Unser Sommer am See - Nikola Huppertz - E-Book

Unser Sommer am See E-Book

Nikola Huppertz

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Beschreibung

Sommer genießen, Lieblingsort finden: Die perfekte Urlaubslektüre zum Wohfühlen und Wegträumen, für Kinder ab 10.

Inmitten einer endlosen Waldlandschaft steht einsam auf einem Berg das Haus am See, in dem Agda, Nick und Jula die Ferien mit Papa verbringen. Der entlegene Ort steckt voller Geheimnisse und Abenteuer. Auch das Auftauchen des Landstreichers Pepe gibt Rätsel auf. Und dann verschwindet Nick spurlos. Hat er sich etwa allein auf die gefährliche Suche nach dem Waldgoldschatz begeben?

In besonderer Ausstattung mit Halbleinen und Lesebändchen.

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Das Buch

Als Agda, Nick und Jula mit ihrem Papa auf dem Krähenriegel anreisen, ist eines klar: Dieser Sommer wird nicht langweilig! Das merkwürdige Haus, der endlose Wald und der glitzernde See – bestimmt ist hier alles verzaubert! Tatsächlich lassen die Abenteuer nicht lange auf sich warten: Erst ist da eine mumifizierte Katze und dann verschwinden Schlüssel, Essensreste und schließlich Nick!! Hat er sich etwa allein auf die gefährliche Suche nach dem Waldgoldschatz begeben?

Die Autorin

© Chris O'Neill

Nikola Huppertz, geboren 1976 in Mönchengladbach, studierte Musik und Psychologie und experimentierte parallel mit dem Schreiben. Für ihre zahlreichen Kinder- und Jugendbücher, Gedichte und Kurzprosa in Literaturzeitschriften sowie Geschichten für den Rundfunk wurde sie mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Evangelischen Buchpreis 2022. 2021 wurde sie von der Deutschen Oper am Rhein beauftragt, ein Libretto für die Kinderoper „Die Unbedingten Dinge“ zu schreiben. Sie hat eine Tochter und einen Sohn und lebt als freie Autorin in Hannover.

Mehr über Nikola Huppertz auf: www.nikola-huppertz.de

Der Verlag

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Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

Das Haus stand still in der zirpenden Wiese, der alte, ein wenig verkommene Teil düster, alle seine Fensterläden waren zugeklappt und verbargen, was dort zu verbergen war, der neue Teil hell und einladend, und das Metalldach glänzte in der Nachmittagssonne.

Die Hemdsärmel bis über die Bizepse hochgekrempelt, die Locken wild vom Schweiß, drehte Frau Neumüller noch eine Runde über das Grundstück. Sie warf einen Blick in die wassergefüllte Steinwanne mit der Pumpe und einen auf die Feuerstelle, fegte ein paar vertrocknete Blütendolden vom Steintisch und sah zwei Libellen nach, die, nachdem sie für einen Moment blaufunkelnd in der Luft stehengeblieben waren, einander über den Weiher nachsetzten. Sie schaute auch nach den Ringelnattern aus, die oft darin schwammen, konnte aber keine entdecken. Dann ging sie die kleine Steigung hinauf ums Gebäude, hängte den Schlüsselbund an den Nagel neben der Haustür zum Neubau und marschierte zu ihrem Kombi. Schon einen Moment später brauste sie den Schotterweg, der zur Straße führte, entlang, dass die Steinchen nur so flogen.

Entschieden zu lange hatte sie auf die Familie Emmerich gewartet, die die nächsten drei Wochen hier oben verbringen wollte. Sie hatte eine Nachricht geschickt, die unbeantwortet geblieben war, hatte versucht anzurufen, aber es war keine Verbindung zustande gekommen. Jetzt musste sie wieder runter in den Ort, es war Montag, sie hatte ihre Verpflichtungen und konnte nicht ewig auf dem Krähenriegel zubringen.

Dass sie die Feriengäste nicht erreicht hatte, lag übrigens nicht am Netz hier oben. Der Empfang war hervorragend. Aber bereits im ersten Stau, irgendwo zwischen Braunschweig und Magdeburg, hatten Nick und Jula Emmerich den Akku vom Smartphone ihres Papas Claus leergezockt. Und kurz vor Leipzig passierte dasselbe mit dem Gerät ihrer älteren Schwester Agda. Die hatte sich mit drei Freundinnen parallel geschrieben, Fotos hin- und hergeschickt und nebenbei YouTube-Videos mit Bruce Lee angeguckt. Bruce Lee, der als Schuljunge Wing Tsun gelernt hatte, genau wie Agda es seit einem halben Jahr tat, und der später ein berühmter Kampfkünstler geworden war, genau wie sie es vorhatte. Und als Claus sie kurz vor Regensburg bat, die Verwalterin anzurufen und Bescheid zu geben, dass ihre Ankunft sich um mindestens anderthalb Stunden verschieben werde, aber auch drei, vier, fünf Stunden seien möglich, konnte sie nur mit den Schultern zucken.

