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Die meisten Leute erleben in einem ganzen Leben nicht, was den fünf Geschwistern in diesem einen heißen Sommer in Vieux-Moutiers widerfährt, da sind sich die beiden ältesten Joss und Cecil einig. Ihre Mutter ist unerwartet erkrankt, und die Kinder sind in dem in die Jahre gekommenen Hotel in der Champagne auf sich allein gestellt. Einzig der charmante Eliot nimmt sich ihrer an. Alle im Hotel, Erwachsene wie Kinder, erliegen seinem Charme; die kultivierte Mademoiselle Zizi, Besitzerin des Hotels, buhlt ebenso um Eliots Gunst wie die 16-jährige Joss, die plötzlich kein Kind mehr ist und den Männern den Kopf verdreht. Die Marne fließt still und langsam vorbei. Erst als die reifen Mirabellen von den Bäumen fallen, beginnen alle zu verstehen, dass auch dieser Sommer irgendwann enden muss.
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Seitenzahl: 336
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Rumer Godden
Unser Sommer im Mirabellengarten
Roman
Aus dem Englischen von Elisabeth Pohr
Kampa
Immer wieder, während des ganzen heißen Augusts in Frankreich, überaßen wir uns an den Mirabellen. Joss und ich fühlten uns schuldig. Wir waren noch in dem Alter, in dem wir Gier für ein kindliches Laster hielten, und diese Annahme gab unserem Schuldgefühl einen Beigeschmack von Hoffnungslosigkeit, denn bis dahin hatten wir geglaubt, dass wir unsere Laster mit den Jahren verlieren würden. Aber keines von ihnen verschwand. Hester schämte sich natürlich gar nicht, Will – der damals noch Willymaus genannt wurde – und Vicky waren noch zu klein, um auch nur die untersten Zweige zu erreichen, aber sie fanden die heruntergefallenen Früchte im Gras. Uns allen war es streng verboten, auf die Bäume zu klettern.
Der Garten von Les Œillets war dreigeteilt: Zuerst kam die Terrasse und der von Kieswegen durchzogene Garten, der das Haus umgab; dahinter und durch eine niedrige Buchsbaumhecke von ihm abgetrennt lag die Wildnis mit ihren Statuen und zugewachsenen Pfaden, und zwischen der Wildnis und dem Fluss der von hohen Mauern umgebene Obstgarten. Ein blau gestrichenes Tor am Ende der Mauer führte zum Ufer des Flusses.
Uns erschien der Obstgarten riesengroß, und er mag es auch wirklich gewesen sein, denn die Mirabellenbäume allein bildeten sieben Alleen. In dem hohen Gras unter ihnen lag selbst in diesem brennend heißen Sommer den ganzen Tag lang der Tau. Die Bäume waren alt, krumm, mit Flechten und Moos bedeckt, aber ihre Früchte werde ich nie vergessen. Im Speisesaal des Hotels baute sie Mauricette auf den mit Weinblättern ausgelegten Desserttellern zu wundervollen Pyramiden auf. »Reines-claudes«, sagte sie deutlich, sooft sie den für uns bestimmten Teller auf den Tisch stellte, damit wir uns den Namen der Früchte einprägten, aber wir hatten uns an ihnen schon vorher so satt gegessen, dass wir nicht zugriffen. Im Obstgarten brauchten wir die Früchte nicht zu pflücken – sie fielen von den Bäumen in unsere Hände.
Im Schatten sah man, dass die Mirabellen mit einem blassblauen Reif bedeckt waren, aber in der Sonne leuchtete das Fruchtfleisch bernsteinfarben durch die hellgrüne Haut. Wenn diese geplatzt war, schmeckte der Saft besonders warm und süß. Kein Wunder, dass wir, die aus den Straßen und kleinen Vorgärten von Southstone kamen und noch nie einen Obstgarten gesehen hatten, viel zu viele aßen.
»Die übliche Sommerkrankheit«, sagte Mademoiselle Zizi.
»Magenverstimmung«, sagte Madame Corbet.
Ich weiß nicht, ob es das eine oder das andere Leiden war, aber von da an hieß es in unserer Familie nur der »Mirabellensommer«.
»Wenn jemand die Geschichte dieses Sommers aufschreiben sollte, dann du«, sagte ich zu Joss, »denn sie ist hauptsächlich dir passiert.« Aber Joss sagte: »Ausgeschlossen«, wie sie immer alles ablehnt oder mit sich allein ausmacht, sodass niemand weiß, was sie wirklich denkt.
»Du bist es doch, die so gern in Worten schwelgt«, fuhr sie fort. »Und außerdem …«, sie machte eine kleine Pause, »… ist sie dir genauso passiert wie mir.«
Darauf wusste ich keine Antwort. Ich bin jetzt erwachsen – oder doch beinahe erwachsen –, »und wir können es noch immer nicht vergessen!«, sagte Joss.
»Die meisten Menschen erleben … das … nicht einmal in dreißig oder vierzig Jahren«, sagte ich zu unserer Verteidigung.
»Die meisten Menschen erleben es überhaupt nicht«, sagte Joss.
Wenn ich das, womit ich gerade beschäftigt bin, für einen Augenblick unterbreche, wann immer ich still sitze oder nachts wach liege, was seit damals immer wieder vorkommt, und meine Gedanken kreisen lasse, bin ich zurück in Les Œillets. Ich rieche noch immer den heißen Staub und den kühlen Putz der Mauern, den Duft von Jasmin und sonnenbeschienenen Buchsbaumblättern und von Tau im hohen Gras, das Aroma von Monsieur Armands Kochkünsten, das Haus und Garten erfüllte, und die Gerüche von dem Haus selbst, nach feuchter Wäsche und Möbelpolitur, in die sich immer auch ein bisschen der Gestank der Kanalisation mischte. Ich höre noch immer die Geräusche, die anscheinend nur in Les Œillets zu hören waren: das Rauschen der Pappeln entlang der Hofmauern, das Plätschern einer Wasserleitung in der Küche, vermischt mit dem Klang schriller französischer Stimmen, das dumpfe Getrommel, das Rex mit seinem Schweif auf dem Fußboden vollführte, und andere Klopflaute, wenn jemand unten am Fluss Wäsche wusch; das Tuten der flussaufwärts fahrenden Schleppkähne und Mauricettes tonlosen Singsang – sie sang immer durch die Nase –, das rasche, schnatternde Französisch, in dem sich Toinette und Nicole von Fenster zu Fenster im ersten Stock miteinander unterhielten, die fernen, gedämpften Geräusche des Städtchens und – ganz nah – den Plumps eines springenden Fisches oder einer zu Boden fallenden Mirabelle.
