten Probleme unserer Zeit ist: Alleine der Fleischindustrie fallen jährlich Millionen von Tieren zum Opfer, und die meisten sehen über die Bedingungen hinweg, unter denen Hühner, Schweine und Rinder bis dahin leben. Sie möchten sich lieber nicht damit beschäftigen, woher das Fleisch kommt – und welche Auswirkungen das nicht nur für die Tiere, sondern auch für unsere Umwelt, zum Beispiel das Klima, und damit nicht zuletzt für uns Menschen hat.

In Berlin, hatte ich gedacht, wäre es für mich einfacher, mich endlich mit dem Thema zu beschäftigen. Es lag fast auf der Hand: Wenn man in Friedrichshain-Kreuzberg oder im Prenzlauer Berg vor die Tür tritt, reihen sich die veganen Cafés und Restaurants aneinander, die Supermärkte führen zahlreiche vegane Produkte. Der Unterschied zu München war krass. In der bayerischen Hauptstadt hatte ich – sehr naiv – einmal in einem Burgerladen nach einem Cheeseburger ohne Fleisch gefragt.

«Du willst also eine Käsesemmel?», kam als Frage zurück, und ich hatte doch laut lachen müssen. In Berlin lautete die Gegenfrage: «Vegetarisch oder vegan? Mit Soja, Seitan oder Lupinen?»

Während einer unserer Münchner Freunde den Tierrechtsbestseller «Tiere essen» von Jonathan Safran Foer in unserem Bücherregal für ein Kochbuch gehalten hatte, lieferten uns unsere neuen Berliner Freunde Denkanstöße, die uns dazu brachten, auch unser Verhalten zu hinterfragen. Aber was war daraus geworden?

Wir hatten in den letzten Jahren viel erlebt. Berlin hatte uns viel gegeben, war inspirierend gewesen. Aber geschaffen hatten wir trotzdem nichts, auf das wir langfristig stolz waren. Verbessert hatten wir rein gar nichts: Wir waren zwar immer noch Vegetarier, doch für unseren Konsum mussten weiterhin Tiere leiden, z.B. für Eier und Milchprodukte. Wir produzierten außerdem täglich neuen Plastikmüll, und unsere Lebensmittel wurden über ewig lange Strecken in den Supermarkt gekarrt – was den Klimawandel vorantrieb, die Eiskappen schmelzen ließ, zu Überschwemmungen und Dürren in Dritte-Welt-Ländern führte, Flüchtlinge dazu zwang, ihre Länder zu verlassen … Unser Leben schadete der Umwelt, Tieren und Menschen. Wir hatten nicht wie geplant unser Leben geändert, sondern unser Ändern gelebt: Wir hatten das Freie, Schöpferische inszeniert, statt wirklich etwas auf die Beine zu stellen. Die Stadt lieferte uns rund um die Uhr Angebote; wir hatten uns berieseln lassen und höchstens unsere Meinung dazu abgegeben. Noch dazu erledigten wir mittlerweile statt zu erleben. Wir hatten immer etwas zu tun und ließen uns von To-do-Listen regieren.

Anton war neununddreißig, ich war fünfunddreißig Jahre alt. Ich betrachtete Anton, dann die Kerze zwischen uns.

«Kann man in unserer Zeit denn nicht mehr so leben, dass man anderen mehr hilft als ihnen zu schaden?», fragte ich. Anton seufzte. Seine blonden Locken fielen ihm ins Gesicht. «Ehrlich gesagt haben wir es doch nicht mal ernsthaft versucht», brachte er unsere Lage auf den Punkt. «Ich bin auch nicht glücklich damit», gab er dann leise zu. Nun war es raus.

Das Problem war eindeutig: Wir taten nichts Sinnvolles. Nichts, das nachhaltig etwas zum Guten wenden könnte, sei es für Menschen, die Umwelt oder die Tiere. Wir gingen zur Arbeit, kamen nach Hause und arbeiteten weiter. Zwischen den Jobs gingen wir essen, weil wir zu müde zum Kochen waren, und ab und zu rissen wir uns zusammen, um mal wieder mit Freunden zu feiern. Danach waren wir noch müder. Unsere Arbeit trug nicht wesentlich dazu bei, dass sich irgendetwas in der Gesellschaft verbesserte – vielleicht sogar im Gegenteil.