»Geht nicht, du besitzt ja leider kein Autoladekabel wie jeder normale Mensch mit Auto«, hatte Agda erwidert, elegant darüber hinweggehend, dass sie diesen Anruf ohnehin nicht gemacht hätte. So gerne sie ihr Smartphone hatte, so sehr hasste sie es, mit wildfremden Leuten zu telefonieren. »Aber willst du wissen, was Bruce Lee im Trailer von Todesgrüße aus Shanghai macht?«

»Nein!«, sagte Claus. »Und du solltest es eigentlich auch nicht wissen, soweit ich eure Mutter verstanden habe.«

Agda schwieg einen Moment. »Willst du denn vielleicht noch ein Bonbon, Papa?«, fragte sie dann.

Claus Emmerich wollte noch ein Bonbon. »Ein oranges, bitte«, seufzte er.

»Und ich ein gelbes!«, rief Nick von der Rückbank.

»Und ich ein grünes!«, rief Jula.

»Grüne gibt es doch nicht.« Agda verdrehte die Augen. »Das hab ich dir schon tausendmal gesagt.«

»Ich will trotzdem ein grünes«, sagte Jula, denn Grün war ihre Lieblingsfarbe. »Aber ich nehm auch alle anderen.«

Also reichte Agda Bonbons in sämtliche Richtungen, wickelte sich selbst eins aus und steckte es in den Mund. Dann zupfte sie das verschwitzte T-Shirt zurecht und lehnte sich im Beifahrersitz des alten Ford Puma zurück. Sie wusste nicht recht, ob sie froh sein sollte oder nicht. Immerhin, dachte sie, waren sie unterwegs. Mit ihrem Papa, und das hatte seit mehreren Jahren nicht geklappt. Eigentlich noch nie, dachte Agda weiter, jedenfalls nicht, seit ihre Eltern sich getrennt hatten.

Erstens, weil Claus während der Sommerferien meistens arbeiten musste, während ihre Mama Saskia als Lehrerin naturgemäß freihatte. Und zweitens, weil Saskia fand, es würden an den Besuchswochenenden, die Agda, Nick und Jula bei ihrem Papa verbrachten, schon genug Kleinkatastrophen passieren. Da könnte so ein lieber langer Urlaub ja nur zur Großkatastrophe werden. Aber in diesem Jahr hatte Claus nicht nur alles drangesetzt, seinen Jahresurlaub in die Sommerferien zu legen, sondern Saskia war auf einmal der Ansicht gewesen, sie seien nun alt genug, um ein solches Wagnis überleben zu können.

Was möglicherweise damit zu tun hatte, dass ihr aufgefallen war, noch nie in Florenz gewesen zu sein, und sie beschlossen hatte, dies in diesem Sommer nachzuholen. Genauer gesagt: ohne Kinder. Dafür aber mit ihrer Freundin Ulrike, die fand, Frauen müssten viel mehr Zeit mit ihren Freundinnen verbringen und zusammen Spaß haben als allgemein üblich, und an Saskias Beschluss darum nicht ganz unschuldig war.

Auch Agda war noch nie in Florenz gewesen. Sie stellte sich Florenz interessant vor, deutlich interessanter als Burdur, wo ihre beste Freundin Samira immer im Sommer war, und meilenweit interessanter als den Bayerischen Wald mit seiner … Gegend. Den allerdings hatte Claus sich als Urlaubsziel ausgesucht, angeblich weil es dort ruhig war und einem nicht ständig irgendwelche Leute über den Weg liefen. Also alles, was in Agdas Augen uninteressant war. Sie für ihren Teil mochte nämlich Leute (und zwar lieber als Wald und Moder und Gräser voller Zecken und anderem Viehzeug). Vor allem Leute, die so alt waren wie sie selbst – jedenfalls, wenn es Mädchen waren. Und wenn sie nicht doof waren, wie sich von selbst verstand, sondern witzig und cool und großstädtisch. Sie mochte es außerdem, wenn etwas los war. Die Sache wurde also nicht besser dadurch, dass Claus das einsamste Häuschen gemietet hatte, das sich hatte auftreiben lassen. Das einsamste und vermutlich das billigste. Aber immerhin sind wir unterwegs!, dachte Agda noch mal und beschloss, fürs Erste zumindest ein kleines bisschen froh zu sein.

Auch zwei Stunden später, als Frau Neumüller längst wieder im Ort zurück war, gerade in die grünen Gartengaloschen geschlüpft war und sich daranmachte, ihre Hortensien zu gießen, waren sie übrigens noch unterwegs. Und zweieinhalb Stunden später immer noch. Da allerdings standen sie nicht mehr im Stau, sondern hatten in Passau die Autobahn hinter sich gelassen und kurvten zwischen nicht enden wollenden Waldstreifen die Serpentinen hoch. Hier und da lichteten sich die Reihen der Bäume, und ihnen zeigte sich ein Bachlauf oder eine Flur, die in allen Farben blühte, dann wieder tauchten sie in die langen Schatten der Tannen ein.