»Aber ihr seid doch sehr froh gewesen, wieder zurückzukommen«, sagte Onkel William.
»Wir sind nie zurückgekommen«, sagte Joss.
Das Sonderbare an der Sache ist, dass Joss und ich, als alles in Les Œillets vorüber war, noch immer sechzehn und dreizehn Jahre alt waren – genauso alt wie an jenem erstickend heißen Abend Anfang August, an dem wir ankamen. Wir – das waren Mutter, Joss, Hester, die beiden Kleinen, Willymaus und Vicky, und ich: Cecil. Es muss neun Uhr abends gewesen sein.
»Warum kommt ihr so spät?«, fragte Mademoiselle Zizi. »Tagsüber verkehren genug Züge.«
»Wir wollten in der Gare de l’Est warten, bis sich Mutters Zustand gebessert hat.«
»Aber er hat sich nicht gebessert«, sagte Willymaus.
»Und wir hatten den ganzen Tag nichts zu essen«, sagte Vicky. »Nichts als Brot und ein bisschen scheußliche Wurst.«
»Und die Orangen, die wir auf die Reise mitgenommen hatten«, sagte Hester, die in allen Dingen sehr genau ist. »Zwölf Orangen. Wir haben sie im Zug gegessen.«
Mademoiselle Zizi schauderte, und mich ließ der Gedanke, in die Kategorie jener Familien eingeordnet zu werden, die im Zug Orangen essen, vor Scham erröten.
Vor dem Bahnhof standen keine Taxis, aber nach einer verweifelten Viertelstunde, an die ich nicht gern denke – der ganze Tag war wie ein böser Traum gewesen –, fand sich ein Träger, der bereit war, unser Gepäck auf einem Handkarren ins Hotel zu bringen.
Als unsere kleine Prozession den Bahnhof verließ, begann es zu dämmern. Männer kamen vom Angeln zurück, Frauen standen plaudernd in den Haustüren oder in ihren sonderbar ordentlich angelegten Gärten, wo Gladiolen und Zinnien, die im Zwielicht seltsame Färbungen annahmen, hinter Eisengittern zu schweben schienen. »Franzosen haben keine Gärten«, sagte Onkel William später einmal, »sie züchten Blumen.« Kinder spielten auf den Straßen. Willymaus und Vicky starrten sie verwundert an. Ich glaube, sie bildeten sich ein, die einzigen Kinder auf der ganzen Welt zu sein, die zu so später Stunde noch nicht im Bett waren.
Rings um uns war der Trubel der fremden Stadt, der fremden Häuser und fremden Straßen. Auch wir wurden angestarrt, aber wir fühlten die Blicke der Leute nicht. Wir fühlten gar nichts. Unsere Körper schienen nicht zu uns zu gehören, sondern getrennt von uns weiterzulaufen, während wir wie die Blumen im Dämmerlicht schwebten. Vielleicht waren wir zu müde, um irgendetwas fühlen zu können.
Der Handkarren holperte über das Straßenpflaster, das wir als unverkennbar französisch erkannten, obwohl wir nie zuvor auf solchem Pflaster gegangen waren. Sooft der Träger in eine neue Straße einbog, stöhnte Mutter leise auf. Der Weg erschien uns endlos, und als wir schließlich die Pforten des Hotels erreichten, brannte bereits Licht in den Häusern, und die meisten Türen waren geschlossen. In Les Œillets wurden die Hunde jeden Abend um neun Uhr ins Freie gelassen, die äußeren Tore geschlossen, und nur eine kleine Pforte blieb offen, durch die der Handkarren nicht einfahren konnte. Wir mussten, noch immer von unseren Körpern losgelöst, warten, während der Träger läutete.
Wir hörten das Klingeln und gleich darauf tiefes Hundegebell. Damals kannten wir Rita und Rex natürlich noch nicht, aber wir wussten sofort, dass es das Bellen großer Hunde war. Zwei Stimmen geboten ihnen Ruhe, eine schrille weibliche und die tiefere Stimme eines Mannes – oder eines Jungen, der mit der Stimme eines Mannes sprach. Diese Vermutung erwies sich als richtig, denn es war ein großer Bursche, der schließlich erschien. Seine weiße Schürze, die wir schimmernd auf uns zukommen sahen, schlappte um seine Beine, seine Schuhe schlappten auch, und eine Strähne seines Haars fiel ihm über die Augen, als er sich vorbeugte, um den Riegel zurückzuschieben. Er hielt die Gartentür für uns auf, und als wir an ihm vorbeigingen, schlug uns ein Geruch entgegen von Schweiß, Zigaretten und … »Sind das Zwiebeln?«, flüsterte ich.
»Nein, Knoblauch«, flüsterte Hester zurück. »Erinnerst du dich nicht an die Wurst in der Gare de l’Est?« Der Bursche war schmutzig, ungepflegt und lächelte nicht.
Dann gingen wir in das Hotel und – »Guter Gott! Ein ganzes Waisenhaus!«, sagte Eliot.
Bei einer späteren Gelegenheit entschuldigte er sich für diese Äußerung. »Ihr hattet doch alle graue Flanellkleider an«, sagte er und fragte: »Warum hattet ihr alle graue Flanellkleider an?«
Hester schaute zu ihm auf. »Vielleicht waren Sie sehr lange nicht in England«, sagte sie leise. »Es waren unsere Schuluniformen.«
In England waren wir – Joss ausgenommen – stolz auf sie gewesen. Es gibt zwei Kategorien von Familien: Für die einen bedeutet die Schuluniform eine Verschlechterung, sie gibt ihnen das Gefühl, genauso zu sein wie jedermann sonst; die anderen empfinden sie als eine Verbesserung, als eine bessere, vollständigere Ausstattung, als sie je zuvor besessen haben. Wir gehörten zu der zweiten Kategorie. Die graue Jacke und die kurze Hose für Willy, unsere von St. Helena vorgeschriebenen grauen Mäntel, Röcke und Hüte waren unsere besten Kleider, die einzigen, die sich für eine Reise eigneten.
»Andere Mädchen haben noch andere Kleider«, sagte Joss oft.
»Nicht wenn ein Onkel William sie bezahlt«, sagte Mutter.
Im Augenblick schossen Joss’ Augen hasserfüllte Blitze auf Eliot, obwohl man von ihm nicht erwarten konnte zu wissen, wen er vor sich hatte. Unsere Schulhüte hatten die Form von Suppentellern. Vicky sah mit ihrem aus wie ein Pilz mit zwei Beinen, wogegen Joss’ Hut auf ihren vielen dunklen Haaren zu klein wirkte und, da er ihre Stirn frei ließ, sie fast hässlich erscheinen ließ; auch war der Faltenrock zu kurz.