Unsere Leben waren konsumgesteuert. Wenn wir einmal einen Moment lang Luft hatten, kauften wir etwas. So scrollte ich abends nach der Arbeit manchmal minutenlang mit dem Handy ziellos bei Zalando oder Amazon durch die Angebote – statt mich mit Anton zu unterhalten. Auch Anton shoppte viel. Wir hatten das Gefühl, uns für die viele Arbeit irgendwie belohnen zu müssen. Und nach dem täglichen Megapensum hatten wir ehrlich gesagt auch einfach nicht mehr die Energie, etwas anderes zu tun. Aber: Der Konsum gab uns nicht die Energie zurück, die die Arbeit kostete. Und wir mussten wiederum viel arbeiten, um weiter in der Form konsumieren zu können. So liefen wir uns immer müder. Bei dem ganzen Prozess entstand nichts, das einen bleibenden Sinn gehabt hätte – weder für uns persönlich noch für die Gesellschaft.

Als wir an diesem Abend auf unsere Leben zurückschauten, hatte ich das Gefühl, dass wir die ganze Zeit wie betäubt gewesen waren, und es jetzt zum ersten Mal bemerkten. Die Stimmung war ruhig, gefasst, und es fühlte sich gut an, die Leere anzusprechen, die sich hinter all dem Lärm unseres Stadtlebens angesammelt hatte.

Es hatte keine Vorwarnung für diesen Abend gegeben. Ganz plötzlich hatten wir festgestellt, wie wenig wir bisher das getan hatten, was aus unserer Sicht wirklich wichtig war. Das wollten wir ändern, denn wir wollten gern ein sinnvolles Leben führen. Nur was sollten wir tun? Und wie? Um ehrlich zu sein: Wir hatten keine Antwort. Außer die, dass sich etwas ändern musste.

Gleichzeitig hatten wir beide Angst, dass die Erkenntnisse dieses Abends folgenlos bleiben und wir wieder unsere fremdgesteuerten Leben im geistigen Dämmerzustand aufnehmen würden. Um unsere eigene Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, wollten wir – auch uns selbst – zeigen, dass es uns ernst war und wir nicht einfach nur reden und dann so weitermachen würden wie bisher. Wir begannen deshalb sofort mit dem Ausbruch aus dem Konsumprozess, der uns die Energie nahm, etwas auf die Beine zu stellen: Nur wenige Tage später kündigten wir mit großer Geste unsere festen Jobs. Als hauptberufliche Freiberuflerin würde ich zwar weniger Geld, dafür aber wieder mehr Kontrolle über meinen sonst mittlerweile recht fremdgesteuerten Alltag bekommen, hoffte ich. Und ich würde meine Zeit wieder selbst einteilen können.

Viele aus unserem Freundeskreis verstanden nicht, dass ich den sicheren, gutbezahlten Job einfach so aufgab. Ich selbst aber hatte keine Zweifel daran, dass meine Entscheidung richtig war. Wahrscheinlich half dabei, dass ich vorher jahrelang selbständig gewesen war und wusste, wie ich an Aufträge kam. Im Grunde hatte ich ja nie damit aufgehört und meine Selbständigkeit abends nach dem Job im kleineren Rahmen weitergeführt. Und irgendwo musste man schließlich ansetzen, wenn es einem ernst damit war, dem Hamsterrad zu entkommen. Ich war müde und hatte das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Um sich freizukämpfen, bleibt manchmal nur die Flucht nach vorn.

Und noch etwas anderes wurde uns klar: In Berlin würde es uns nicht gelingen, etwas auf die Beine zu stellen, das die Welt ein Ministückchen verbessern könnte. Hier bekamen wir so viel Input, dass wir uns selbst nicht mehr hören konnten. Doch man muss sich selbst wahrnehmen können, um etwas produktiv zu erschaffen. Wir mussten also raus! Weg aus Berlin! Allerdings war da noch die Wohnung samt Kredit. Und so kam es, dass unsere Wohnung etwa eine Woche nach dem denkwürdigen Pomodorino-Abend, und nachdem wir auf dem Balkon eine Flasche Rotwein geleert hatten, auf immobilienscout.de zum Verkauf stand.