»Vielleicht ist die Straße ja verzaubert und hört nie wieder auf«, sagte Jula.

»Bitte nicht!«, stöhnte Claus, dem während der letzten Kilometer ein säuerlicher Geschmack in den Mund gestiegen war.

Aber da kam Jula, entzückt von ihrem Gedanken, in Fahrt. »Vielleicht ist hier alles verzaubert! Die ganze Gegend. Und wir kriegen auch gerade Zauberkräfte.«

»Pff, Zauberkräfte, du spinnst ja«, sagte Nick. Er war fast drei Jahre älter und hatte für die Kindereien seiner Babyschwester nichts übrig.

Jula funkelte ihn an. »Du kriegst vielleicht keine, aber ich!«

Nick drückte ungerührt Brille und Nase ans Seitenfenster, maß die Höhe der Tannen und den Umfang der Ulmen und vertiefte sich in seine eigenen Vorstellungen, die alle mit der wilden Wildnis dort draußen zu tun hatten, mit Geheimnissen und gefährlichen Abenteuern. Er war ganz Sohn seines Papas und voller Vertrauen, dass es kein besseres Urlaubsziel geben konnte als das von ihm gewählte. Sein Papa würde wissen, wo man etwas erleben konnte, dieses Aufregende, nach dem Nick sich so oft sehnte (ungefähr so oft, wie er sich nach seinem Papa sehnte), und auf das er sich nun schon seit Wochen freute. Nur Claus selbst wurde gerade durch gewisse Magenprobleme in seiner Vorfreude gedämpft.

»Hättest du vielleicht noch ein Bonbon für mich?«, wandte er sich an Agda. »Sonst steh ich diese Kurven nicht durch.«

»Ich will auch eins!«, rief Jula und beschwor direkt ihre neu erworbenen magischen Fähigkeiten herauf, um ein grünes in die Tüte zu hexen. »Nämlich ein …«

»… oranges.« Agda reichte ihr ein Bonbon, noch ehe Jula irgendetwas verwandeln konnte.

»Es wird in meinem Bauch grün«, verkündete sie darum und stopfte es in den Mund.

Danach sagte keiner mehr was. Denn vor ihren Augen riss der Wald auf, gab eine Ortschaft mit weißen Häusern und zwiebelbedachtem Kirchturm frei, und hinter allem erhob sich spitz wie ein angewinkeltes Knie der Krähenriegel.

Es dauerte genau siebeneinhalb Minuten, bis Nick Emmerich den Schlüsselbund fand.

Zuerst hatten sie alle reglos dagestanden und geguckt, während die Wärme des Tages, die noch in der Wiese festhing, an ihnen hochkroch und die Grashüpfer um ihre Waden sprangen.

»Oooh!«, rief Jula, nachdem sie lange genug geguckt hatte, und hüpfte einem besonders dicken Grashüpfer hinterher. »Ich geh mal gucken, wo die Krähen sind! Krähen sind Zaubervögel!«

Damit war der Bann gebrochen. Mit langen Schritten ging Claus zur Haustür, die an der Hügelseite des Neubaus gleich in die erste Etage führte, aber sie war verschlossen, und von einem Schlüssel war keine Spur. Also stapfte er weiter zum alten Teil des Hauses und betrachtete den schweren Eisenriegel, der mithilfe eines Vorhängeschlosses die andere Tür versperrte. »Diese Verwalterin kann uns doch nicht einfach ausschließen, nur weil wir uns ein kleines bisschen …« Er schob die Finger hinter den Riegel und ruckelte. Das allerdings brachte nichts außer einem umgeknickten Mittelfingernagel, und ein beherzter Tritt ließ die Tür nicht mal zittern. Was auch nichts brachte, war Claus’ anschließender Versuch, dem leergedaddelten Smartphone doch noch ein Telefonat zu entlocken. Oder sein durch die als Trichter an den Mund gelegten Hände verstärkter Ruf: »Frau Neuuuuu-mül-ler, lassen Sie uns reeeeiiiin!« Die Worte verloren sich spätestens hinter den Johannisbeersträuchern, wo die Wiese sich sanft hangabwärts neigte, etwa dreieinhalb Kilometer vom oberen Ortsrand entfernt. Also steckte Claus den schmerzenden Finger in den Mund, drückte mit den Schneidezähnen gegen den Nagel und begann, gründlich über das Problem nachzudenken, denn (so viel wusste er aus eigener Anschauung) jede Widrigkeit eröffnete Raum für interessante Gedankenexperimente.