Natürlich ereigneten sich noch sehr viele Dinge, ehe Eliot dazu kam, sich wegen seiner Bemerkung über das Waisenhaus zu entschuldigen. Er trat überhaupt erst viel später in Erscheinung, aber es ist immer Eliot, an den wir uns erinnern, wenn wir an unsere Ankunft in Les Œillets denken. Er war der Lichtpunkt des Abends.
»Als er kam, war nichts mehr schrecklich«, sagte Hester, aber ich musste hinzufügen: »Außer dem ganz Schrecklichen!«
»Was? Nur zwei Pässe?«, rief Mademoiselle Zizi, als ich am nächsten Morgen unsere Reisedokumente ins Büro brachte. »Meine Schwester Joss hat ihren eigenen Pass, wir anderen sind in dem meiner Mutter eingetragen.« Es war mir entsetzlich unangenehm, dies sagen zu müssen. Der Hotelbursche, der uns eingelassen hatte, hörte jedes Wort – er hieß Paul, wie wir jetzt wussten. Während er das Messinggitter polierte, konnte er auf unsere Pässe hinunterschielen, und seine verächtliche Miene verriet deutlich, dass er sich nie damit abfinden würde, mit dem Pass seiner Mutter zu reisen.
Ich hatte für meinen eigenen Pass gekämpft. »Warum kann Joss einen haben und ich nicht?«
»Sie ist sechzehn«, hatte Mutter gesagt. »Du vergisst, wie jung du bist.«
Je drei Jahre trennten uns Kinder voneinander – Vaters Forschungsreisen dauerten gewöhnlich drei Jahre –, aber Joss und ich waren stets »die Großen«, so wie Willymaus und Vicky »die Kleinen« waren, während Hester sich in einer Art Niemandsland zwischen uns allen befand. Joss-und-Cecil – das war immer ein einziges Wort gewesen, das allerdings mit sich gebracht hatte, dass ich manchmal älter sein musste, als ich sein konnte. Jetzt war ich selbst in eine Art Niemandsland verwiesen. Ich sah ein, dass dieser Umstand unvermeidlich war – mit dreizehn Jahren ist man gar nichts, nicht Kind, nicht Frau, nichts … offiziell Deklariertes, dachte ich, wie Joss es jetzt war –, aber ich fühlte mich zurückgesetzt, und das tat weh. Der eigene Pass war eine offizielle Bestätigung der Position, die Joss jetzt einnahm. Sie war so selbstverständlich in sie hineingerutscht und hatte mich zurückgelassen, wie sie aus unserem gemeinsamen Schlafzimmer in ihr eigenes übergesiedelt war. »Es gibt gewisse Dinge …«, hatte Mutter mit Absicht vage angedeutet – obwohl sie wusste, dass ich natürlich ganz genau wusste, um was für Dinge es sich handelte – und hatte Willymaus und Joss die Schlafzimmer tauschen lassen, sodass er nun mein Zimmergenosse war.
Selbstverständlich wäre Hester viel passender für mich gewesen, aber sie konnte nicht von Vicky getrennt werden. »Ich muss nämlich mit meinem Fuß in ihrem Bett schlafen«, sagte Hester.
»Mit dem ausgestreckten Fuß in ihrem Bett?«, fragte ich.
»Ja, sonst schläft sie nicht ein.«
»Ist dir denn nicht kalt?«
»Nur manchmal«, sagte Hester und beschwor mich, Mutter kein Wort davon zu sagen. Obwohl die im Haus herrschende, meistens friedliche Atmosphäre in der Hauptsache Hester zu verdanken war, konnte ich mich eines Schrecks nicht erwehren. Ich versuchte, Vicky ins Gewissen zu reden. »Wie kann ich denn sonst wissen, dass sie da ist?«, fragte Vicky, als ob das eine Rechtfertigung wäre.
»Es ist aber sehr ungezogen!«
»Es macht mir nichts aus, ungezogen zu sein«, sagte Vicky.
Durch unsere Familie hätte man eine Linie ziehen können, auf deren einer Seite Hester, Vicky und ich, auf deren anderer Joss und Willymaus standen. Unser Nachname war Grey. Ich hätte es ja vorgezogen, Shelmerdine zu heißen oder de Courcy oder ffrench mit kleinem »ff«, oder einen Doppelnamen mit Bindestrich wie Stuyvesant-Knox zu führen, aber wir hießen einfach Grey. »Immer noch besser als Bullock«, sagte Joss. Ganz waren wir aber nicht davongekommen, denn Onkel William ist ein Bullock, William John Bullock, und Vicky, Hester und ich sind genauso unverkennbare Bullocks wie er: klein, plump, mit rosigen Gesichtern und Augen, die so blau sind wie Rittersporn.
Das war für Hester und Vicky nicht schlimm, denn alle Bullocks waren als Kinder hübsch. Vicky mit ihrem hellblonden Haar und dem festen, perlfarbenen kleinen Körper war bezaubernd, und Hester hatte sich mit dem Lockenkopf und der Rosigkeit den Reiz ihrer frühesten Kindheit bewahrt. Aber bei mir hatte sich die kindliche Rundlichkeit in Onkel Williams derbe Untersetztheit ausgewachsen, mein blondes Haar war dunkler und fahler geworden, die Rosigkeit einer frischen Röte gewichen. Man konnte unmöglich gewöhnlicher aussehen als Onkel William, und ich hätte so gern aufsehenerregend ausgesehen. Warum war es mir nicht von Geburt an vergönnt, so auszusehen wie Joss, so zu sein wie Joss? Joss und Willymaus waren schlank, dunkelhaarig, und ihre Haut hatte die Farbe von Elfenbein, wodurch ihre Wimpern und Haare noch dunkler erschienen. »Wie Schneewittchen«, konstatierte Hester mit der einzigen Spur Neid, die ich je an ihr bemerkt habe. Außerdem wirkten beide ungewöhnlich apart: Willymaus hatte das spitze Gesicht eines Elfen und Joss die mandelförmigen Augen, denen sie ihren Kosenamen verdankte. »Weil die Chinesen Schlitzaugen haben«, sagte Joss.