Am nächsten Morgen wachte ich auf, als Anton von seiner Morgenrunde mit Twix zurückkam. Ich döste, bis er in der Küche fertig war und mir Kaffee und ein Croissant auf die Hochetage schob. Dann checkte ich meine Mails. Ich hatte über Nacht siebenundfünfzig neue Nachrichten bekommen. Alles Wohnungsinteressenten. Innerhalb der letzten drei Jahre war der Wohnungsmarkt in Berlin explodiert. Von überall wollten Leute hierherziehen. Die Niedrigzinsphase, über die ich in meinem Job so oft geschrieben hatte, trug ihr Übriges dazu bei, dass viele Menschen auf Immobilien als Kapitalanlage setzten. Ich beantwortete alle Mails, und wir putzten die Wohnung wie nie zuvor. Einzelne Möbel, die unserer Meinung nach nicht ins Gesamtbild passten, stellten wir unter den Balkon oder zu den Nachbarn. Dann kam der Ansturm. Während sich eine Gruppe im Wohnzimmer den Energieausweis und die Papiere der letzten Eigentümerversammlung ansah, prüfte eine andere auf dem Balkon die Aussicht. Anton zeigte einem Herrn aus Dresden den Keller. Ich stand mit Magda und Andi, einem jungen Paar aus Bayern, im Flur.

«Wir nehmen sie», sagte Magda. Sie hatten bisher nur die Küche gesehen.

«Wollt ihr nicht noch den Rest anschauen?»

«Vorher hätten wir gern die Zusage, dass wir die Wohnung kriegen», sagte Andi.

Wir verkauften die Wohnung an Andi und Magda – weil sie uns sympathisch waren, aber auch, weil sie mit ihrer spontanen Entscheidung genau das Bauchgefühl mitbrachten, das uns selbst durch die viele Arbeit in Berlin verlorengegangen war.

Alles ging so schnell, dass wir gar nicht dazu kamen, Wehmut, Angst oder Vorfreude zu empfinden. Wir waren in den letzten Jahren zu Menschen geworden, die unter ständigem Zeitdruck arbeiteten und die niemals endende Liste mit Aufgaben abhakten, ohne groß darüber nachzudenken. Wir hatten inzwischen nicht mehr den Bezug zu uns selbst, um dabei viel zu fühlen, schon gar nicht etwas, das uns hätte aufhalten können. Was uns antrieb, war der schlichte Gedanke, dass sich in unseren Leben etwas ändern musste. Wir brauchten eine Veränderung, um wieder wirklich zu leben. Und diese war jetzt ins Rollen gekommen. Unaufhaltbar.

Natürlich wollten Andi und Magda, dass die Wohnungsübergabe so schnell wie möglich stattfand, und wir setzten ein Datum für unsere Abschiedsparty fünf Wochen später fest. Alle waren erstaunt, wie schnell es ging. Unsere kleine Wohnung war noch ein letztes Mal voll mit unseren Freunden. Dario hatte italienische Pasta gemacht. Dazu gab es verschiedene Häppchen und Salate – und natürlich jede Menge Getränke. Es war ein schöner Abend. Wir feierten die Freiheit, ohne genau zu wissen, wohin es gehen würde. Unsere Freundin und Nachbarin Isabelle hielt sogar eine Rede für uns. Obwohl unser Plan in ihren Ohren völlig verrückt geklungen haben musste – in erster Linie deshalb, weil es gar keinen gab, – war sie ermutigend und positiv: «Ihr werdet schon das Richtige finden! Wir werden euch auf jeden Fall oft besuchen und sind für euch da, egal, wohin es euch verschlägt», sagte sie am Ende.

Ich hatte Tränen in den Augen. Als ich sie jetzt alle beisammen sah, kamen mir plötzlich zum ersten Mal doch Zweifel, ob unsere Entscheidung richtig gewesen war. Wir hatten verdammtes Glück gehabt, so tolle Freunde gleich in der Nachbarschaft zu haben. War es verwöhnt, naiv oder gar arrogant, dass wir das einfach aufgaben? Doch jetzt führte kein Weg mehr zurück.