Agda beobachtete ihren Papa. Als ihr klar wurde, dass er in eine seiner Grübeleien verfallen war, die ihren eigenen Erfahrungen gemäß zu nichts führten als langen Wartereien, wandte sie sich an Nick. »Diese Frau Neumüller hat bestimmt irgendwo den Schlüssel hinterlegt. Wer ihn zuerst findet!« Und während ihr Bruder losstürmte, um als weltbester Schlüsselfinder aus diesem kleinen Wettkampf hervorzugehen, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Nick würde sich um die Sache kümmern. Als angehende Wing Tsun-Kämpferin hatte sie nicht vor, ihre Kräfte für derartige Kinkerlitzchen zu verpulvern. Lieber wollte sie die Zeit nutzen, um schon mal das Grundstück zu erkunden. Natürlich lag es nicht in Florenz, nicht mal in der Nähe von Florenz oder einer anderen interessanten Stadt. Außer ihrem Papa verirrte sich vermutlich keine Menschenseele freiwillig hier hoch – erst recht keine Menschenseele in ihrem Alter, die witzig und cool und großstädtisch war. Aber es war hübsch auf dem Krähenriegel, das musste Agda zugeben. Oberhalb des Schotterwegs führte die Wiese zum Waldrand hinauf. Auf halber Höhe standen drei verwildert anmutende Bienenstöcke, um die sich die Bienen mit unaufhörlichem Gesumm tummelten, weswegen sie lieber den schmalen Pfad zur Steinwanne einschlug und die Hände ins eiskalte Wasser tauchte. Irgendwo in der Nähe rief ein Buchfink, es raschelte und zirpte, und wenn sie die Finger bewegte, mischte sich in das Konzert ein leises Plätschern.

»He, du suchst ja gar nicht!«, rief Nick ihr zu.

Agda reagierte nicht. Sie blickte auf die hellen Flecken, die die Abendsonne auf die Wasseroberfläche malte, und spürte, wie das klebrige Gefühl wich, das die lange Autofahrt in ihr hinterlassen hatte. Dann beugte sie sich vor und tauchte das Gesicht ins goldene Geglitzer. Dabei fiel ihr ein, was Jula über die Sache mit den Zauberkräften gesagt hatte, und für einen kurzen und sehr geheimen Moment wünschte sie sich, auch noch mal klein zu sein und sich alles nach Lust und Laune zurechtzuhexen. Zumindest für diesen Sommer, von dem man in ihrem Alter, wie sie befürchtete, nicht allzu viel erwarten konnte.

»Du kannst auch da drüben im See baden, Agda, da ist mehr Platz drin als in der Wanne«, sagte Julas Stimme prompt hinter ihr.

Mit einem Prusten zog Agda den Kopf wieder hoch. »Wir haben einen eigenen See?«, rief sie und dachte an den funkelnagelneuen Streifenbikini in ihrem Koffer.

»Natürlich haben wir einen!« Es klang, als wäre diese Tatsache Julas persönliches Werk. »Nur Krähen sind keine da.«

»Krähen, pfff!«, sagte Agda. »Zeig her, den See!«

»Der See ist ein Stückchen entfernt«, mischte sich da ihr Papa ein, »ich schätze mal, eine Viertelstunde durch den Wald. Was wir gleich hinterm Haus haben, würde ich eher einen Weiher nennen oder einen Tümpel. Aber in der Sache hat Jula schon recht, Agda, etwas mehr Wasser als in dieser Wanne ist allemal drin … wenn auch vermutlich unmenschlich kaltes Quellwasser. Solltet ihr also baden wollen, dann möglichst ohne zu ertrinken oder den Erfrierungstod zu sterben, denn retten kann ich euch im Augenblick nicht. Ich muss noch mal in den Ort runterfahren und diese verflixte Verwalterin fragen, auf welchem Weg wir am besten ins Haus eindringen sollen, wenn sie uns schon partout keinen Schlüssel überlassen will.«

Das war der Moment, in dem Nick den Schlüsselbund entdeckte. Er war ums Haus gegangen, um sicherheitshalber selbst noch mal die Haustür zu überprüfen. (Vielleicht gab es dort eine Fußmatte, unter der der Schlüssel versteckt war? Einen Blumentopf, in dem er lag? Ein Paar Gummistiefel?) Erst hatte er nichts entdecken können. Aber dann war er mehrere Schritte rückwärts in die Wiese hinein gegangen, um sich einen Rundumblick zu verschaffen, und war dabei zufällig draufgetreten.

»Ich hab ihn!«, brüllte er und hob den Schlüsselbund aus dem hoch aufragenden Gras neben den Steinplatten, die als verstreute Stufen hinauf zur Tür führten. »Er lag hier so rum. Was krieg ich dafür, Agda?«

»Ein Dach überm Kopf!«, rief Agda und lachte.

»Und was zu essen!«, rief Jula. »Oder, Papa? Wir haben doch noch was zu essen in der Tasche?«

»Das eine oder andere«, sagte Claus und wunderte sich über den seltsamen Brauch, verspätete Feriengäste mit einem auf den Boden geschmissenen Schlüssel zu begrüßen. Bayrisch!, vermutete er. Noch ein Weilchen dachte er vor sich hin und stolperte schließlich hinter seinen Töchtern her, die sämtliche Krähen, Wannen und Weiher vergessen hatten und zum Haus hinübergeflitzt waren. Als er ankam, hatte Nick die Tür längst aufgeschlossen und war mit Agda und Jula nach drinnen verschwunden. Warme, etwas stickige Luft drang Claus entgegen, das kleine elektronische Geräusch, das Agdas Smartphone machte, wenn man es an den Strom anschloss, und Julas Stimme, die rief: »Guckt mal, hier liegt ’ne zusammengeschrumpelte Katze!«

Er holte Luft. Danach trat auch er ins Haus.