»Angeblich!«, belehrte sie Vater, als er einmal zu Hause war. »Die meisten Chinesen haben genauso gerade Augen wie andere Menschen.«
»Auf chinesischen Bildern haben sie immer Schlitzaugen«, sagte Joss, die alles zu wissen glaubte, was Bilder betraf. Sie und Willymaus waren gleichermaßen begabt und eingebildet. Joss beschäftigte sich ernsthaft mit Malerei, und Willymaus hatte ein Hobby, das wir »Dressur« nannten. Es dauerte Jahre, bevor wir herausfanden, dass dieser Ausdruck eher mit Pferden als mit Kleidern zu tun hat. Willys Skizzenbücher, sein Handwerkskasten und die Puppen, über die sich Onkel William so entsetzte – »Puppen! Großmächtiger Gordon!« –, gehörten zu diesem Hobby. Die Bücher enthielten eine Sammlung von Modebildern, Entwürfen für Kleider und Stoffmuster; den Arbeitskasten mit seinen Scheren und Stecknadeln brauchte Willymaus, um seine Entwürfe auf den Puppen zu drapieren – »Ich nähe nicht selbst«, sagte er, »das wird in meinem Atelier erledigt werden!« –, und die Puppen Miss Dawn und Dolores. Seine Modelle waren keine gewöhnlichen Puppen, sondern hölzerne Figuren mit beweglichen Gelenken, wie sie von Malern und Bildhauern benutzt werden. Onkel William hatte sie Joss für ihre Malstudien geschenkt, aber zu Mutters Bestürzung wollte sie sie nicht einmal berühren, während Willymaus sie sofort in Beschlag nahm. Mit uns kleinen Bullocks konnte Mutter leicht fertigwerden, obwohl wir oft ungezogen und widerspenstig waren – »Das ist nichts Ungewöhnliches«, sagte Mutter –, aber mit Joss und Willymaus erging es ihr, als ob sie in unserem stillen Bauernhof zwei junge Schwäne ausgebrütet hätte. »Was immer ich tue, ist falsch!«, sagte unsere arme Mutter.
Und so schien es wirklich zu sein. Als Joss zum Beispiel geklagt hatte, die Zeichenlehrerin in St. Helena tauge nichts, hatte Mutter sie an einem Fernkurs eines Lehrgangs in London teilnehmen lassen, aber das hatte zu Schwierigeiten geführt. »Lieber Mr A …«, hatte Joss nach der zweiten Lektion an ihren fernen Meister geschrieben, »ich sende Ihnen, wie Sie wünschten, die Zeichnung einer Blume, für die ich eine Kreuzkrautblüte als Vorlage benutzt habe, und die Skizze einer Frau – meiner Mutter –, aber einen nackten Mann habe ich leider nirgends auftreiben können.«
Bei Joss und Willymaus bekam sogar der Name Grey eine gewisse Eleganz. Joanna und William Grey machten sich als Namen ganz gut, aber Cecil oder Victoria Grey? Beides klang gleichermaßen nichtssagend, während Hester Grey immerhin ganz gut zu Hester passte.
War es von Anfang an unfair gewesen, mich so weit hinter Joss zurückzulassen, fand ich es jetzt, wo Joss »erblüht« war – wie die Leute sagen, wenn sie von jungen Mädchen sprechen –, besonders unfair, da ich einsah, dass es das richtige Wort war. Sie war wie ein Baum oder ein Zweig, an dem plötzlich alle Knospen aufgebrochen waren.
Sie wollte sich nicht mehr vor mir ausziehen, und ich war ganz froh darüber, denn mein rosiger Kinderkörper war von oben bis unten noch immer ganz eben, während sie eine Taille hatte, die so schlank und geschmeidig war, dass ich nicht anders konnte, als sie anzustarren und ihre Kurven zu bewundern, die sich in ihren schlanken Beinen verjüngten. Sie hatte schwellende Brüste, und ich wusste genau, wie weich und zart sie waren, denn einmal hatte ich sie aus Neugierde berührt, aber Joss war aufgesprungen und hatte mich angeschrien. Je mehr sie heranwuchs, desto reizbarer wurde sie. Sie neigte zu Wutausbrüchen, die manchmal geradezu absurd waren, und ihre Rastlosigkeit erweckte den Eindruck einer ständigen Erregung, was umso sonderbarer wirkte, als ihre Miene immer gleichmäßig heiter und zurückhaltend war. Fast geheimnisvoll erschien mir ihr Ausdruck, denn nur das leiseste Erröten ihrer Wangen verriet die Erregung in ihrem Innern. »Ist Joss schön?«, fragte ich mit einem Stich im Herzen.
»Nur jetzt«, sagte Mutter, »nur gerade jetzt.«
Ich versuchte verzweifelt, meine Position neben Joss zu behaupten. Cecil de Courcy, de Haviland, Cecil du Guesclin, Winnington-Withers … Winter. Das war ein schöner Name, und ich nahm mir vor, mich seiner zu bedienen, wenn ich Schriftstellerin oder Nonne geworden sein würde: Cecil Winter, Schwester Cäcilia Winter. Aber ich war weder eine Schriftstellerin noch eine Nonne und wusste auch noch gar nicht, ob ich jemals das eine oder das andere werden würde. Derzeit glich ich mehr einem Chamäleon, das seine Farbe von der Umwelt empfängt, und als ich sah, dass Mademoiselle Zizis Lippen zuckten, als sie unsere Namen in Mutters Reisepass las, wurde ich schamrot – genauso wie am Vorabend, als Hester verriet, dass wir im Zug Orangen gegessen hatten. Der Pass hatte kaum genug Seiten für uns alle.
»Was hast du dir nur dabei gedacht, die ganze Kinderschar quer durch Frankreich zu jagen?«, fragte Onkel William später.
»Von Jagen kann gar keine Rede sein«, sagte Mutter. »Wir sind langsam mit dem Zug gefahren.« Manchmal schien Mutter nicht älter zu sein als Hester, und dieser Reisepass mit dem einzigen Stempel wirkte trotz der vielen Namen geradezu kindisch.
»Et votre père?«, fragte Madame Corbet.
»Ja! Wo ist euer Vater?«, fragte Mademoiselle Zizi.
»In Tibet«, sagte Hester.
»In Ti-bet?«
Ohne Hester, die nie gelernt hat, mit Bedacht zu agieren, hätte ich die Situation besser gelöst. Es war sonderbar, dass ich immer wünschte, man würde uns nicht für gewöhnliche Leute halten, aber sehr zu meinem Verdruss über und über rot wurde, sooft sich herausstellte, dass wir kein bisschen ungewöhnlich waren.
»Juste ciel! Was macht er denn in Tibet?«, fragte Mademoiselle Zizi.
»Blumen pflücken«, sagte Hester.