Unsere Freunde halfen uns, die meisten unserer Möbel und Bücher in einem Lagerraum auf acht Quadratmetern zu verstauen. Einen ganzen Tag lang bildeten Isabelle, Julien, Regina, Dario und Juha mit uns eine Kette, um unsere Umzugskisten in den Transporter zu schaffen, zum Lagerhaus zu fahren und sie dort wieder auszuladen. Wir behielten jeder einen Koffer, eine Matratze, das Hundebett, die Laptops, Fahrräder und vom Balkon einen Bananen- und einen Olivenbaum. Was nicht in den Lagerraum gepasst hatte, stellten wir auf die Straße. Drei Stunden später war alles weg.

Es war mittlerweile Oktober. Uns hielt nun nichts mehr in Berlin, wir hatten nicht einmal mehr eine Bleibe hier. So mieteten wir ein Wohnmobil, um den Ort zu finden, an dem wir etwas Sinnvolles tun konnten. Das klang romantisch. Ich stellte mir vor, wie ich meine Füße aus dem Beifahrerfenster eines Bullis strecken würde. Die Sonne schien, und der Fahrtwind kitzelte meine Zehen.

Überraschenderweise war das billigste Wohnmobil gleichzeitig das größte. Es versprühte eher die Atmosphäre eines Kreuzfahrtschiffs als die erhoffte Bulliromantik, aber es war praktisch. Wir hatten ein großes Büro mit Satellitenanlage, das sogar einen neutralen Hintergrund für Video-Telkos mit Kunden lieferte. Außerdem gab es eine Küche mit Herd und Kühlschrank, ein Schlafzimmer, ein zweites Bett über dem Fahrersitz, das wir als Stauraum verwenden konnten, eine Dusche und eine Toilette. Letztere würden wir nie benutzen. Über Hotspots auf unseren Handys konnten wir von überall aus ins Internet.

Wir parkten das Schiff vor unserer Haustür in Berlin und luden unsere wenigen Sachen ein. Die Nachbarn kamen zur Besichtigung unseres neuen Zuhauses, und der Abschied fiel mir nun doch schwer. Am Ende wusste ich gar nicht mehr, was ich sagen sollte. Ich hatte einen dicken Kloß im Hals. In den letzten drei Jahren waren die Nachbarn gute Freunde geworden.

«Wir kommen euch besuchen, wo immer es euch auch hin verschlägt», versprach Isabelle erneut.

«Ja, sucht euch auf jeden Fall eine Bleibe mit Gästezimmer. Wir kommen alle», meinte Regina.

«Große Küche geht sonst auch», sagte Dario. «Ist wichtiger.»

Während wir alle ein letztes Mal umarmten, lief Twix aufgeregt herum und beschnupperte jeden Winkel seines neuen mobilen Reviers.

Die Kochhannstraße lag in Herbstsonne getaucht, als wir schließlich Richtung Südwesten aufbrachen. Wir wollten als Erstes bei meiner Mutter in Heidelberg haltmachen. Süddeutschland, dachten wir, hat außerdem schöne Landschaften. Vielleicht fanden wir dort den Ort, an dem wir etwas Sinnvolles tun konnten. Und es wurde höchste Zeit, «etwas Sinnvolles» zu definieren.

Meine Mutter ist in vielem das Gegenteil von mir – positiv gemeint. Sie ist eine pensionierte Lehrerin, beständig, sicherheitsorientiert und hat immer einen Plan. Als wir in Heidelberg ankamen, hatte sie für das Wohnmobil schon einen sicheren Parkplatz vor einem Seniorenheim organisiert.

«Ich habe das genau geprüft, da schaut immer jemand aus dem Fenster, der alles beobachtet. Ist quasi wie ein überwachter Parkplatz! Mit den Eigentümern habe ich schon gesprochen. Und ich dachte, wenn ihr hier eng einschlagt, könnt ihr gut einparken.»

Keine Frage, für meine Mutter muss unser «Plan» völlig skurril geklungen haben. Andererseits war sie von mir auch schon einiges gewöhnt und hatte gelernt, dass es für unser Verhältnis am besten war, wenn sie ihre Wertmaßstäbe nicht an meine Entscheidungen anlegte. So goss sie sich erstmal ein Glas Weißwein ein und setzte sich mit uns in die Küche, wo wir traditionell unsere Familienangelegenheiten besprechen.