Vielleicht hatte das Haus auf sie gewartet. Vielleicht behagte es ihm nicht leerzustehen, dort oben auf seinem Berg, vielleicht konnte es auch nicht anders, als traumlos zu schlafen, bis es sich endlich mit Stimmen und Leben füllte. Jedenfalls begann es zu leuchten, als die Familie Emmerich in ihm Einzug hielt. Die Sonne schien schräg in den großen Wohnraum mit dem Kachelofen neben dem französischen Bett. Und nachdem Claus in der Küchenecke eine volle Flasche Blutwurz und eine Emaillekanne gefunden und sich als erste Amtshandlung einen kleinen Schnaps ein- und einen kräftigen Grünen Tee aufgegossen hatte, (ersteren, um seinen immer noch aufgewühlten Magen zu beruhigen, den zweiten, um seine Gedanken zu beleben), stiegen die Dampfschwaden leuchtend in die Höhe.

Willkommen!, dachte er, wobei nicht ganz klar war, ob er das Haus meinte oder sich selbst.

Agda, Nick und Jula hatten anderes im Sinn, als abzuwarten und Tee zu trinken – so irre, im Sommer brühheiße Getränke zuzubereiten, war ohnehin nur ihr Papa.

Nachdem Nick die Tür geöffnet hatte, war er sofort losgezogen, um sich im Haus umzusehen. Er war einmal durch den Wohnraum gelaufen, die schmale, gewundene Treppe hinuntergerannt, war durch einen engen Flur mit Wandregal geschlüpft, im überraschend geräumigen Badezimmer gelandet und weiter ins Nebenzimmer gestratzt, in dem in Reih und Glied drei Betten auf einem kühlen Fliesenboden standen – und ihnen gegenüber ein Koloss von einem Kleiderschrank. Zurück im Bad hatte er die Zwischentür zum alten Teil des Hauses untersucht.

Wenn man sie aufschloss (der Schlüssel steckte!), gelangte man in einen Gang, der links auf ungedecktem Erdboden zur alten Haustür führte, rechts an allerlei Kisten, Werkzeugen und Gartengeräten vorbei zu einer langen Steiltreppe, die offenkundig bis auf den Dachboden reichte. Direkt gegenüber gab es eine weitere Tür, durch die es zum eigentlichen Wohnbereich gehen musste – beziehungsweise zu dem, was davon übriggeblieben war. Nick wollte schon drauflosmarschieren, aber dann wurde er doch auf Julas aufgeregtes Gerede aufmerksam. Er hatte es schon eine ganze Weile gehört, aber nun bekam es eine Eindringlichkeit, die er nicht mehr ignorieren konnte.

»Was hat sie nur die ganze Zeit mit einer Katze?«, murmelte er, lief durchs Badezimmer zurück und die Treppe hoch zu den anderen.

Die Katze war das Zweite gewesen, was Jula oben im Wohnraum entdeckt hatte. Das Erste war ein Igelball mit regenbogenbunten Gumminoppen, den sie sich sofort von der Fensterbank geschnappt, ein paar Mal hochgeworfen und wieder aufgefangen hatte, bis er in hohem Bogen durch den Raum geflogen und unters Bett gekullert war. Als sie sich auf die Dielen legte, um ihn hervorzuholen, befand sich wenige Zentimeter daneben die Katze. Jula gab dem Ball einen Schubs, der ihn wieder unter dem Bett hervor beförderte, und zog dann die Katze an einer der erstarrten Vorderpfoten ans Tageslicht.

Sie war in der Tat zusammengeschrumpelt. Darüber hinaus war sie verstaubt und so tot, wie eine Katze nur tot sein konnte.

»Mumifiziert«, stellte Claus fest, als Jula das papierleichte Tier nach eingehender Betrachtung und ausgiebiger Untersuchung durchs Zimmer trug, ihren Papa mehrfach ermahnte, vorsichtig damit umzugehen, und es neben seine Teetasse legte.

»Ekelhaft!«, sagte Agda, deren Smartphone soeben wieder zum Leben erwacht war und auf dem nun die Nachrichten hereinbimmelten. »Tu die weg hier!«

Jula ignorierte Agdas Aufforderung. »Wieso ist die Katze mumifiziert?«

»Da fragst du mich was«, sagte Claus.

»Mama will wissen, ob wir glatt durchgekommen sind«, warf Agda ein. »Sie hat sich schon viermal gemeldet.«

»Im alten Ägypten galten Katzen als heilige Tiere und wurden mitunter mumifiziert«, sagte Claus. »Und dann gab es natürlich Bastet, die Katzengöttin. Aber in Bayern?«

»Sind wir?«, hakte Agda nach.