»Blumen pflücken!«, wiederholte Mademoiselle Zizi auf Französisch, und Paul lachte höhnisch auf, was mich dazu veranlasste, ihn streng anzufahren: »Il est botaniste!«, was beinahe wie ein wirklicher französischer Satz klang. »Er ist auf einer Forschungsreise«, fügte ich auf Englisch hinzu. »Das ist er fast immer«, sagte Hester.
Mademoiselle Zizi und Madame Corbet sahen einander an. »Mon Dieu! Mon Dieu! Et quoi?«, sagte Madame Corbet. »Il n’y a personne pour s’occuper de tout ce monde-là?«
Ohne auf unsere Anwesenheit die geringste Rücksicht zu nehmen, fingen sie an, sich in ihrer Muttersprache über uns zu unterhalten. »Sie sind noch nie zuvor in Frankreich gewesen«, sagte Mademoiselle Zizi, nachdem sie einen Blick in die Pässe geworfen hatte.
»Sie sind überhaupt noch nirgends gewesen«, bemerkte Madame Corbet.
»Das ist nicht richtig!«, entgegnete ich hitzig. »Meine Schwester Joss ist in Indien zur Welt gekommen, nur ist Mutters Reisepass abgelaufen – das ist alles.« Aber sie hörten mir nicht zu.
»Und Französisch sprechen sie auch nicht!«
Das verletzte mich, denn bis dahin hatte ich mir eingebildet, dass Joss und ich – besonders aber ich – sehr gut Französisch sprachen. »Kein Wunder! Du hast genug gelernt«, pflegte Joss zu sagen, was gar nicht nett von ihr war, denn in St. Helena war das Auswendiglernen französischer Gedichte die häufigste Strafaufgabe.
»Mach dir nichts draus«, flüsterte Hester. »Du siehst doch, wie es dir hilft, dass du in der Schule nicht gut gewesen bist.« Tatsächlich war Französisch die einzige Sache, in der ich jemals besser als Joss gewesen war, und die Stunden, die ich damit verbracht hatte, »Le temps a laissé son manteau«, »De vent, de froideur et de pluie«, »Mignonne, allons voir si la rose« und die Gedichte von Verlaine, die ich mit der Zeit so sehr liebte, auswendig zu lernen, kamen mir jetzt sehr zugute. Während des ganzen schrecklichen Tages war ich imstande zu verstehen, was die Leute sagten, und tatsächlich war es viel eher ich gewesen als Joss, die uns alle sicher nach Les Œillets gelotst hatte. Ich konnte Französisch sprechen, aber Paul – der zu wissen schien, was mir durch den Kopf ging – schniefte, fuhr sich mit dem Finger über die Nase und wischte ihn an seinem Hosenboden ab, was einen sehr ungezogenen Eindruck machte.
»Niemand kann von uns erwarten, dass wir uns um sie kümmern«, sagte Madame Corbet.
»Wir können uns um uns selbst kümmern«, sagte ich würdevoll. »Wir sind keine kleinen Kinder.«
Mademoiselle griff nach Joss’ Reisepass, warf einen Blick hinein und schleuderte ihn auf den Schreibtisch. »Sechzehn! Ein Kind!«, sagte sie und fragte mich dann auf Englisch: »Habt ihr denn gar keine Verwandten? Gar niemanden, der herkommen könnte?«
Bevor ich es verhindern konnte, hatte Hester geantwortet: »Onkel William.«
Onkel William ist Mutters Bruder und zehn Jahre älter als sie … »Es könnten ebenso gut hundert sein«, sagte Joss. Die meisten Erwachsenen sind wie Eisberge: drei Zehntel sichtbar, sieben Zehntel unter Wasser – darum ist ein Zusammenstoß mit ihnen auch so unerwartet schmerzhaft –, aber Mutter war wie ein Kind, leicht zu durchschauen, ehrlich und zugänglich … »für jeden Taugenichts«, pflegte Onkel William zu sagen.
Manchmal fragte ich mich, ob er auch Vater in diese Kategorie der Taugenichtse einreihte, aber er äußerte sich nicht dazu, obwohl Onkel William mit seiner Meinung selten hinter dem Berg hielt. »Wenn ihr auf mich gehört hättet!«, war sein Lieblingssatz. Ich glaube nicht, dass Mutter auf ihn gehört hat, als sie Vater heiratete, aber als sie Joss aus Indien heimbrachte – weil man Babys nicht auf Forschungsreisen mitnehmen kann –, ist er ihr doch entgegengefahren und hat sie nach Southstone gebracht … »Und in die Belmont Road«, sagte Joss bitter.
»Woher wussten wir, dass es hassenswert ist«, fragte sie später, »wenn sich doch alle unsere Erinnerungen auf Southstone beschränken?« Wir konnten das hässliche kleine Haus mit Rauputz, den falschen Tudor-Giebeln und den Bleiglasfenstern nicht ausstehen und schämten uns dafür. »Blödsinnig, Glas in so viele kleine Stücke zu zerschneiden«, sagte Willymaus, aber es war eines von Onkel Williams Häusern – er besaß mehrere in Southstone –, und er war gütig genug, uns darin wohnen zu lassen. »Er ist so gütig!«, sagte Mutter und seufzte.
Onkel William verwandte viel Geld, Zeit und Mühe auf uns Kinder – »Und Wörter«, sagte Hester. »Haufenweise Wörter!« –, während Vater nur in großen Zeitabständen nach Hause kam und auch dann kaum je von seinen Farn- und Orchideensammlungen aufblickte, um seine Frau und Kinder anzusehen. Ich bin nicht ganz überzeugt, dass er die beiden Kleinen voneinander unterscheiden konnte, und dennoch liebten wir ihn und erwarteten sehnsüchtig seine Heimkehr. Wir liefen uns die Füße platt, um Botengänge für ihn zu verrichten, und waren stolz darauf, zu ihm zu gehören. »Na schön«, sagte Hester. »Wenn Onkel William alt sein wird, werde ich eben für ihn sorgen.«
Brauchten wir Onkel William? Ich war mir nie ganz klar darüber, ebenso wenig wie ich je herausfand, ob Mutter sehr dumm oder sehr klug war. Sie war völlig außerstande, mit Willymaus fertigzuwerden. »Er sagt, er will sie nicht tragen«, sagte sie und ging in die Schule, um seine neue Kappe zurückzugeben.
»Dann darf er nicht mehr in die Schule kommen«, sagte der Direktor.
Mutter besprach die Angelegenheit mit Willymaus, und … »Er zieht es vor, nicht mehr in die Schule zu gehen«, sagte Mutter, und Willymaus blieb der Schule fern, bis Onkel William davon hörte.