«Ihr wollt also etwas Sinnvolles machen», brachte sie es auf den Punkt. Es war derselbe Tonfall, in dem sie vor vielen Jahren gesagt hatte: «Du willst also dein Studium erstmal unterbrechen und als Erntehelferin in Australien arbeiten.» Oder: «Du willst also nicht ins Referendariat gehen, sondern freie Autorin werden.» Oder: «Du willst also diesen aggressiv schauenden Hund aus einem Tierlager in Kroatien adoptieren, weil er dich auf dem Foto irgendwie berührt hat.» Ich hatte trotz der in diesen Sätzen nur leidlich versteckten Irritation jeden dieser Pläne umgesetzt. Doch mit ihrem Tonfall fragte meine Mutter indirekt zu Recht danach, was genau wir denn machen wollten und ob das denn durchdacht war. Durchdacht war es – das musste ich zugeben – nicht. Aber kann man einen echten Aufbruch überhaupt vorher durchdenken? In unseren alten Leben hätten wir dazu nie die Zeit, die Energie und den nötigen Abstand gehabt. Die einzige Möglichkeit war doch, mit seinen Überzeugungen Ernst zu machen und darauf zu vertrauen, dass sich etwas entwickeln würde. Nur war unsere Überzeugung, etwas «Sinnvolles» machen zu wollen, recht vage. Aber ich bemerkte, dass ich noch eine Abneigung dagegen empfand festzulegen, was genau es sein könnte. In letzter Zeit war so viel auf einmal passiert; ich hatte das Gefühl, ständig unter Druck zu stehen. Jetzt wollte ich durchatmen, in Ruhe darüber nachdenken, einfach keinen Fehler machen und etwas als Lösung darstellen, das es dann vielleicht doch nicht war. Die Fragen meiner Mutter nach dem Was und Wo blieben letztlich unbeantwortet, sodass wir uns fast etwas gehetzt fühlten, darauf jetzt aber schnell Antworten zu finden.

Nach dem Besuch bei meiner Mutter fuhren wir in den Schwarzwald. Wir übernachteten dort auf Rast- oder Campingplätzen, gingen viel mit Twix spazieren, besichtigten die Umgebung und arbeiteten vom Wohnmobil aus. Anton erzählte seinen Kunden nicht, wo er programmierte – er verheimlichte es auch nicht, sondern machte es einfach nicht zum Thema. Es schien niemandem aufzufallen. Meine Kunden wussten hingegen Bescheid. Ein Problem war es für sie nicht.

Für Anton und mich waren diese ersten Wochen ein guter Test: Wenn es so einfach war, vom Wohnmobil aus zu arbeiten, konnten wir beruflich gesehen überall hingehen – vorausgesetzt, wir hatten einen einigermaßen schnellen Internetanschluss. Weil uns die Landschaft im Schwarzwald gefiel, sprachen wir deshalb jetzt immer öfter darüber, aufs Land zu ziehen. Vor meinem inneren Auge sah ich einen Weidenkorb voller Äpfel, der von einzelnen Sonnenstrahlen beschienen unter einem knorrigen Baum im Gras stand und an dem pickend ein glückliches Huhn vorüberging. Aber war an dieser romantisierten Vorstellung etwas sinnvoll?