»Och, das hier war dann bestimmt ’ne heilige bayrische Katze«, sagte Jula. »Und die heißt … Baystet.«

»Ich schreib Mama einfach, wir sind, oder, Papa?«, kam es von Agda. »Sonst fragt sie noch zehnmal nach.«

»Sind was?« Claus sah sie verwirrt an.

Kurz war es still, nur auf der Treppe waren stampfende Schritte zu hören.

»Die Nachricht ist raus«, sagte Agda. »Wolltest du eigentlich jetzt noch diese Frau Neumüller anrufen?«

»Ach ja, Frau -«

»Zeig mal her, Jula!«, rief Nick, der gerade im Wohnraum angekommen war und zum Esstisch stürzte. Beziehungsweise auf den Esstisch stürzte, als sein linker Fuß den Igelball erwischte und etwas zu stürmisch abrollte.

»Mein Tee!«, konnte Claus gerade noch rufen. In der nächsten Sekunde ergoss sich eine kleine, dampfende Flut über die Tischplatte und durchweichte den himmelblauen Tischläufer, den Untersetzer aus Stroh und Claus’ Brieftasche, bevor sie zielsicher auf seine Oberschenkel hinunterplätscherte. Nur Baystet schoss, gerettet durch Julas blitzschnelle Hand, staubtrocken und sicher in die Höhe.

»Ich rufe sie an«, seufzte Claus, rieb sich das nasse, heiße Bein und befand, er hätte gleich beim Schnaps bleiben sollen. Frau Neumüller zupfte an einem der Härchen, die aus ihrem Kinn sprossen, und sah von einem Gesicht zum anderen. Am Smartphone hatte sie noch herzlich geklungen. Jedenfalls so herzlich, wie man es vor dem Hintergrund einer fast dreistündigen Verspätung erwarten konnte, obwohl sie zweifellos wenig begeistert gewesen war, die Fahrt auf den Krähenriegel ein zweites Mal antreten zu müssen. Auch die Begrüßung hatte allen Regeln der Höflichkeit entsprochen. Doch dann hatte sie angefangen, näher hinzuschauen und die Familie Emmerich ins Visier zu nehmen: das kleine Mädchen mit der toten Katze, die sie für längst entsorgt gehalten hatte, den Jungen mit der leicht verrutschten Brille, das große Mädchen, das in seltsam kämpferischer Haltung dastand, und den Mann in der feuchten Hose. »Also«, sagte sie schließlich. »Erst amal zum Ofen. Ham’S Erfahrung mit Holzfeueröfen?«

»Ich, äh …« Claus errötete. Er war sich nicht sicher, ob seine bisherigen Erfahrungen im Feuermachen dem entsprachen, was eine bayrische Verwalterin mit prallem Bizeps darunter verstand. Schon gar nicht, nachdem sie ihn auf eine Weise gemustert hatte, die fundamentale Zweifel zum Ausdruck brachte. »Glauben Sie, bei dieser Witterung ist es nötig einzuheizen?«

»Papa und ich haben schon mehrmals gegrillt«, klinkte Nick sich ein. »Auf seinem Balkon. Die Nachbarn hatten auch nicht sehr viel dagegen, und eine Stichflamme hatten wir nur einmal, aber da hat sich keiner verbrannt, bloß Papa ein bisschen.«

»Schön.« Frau Neumüller räusperte sich. »Mir schaun erst amal weiter. Grillen können’S hier übrigens auch, Sie ham die Feuerstelle im Garten sicher gesehen. Und was des Einheizen betrifft, wird’s wahrscheinlich net nötig sein.« Mit diesen Worten machte sie eine halbe Drehung auf den Fersen und marschierte zur Treppe.

»Der wo obm schlaft, muss sich auf der Stiegen in acht nehmen, wenn er bei der Nacht amal muss«, fügte sie im Runtergehen hinzu. »Im Dunkeln is die doppelt steil. – Die Kinder schlafen doch unten?«

Agda hatte die ganze Zeit stillschweigend zugehört. Und obwohl sie ein wenig Mühe hatte, Frau Neumüllers sprudelndem und rollendem Vortrag Wort für Wort zu folgen, war ihr nicht entgangen, dass sie ihnen nicht über die Maßen freundlich gesinnt war, sondern sie großspurig, ja, geradezu herablassend behandelte. Fast, als wären Großstädter wie sie blöde und ungeschickt. Und wenn Agda Emmerich eines nicht mochte, dann war es, für blöde und ungeschickt gehalten zu werden, schon gar nicht von dieser hässlichen Schachtel vom Dorf. Immerhin war sie eine angehende Kampfkünstlerin und deutlich cooler als irgendwelche Hinterwäldler.