»Warum kann ich nicht in eine Mädchenschule gehen?«, fragte Willymaus. »Sie haben keine Kappen, und ich könnte vielleicht meinen Muff tragen.«
»Großmächtiger Gordon!«, sagte Onkel William.
Der Muff war aus weißem Pelz und mit Satin gefüttert. Willymaus hatte ihn mit dem Geld gekauft, das Onkel William ihm zu seinem fünften Geburtstag geschenkt hatte.
»Was hast du dir gekauft, mein Junge? Einen Kricketschläger? Eine Eisenbahn?«
»Einen Muff«, sagte Willymaus.
»Großmächtiger Gordon!«, sagte Onkel William. Wir haben nie herausgefunden, wer dieser Gordon war, aber Willymaus veranlasste Onkel William sehr oft, ihn anzurufen oder zu sagen: »Ein einziger Junge in dem ganzen Wurf, und der ist kein Junge!«
Willymaus war damals noch klein, aber ich glaube, wir selbst hätten uns manchmal gewünscht, einen richtigen Jungen zum Bruder zu haben. »Er ist eben Willymaus«, sagte Mutter. So verstand sie ihn, wie sie jeden von uns – sogar Joss – auf ihre Art verstand. Vielleicht wären wir weniger unzufrieden und ungezogen gewesen, wenn unsere Erziehung ihr allein überlassen geblieben wäre.
Wenn ich zurückdenke, vermute ich, dass wir unzufrieden waren, weil wir uns in Southstone niemals wohlfühlten, und dass unsere Ungezogenheit dieser Unzufriedenheit zuzuschreiben war. Es war, als hätte man uns in eine Modellierform hineingepresst, in die wir nicht passten. Vor allem waren wir viel ärmer als die Leute, die wir kannten – arm schon deshalb, weil wir Onkel Williams Schwester, Nichten und Neffe waren. Andererseits hatten wir diesen seltsamerweise immer abwesenden Vater, während die Väter anderer Kinder in Büros gingen, Züge erreichen mussten und Mitglieder des Sussex Club waren. Auch Mutter war nicht wie andere Mütter, sie war überhaupt nicht wie eine Erwachsene. Sie war offensichtlich lieber mit Vicky, Willymaus oder einer von uns anderen zusammen, statt Bridge zu spielen, Wohltätigkeitsbasare zu organisieren oder mit den Damen der guten Gesellschaft von Southstone zum Vormittagskaffee, Mittagessen oder Tee zusammenzukommen. Wenn wir in einem der großen roten Ziegelhäuser mit den weiten Rasenflächen, Lorbeersträuchern und sorgfältig kiesbestreuten Auffahrten zum Tee geladen waren, fühlten wir uns wie Eindringlinge – mit Ausnahme von Hester, die überall zu Hause war. Wir waren anders, gehörten dazu und doch wieder nicht, und Außenseiter zu sein ist ein unbehaglicher Zustand. Wir wollten gar nicht dazugehören, fühlten uns aber gedemütigt, weil wir nicht dazugehörten. Jetzt weiß ich, dass es für uns nicht gut war, in Southstone zu leben. In einer anderen, größeren Stadt, in London etwa, wären wir vielleicht keine Außenseiter gewesen.
»In London«, sagte Joss träumerisch, »kann man irgendwer sein. Man weiß nie, neben wem man sitzt. Es kann ebenso gut ein Bettler sein wie ein Herzog.«
»Oder ein Dieb«, sagte Onkel William, der sehr bestimmte Ansichten über London hatte.
»Southstone …«, fing ich an.
»Ist der Ort, in dem du lebst«, sagte Onkel William.
»In Southstone«, sagte ich verzweifelt, »ist alles mittel, mittel, mittel!« So war es auch. Es gab weder Bettler noch Herzöge. »Nur Mittelmäßigkeiten!«
»Mein liebes Kind, so ist die Welt.«
»Die ganze Welt besteht doch nicht aus Mittelmäßigkeiten«, sagte Joss.
»Aber der größte Teil! Warum solltet ihr anders sein?«
Wir konnten keinen Grund dafür angeben, wussten aber und fühlten mit jedem Herzschlag, dass wir anders waren. »Wie werden wir jemals aus Southstone wegkommen?«, fragte ich Joss in meiner Verzweiflung.
Dann waren wir sehr frech zu Mutter, was zur Folge hatte, dass sie mit uns nach Vieux-Moutiers und Les Œillets fuhr.
Ich weiß nicht genau, wie sie darauf kam. Wahrscheinlich waren Joss und ich ungewöhnlich widerspenstig und schwierig gewesen, denn ich folgte neuerdings Joss’ Beispiel, tyrannisierte Mutter, ging abscheulich mit Hester um, fuhr die Kleinen an und kritisierte alles. Nicht nur aus Gewohnheit, sondern auch ganz grundsätzlich war ich auf Joss’ Seite.
»Oh, Mutter! Du bist so langsam!«
»Müssen wir ausgerechent so einen widerlichen alten Teekannenwärmer haben?«
»Musst du diesen Hut tragen?«
Ich glaube, zu dieser Zeit war sie nur glücklich, wenn sie mit Willymaus und Vicky allein war. Sie und Hester ähnelten einander zu sehr, um zu wissen, ob sie sich glücklich oder unglücklich fühlten, wenn sie zusammen waren – es war so, als wollte man herausfinden, ob man sich in seiner eigenen Haut glücklich fühlt oder nicht.
»Wozu musst du diese Einkaufstasche mit dir herumtragen?«, fragte Joss.
»Um meine Einkäufe hineinzutun«, sagte Mutter erstaunt.
»Warum muss Hester Schuhe mit Gummisohlen auf der Straße anhaben?«
»Weil sie an den Strand geht.«
Dieses Zwiegespräch spielte sich auf dem Weg zum Strand ab.
Wir verreisten nie in den Sommerferien – »Als ob wir in anderen Ferien verreisten«, murrte Joss –, sondern verbrachten lange Tage mit unseren Picknickkörben am Strand. »Muss das sein?«, fragte Joss.
»Ich dachte, es gefällt dir«, sagte Mutter, aber Joss schauderte.
Unsere Picknicke waren eine Angelegenheit, die bei uns noch hausbackener war als bei anderen Familien. Wir schleppten Körbe und Taschen, die mit Handtüchern und Thermosflaschen zum Bersten vollgestopft waren, und eine scheußliche Proviantdose aus Aluminium, die Vater einmal aus Indien mitgebracht hatte und die auf der Straße immer aufging. Wir waren mit Eimern und Spaten, Krabbennetzen, Wolljacken und Papiertüten beladen. »Wie an einem Feiertag!«, sagte Joss. »Und muss Hester unbedingt mit allen Leuten reden? Sie ist ein schrecklich lautes Kind!«
Wenn wir an den Strand gingen, mussten wir unsere alten verschlissenen Baumwollkleider tragen, die wir »Vogelscheuchen« nannten. »Ich kann euch nicht helfen!«, sagte Mutter. »Ich kann nicht zulassen, dass ihr eure guten Kleider mit Salzwasser und Öl beschmutzt.«
»Wir haben gar keine guten Kleider«, sagte Joss.