Über ein ökologisch verantwortungsvolleres Leben hatten wir in Berlin hingegen schon oft gesprochen. Ich besaß alles, was es an Aussteigerbüchern auf dem Markt gab. Mir gefiel die Idee, mein Gemüse selbst anzubauen, um die Umwelt zu schonen. Keine Pestizide, die Tiere töteten und der Natur schadeten, keine umweltschädlichen Transportwege, kein Plastikmüll. Für ein Paar, das mitten in Berlin gelebt hatte, hatten wir in unseren Bücherregalen erstaunlich viele Exemplare über Landwirtschaft. Von Sepp Holzers «Permakultur» und John Seymours «Das neue Buch vom Leben auf dem Lande», «Das große Buch der Selbstversorgung», «Tiere halten hinterm Haus», «Hühner in meinem Garten» inklusive dem Bau von Hühnerställen, «Minischweine – Haltung, Pflege, Erziehung», bis hin zu «Der eigene Wald» hatte ich mir in den letzten Jahren eine Sammlung von bestimmt fünfzig Landwirtschafts- und Selbstversorgerbüchern zugelegt. Ich hatte sie in meinen Konsumanfällen aus einer Sehnsucht nach etwas Bodenständigerem heraus gekauft. Es hatte mich irgendwie beruhigt zu sehen, dass dadraußen ein geerdeteres Leben stattfand. Die Bücher waren eine Art Flucht in eine Welt, die weniger durch Leistung und Druck geprägt war, die mir weniger kompliziert erschien und näher an der Natur war. Vielleicht hatte auch mein schlechtes Gewissen mitgespielt, mich in Berlin nicht stärker für Tierrechte eingesetzt zu haben. Über die Bücher konnte ich mich zumindest über die Bedürfnisse und Haltung der verschiedenen Tierarten informieren. Die meisten Bücher hatte ich von Amazon direkt ins Büro schicken lassen, sehr zum Vergnügen meiner Kollegen. Sie dachten sicher, ich sei verrückt geworden. Unser Balkon hatte ja nur etwa sechs Quadratmeter. An stressigen Tagen war ich manchmal schon in der Mittagspause zu Dussmann gelaufen, um zu sehen, ob es wieder etwas Neues dazu gab. Doch wenn ich ehrlich bin: Die meisten Bücher hatte ich nicht wirklich gelesen, dafür fehlte mir die Zeit. Ich blätterte sie nur vor dem Einschlafen durch, las hier ein paar Zeilen, betrachtete dort ein paar Bilder. Erst jetzt fiel mir auf, wie merkwürdig dieses Verhalten für eine Städterin war.

Praktisch hatten Anton und ich erst recht keine Erfahrung mit dem Selbstversorgen. Vor vielen Jahren hatten wir in einem Sommer mal ein paar Wochen bei einer Selbstversorgerin an der Loire gewwooft. Willing Workers on Organic Farms (Wwoofer) sind Leute, die für Kost und Logis in ökologischen Landwirtschaftsbetrieben arbeiten. Die Dame, bei der wir gewohnt hatten, baute alles, was sie aß, komplett selbst an. Ihr kam dabei entgegen, dass sie Vegetarierin war und deshalb an Tieren nur Hühner für die Eier, zwei Ziegen für die Milch und einen Esel für den Dünger hielt. Wir hatten bei ihr hauptsächlich im Garten gearbeitet und bei den Tieren sauber gemacht.

Weil uns ihr Lebensentwurf fasziniert hatte, hatten wir später eine Weile lang einen Schrebergarten im Norden von München gepachtet und dort Gemüse angebaut. Allerdings herrschte dort eine wahre Überwachungsstimmung, und ein Nachbar las uns regelmäßig lange Listen vor, was wir alles falsch machten und anders zu handhaben hatten. Einer unserer Bäume zum Beispiel war angeblich immer ein paar Zentimeter zu hoch, egal, wie oft wir ihn zurückschnitten. Außerdem versuchte der selbsternannte Regelwächter, uns gegen die türkische Familie aufzuhetzen, deren Parzelle auf der anderen Seite an unsere angrenzte. Die Familie veranstaltete regelmäßig Grillpartys. Wir mochten sie und legten uns mit dem Kontrollfreak einmal ziemlich an. Nach nur einer Saison beschlossen wir, das Schrebergarten-Projekt aufzugeben.

Aus unseren Gesprächen im Wohnmobil wuchs langsam eine Idee: Vielleicht könnten wir uns mit dem Geld aus dem Wohnungsverkauf und einem Kredit einen kleinen Hof kaufen! Wir könnten unser Gemüse selbst anbauen und Tieren ein gutes Zuhause geben. Vielleicht erstmal ein paar Hühnern, dann hätten wir auch eigene Eier. Natürlich würden unsere Hühner viel Platz haben und alle bis zu ihrem natürlichen Lebensende bei uns bleiben. Wenn wir weniger konsumierten, müssten wir außerdem weniger arbeiten. Wir hätten mehr Zeit, um selbst kreativ zu sein und Ausflüge in die Natur zu unternehmen, zum Beispiel Wanderungen mit Twix. Wir könnten einen Ort schaffen, an dem wir ein selbstbestimmtes und freies Leben führen könnten, statt wie bisher fremdbestimmt und durch ständige Angebote von außen gelenkt zu leben. Und plötzlich hatten wir unsere Definition für «etwas Sinnvolles tun»: so leben, dass man anderen möglichst wenig schadet und möglichst viel hilft. Und mit «anderen» meinten wir nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und die Natur.