»Die Kinder schlafen unten.« Mit einem eleganten Move fädelte sie sich an der Verwalterin vorbei und empfing sie mit verschränkten Armen am unteren Ende der Treppe. »Deswegen können Sie uns jetzt mal unser Zimmer zeigen, ich war noch zu beschäftigt, um es mir anzusehen.«

Frau Neumüller runzelte die Stirn. »Schaust es dir halt selbst an, da gibt’s fei net viel zu sagen. Und auch des Badezimmer. Is ja immer des Wichtigste für so a junges Madl.« Sie drehte sich zum Rest der Familie um, der ihr ordnungsgemäß die Treppe hinunter folgte, führte sie dann durch den kleinen Flur und hinein ins Bad. »Mir gehen derweil zum Zwischengang, da hat’s die ganzen Gerätschaften. Besen, Luftmatratzen, Roste für den Grill …«

»Und da geht’s zum alten Hausteil«, wusste Nick.

Wieder legte sich Frau Neumüllers Stirn in Falten. »Ja, aber da bleibst besser draußen, der is net mehr bewohnbar. Alles runtergekommen mit den Jahren. Da hat amal des Katzenviech rumgelegen, als noch Feriengäste rein dürfen ham, unter einer losen Diele. Is da wohl krepiert und vertrocknet, und dann hat’s einer rumgeschleppt und liegen lassen. Können’S gern wegschmeißen.«

»Das ist eine heilige Katze!«, protestierte Jula.

»Und das Badezimmer ist nicht immer das Wichtigste für ein junges Madl!«, bemerkte Agda.

Claus, der als Letzter unten angekommen war, berührte beschwichtigend die Schulter seiner Ältesten. »Es wäre sehr nett, wenn Sie uns die Geräte zeigen könnten«, wandte er sich dann an Frau Neumüller. »Und wir werden die renovierungsbedürftigen Räume natürlich nicht betreten.«

»Och!«, kam es von Nick. »Zumindest mal gucken, Papa, ja?«

»Allerdings«, sagte Agda in ungewohnter Einigkeit mit ihrem Bruder. Alles, was dieser eingebildeten Bayerin etwas entgegensetzte, erschien ihr richtig.

»Schließlich haben wir ein Haus gemietet, kein halbes Haus«, sagte Jula. »Und wenn da sogar Katzen rumliegen …«

Frau Neumüllers Stirn war ein ganzes Faltenmeer. »Herrschaftszeiten, dann zeig i’s euch halt, und ihr werdet’s schon sehen, was des für a Bruchbuden is!«

»Ja, nein, wir …« Unglücklich sah Claus zwischen Frau Neumüller und seinen Kindern hin und her und fragte sich, wie innerhalb kürzester Zeit ein Krieg zwischen ihnen hatte ausbrechen können. Er fragte sich auch, ob er selbst Teil dieses Krieges war (der Blick der Verwalterin ließ es vermuten). Fragte sich, ob seine Kinder genauso aufmüpfig wären, wenn nicht er, sondern ihre Mutter hier neben ihnen stünde. Fragte sich, ob Frau Neumüller in diesem Fall nicht selbst sehr viel höflicher wäre. Fragte sich zuletzt, was überhaupt vor sich ging, wenn Menschen einander zum ersten Mal sahen, jeder als der, der er eben war. Und während er all dies durchdachte, verpasste er fast den Anschluss. Als er aufblickte, waren alle außer ihm durch die Zwischentür aus dem Badezimmer verschwunden.

»Wollten’S jetzt die Gerätschaften sehen oder net?«, rief Frau Neumüller.

»Ich komme«, murmelte Claus.

Genüsslich schob Agda sich eine Gabel aufgewickelter Nudeln in den Mund. Zwei Packungen Spaghetti und ein Glas fertig gewürzte Tomatensoße hatten sie im Gepäck gehabt, und da kein Mitglied der Familie Emmerich Lust gehabt hatte, sich noch an diesem ersten Abend auf dem Krähenriegel zum Einkaufen aufzumachen, zumal im Ort vermutlich ohnehin längst alle Bürgersteige hochgeklappt waren, gab es eben Spaghetti mit Tomatensoße.

»Mit einer Sache hatte sie ja recht, diese Frau Neumüller«, sagte Agda kauend. »Das ist echt ’ne Bruchbude da drüben.«

Niemand widersprach ihr. Jula hatte, nachdem sie keine weiteren Katzen hatte finden können, schnell das Interesse an den dunklen, muffigen Räumen verloren, und Nick hatte gegen die Gänsehautschauer angekämpft, die ihm bei der Besichtigung die Arme hinunterrieseln wollten. Die niedrigen Decken und rußigen Wände, die vielen toten Fliegen auf den Fensterbänken, der klebrige Staub und die Spinnweben hatten ihm nicht behagt. Natürlich hatte er keine Angst gehabt, schließlich war er ein Mann auf der Suche nach Abenteuern, aber er hatte sich gewissermaßen … geekelt. Abenteuer befanden sich ohnehin draußen, wie jeder wusste, in der wilden Welt und der rauen Natur, nicht in so einem abbruchreifen Drecksloch. Und als Frau Neumüller darauf gedrängt hatte, den alten Hausteil zu verlassen und noch einen kurzen Blick in den Garten und auf den Weiher zu werfen (er war unmenschlich kalt, weshalb Agda alle Badepläne auf den See verschoben hatte) hatte er genau wie seine Schwestern nur noch der Form halber ein kleines bisschen dagegengehalten.