Mutter war sanftmütig, aber an diesem Tag gingen wir zu weit. Ich weiß nicht mehr, was wir taten, aber schließlich verlor sie die Geduld.
»Ihr seid unerträglich selbstsüchtig!«, sagte sie.
Wenn Mutter zornig war, wurde sie nicht blass wie Joss, sondern puterrot. »Ihr denkt immer nur an euch!«
Wir starrten sie an. An wen sollten wir denn sonst denken?
»Alle Leute sagen mir, dass ihr schlecht erzogen seid, und sie haben leider recht.«
»Du hast uns doch selbst erzogen!«, sagte Joss.
»Leider haben sie recht!«, wiederholte Mutter.
»Und was gedenkst du dagegen zu tun?«, fragte ich, unverschämt, wie ich war, und Hester ließ ihr Händchen verstohlen in Mutters Hand gleiten.
»Ihr werdet schon sehen, dass ich etwas dagegen tun werde!«
»Was?«
Mutter holte tief Atem. »Ich werde mit euch nach Frankreich fahren und euch auf die Schlachtfelder führen.«
»Auf die französischen Schlachtfelder?«
Der Ton, in dem wir das sagten, war noch immer unverschämt, klang aber doch ein wenig gedämpfter – wie vereinzeltes Gewehrfeuer vor der Kapitulation. »Warum?«
»Damit ihr seht, wie andere Menschen sich aufgeopfert haben«, sagte Mutter, »sich um euretwillen aufgeopfert haben – und was andere Menschen zu geben bereit sind. Vielleicht wird euch das lehren, über euch nachzudenken und euch zu schämen … die Schlachtfelder und die heilige Johanna!«, sagte Mutter. »Die heilige Johanna auf dem Scheiterhaufen! Wir werden dort halten, wo sie verbrannt wurde – wo immer es war –, und uns den Platz ansehen.«
»Oh Mutter, nicht mitten in den Sommerferien.«
»Sommerferien oder nicht – wir fahren hin!«, sagte Mutter und presste ihre Lippen aufeinander.
»Ph! Du hast doch gar nicht genug Geld«, sagte Joss, aber es klang ein wenig erschrocken.
»Ich werde mich an dem Erbe bedienen.«
»Das Erbe ist für das College.«
»Diese Reise wird eine Art College für euch sein«, sagte Mutter. »Sie wird euch erziehen. Ihr müsst lernen … was ich euch nicht lehren kann«, sagte Mutter mit zitternder Stimme.
Sie unterließ es, Onkel William um Rat zu fragen, und ging stattdessen zu Mr Stillbotham.
Mr Stillbotham war ein älterer Herr, Theosoph und unseres Wissens der einzige Mensch, der in der Belmont Road wohnte und Reisen unternahm. Von Vater konnte man natürlich nicht behaupten, dass er in der Belmont Road wohnte. Mr Stillbotham verbrachte jeden Winter an der französischen Riviera. Wir bewunderten ihn schon aus diesem Grund, fanden aber auch, dass er mit seinem silberweißen Haar, seinem Kneifer, seinen blau-weiß gestreiften Hemden und seiner Fliege sehr distinguiert aussah. Wir schätzten auch sein Verhalten uns gegenüber, denn er war immer höflich und voller Bewunderung – besonders für Joss.
»Zögernd mit erschreckten Füßen,
Wo Bach und Fluss zusammenfließen«,
pflegte Mr Stillbotham zu sagen, wenn er sie sah. Da er in unseren Augen genau die Person war, die uns richtig beraten konnte, stimmten wir Mutter zu.
»Sie wollen Ihre Toten besuchen?«, fragte er, als Mutter ihm erklärte, die Schlachtfelder besuchen zu wollen. »Sie sind nicht tot, sie leb…«, aber für die Zwecke, die Mutter mit unserem Besuch verband, mussten sie tot sein, und darum fiel sie ihm ins Wort. »Können Sie mir ein nicht zu teures Hotel in der Nähe der Soldatenfriedhöfe empfehlen?«, fragte sie.
»Les Œillets in Vieux-Moutiers.« Es war das erste Mal, dass wir den Namen hörten. »Vor dem Bahnhof stehen immer genügend Autos.«
Die heilige Johanna war offenbar in Rouen verbrannt worden. »Wenn Sie die günstigere Route über Newhaven und Dieppe wählen, können Sie unterwegs in Rouen halten«, sagte Mr Stillbotham, »oder den Nachmittag in Paris verbringen, falls Sie dies vorziehen.«
Einen Nachmittag in Paris verbringen! Neben dieser Möglichkeit hatte die heilige Johanna nicht die geringste Chance. »Ich werde in den Louvre gehen«, sagte Joss, »und die Mona Lisa sehen und die Nike von Samothrake!«
»Ich werde die Geschäfte sehen!«, sagte Willymaus und wurde totenblass wie immer, wenn er aufgeregt war.
»Erinnert ihr euch an die Erdbeertörtchen, die kleinen Erdbeertörtchen in Sirup, die uns Vater einmal mitgebracht hat?«, fragte Vicky. »Sie waren aus Paris!«, sagte sie ehrfürchtig.
Hester und ich verfolgten wie immer viel weniger hochfliegende Ziele. Sie war mit der Aussicht, Postkarten zu kaufen und mit ihrem Brownie Fotos zu machen, völlig zufrieden, während ich, das Chamäleon, die Absicht hatte, mich jedem von ihnen der Reihe nach anzuschließen. »Gut!«, sagte Mutter. »Auf diese Art werdet ihr mehr davon haben.« Wir alle waren gleichermaßen aufgeregt.
»Wenn ihr auf mich hören würdet …«, sagte Onkel William, doch niemand hörte ihm zu.
»Na schön! Aber kommt nicht zu mir, wenn ihr in Schwierigkeiten geraten seid und Hilfe braucht!«
»Wir werden keine Hilfe brauchen«, sagte Mutter würdevoll, aber am Tag vor unserer Abreise wurde sie von einer Bremse ins Bein gestochen. »So eine kleine Fliege«, sagte Hester, »und was sie alles angerichtet hat!«
Als Mutter im Zug von Dieppe nach Paris den Strumpf auszog, war ihr Bein geschwollen und purpurrot, grün und blau. »Es sieht aus wie ein Bluterguss«, sagte Hester. »Hast du dir das ganze Bein zerquetscht? Von oben bis unten?«, fragte sie ungläubig.