Mich erinnerte diese Definition an mein Philosophiestudium. Damals war Peter Singer mein großes Vorbild gewesen. Der australische Philosoph überlegte bei allem, was er tat, ob es mehr nutzte als es schadete. So fand er es zum Beispiel nicht richtig, Fleisch zu essen, weil der Nutzen nur in einem kurzen Geschmackserlebnis lag, der Schaden aber ein ganzes Leben vernichtete. Aber war der Mensch nicht trotzdem wichtiger als ein Tier? Auch hier war Peter Singer konsequent: Ob Mensch oder Tier, Mann oder Frau, schwarz oder weiß – das alles war ethisch gesehen unwichtig. Wichtig war dagegen, wie viel Interesse jemand an etwas hatte. War das Interesse des Schweins an seinem Leben größer oder kleiner als mein Interesse, es eben schnell zu essen? Nehmen wir an, dass eine Garnele weniger interessiert an ihrem Leben ist, als ich daran, sie zu essen – dann konnte ich sie guten Gewissens verspeisen. Peter Singer war sich dessen jedoch nicht sicher. Deshalb ließ er es vorsichtshalber sein.

Unser Umgang mit Fleisch war nur ein Beispiel; den Ansatz konnte man auf jede ethische Entscheidung anwenden. So könnte ich überlegen, ob es mir mehr nutzt, einen billigen Pullover zu kaufen, als es den Menschen, die ihn produziert haben, schadet, weil sie ihn unter schlechten Arbeitsbedingungen herstellen mussten. Das Problem: Wie sollte ich das in Erfahrung bringen?

Das konnte ich im Grunde doch nur, wenn ich den kompletten Entstehungsprozess kannte – weil ich dabei war. So war dieser Ansatz auch eine radikale Antwort gegen die Entfremdung von den Dingen, die wir konsumierten, und den Folgen unserer Entscheidungen. Denn wahrscheinlich würden Menschen die Kleidung bestimmter Marken nicht kaufen, wenn sie in ihrem direkten Umfeld sehen würden, unter welchen furchtbaren Bedingungen die Arbeiter sie herstellen mussten. Und wir würden keine Kriege befürworten, wenn wir den Menschen, die darunter leiden müssten, nahestehen würden. So ist es – zurück zum Fleischbeispiel – leicht, ein Tier zu essen, das man nie gesehen hat. Die Packung Hühnerfleisch im Supermarkt erinnert schließlich nicht mehr daran, dass das rosa-weißliche Stück unter der Plastikfolie einmal ein Tier gewesen ist. Und eine ganze Gesellschaft spielt mit: Wir nennen es «Fleisch» statt Tier, betreten nie einen Schlachthof und betrachten es als normal, dass wir sogenannten Nutztieren viel Leid zufügen, bevor wir sie letztlich töten. Ich bin überzeugt, dass sich diese Art des Umgangs nicht entwickelt hätte, wenn wir im Alltag nicht so weit von diesen Lebewesen entfernt wären. Viele unserer gesellschaftlichen Probleme haben meiner Ansicht nach damit zu tun, dass wir zu wenig mit den Folgen unseres Verhaltens konfrontiert werden. Die Überlegungen von Peter Singer lassen eine solche Entfernung nicht zu. Und im Endeffekt kann man in vielen Fällen eben doch beurteilen, ob bei den eigenen Handlungen der eigene Nutzen oder der entstehende Schaden größer ist.

So einfach das klingt, für mich geht das an die Grundfeste unserer Gesellschaft. Es macht uns zu dem, was wir «menschlich» nennen: die Möglichkeit, moralisch gute Entscheidungen zu treffen.

Wenn wir unsere Nahrung selbst anbauten und die Tiere bei uns lebten, würde es für Anton und mich keine solche Entfremdung mehr geben. Wir hätten frisches Gemüse und nicht einmal einen Schaden für die Umwelt durch lange Transportwege und Plastikverpackungen. Wir hatten zwar kaum praktische Erfahrung mit Landwirtschaft oder Landleben, aber wir wollten, dass unsere Vorstellung davon möglich wäre. Ich hoffte damit insgeheim nichts weniger, als dass es mir gelingen würde, unschuldiger zu leben, als Anton und ich es in unseren bisherigen Leben gewesen waren. War ein unschuldiges Leben heutzutage überhaupt möglich? Ich wusste es nicht. Aber ich wollte gern herausfinden, wie weit ich in diese Richtung gehen könnte. Wir begannen, Höfe in Süddeutschland zu besichtigen.