Noch weniger Einwände hatten Agda, Nick und Jula hervorgebracht, als ihr Papa gleich nach Frau Neumüllers Abfahrt vorgeschlagen hatte, sich in ihre hübsche, helle Küche zurückzubegeben und Nudeln zu kochen.

»Alles Weitere machen wir morgen«, hatte er gesagt. »Ins Dorf runterfahren und einkaufen, den See suchen, die Gegend erkunden …«

Gegend!, hatte Agda gedacht.

Aber dann war sie ihm genau wie ihre Geschwister gefolgt, hungrig und ein wenig müde von ihrem Kampf, und als sie nun eine neue Fuhre Spaghetti aufwickelte, spürte sie eine wohlige Zufriedenheit in sich aufsteigen. Nudeln, die Abendsonne im Nacken und die Nachrichten ihrer Freundinnen auf den Knien.

Ich glaub, es ist schön hier!, schrieb sie Samira unter der Tischplatte, nachdem sie sich eine Reihe Fotos aus dem kleinen Haus in Burdur angeschaut hatte. Nur der Klingelton, der ihr plötzlich entgegensprang, ließ sie zusammenfahren.

»Das ist schon wieder Mama«, sagte sie. »Stimmt, sie hat geschrieben, dass ich mal durchrufen soll. Bei uns ist doch alles in Ordnung?«

»Außer dass du beim Essen am Smartphone bist«, bemerkte Claus.

Agda war schon drangegangen. »Hier ist alles okay!«, rief sie, ehe ihre Mama überhaupt fragen konnte.

Aber damit gab sich eine Saskia Emmerich nicht zufrieden. Zu lange hatte Agda ihre Kontaktversuche ignoriert, hatte sie schließlich mit einem knappen Sind jetzt da, alles gut gelaufen abgespeist.

»Jetzt erzähl aber mal!«, sagte sie. »Seid ihr auch so schön untergebracht wie wir? Und was werdet ihr zu Abend essen?«

»Wir essen schon«, gab Agda zurück. »Nudeln.«

Saskia schwieg.

»Mit Soße«, sagte Agda.

Saskia schwieg noch immer.

»Und mit gemischtem Salat«, fügte Agda da hinzu.

Nick blickte sie an, nur einen winzigen Moment überrascht. Ihm war genauso bewusst wie Agda, was ihre Mama in Florenz hören wollte, ihre Mama, die vermutlich alles, was sie über ihren Urlaub auf dem Krähenriegel erfuhr, brühwarm an Ulrike weitererzählen und sich deren ehrliche Freundinnenmeinung dazu anhören würde.

»Na, das ist ja schön«, sagte Saskia. »Und die Unterkunft?«

»Alles tiptop hier.«

Jula begann zu kichern. Sie machte sich weniger Gedanken über die Wünsche und Befürchtungen ihrer Mama, sondern dachte an den Dreck im alten Teil des Hauses, den ihre Schwester offenbar ganz vergessen hatte.

»War das Jula?«, fragte Saskia.

Agda warf Jula einen strengen Blick zu.

»Wie geht es ihr? Kommt sie gut mit der Situation zurecht? Für länger als ein paar Tage war sie ja noch nie von mir getrennt.«

»Sie kommt zurecht und spielt ganz schön«, sagte Agda, und Jula kicherte noch vernehmlicher. »Ich hab ’ne tote Katze gefunden!«, rief sie.

»Was sagt Jula?«, fragte Saskia. »Gib sie mir doch mal.«

Agda witterte Gefahr. Wenn Jula erst mal anfing draufloszuquatschen, würde ihre Mama keine Ruhe mehr geben, so viel war abzusehen. Ganz egal, wovon das kleine Biest anfangen würde, Saskia würde sich alles Mögliche zurechtlegen und glauben, sie wären im Bayerischen Wald nicht gut aufgehoben – genau wie sie früher oder später noch immer zu dem Schluss gekommen war, sie wären nicht gut aufgehoben, wenn sie mit ihrem Papa allein waren.

»Jula hat nur was von einer Katze erzählt, die wir gesehen haben«, sagte sie darum. »Beim … Einkaufen.«

»Du sollst sie mir bitte geben!«, sagte Saskia mit einem Ton, der verriet, dass sie sich nicht würde abwimmeln lassen, und wenn dieses Telefonat noch fünf Stunden dauerte.

»Mama will dich sprechen.« Agda ließ ihren Blick noch eine Spur strenger ausfallen.

Jula streckte den Arm über den Tisch.

»Tschüss dann«, sagte Agda und reichte das Smartphone ihrer Schwester. Im nächsten Moment hörte sie sie schon rufen: »Wir essen gar keinen Salat, und weißt du, was diese doofe Frau Neumüller gesagt hat? Ich soll die tote Katze in den Müll schmeißen!«

Agda und Nick sahen sich an.

Agda seufzte.

Nick seufzte ebenfalls.

Nur Claus schwieg vor sich hin und aß seine Nudeln, während Jula fröhlich weitererzählte.