Mutter schüttelte den Kopf. Als ob sie die Kontrolle über ihre Hände verloren hätte, drehte sie ihre Handtasche zwischen den Fingern hin und her, und obwohl sie sich sehr heiß anfühlte, zitterte sie.
»Du bist krank!«, sagte Joss vorwurfsvoll, und Mutter konnte das nicht leugnen.
Der Tag sollte nicht nur enttäuschend, sondern auch schockierend werden. Vom Zug aus betrachtet, sah Frankreich nicht viel anders aus als England; die Landschaft wies die Farben der Gemälde John Constables auf, mit denen wir aufgewachsen waren, und in Paris sahen wir weder den Louvre oder die schönen Geschäfte noch kamen wir dazu, Erdbeertörtchen zu essen. Wir kauften keine einzige Postkarte und machten keine Fotos. Wir warteten im Wartesaal darauf, dass es Mutter besser ging. Eine Zugbegleiterin in dunkelblauem Overall mit einem schwarzen gehäkelten Tuch um die Schultern war auf uns aufmerksam geworden und musterte uns, aber wir waren viel zu eingeschüchtert, um mit ihr zu sprechen. »Warum seid ihr nicht zu Cook gegangen? Oder zu Lunn? Oder zu American Express? Überall hätte man euch geholfen.« Onkel William hat uns diese Fragen später oft gestellt, aber Joss und ich hatten keinen anderen Gedanken im Kopf, als Mutter, Hester, die Kleinen, uns selbst und unser Gepäck nach Vieux-Moutiers und Les Œillets zu schaffen.
Um sieben Uhr abends sollte ein Zug nach Vieux-Moutiers fahren. Ich erinnere mich, bei einem kleinen Wagen Brötchen und Wurst gekauft zu haben. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte kaufen können, und Joss hatte sich geweigert mitzukommen. »Aber du bist doch die Älteste!«, sagte ich.
»Aber du bist die Beste in Französisch!«, sagte Joss mit grausamem Hohn.
Wir drängten uns wie eine Herde verängstigter Schafe zusammen und schnupperten. Der Knoblauchgeruch der Wurst stieg uns in die Nase. Da wir aber Knoblauch noch nie vorher gerochen hatten, schenkten wir die Wurst der Zugbegleiterin und aßen die Brötchen.
Ich erinnere mich, dass Mutter aufschrie und sich auf die Lippen biss, als Vicky ihr Bein berührte. »Sorgt euch nicht!«, sagte sie einen Moment später. »Gott schickt einem nicht mehr, als man ertragen kann.« Aber sie musste sich gleich wieder auf die Lippen beißen. Ich erinnere mich auch, dass Willymaus plötzlich verschwunden war. »Il est parti voir les locos«, sagte die Zugbegleiterin, aber Willymaus war zum Zeitungskiosk gegangen, wo eine neue Ausgabe der Vogue auslag, die er sich ansehen wollte.
An die Fahrt im Zug kann ich mich nicht mehr erinnern, wohl aber daran, dass Mr Stillbotham sich geirrt hatte und keine Taxis vor dem Bahnhof standen. »Mais c’est bien loin«, sagte der Träger, was uns veranlasste, den Handkarren zu nehmen.
»Mutter kann doch nicht gehen!«, sagte Hester.
»Sie muss.« Eine erschreckende Härte war über uns gekommen. Wir packten sie unter den Armen und zogen sie weiter. Sie stöhnte und stolperte, und Hester weinte. Schließlich kamen wir vor den Toren von Les Œillets an.
Während wir warteten, nachdem der Träger geläutet hatte, ließ ich die anderen stehen und ging ein paar Schritte weiter, da mich plötzlich das Gefühl überfallen hatte, dass hier ein riesiger Garten sein müsse. Ich sage »plötzlich«, weil es mich tatsächlich wie mit einem Messerschnitt von den anderen loslöste. Durch das Tor blickte ich in einen Hof, der rings um einen viereckigen Rasenplatz mit Kies bestreut war. Beiderseits des Hauses führten Wege in ein tiefes Dickicht. Das Tageslicht war jetzt fast erloschen, und die Silhouetten der Bäume entlang der Hofmauern zeichneten sich graugrün vom Himmel ab, während der Garten schwarz in der Tiefe seiner Schatten lag. Ununterbrochen war ein leise plapperndes Geräusch zu hören – das typische Flüstern französischer Pappeln, das ich damals noch nicht kannte. Ein Vogel stieß einen schlaftrunkenen Ruf aus, eine Eule antwortete mit jenem seltsamen nächtlichen Schrei, den ich als solchen erkannte, obwohl ich ihn noch nie gehört hatte.
Von Weitem schlug mir der sommerliche Duft von frisch gemähtem Heu entgegen, und aus nächster Nähe kam der schwere, süße Duft einer Blüte. Es muss eine weiße Blüte sein, dachte ich, Jasmin oder weißer Flieder. Von dem Zwischenhalt in Paris und der Bahnfahrt war meine Haut trocken wie ausgeglühte Asche, und die kühle Nachtluft tat meinen Wangen wohl. Tiefer Friede erfüllte mich, alle Schrecknisse und Bedenken des Tages schienen von mir abzufallen. Das war wirklich das Hôtel Les Œillets, nicht die Fata Morgana, der wir entgegengereist waren. Wir waren am Ziel.
»L’hôtel n’accepte pas les malades«, sagte Madame Corbet.
»Heißt das, dass sie Kranke nicht aufnehmen?«, fragte ich Joss.
»Es scheint so.«
Das Büro von Les Œillets war ein winziger Raum neben der Treppe und zu klein, um als Zimmer bezeichnet zu werden. Aus der Halle führten ein paar Stufen zu einem Zwischengeschoss mit einem Treppenabsatz und ein paar Türen. Das Büro war ein Nebenraum dieses Treppenabsatzes und von ihm nur durch eine Theke und ein Messinggitter getrennt. Hinter der Theke war gerade genügend Raum für eine Kasse, ein Schlüsselbrett mit Postfächern und Madame Corbets Schreibtisch mit ihren Rechnungsbüchern und dem Telefon. Nun standen wir – Joss, Hester, Willymaus, Vicky und ich – vor dem Messinggitter. Willys Augen waren genau auf Höhe der Theke, während die Spitze von Vickys Hut gerade über sie hinausragte.