Wir schauten uns ein Jagdhaus an, in dem wir Champignons hätten züchten können – sogar im Wohnzimmer. Wir nahmen an der Begehung einer Achatschleife teil, die unter Denkmalschutz stand – mit fünf Hektar Land darum. Und wir schauten einen riesigen Schwarzwaldhof an, der allein mit einem Skilift auf einem Berg stand. Es gab Löcher im Boden, der Putz fiel von den Wänden, und der Preis lag bei einer halben Million Euro. Der Makler nannte den Preis, als wäre das nichts, und ließ seinen SUV an. Unser Wohnmobil hätte es durch den Schnee nicht bis zum Hof gepackt. Ich warf Anton, der auf der Rückbank saß, durch den Seitenspiegel einen langen Blick zu. Er erwiderte ihn. Wir hatten das Geld nicht – und keine Bank der Welt würde uns so viel leihen. Wir schauten den Hof sowieso nur deshalb an, weil es nichts anderes gab, das zu unserem wichtigsten Kriterium passte: mindestens 10000 Quadratmeter Land. Wir hatten gelesen, dass diese Fläche für zwei Vegetarier theoretisch reichen würde, um sich komplett selbst zu versorgen und ein paar Tiere zur Gesellschaft zu halten. Fleischesser brauchen weit mehr, weil sie auch die Nahrung für ihre Schlachttiere anbauen müssen.

Neben den Schwierigkeiten, dieses Kriterium zu erfüllen, hatten wir noch ein zweites Problem: Jeden Tag zog der Winter weiter die Berge ins Tal herunter und erinnerte uns daran, dass wir mit der Entscheidung nicht ewig warten konnten. Während sich der SUV durch die Schneemassen den Berg hinuntergrub, fiel auch meine Stimmung rapide. Ich wollte mich am liebsten nur noch unter einer heißen Dusche aufwärmen, mich danach im Wohnmobil verstecken und Winterschlaf halten. Ich fühlte mich gestresst, weil wir nach all der Arbeit in Berlin noch immer keine echte Pause gehabt hatten – und dabei standen so große Veränderungen bevor. Ich hätte gern mehr Zeit gehabt, innezuhalten und wirklich nachzudenken. Ich wartete noch auf den perfekten Moment, in dem plötzlich alles klar sein, unser neues Leben scharf umrandet vor uns liegen würde. Aber der kam nicht. Es war wie immer: Das Leben setzt sich aus kleinen Entscheidungen zusammen, die man einfach so, Tag für Tag trifft, ohne dass man die Gelegenheit hatte, viel darüber nachzudenken.

 

Und nun stand ich hier, unter der Dusche in den Sanitärräumen auf einem schneebedeckten, leeren Campingplatz im Schwarzwald. Als ich in meinen Flipflops durch den Schnee zurück zum Wohnmobil stapfte, wusste ich: Hier würden wir nicht finden, wonach wir suchten.

Vernünftig ist wie tot – nur vorher

Wie wir am Ende der Welt ein Hobbithaus besichtigten

Unser aktuell dringendstes Problem im Wohnmobil: Es war sackkalt. Und wenn man es verließ, wurde es noch schlimmer. Denn jetzt war es im Schwarzwald richtig Winter. Mit allem, was dazugehörte: Eis, Schnee, Minustemperaturen. Also mussten wir erstmal einen Standort finden, an dem es wärmer war. Wir waren nahe an der Grenze zu Frankreich und auf wetter.de sahen wir überraschenderweise, dass in der Bretagne die Sonne schien. Weil Anton gern surfte – auch im Winter –, war er sofort begeistert. Unsere Entscheidung stand fest: Noch heute wollten wir uns gen Westen aufmachen. Also wendeten wir nach einem Arbeitstag im neutralen Wohnmobilbüro den Koloss und schifften uns zwischen den polnischen LKW